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Aids-Prävention und Gesundheitspolitik | APuZ 48/1988 | bpb.de

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APuZ 48/1988 Die medizinischen und virologischen Grundlagen des Erworbenen Immunmangelsyndroms Aids Aids-Prävention und Gesundheitspolitik Aids und Recht Aids: Herausforderung an unser Menschsein

Aids-Prävention und Gesundheitspolitik

Rolf Rosenbrock

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die medizinisch bislang nicht beherrschbare Infektionskrankheit der erworbenen Immunschwäche (Aids) ist Gegenstand überdurchschnittlich hoher öffentlicher Aufmerksamkeit sowie starker Ängste und Hoffnungen. Die Ängste beziehen sich auf die weitere Ausbreitung innerhalb und außerhalb der zuerst sichtbar gewordenen Betroffenen-Gruppen (homosexuelle Männer, Fixer, Bluter), die Hoffnungen richten sich vor allem auf die industrielle Entwicklung wirksamer Impfstoffe und Therapeutika. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die bislang weitgehend ungenutzten Möglichkeiten der Krankheitsverhütung, vor allem im Bereich der nicht-medizinischen Prävention: — Die Präventionskampagnen sind hinsichtlich der Zielgruppen immer noch zu eng und hinsichtlich der Risikosituationen zu breit angelegt: Erforderlich ist die gezielte und öffentliche Aufklärung der gesamten nicht-monogam lebenden Bevölkerung über einen präzisen und scharf konturierten Risikokatalog. Zunehmend wichtig ist auch die Dehysterisierung als Bestandteil der Prävention. — Aufklärung und Prävention gewinnen an Wirksamkeit, wenn sie teilgruppenspezifisch von dezentralen und nicht-staatlichen Akteuren (z. B. Aids-Hilfen) betrieben werden. — Effizienz und Effektivität solcher Strategien erfordern die Schaffung bzw. Einhaltung einer Reihe von materiellen und politischen Rahmenbedingungen durch staatliche Stellen und das Medizinsystem. — Eine wesentliche Bedingung wirksamer Prävention ist die Reduktion des Virus-Antikörpertests auf die ihm medizinisch zukommenden Funktionen der Sicherung von Blutkonserven und Transplantaten, des gezielten Einsatzes in der Diagnostik und der professionellen Verwendung in ausgewiesener epidemiologischer Forschung. Der Test ist kein Instrument der Prävention. Die Durchsetzungsprobleme einer auf Prävention zielenden Aids-Politik werden vor dem Hintergrund der brisanten sozialpsychologischen Einbettung dieser Krankheit diskutiert.

I. Aids als Problem der Gesundheitspolitik

Zwar sinken — zumindest in Westeuropa und in Nordamerika — die Zuwachsraten der Neuerkrankungen kontinuierlich und erheblich. Doch wird die Welt auch über das Ende dieses Jahrtausends hinaus mit der Infektionskrankheit der erworbenen Immunschwäche (Aids) leben müssen. Vielleicht wird Aids wie bislang alle von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheiten niemals gänzlich ausgerottet werden können. Von dieser traurigen Regel gelten die Pocken als einzige Ausnahme der letzten Jahrhunderte.

Entgegen weithin vorherrschenden Wahrnehmungen in Öffentlichkeit und Politik hängt die weitere Entwicklung keineswegs ausschließlich, wahrscheinlich nicht einmal primär vom Erfolg der industriellen Forschung auf der Suche nach Impfstoffen oder Therapeutika ab. Die heute und auf absehbare Zukunft wohl entscheidenden Möglichkeiten der günstigen oder ungünstigen Beeinflussung der Anzahl der Infektionen und Erkrankungen liegen in der Gesundheitspolitik (d. h. in der Steuerung und Regulierung von Forschung, nicht-medizinischer Prävention und dem Verhalten des Medizinsystems) sowie in der Gewichtung, die die Gesundheitspolitik gegenüber anderen Politikfeldern (Minderheiten-, Drogen-, Sitten-, Sexualpolitik etc.) und anderen Ressorts (vor allem Justiz und Inneres) erfährt bzw. erreicht

Grundsätzlich besteht die zentrale Aufgabe der Gesundheitspolitik in der maximalen Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten für die gesamte Bevölkerung Damit übersteigt Gesundheitspolitik den notwendigerweise auf Behandlung im einzelnen Erkrankungsfall fixierten Gesichtswinkel der Individualmedizin, deren Kenntnisstand und Therapiemöglichkeiten damit einen wesentlichen Aspekt für den Entwurf von problembezogenen Gesundheitspolitiken liefern. Andere Aspekte wie die weitgehend durch soziale Lage und psychische Konstitution bestimmten Bedingungen des Eintretens und der Senkung von Erkrankungsrisiken kommen mindestens gleichgewichtig hinzu. Mit der Individualmedizin gemeinsam hat Gesundheitspolitik dabei die Regel zu beachten, Maßnahmen und Strategien vor der Ingangsetzung auf ihre erwünschten und unerwünschten Wirkungen hin abzuschätzen: Eine Maßnahme darf dann und nur dann ergriffen werden, wenn bei verständiger Würdigung der Gesamtumstände die erwünschten Wirkungen mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit eintreten und die unerwünschten Wirkungen deutlich übersteigen, wenn weiterhin die unerwünschten Wirkungen tolerabel sind und wenn der gleiche Effekt nicht mit weniger invasiven Mitteln erreicht werden kann. Bezogen auf Aids heißt dies, nach Strategien zu suchen, mit denen auf Basis plausibler Annahmen über Motive, Handlungsmöglichkeiten und Verhalten die Anzahl der HIV-Infektionen so klein wie möglich gehalten werden kann.

Nach dem heutigen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung finden HIV-Infektionen in epidemiologisch relevanter Anzahl lediglich in den Risikosituationen des penetrierenden Geschlechtsverkehrs mit Infizierten sowie der direkten Einbringung von infiziertem Körpersekret (vor allem Blut und Sperma) in die laufende Blutbahn (vor allem , needle-sharing‘ bei Fixern) statt. Würden beim Geschlechtsverkehr außerhalb strikter Monogamie stets Kondome und beim Fixen immer sterile Spritzbestecke benutzt, wäre Aids nach dem , Herauswachsen 4 der heute bereits Infizierten eine sehr seltene Krankheit. Weit über 99 Prozent aller sonst fälligen Infektionen würden unterbleiben. Die sachgerechte Verwendung ordentlich produzierter und gelagerter Kondome bietet beim Geschlechtsverkehr einen Infektionsschutz in der Größenordnung von allgemein als . sicher 4 angesehenen Impfungen

In mittlerweile hunderttausenden von Erfahrungsjahren des auch engen Umgangs von Aids-Kranken mit Ärzten, Pflegepersonal, Helfern und Familienangehörigen ist es bei sorgfältiger Beobachtung weltweit zu cirka zehn wahrscheinlichen Infektionsfällen außerhalb solcher Risikosituationen gekommen, meist in Verbindung mit versehentlichen tiefen Injektionsnadelstichen und direktem Einbringen von infiziertem Körpersekret Beim Eintritt eines solchen Unfalls wird die Gefahr einer wirksamen Infektion mit unter einem Prozent angegeben, das auf gleichem Wege übertragbare Hepatitis-B-Virus wird zwanzig-bis hundertmal leichter übertragen. Weltweit ist kein einziger Fall wirksamer Virusübertragung durch Speichel, Tränen, Schweiß, Talg, Nasensekret, Ohrenschmalz, Schuppen, Urin oder Kot gesichert. Tröpfchen-Infektionen und leichte Schmierinfektionen sind auszuschließen. Mit einem Satz: Die Übertragung des Virus findet in klar definierten Situationen statt, in die Menschen sich freiwillig hineinbegeben Für die Prävention heißt das: Es gibt kaum eine Krank-heit, vor der man sich so leicht und so sicher schützen kann wie vor Aids.

Gesundheitspolitik und gesundheitswissenschaftliche Forschung haben deshalb drei vordringliche Aufgaben: — die Übertragungswege genau zu identifizieren und ggf. weiter einzugrenzen — Präventionsstrategien zu entwerfen und zu ermöglichen, die die Anzahl dieser Situationen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Bedeutung im Lebenszusammenhang der potentiell Betroffenen soweit wie möglich vermindern und — alles zu unterlassen, was die Wirksamkeit solcher Strategien gesellschaftlich und individuell beeinträchtigen könnte.

II. Eingriffsfelder gesundheitspolitischer Steuerung

Die im folgenden zusammengefaßten politisch-praktischen Vorschläge für die Präventionsgestaltung und die Handhabung des HIV-Antikörpertests zielen auf die Entwicklung und Nutzung der Möglichkeiten der Verhütung von Aids. Beim gegebenen Stand des Wissens über die medizinische Immunisierung und Therapie der Krankheit betreffen sie damit das einzige Eingriffsfeld, auf dem Gesundheitspolitik jetzt unmittelbar wirksam werden kann. Doch würde auch mit der Anwendungsreife und Verfügbarkeit medizinisch wirksamer Impfstoffe und/oder Therapeutika die Bedeutung nicht-medizinischer Prävention keineswegs auf Null schrumpfen: Die gesundheitspolitischen Siege über die großen „alten“ Infektionskrankheiten beruhen ausnahmslos auf einer Kombination gesellschaftlich ermöglichter und verursachter Verhaltensänderungen mit den fast immer erst später entwickelten wirksamen Waffen der Medizin 1. Zielgruppen, Wege und Botschaft der Prävention Die Besonderheit der bei der Prävention anzusprechenden Themen (promiske Sexualität, Homosexualität, Prostitution und Sucht) und die zum Teil extremen gesellschaftlichen Randlagen von drei der Hauptbetroffenengruppen erfordern besondere Vermittlungsformen und -träger der Kommunikation bzw. Prävention. Unter Berücksichtigung der jahrzehntelangen Erfahrungen mit (erfolgreichen und erfolglosen) Versuchen staatlich induzierter Verhaltensänderungen im Privat-und im Intimbereich und unter Berücksichtigung internationaler Forschungsergebnisse zur Aids-Prävention erscheint hierfür ein dreistufiges Kampagnemodell angebracht Alle Elemente dieses Modells stehen unter der Leitfrage: Wie organisieren wir möglichst schnell, möglichst flächendeckend und möglichst zeitstabil den gesellschaftlichen Lernprozeß, mit dem sich die Individuen, die Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes auf das Leben mit dem vorläufig wohl unausrottbaren Virus einstellen kön -nen? Dabei soll sich ein Maximum an präventivem Verhalten entwickeln, Ausgrenzung und Diskriminierung sollen minimiert werden

— Zentralstaatlich zu organisieren und zu verantworten ist die allgemeine Prävention in Form bevölkerungsweit gestreuter Botschaften über alle geeigneten Massenmedien. Sie dient sowohl der Dehysterisierung („Wo droht Aids nicht?“) als auch der klaren Benennung der Risikosituationen (penetrierender Geschlechtsverkehr und needle-sharing) sowie der individuellen Schutzmöglichkeiten mit vergleichbar sehr hoher Sicherheit (Kondome und Einwegspritzen). — Auf der zweiten Ebene kann man sich eine phantasievolle Fülle zielgruppen-, szenen-und regional-spezifischer Kampagnen mit Initial-und Erinnerungsimpulsen vorstellen. Sie wenden sich an die eher promiskuitiv lebenden Szenen der Heterosexualität (Bars, Discos, Prostitution, Sextourismus, Kontaktanzeigen, „swinger“ etc.) und der Homosexualität (Bars, Discos, Saunen, Klappen, Parks, Kontaktanzeigen, Prostitution, Sextourismus etc.) sowie der Fixerszene (Treffpunkte, Gruppenbildung, Gelderwerb, Drogenhilfen etc.). Es müssen nicht nur Informationen vermittelt werden, es sollen sich auch Einstellungen und letztlich vor allem das Verhalten ändern. Deshalb müssen die Botschaften so aufbereitet und übermittelt werden, daß sich die Angesprochenen wiedererkennen können. Die Botschaft muß zeitlich, räumlich und sozial so nah wie möglich an die Risikosituation herangetragen werden. Kommunikationswissenschaften und Werbewirtschaft verfügen dazu über einen reichen Erfahrungsschatz.

Für diese Aufgabe bieten sich vor allem die aus der Gruppe der Homosexuellen weitgehend spontan entstandenen Selbsthilfeansätze (Aids-Hilfen) an, die mittlerweile de facto zu semiprofessionellen Präventionsagenturen geworden sind und vielfach mit anderen Institutionen (Pro Familia. Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gesundheitsämter) eng kooperieren. Sie sind hinreichend dezentral organisiert und verfügen über ausreichende Kenntnis und Erkenntnisquellen hinsichtlich der relevanten Risikosituationen, ihres sozialen und Bedürfnishintergrundes sowie der Vermittlungsmöglichkeiten zielgruppenadäquater Botschaften. Sie können ihren spezifischen Beitrag zur Prävention nur dann leisten, wenn sie — innerhalb allgemein gültiger Gesetze — von ihrer Kontextnähe und Kompetenz einen relativ autonomen Gebrauch machen können. Sie müssen die Möglichkeit haben, in den Zielgrup-pen spezifisch und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Aids-Prävention zu agieren. Die Belastung mit anderen Themen (Monogamie, Treue, Suchtfreiheit etc.) gefährdet die Substanz ihres Erfolges. Sofern diese Bedingungen gegeben sind, kann die Aids-Hilfe ein Modellfall für eine dezentrale und kontextnahe Leistungs-und Strukturpolitik im Gesundheitswesen werden, dessen Bedeutung weit über den Einzugsbereich der Infektionskrankheit Aids hinausweist und mit dem eine wesentliche Innovation im Hinblick auf die notwendige Umorientierung der Gesundheitspolitik geleistet werden könnte. — Die dritte Ebene ist die (auf Wunsch selbstverständlich anonyme) persönliche Beratung von Menschen. die „at risk“ leben oder glauben, ein Risiko (gehabt) zu haben. Dabei kommt es in erster Linie darauf an, in einfühlender und akzeptierender Weise die Risikolage zu klären und die Möglichkeiten der individuellen Prävention sachlich und verständnisvoll zu besprechen. Aids-Beratung ist demnach keineswegs eine primär ärztliche Aufgabe. Sämtliche internationalen Studien deuten darauf hin, daß der zeitstabile Erfolg von Präventionskampagnen entscheidend von der Qualität der Beratung abhängt. Nach der Präventionsberatung kann dabei auch die Frage des HIV-Antikörpertests erörtert werden.

Auf allen drei Stufen geht es um die Umsetzung der Regel, daß Menschen ihr Verhalten dann am ehesten ändern, wenn sie erstens sich von der Gefahr (Aids) persönlich betroffen fühlen, zweitens davon überzeugt sind, sich durch eigenes Verhalten vor der Gefahr schützen zu können, wenn drittens die als notwendig angesehene Verhaltensänderung in die bestehende Lebensweise „einpaßbar“ ist und wenn viertens von der eigenen sozialen Umgebung (Szene, Gruppe etc.) Anstöße zur Verhaltensänderung kommen Über die Erfolge professionell gestalteter und betroffennah durchgeführter Präventionskampagnen geben — vor allem hinsichtlich der Gruppe der homosexuellen Männer — zahlreiche Studien vor allem aus Nordamerika, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich Auskunft Über 70 Prozent, zum Teil erheblich mehr, folgen den Regeln des Safer Sex. Da zur Virusinfektion immer drei Akteure (zwei Menschen und das Virus) gehören, ist mit Verhaltens- änderungen in dieser-(zu stabilisierenden und noch steigerbaren) Größenordnung die weitere Ausbreitung von Aids zu stoppen. Daß irgendwelche repressiven Strategien dieses Ziel erreichen, konnte noch nirgendwo plausibel gemacht oder gar bewiesen werden. Der Erfolg ist um so größer, je mehr die Kampagne in einem weitgehend durch Staat, Medien und Medizinsystem geschaffenen Klima des Vertrauens und Verstehens stattfinden konnte, das öffentlich vermitteltes Lernen in Intim-, Scham-und Tabubereichen erleichtert bzw. ermöglicht. 2. Der Test auf HIV-Antikörper Für den HIV-Antikörpertest gibt es eine Reihe zwingender medizinischer Indikationen (Sicherung von Blutprodukten und Transplantaten, Differential-und Ausschlußdiagnose, Beratung von Schwangeren aus risikotragenden Gruppen, seriöse epidemiologische Forschung auf der Basis von „informed consent“). Eine medizinische Indikation für eine Früherkennungsuntersuchung auf nicht behandelbare Krankheiten existiert nach den Regeln der ärztlichen Kunst nicht. Schon gar nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit und der Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit derart ungewiß sind wie bei Aids. Eine ungezielte Reihenuntersuchung auf nicht behandelbare und in ihrem Ausbruch derart ungewisse Krankheiten wie Aids widerspricht ebenfalls den Regeln der ärztlichen Kunst und epidemiologischen Grundregeln Wegen der technisch nicht aufhebbaren Unsicherheiten ist auch bei optimaler Handhabung von Such-und Bestätigungstests vor allem in niedrig durchseuchten Populationen mit erheblichen Quoten (bis 50 Prozent) falsch positiver Ergebnisse zu rechnen Auch falsch negative Ergebnisse kommen in relevantem Umfang vor. Die Feststellung des Serostatus ist demnach nicht sicher zu erzielen.

Auf der anderen Seite werden durch die Mitteilung eines positiven Testergebnisses — und damit der Gewißheit einer vorher in aller Regel nur als Möglichkeit ins Auge gefaßten Infektion — bei bis zu 50 Prozent der Betroffenen schwere psychische Störungen bis hin zur Psychose und zum Suizid ausgelöst. Diese „unerwünschten Wirkungen“ schließen den breiten und undifferenzierten Testeinsatz angesichts des Fehlens einer medizinischen Indikation ebenfalls aus Auch nach der geltenden Reichsversicherungsordnung kann der undifferenzierte Testeinsatz keine Leistung des Kassenarztes sein (§ 181 a, RVO).

Es müssen also schon schwerwiegende Gründe vorliegen, um den breiten und breit propagierten Einsatz zu rechtfertigen. Nicht notwendig ist der breite Testeinsatz für die epidemiologische Messung der Verbreitung des Virus: Würden die vorhandenen epidemiologischen Beobachtungs-und Meßpunkte der Krankheit einigermaßen sorgfältig ausgewertet, wären Zustands-und Trendaussagen erheblich abgesicherter als die heute meist kolportierten Spekulationen. Mit den Blutspenden (vor allem aus Bevölkerungsgruppen, die sich nicht betroffen fühlen und von denen derzeit im Durchschnitt eine von 50 000 bis 100 000 Proben HIV-Antikörper aufweist), den Aids-Fallmeldungen beim Bundesgesundheitsamt (BGA), den (erheblich auszubauenden und zu vermehrenden) sozialepidemiologisch fundierten Kohortenstudien auf freiwilliger Basis und der Laborberichtspflicht über positive Bestätigungstests verfügen wir über vier „Meßstellen“, deren verständige und soziologisch angeleitete Auswertung einen erheblichen Zugewinn an Wissen verspricht. Für die Gesundheitspolitik haben solche Befunde ohnehin nur begrenzten Wert: Das Fehlen medizinischer Interventionsmöglichkeiten erzwingt unabhängig von aktuellen und kommenden Fall-zahlen die Konzentration auf die Frage der Optimierung der Prävention.

Ein anderer Grund für einen breiten Testeinsatz könnte dann vorliegen, wenn der Test oder die Mitteilung des Testergebnisses einen wesentlichen Beitrag zur Aids-Prävention leisten würde. Davon aber kann kaum die Rede sein. Im Gegenteil: In bezug auf Prävention ist der Test durchweg kontraproduktiv a) Es ist weder plausibel, noch deuten die vorliegenden empirischen Studien darauf hin, daß mit dem Test wirksamere Impulse zur Verhaltensänderung gesetzt werden als mit den Mitteln der kontinuierlichen und kontextspezifischen Aufklärung über die Risikosituationen Schock-und Todesangst sind durchweg kein besonders geeignetes Mittel zur Ingangsetzung rationaler Verhaltenssteuerung. b) Ein positives Testergebnis kann Kurzschlußreaktionen („Desperado-Effekt“) mit antipräventiven Konsequenzen auslösen. c) Ein negatives Testergebnis kann Leichtsinn im Umgang mit Risikosituationen fördern.

d) Die öffentliche Aufforderung zum Test im Zusammenhang mit der Prävention mindert die essentiell notwendige Klarheit (und damit die Wirksamkeit) der Präventionsbotschaft. Die Präventionsregeln gelten nämlich für alle Menschen in Risikosituationen. unabhängig von ihrem Serostatus. Die medizinpolitische Botschaft der Bundesregierung „Wer sollte sich testen lassen? Jeder, der glaubt, sich angesteckt zu haben“ muß unter Präventionsgesichtspunkten lauten: „Wer sollte eine Beratungsstelle aufsuchen? Jeder, der glaubt, sich angesteckt zu haben.“

e) Eine medizinisch therapeutische Intervention, mit der bei symptomlosen Menschen die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs der Krankheit gemindert oder die Phase der Symptomlosigkeit verlängert oder die Infektiosität während der Symptomlosigkeit gesenkt werden könnte, ist bislang nicht bekannt. Sie würde die hier beschriebene Position zum Test ggf. revidieren. f) Mit dem HIV-Antikörpertest ist die Diskussion über Meldepflicht, Zwangstestungen, Berufsverbote, über arbeits-, sozial-, miet-und strafrechtliche Fragen verbunden Dies alles wirkt dem Grundgedanken der Prävention entgegen und bringt keinen gesundheitlichen Nutzen.

Es stellt für die Medizin nicht nur in bezug auf den HIV-Antikörpertest eine offenbar schwierige Lernaufgabe dar, einen technischen Befund deshalb nicht zu erheben, weil dadurch im Ergebnis mehr gesundheitlicher Schaden als gesundheitlicher Nutzen angerichtet wird. Das zunehmende Auseinanderklaffen zwischen diagnostischen Möglichkeiten und therapeutischen Fähigkeiten in der Medizin erreicht im Falle Aids und HIV-Antikörpertest eine gesundheitspolitisch neue und dramatische Stufe.

III. Durchsetzungsprobleme einer rationalen Aids-Politik

Wer sich mit Gesundheitspolitik oder — allgemeiner — mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit beschäftigt, der weiß: Die Antworten der Gesundheitspolitik entsprechen nur auf wenigen Feldern dem Charakter der gesundheitlichen Herausforderungen Im gesundheitspolitischen Kräftefeld von Staat und Medizinsystem mit den daran beteiligten politischen und materiellen Interessen hat Aids keine besseren Chancen der Bearbeitung als die zigtausendfach häufigeren volksgesundheitlichen Probleme des Herzinfarktes, der Krebse, des Rheumas, der Bronchitis, des Alkoholismus etc. — Das Gewicht der naturwissenschaftlich fundierten Individualmedizin bei der Definition der Probleme und der Festlegung von Strategien ist generell zu hoch. — Technische oder sonstige warenförmig vermarktbare Leistungen genießen einen unangemessen hohen Vertrauensvorschuß vor anderen Formen der Intervention. — Die Möglichkeiten der Prävention werden weithin untergewichtet und deshalb auch nicht systematisch entwickelt. — Die Kompetenz der Betroffenen wiegt durchweg geringer als die Meinung von Experten.

Wem es um eine Effektivierung des Kampfes gegen Aids geht, wird nicht darum herumkommen, sich mit diesen „alten“ Themen der Gesundheitspolitik zu befassen und bewährte wie gescheiterte Reform-strategien auf ihre Verwendbarkeit hin abzuklopfen Dies zu sagen, bedeutet keine Verharmlosung der gesellschaftspolitischen Brisanz, die Aids hat. Sie ist real und gefährlich. Die Mixtur besteht aus Elementen der physiologischen Natur des Problems (Geschlechtskrankheit, extrem lange Latenzzeit und hohe Ungewißheit des Ausbruchs, meist tödliches Ende der Krankheit), seiner geheimnisvoll-exotischen Herkunft und der gesellschaftlichen Randlage der zufällig zuerst sichtbar gewordenen Betroffenengruppen. Damit ist ein Ensemble versammelt, das in geradezu einmaliger Konstellation atavistische Ängste, Wünsche und Vorurteile mobi-lisieren kann: Es geht um die Verbindung von Sex, Homosexualität, Promiskuität, käuflichen Sex, Perversion, Orgien, Sucht, „unsichtbaren Feinden“ und um den Tod — in einem Thema.

Es ist kein Wunder, daß die auf Verkäuflichkeit orientierten Massenmedien auf dieses Thema anspringen mußten Wenn man berücksichtigt, daß die in Sachen Aids besonders aggressiven Blätter der Regenbogenpresse sowie die großen Boulevardzeitungen immer noch die meistgelesenen gedruckten Medien in der Bundesrepublik sind, so wird die latente Gefahr deutlich: Es gibt breite Bevölkerungsschichten, deren Bild von Aids und den Betroffenengruppen sich nahezu ausschließlich aus durchweg gegenaufklärerischer Berichterstattung speist. Aber auch sonst gemeinhin als seriös eingestufte Blätter wie z. B.der Hamburger „Spiegel“ zeigten und zeigen böse Ausfallerscheinungen. Kein Wunder auch, daß diese — mehr markt-als ethikgesteuerten — Formen und Inhalte der öffentlichen Abhandlung von Aids speziell bei den Gruppen der am allermeisten Betroffenen Angst auslösen. Und zwar sowohl irrationale Angst vor Aids als auch Angst vor einer Wiederzunahme der Repression. Beide Ausprägungen der Angst stehen einem rationalen Umgang mit Aids und einer sensiblen Aids-Prävention sicherlich entgegen. Aber über die Wirkungen derartiger Gegenaufklärung im Konzert mit anderen Informationsquellen auf Stimmungen, Haltungen und Handlungen sowohl in der Bevölkerung als auch auf gesundheitspolitische Entscheidungsträger ist — nicht nur bei Aids — recht wenig bekannt Das nimmt nichts von der Bedrohlichkeit. Es spricht aber dagegen, allein aufgrund der Berichterstattung eine extrem defensive Situation für die Betroffenengruppen zu diagnostizieren.

Auf der Ebene der Gesundheitspolitik können Wirkungen der sozialpsychologisch brisanten Einbettung von Aids überall dort plausibel angenommen werden, wo der politische Umgang mit dieser Krankheit vom „normal schlechten“ Lauf der Gesundheitspolitik nach unten hin abweicht und dies mit einer Diskriminierung Aids-Kranker oder risikotragender Minderheiten verbunden ist. An solchen Punkten rutscht die auf Aids bezogene Gesundheitspolitik zu einer repressiven Sexual-und Drogenpolitik ab, Aids wird dann für andere Zwecke instrumentalisiert, obwohl das gesundheitliehe Ziel (vor allem die Prävention) dadurch gefährdet wird (kontraproduktive Gesundheitspolitik). Solche Einbruchstellen lassen sich benennen. Sie lassen allerdings nicht auf eine eindeutige Tendenz schließen, zumal ihnen zahlreiche positive Beispiele gegenüberstehen. a) Einbruchstellen finden sich überall dort, wo Polizeilogik über Gesundheitslogik dominiert. Dabei steht die Bekämpfung von Aids unter der Leitfrage: Wie ermitteln wir möglichst viele individuelle Infektionsquellen, und was können wir tun, um diese Infektionsquellen stillzulegen (Individuelle Suchstrategie, im Gegensatz zur gesellschaftlichen Lernstrategie)? Strategien dieses Typus haben auch bei den klassischen Infektionskrankheiten nie einen entscheidenden Beitrag zum Sieg geleistet. Im Kampfgegen sexuell übertragbare Krankheiten waren sie nur dort von (eingeschränktem) Nutzen, wo die Krankheit sofort sicher diagnostizierbar und umstandslos leicht therapierbar war (Syphilis) und die betroffenen Populationen in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staat standen (z. B. kasernierte Soldaten mit de facto staatlich organisierter Prostitution).

Weltweit hat sich deshalb in den Ländern mit einer den Prinzipien der Rationalität, der Aufklärung und Effektivität verpflichteten Gesundheitspolitik die Überzeugung durchgesetzt, daß Strategien der systematischen (und damit immer auch zwangsweisen) Suche nach Infizierten im Verhältnis zu den dafür erforderlichen gesellschaftlichen und zivilisatorischen Aufwand „zu teuer“ und auch ineffektiv sind. Zu diesem Zweck müßte eigens ein gewaltiger Polizei-und Kontrollapparat geschaffen werden. Zudem würde man mit dem Faktum zigtausender, fälschlich als seropositiv identifizierter Menschen leben müssen. Einige tausend falsch negativ diagnostizierter Menschen würden gleichzeitig das Virus — dann wirklich ahnungslos — weitertragen. Außerdem würden mit einer solchen Aktion zigtausende psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch behandlungsbedürftige „Fälle“ und einige hundert Suizide produziert, von der weit über Aids hinausgehenden Hysterisierung der Gesamtbevölkerung noch ganz abgesehen.

Trotz der auch international sehr weitgehenden Ablehnung von Strategien der „Dingfestmachung“ von Infizierten gibt es auch in der Bundesrepublik noch zahlreiche offene und verdeckte Anhänger dieses Strategietypus Im bayerischen Maßnahmekatalog werden Ansätze dieser Strategie — mit beträchtlichem Flurschaden für die Aids-Prävention und für die Zivilisation — zumindest symbolisch an den sich hierfür anbietenden Gruppen der Fixer, der Prostituierten, der Gefangenen, der Beamten-anwärter und der Asylbewerber exekutiert Fundierte Hypothesen über die gesundheitspolitische Wirksamkeit dieses Ansatzes wurden noch nie vorgelegt, die Begründung erschöpft sich durchweg in einem sinngemäßen „Das haben wir immer so gemacht“. Die Vertreter der Suchstrategie haben sich durch das wissenschaftliche und politische Fiasko ihres Ansatzes nicht entmutigen lassen: Sie tauchen überall auf, wo es darum geht, den Test möglichst breit einzusetzen und bestimmte Gruppen „zwangszutesten“. b) Einbruchstellen finden sich auch in staatlich reglementierten Institutionen. Wenn z. B. in Gefängnissen aus gesundheitlich nicht begründbaren Motiven der Einsatz von (mehr oder weniger freiwillig getesteten) HIV-Positiven in der Gefängnisküche „ausschließlich aus psychologischen Gründen“ unterbleibt, so kann damit keine gesundheitsbezogene Psychologie gemeint sein. Feuerrote, aber auch andersfarbige Schutzhandschuhe im Umgang mit Seropositiven entsprechen ebenfalls sicher keinen sinnvollen gesundheitlichen Überlegungen. Ob die Bundeswehr den HIV-Antikörpertest für alle Rekruten auch dann abgelehnt hätte, wenn sie nur Freiwillige, nicht aber ganze Jahrgänge von Wehrpflichtigen durchtesten müßte — darüber kann nur spekuliert werden. c) Unklar ist die Lage im Sozialrecht. Zwar steht Aids als gesundheitliches Großrisiko vollständig und unangefochten unter dem Versicherungsschutz der gesetzlichen Krankenkassen (im Gegensatz z. B. zur Handhabung in den USA). Die Einführung des HIV-Antikörpertests als Zugangsvoraussetzung für ein Versicherungsverhältnis bzw. für gesetzliche Versorgungsleistungen durch einzelne Landesversicherungsanstalten und Allgemeine Ortskrankenkassen stellt jedoch ohne Zweifel einen präventionsfeindlichen Einbruch dar. Ob diese Regelung auch dann getroffen worden wäre, wenn die davon Betroffenen „achtbare Bürger“ und nicht Angehörige gesellschaftlicher Randgruppen gewesen wären, erscheint fraglich. Angesichts der weit über Aids hinausreichenden gesundheitspolitischen Sprengkraft, die in solchen Tests und ihrer Einführung ausgerechnet über dem Sozialrecht liegt, scheint eine Rückbesinnung dieser Institutionen auf die ihre Arbeit tragenden Prinzipien der Solidargemeinschaft und des Gesundheitsschutzes zumindest nicht unwahrscheinlich. d) Die Institutionen medizinisch-kurativer Behandlunghaben sich in Fragen der Betreuung und Behandlung von Seropositiven und Aids-Kranken offenbar bislang gegenüber der Versuchung repressiver Behandlung von Patienten im großen und ganzen und trotz zum Teil hysterischer Ausnahmen bewährt. Die Steuerung von Forschungsressourcen an den Notwendigkeiten der Prävention vorbei findet sich in der gesamten Gesundheitsforschung und ist wohl nicht Aids-spezifisch. Ähnlich sieht es mit den im Falle von Aids sogar relativ geringen Problemen der Ärzteschaft aus. mit Betroffenen und Betroffenenorganisationen gleichberechtigt zu kooperieren. Weit unter ihren Möglichkeiten blieben bislang die Epidemiologie und speziell die Sozialepidemiologie mit ihrem Beitrag zur Erhellung der Herkunft und des Verlaufs von Aids. Auch diese Schwächen der Forschung sind jedoch nicht Aids-spezifisch, sondern finden sich bei den Untersuchungen zu allen, auch den großen Volkskrankheiten. Auch dort wird die gesundheitspolitische Frage: Warum und unter welchen Umständen bleiben Menschen gesund? regelmäßig geringer gewichtet als die individual-medizinische Frage: Wie viele Menschen werden krank, und was können wir dann für die Kranken noch tun?

Die Medizinstatistik hat sich einschließlich ihres in Form von Hochrechnungen aller Art erblühten Wurmfortsatzes bislang unfähig gezeigt, zu einer sachlichen Aufklärung und halbwegs dimensionierten Risikoabschätzung beizutragen. Die undifferenzierte Addition und Kumulation von Neuerkrankungen, Kranken und Toten über viele Jahre hinweg sowie die methodisch nicht haltbaren (und inzwischen — von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen — auch revidierten) Aussagen über „Verdopplung von Aids in jeweils acht Monaten“ oder ähnliches haben unzweifelhaft hysterisierend gewirkt und waren damit — in der Konsequenz — auch gesundheitsschädlich Doch wäre es voreilig, dies auf eine bewußte oder unbewußte Diskriminierung von Minderheiten zurückzuführen: Daß beim Auftreten einer gänzlich neuen Krankheit zunächst Inzidenz (Anzahl neuer Erkrankungsfälle in der Zeiteinheit), Prävalenz (Häufigkeit der Krankheitsfälle zum Zeitpunkt der Untersuchung) und Letalität (Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur Zahl der Erkrankungsfälle) nicht nach Perioden bzw. Stichtagen erfaßt werden, sondern erst einmal alles aufaddiert wird, ist verständlich. Wenn auch beim mehrjährigen Umgang mit dieser neuen Krankheit nicht zu der seit Jahrzehnten eingeführten und Vergleichbarkeit herstellenden Darstellungsform zurückgefunden wird so liegen die Gründe dafür zwar sicher auch im Medizinsystem, haben aber nur bedingt etwas mit der Diskriminierung von Minderheiten zu tun: Aids-Forscher brauchen und wollen Geld, unter anderem staatliche Subventionen. Sie würden sich — bei gegebener Struktur der Forschungsförderung — keinen Gefallen tun, wenn sie das von ihnen zu untersuchende Problem nicht so groß wie möglich darstellen würden. Daß diese Zahlen dann von einer aus Markt-gründen an auch quantitativer Überzeichnung interessierten Presse aufgegriffen werden, hat die Epidemiologie sicher nicht allein zu vertreten.

Versagt haben Teile der ärztlichen Profession dagegen sicher in der Frage der ungezielten Reihenuntersuchung mit dem HlV-Antikörpertest an symptom-losen Versuchspersonen. Wie die Ärzteschaft auf das — allerdings staatlich legitimierte — Angebot eines vergleichbar gesundheitlich folgenschweren, therapeutisch aber irrelevanten Tests reagiert hätte, dessen Zielgruppe nicht Schwule, Fixer und Prostituierte sind, ist nicht leicht zu entscheiden. In der Frage des HIV-Antikörpertests war der Doppelsog aus Vorurteilen und medizinischem Expansionstrieb offenbar stärker als die ärztliche Ethik. Von einer Gewährleistung des „informationellen Selbstbestimmungsrechts“ im Umgang mit Blut kann nach übereinstimmendem Expertenurteil derzeit nicht mehr überall gesprochen werden Es erscheint jedoch nicht unrealistisch, auch an diesen Einbruchstellen ärztlicher Professionsethik auf eine Selbstbesinnung zu hoffen. e) In der zentralstaatlichen Aufklärungsund Medizinpolitikfinden sich sowohl richtige Schritte als auch gesundheitspolitische Fehler. Die relative Gelassenheit staatlicher Aufklärung gegenüber der Hysterie in einigen Massenmedien hat die prinzipielle Fähigkeit bewiesen, Gesundheitspolitik nach ihrer eigenen Logik auch gegen Widerstände und Versuchungen zu betreiben. Andererseits gab und gibt es nicht aufholbare Verzögerungen bei der sachlichen Aufklärung und gezielten Forschungsförderung.

Fehlerhaft, weil gesundheitsschädlich, ist dagegen sicher jedes auch nur spielerische Winken mit dem Seuchenrecht einschließlich der namentlichen Meldepflicht: Entsprechende Versuche im Umkreis von Aids z. B. in Schweden haben zu gesundheitspolitisch eindeutig kontraproduktiven Ergebnissen geführt und wurden dort de facto zurückgenommen Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten kommt nach den Worten eines ihrer Vorstandsmitglieder auf Basis von 84 Jahren Erfahrung mit diesem Problem zu dem Resümee, daß die „verschiedensten Arten der Meldepflicht . . . eigentlich nichts gebracht haben“ Da Beispiele für positive Wirkungen der Meldepflicht fehlen, kann hinter Versuchen ihrer Einführung kaum eine gesundheitsbezogene Logik vermutet werden.

Die sachlich nicht zu vertretende Zurückhaltung und Verzögerung der nur öffentlich, sexualitätsbejahend und vorurteilsfrei zu führenden Kampagne für die Notwendigkeit der Kondombenutzung bei wechselnden Partner/innen dürfte verschiedene Gründe haben. Darunter gibt es mindestens zwei, die nicht als Fortführung der Diskriminierung der zunächst sichtbar gewordenen Betroffenengruppen zu interpretieren sind. 1. Staatliche Gesundheitspolitik, die nicht ohnehin stark auf Prävention orientiert ist, hat generell Schwierigkeiten, ohne öffentlichen Druck und ohne beängstigende Zahlen manifest Kranker ungewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. 2. Die Durchführung dieser Kampagnewürde jene Repräsentanten des Staats in — sicherlich zu bewältigende — Identitätsprobleme stürzen, die sich als Träger einer auf Monogamie orientierenden „öffentlichen Sittlichkeit“ verstehen.

Die rasche und zum Teil unbürokratische Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen stellt dagegen sicherlich einen innovativen und richtigen Schritt staatlicher Gesundheitspolitik dar. Ob Zensur-und Gängelungsversuche staatlicher Stellen gegenüber den Aids-Hilfen eher die gängigen Spielraumkämpfe zwischen scheinbar „unpolitischem Verwaltungshandeln“ und „autonomen Projekten mifStaatsknete“ sind, ob es sich um die Auswirkungen einer allgemein verklemmten Sexualpolitik handelt oder ob sich hier eine spezifische Schwulen-/Prostituierten-/Fixer-Diskriminierung abzeichnet — dies ist derzeit nicht leicht zu entscheiden. In jedem der drei Fälle aber wäre die Unterwerfung der Aids-Hilfe unter die Verwaltungslogik eine gesundheitspolitische Niederlage.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß auch jene gesundheitspolitischen „Einbruchstellen“, an denen gegebene Möglichkeiten der Aids-Bekämpfung und -Prävention nicht genutzt wurden/werden, nicht direkt auf eine Diskriminierung der zuerst sichtbar gewordenen Betroffenengruppen hindeuten. An zahlreichen Punkten scheint diese Tendenz aber zumindest durch. Es ist deshalb notwendig und legitim, wenn die Betroffenen und ihre Organisationen mit besonderer Sensibilität auf derartige Entwicklungen achten und im je gegebenen Fall auch öffentlich Alarm schlagen.

Denn andererseits kann kein Zweifel daran bestehen. daß es einen Kompromiß zwischen den beiden großen Alternativen des gesellschaftlichen Umgangs mit Aids nicht geben kann: Entweder man setzt auf Prävention, Aufklärung, Eigenverantwortung. Selbststeuerung und staatlich ermöglichte Selbsthilfe, oder man betreibt Angstkampagnen. Repression und die Ausgrenzung von Minderheiten. Zugespitzt formuliert: Jedes Mehr an Repression ist ein Weniger an Prävention. Die hier vorgelegten Überlegungen gehen von der Voraussetzung aus. daß es möglich bleiben wird, das Gesundheitsproblem Aids in einem gesellschaftlichen Klima der Rationalität und der Aufklärung zu begegnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Rolf Rosenbrock, Aids kann schneller besiegt werden — Gesundheitspolitik am Beispiel einer Infektionskrankheit, Hamburg 19873.

  2. Vgl. Heinz Harald Abholz. Risikoverminderung als präventives medizinisches Konzept, in: Krankheit und Ursachen, Argument-Sonderband AS 119, Berlin 1984.

  3. Bertino Somaini (Bundesamt für Gesundheitswesen der Schweiz), in: Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode. Enquete-Kommission . Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung', stenographisches Protokoll der 9. Sitzung vom 15. 10. 1987. S. 60.

  4. Vgl. Michael Ippen. Zum Risiko einer berufsbedingten Übertragung der HIV-Infektion bei Gesundheitsberufen. Literaturstudie im Auftrag der Gesundheitsbehörde Hamburg, In großen der war Hamburg 1988.der Mehrzahl Unfälle die Infektion der Patienten bekannt, eine vorherige Testung hätte keine erhöhte Sicherheit gebracht.

  5. Die Minimierung der Anzahl unfreiwilliger Situationen (Vergewaltigungen) ist mit und ohne Aids eine nicht mit den Instrumenten der Seuchenstrategie zu lösende Aufgabe der Politik im weitesten Sinne.

  6. Vgl. R. Rosenbrock (Anm. 1), S. 15— 24.

  7. Vgl. Thomas McKeown. Die Bedeutung der Medizin für die Gesundheit, Frankfurt 1982.

  8. Vgl. Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung. Kapitel 3: Primärprävention. BT-Drucksache 11/2495, abgedruckt in: Zur Sache — Themen parlamentarischer Beratung, 3/1988: Aids: Fakten und Konsequenzen, hrsg. vom Referat Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestages, Bonn 1988.

  9. Vgl. Rolf Rosenbrock, Soziale, medizinische und sozialwissenschaftliche Voraussetzungen der Prävention und Bekämpfung von Aids. WZB-IIVG-pre 87/209, Berlin 1987. u. a. in: AIDS-Forschung (AIFO). 3 (1988) 3. S. 163 ff.

  10. Vgl. Sam Packett/Larry L. Bye, The Stop Aids Project. An interpersonal aids-prevention program, San Francisco

  11. Vgl. Albert Eckert. Aids und Veränderungen im Sexual-verhalten, sowie Sigrid Michel, HIV-Antikörpertest und Prävention. Literaturgutachten im Auftrage des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Berlin 1988 (Veröffentlichung in Vorbereitung).

  12. M. L. Burr/P. C. Elwood. Research and Development of Health Services — Screening, in: W. W. Holland/R. Detels /G. Knox (eds.). Oxford Textbook of Public Health, Oxford 1985.

  13. Vgl. Knut M. Wittkowski. Wann ist ein HIV-Test indiziert? in: Deutsches Ärzteblatt. 85 (1988) 37. S. 1510 f.

  14. J. M. G. Wilson/G. Jungner, Principles and Practice of Screening of Disease, Genf 1968/71.

  15. Vgl. Rolf Rosenbrock, HIV-Positivismus — Plädoyer für die Einhaltung der Kunstregeln, in: Kursbuch 94: Seuchen, Berlin 1988.

  16. Vgl. Sigrid Michel, HIV-Antikörpertest und Prävention (Änm. 11).

  17. Vgl. Manfred Bruns. Aids. Alltag und Recht, in: Monatsschrift Deutsches Recht (MDR). 41 (1988) 5. S. 353ff.. sowie Günter Frankenberg. Aids-Bekämpfung im Rechtsstaat. Baden-Baden 1988.

  18. Vgl. Christian von Ferber. Gesundheit und Gesellschaft. Haben wir eine Gesundheitspolitik?. Stuttgart 1971; Rolf Rosenbrock, Prävention — warum sie nicht stattfindet und was zu tun ist, in: Dr. med. Mabuse. 12 (1987) 47. S. 50 ff.

  19. Vgl. Friedrich Hauß/Frieder Naschold/Rolf Rosenbrock. Schichtenspezifische Versorgungsprobleme und leistungssteuernde Strukturpolitik im Gesundheitswesen, in: dies. (Bearbeiter). Schichtenspezifische Versorgungsprobleme im Gesundheitswesen, Forschungsbericht 55 (Gesundheitsforschung). hrsg. vom BMAuS. Bonn 1981; sowie Alfred Schmidt/Erwin Jahn/Bodo Scharf (Hrsg.). Der solidarischen Gesundheitssicherungdie Zukunft. WSI-Studie Nr. 60, Köln 1987. WSI-Studie Nr. 63. Köln 1988.

  20. Frank Rühmann. Aids — eine Krankheit und ihre Folgen, Frankfurt-New York 19852.

  21. Vgl. Gerald Mackenthun. Katastrophen lassen sich gut verkaufen, in: Umweltmedizin, Argument-Sonderband AS 125, Berlin 1985.

  22. Vgl. hierzu vor allem die ausgezeichnete Studie von Allan M. Brandt. No magic bullet. A social history of venereal disease in the United States since 1880, New York-Oxford

  23. Zum Beispiel: Gert G. Frösner. Wie kann die weitere Ausbreitung von Aids verlangsamt werden?, in: Aids-Forschung (AIFO). 2 (1987) 1. S. 61— 65. sowie K. D. Bock. Aids, die unbewältigte Herausforderung, in: AIFO. 2 (1987) 7. S. 357 ff.; Vertreter der . Suchstrategie’ übersehen regelmäßig. daß ihr Ansatz aus dem Gesundheitsproblem Aids ein Polizeiproblem macht, was — jenseits aller Zivilisations-und Bürgerrechtsfragen — verheerende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Lemklima hat und ein gefährliches, weil falsches Gefühl von Sicherheit vermittelt. Zum Vergleich der beiden Strategien vgl. R. Rosenbrock. Politik mit und gegen Aids, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 32 (1987) 9.

  24. Vgl. Bayerische Staatsregierung. Aids: Vollzug des Seuchenrechts.des Ausländerrechts und des Polizeirechts. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren vom 19. Mai 1987. Nr. IE/IA/IC-5280-8. 2/7/87. in: Ministerialamtsblatt der bayerischen inneren Verwaltung. 39. (106.) Jg.. Nr. 10. S. 246— 256. Mit Maßnahmen nach diesem Zwangskatalog, der zeitlich und sachlich vor den (im Bundesländer-Vergleich unterdurchschnittlichen) bayerischen Maßnahmen zur Aufklärung und Betreuung in Kraft gesetzt wurde, konnten im ersten Halbjahr sechs Drogenbenutzer, ein Stricher, eine Prostituierte und zwei Asylbewerber amtlich als HIV-positiv ermittelt werden. Gegen 25 Personen aus Nicht-EG-Ländem. darunter 15 Prostituierte und sechs Fixerinnen, wurden . aufenthaltsbeendende Maßnahmen'ergriffen (vgl. Der Spiegel. Nr. 13/1988. S. 45 ff.). Unter Präventionsgesichtspunkten ist dieser Effekt kaum größer als Null, und mit Sicherheit ist der am Lem-, Aufklärungsund Beratungsklima angerichtete Schaden um ein Vielfaches größer.

  25. Vgl. Ulrich Clement, Höhenrausch, in: V. Sigusch (Hrsg.). Aids als Risiko. Hamburg 1987. S. 210— 217.

  26. Das fordert u. a. auch die Aids-Enquete des Deutschen Bundestages, vgl. Zwischenbericht (Anm. 7), S. 19. Ziff. 7.

  27. Vgl. ebda. S. 22. Ziff. 1. 1. 5.

  28. Vgl. Rolf Rosenbrock. Schweden: Zwangloser Zwang, in: Die Zeit vom 25. 3. 1988 (Dossier: Aids in Europa), sowie ders.. Aids in Schweden, in: vor-sicht, 3 (1988) 5. S. 7 und 13-19.

  29. S. Borelli. in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, 76. Sitzung am 19. 3. 1986 (Wortprotokoll), S. 83.

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Rolf Rosenbrock, Dr. rer. pol., geb. 1945; Priv. -Doz.; Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitsrisike und Präventionspolitik im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB); Mitglied der Med zinredaktion der Zeitschrift DAS ARGUMENT; Mitglied der Enquete-Kommission „Aids“ des Deu sehen Bundestages. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Friedrich Hauß) Krankenkassen und Prävention, Berlin 1985; Aic kann schneller besiegt werden, Hamburg 19873.