Die Geschichte des linken Terrorismus in Italien ist eng mit der Radikalisierung einiger Ränder der in den sechziger Jahren aktiven politischen Bewegungen verbunden. Es wird die These vertreten, daß der linke Terrorismus interpretiert werden muß als interne differenzierte Anpassung des Sektors der sozialen Bewegungen an die verschiedenen Etappen der Protestzyklen in Relation zu den für sie gegebenen politischen Chancen. Die erste Welle der Mobilisierung war dadurch gekennzeichnet, daß in sie zahlreiche soziale Gruppen und politische Organisationen verwickelt waren. Der Umfang der sozialen Veränderungen, die im Gange waren, kann gemeinsam mit den starken Widerständen gegen Reformen die Länge der Mobilisierung und die graduelle Radikalisierung der Aktionsformen erklären. In dieser Periode, in der die „Brigate Rosse“ gegründet wurden, blieb der linke Terrorismus allerdings ein völlig marginales Phänomen. Politisch relevant wurde er in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre durch eine Welle des Jugendprotests, die auftrat, als die vorhergehende Protestwelle noch nicht wieder völlig reassorbiert worden war. Widersprüchlich in ihrer Ideologie und gewaltsam in ihren Aktionsformen sah sich die Jugendbewegung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts mit einem geschlossenen politischen System konfrontiert. Während die Mobilisierung, vor allem auch auf Grund der eigenen Gewalt, rasch erlosch, gründeten einige wenige Überreste illegale Gruppen, die zu einem Teil nach einigen wenigen Anschlägen wieder verschwanden, zum anderen Teil in den größeren terroristischen Organisationen aufgingen, und somit zur stetigen Zunahme der politischen Gewalt beitrugen.
L Das Entstehen politischer Gewalt
Die Ursachen des italienischen Terrorismus wurden häufig mit einigen Besonderheiten oder „Pathologien“ kultureller, wirtschaftlicher und politischer Aspekte Italiens in Verbindung gebracht. Als kulturelle Variablen wurden z. B. die Existenz zweier feindlicher Subkulturen und die Störungen im Wertesystem, die durch den Wandel von einer traditionellen in eine moderne Gesellschaft verursacht wurden, angeführt Auf wirtschaftlicher Ebene hob man den produktiven und geographischen Dualismus und die Auswirkungen der Ölkrise der frühen siebziger Jahre hervor Die Unzulänglichkeit dieser Interpretationen liegt vor allem in der mangelnden Aufmerksamkeit, die sie den Prozessen widmen, die zwischen den Makro-Variablen, die auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene in Betracht gezogen werden, und der Entwicklung eines politischen Phänomens wie des Terrorismus intervenieren. In diesem Zusammenhang sollen die politischen Prozesse besonders untersucht werden.
Eine weit verbreitete Erklärung für das Entstehen und die Konsolidierung von Untergrundorganisationen weist auf „Blockierungen“ im politischen System hin In der politischen Debatte entwikkelt. wurde diese Hypothese mit einigen Modifikationen auch von der wissenschaftlichen Literatur aufgenommen. Die Blockierungen im politischen System wurden ein Synonym für den Mangel an Reformen für das Nichtstattfinden eines Wechsels in der Regierungskoalition oder, im Gegen-teil, für die Aufnahme des PCI (Partito Comunista Italiano/Italienische Kommunistische Partei) in das Regierungslager mit dem daraus folgenden Fehlen einer Opposition, die zur Formulierung neuer Forderungen fähig gewesen wäre
Die Theorie eines blockierten politischen Systems kann sowohl auf der Ebene ihrer theoretischen Konsistenz als auch auf der Ebene ihrer empirischen Beweisbarkeit kritisiert werden. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, können die Interaktionen zwischen einem „blockierten“ politischen System und anderen kollektiven Akteuren, die im Gegenteil „mobil“ sind, mit dem Konzept der Blokkierung nicht analysiert werden Es erscheint sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen dem institutionellen System des „Decision Making“ und neu auftauchenden Forderungen zu richten
In Italien kann wie in anderen Ländern die Existenz enger Verbindungen zwischen Protest und linkem Terrorismus nicht verneint werden Das Problem der Qualität dieser Verbindungen blieb allerdings weitgehend ungeklärt: Ist Terrorismus das Nebenprodukt der Begeisterung des „statu nascendi“ oder der Enttäuschung während des Niedergangs der Mobilisierung Kommt es zur Anwen-düng von Gewalt in den konfliktreichsten Phasen oder während des Auslaufens der Bewegung Ausgehend von einer vorzeitigen Institutionalisierung oder einer Marginalisierung der Opposition Wird Gewaltanwendung gefördert von einer erfolgreichen oder einer erfolglosen Protestbewegung?
Im folgenden sollen diese Fragen unter dem Aspekt der Entwicklung der politischen Chancenstruktur in den verschiedenen Phasen des Protests und für die verschiedenen beteiligten Akteure beantwortet werden. Es wird von der Hypothese ausgegangen, daß die Entstehung des linken Terrorismus die Folge einer internen differenzierten strategischen Anpassung innerhalb des „Social Movement Sector“ an die verschiedenen Phasen des Protestzyklus in Relation zu der verfügbaren politischen Chancenstruktur ist
Die angewandten Kategorien bedürfen weiterer Erklärung. „Chancenstruktur“ wurde definiert als das Potential für Gewinn und Verlust, das den neu entstehenden Organisationen sozialer Bewegungen bei der Benutzung unkonventioneller Aktionsformen zur Verfügung steht In Tarrows Analyse sind die Variabein, die die Chancenstruktur einer Protestbewegung definieren, folgende: die relative Offenheit oder Geschlossenheit des formalen Zugangs zu Politik im Sinne der Fähigkeit des politischen Systems, spezifische Forderungen zu erfüllen; die Stabilität der Bindekräfte innerhalb des politischen Systems; die potentiellen Verbündeten der Bewegung, d. h. die Verfügbarkeit und Orientierung der übrigen politischen Akteure Man kann annehmen, daß sich diese Variabein auf den Aufstieg einer Bewegung anders auswirken als auf ihre Erfolgschancen, auf die Kooptierung von Organisationen in das institutioneile System anders als auf die Gründung von Untergrundorganisationen. Im folgenden wird weiterhin davon ausgegangen, daß sich die Chancenstruktur innerhalb eines gegebenen Zeitraums ändert und für Akteure derselben kollektiven Bewegung unterschiedlich sein kann.
Das Konzept des Protestzyklus erlaubt es uns, mit der Existenz einer zeitlichen Dynamik zu arbeiten. „Protestzyklus“ wurde definiert als „made up of a series of individual and group decisions to take conflictual collective action on the part of both . movement 4 and , non-movement‘ actors and the responses to their actions by elites and others“ Ein Protestzyklus besteht, wenn Protest sich über einen Zeitraum hinweg intensiviert und auf verschiedene soziale Sektoren und geographische Gegenden ausdehnt. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Aufstieg gewalttätiger Randgruppen durch das Merkmal der politischen Chancenstruktur in den verschiedenen Phasen des Protests beeinflußt wird.
Die Chancenstruktur ändert sich nicht nur über einen gewissen Zeitraum hinweg, sondern ist auch unterschiedlich für die verschiedenen politischen und sozialen Akteure, die an dem Protestzyklus beteiligt sind. In jeder kollektiven Bewegung ist mehr als eine Organisation aktiv, und mehr als eine kollektive Bewegung handelt in demselben historischen Kontext. Wie Garner und Zaid es ausdrükken: Mehrere soziale Bewegungen bewohnen denselben „Social Movement Sector“, der als Beziehungsnetz von Konflikt und Kooperation der Organisationen der Bewegung in einer Gesellschaft in einem gegebenen Augenblick definiert wird Dieselbe Chancenstruktur kann daher unterschiedliche Auswirkungen auf Organisationen sozialer Bewegungen haben und zur gleichen Zeit die Kooptierung einiger und die gewaltsame Ausgrenzung anderer, das Überleben einiger und das Verschwinden anderer verursachen.
Soziale Gruppen und politische Organisationen innerhalb desselben Protestzyklus unterscheiden sich voneinander in ihren Ideologien und Aktionen. Unterschiedliche Gruppen und Organisationen, die alle Teil derselben Kultur sind, produzieren unterschiedliche ideologische Ausformungen und Aktionspraktiken, deren Verschiedenheit sie oft hervorheben, um ihre spezifische Relevanz innerhalb ihrer Umgebung zu verstärken. Die strategischen Entscheidungen der Führer der Bewegung werden durch den „unternehmerischen“ Versuch beeinflußt, eine spezifische politische Identität zu definieren. Aus diesem Grund experimentieren unterschiedliche Organisationen der Bewegung und Fraktionen derselben Organisation mit unterschiedlichen möglichen Taktiken. Angesichts günstiger Umweltbedingungen entscheiden sich einige Gruppen dafür, die Effektivität einer Radikalisierung der Maßnahmen und der Organisationsform als strategische Option zu testen, um sich von ande-ren Organisationen, die in derselben Bewegung aktiv sind, zu differenzieren. Während der Demobilisationsphase verstärken einige Fraktionen innerhalb der radikaleren Organisationen sowohl den Gebrauch gewaltsamer Taktiken als auch die Abschottung ihrer organisatorischen Struktur. Das Entstehen von Untergrundformationen ist somit als Folge eines Prozesses der Polarisierung und Spal-tung zwischen eher moderaten und eher radikalen Fraktionen derselben Organisation zu sehen. Den Fraktionen, die den Untergrund wählen, fehlen gewisse Arten von politischen Handlungsressourcen, an ihrer Stelle aber besitzen sie die Voraussetzungen (Strategien und organisatorische Struktur), die zu einem stärkeren Einsatz von Gewalt nötig sind
II. Die politische Chancenstruktur. Protestzyklen und die Entstehung des Terrorismus
Abbildung 5
Schaubild 2: Ein Modell zum Entstehen von Untergrundorganisationen
Schaubild 2: Ein Modell zum Entstehen von Untergrundorganisationen
Im Schaubild 1 sind die Resultate meiner Untersuchung über die Anzahl der Anschläge des linken Terrorismus in Italien von 1970 bis 1983 dargestellt. Die beiden Kurven beziehen sich auf die Gesamtzahl der Anschläge und auf die Aktionen, bei denen Menschen verletzt oder getötet wurden. Die Frequenz wird nach Quartalen bemessen, bereinigt mit der Technik des „Moving Average“, um saisonale Schwankungen auszugleichen
Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre begann der Terrorismus die Aufmerksamkeit von Medien und öffentlicher Meinung auf sich zu ziehen. Tatsächlich war die Zahl terroristischer Aktionen bis 1973 gering und nur vier waren gegen Personen gerichtet. Auch in den folgenden zwei Jahren blieben die Aktivitäten des linken Terrorismus trotz einer gewissen Intensivierung relativ sporadisch: vier bzw. neun Anschläge gegen Personen in den Jahren 1974 und 1975 bei einem Durchschnitt von 50 Aktionen.
Den Wendepunkt stellt das Jahr 1976 mit einem plötzlichen Anstieg sowohl der Gesamtzahl terroristischer Aktionen als auch der Anschläge gegen Personen dar. Die Zahl der Anschläge gegen Personen stieg auf 16, die Zahl der Aktionen gegen Sachen auf 87. Der größte Anstieg war ohne Zweifel im folgenden Jahr zu verzeichnen, in dem sich sowohl Anschläge gegen Personen als auch gegen Sachen mehr als verdoppelten (36 bzw. 165). Während 1977 die höchste Anzahl von Aktionen gegen Sachen erreicht wurde, stieg die Zahl der Anschläge gegen Personen weiter an und erreichte im Jahr 1978 ihr Maximum von 57. Dieselbe Zahl wurde 1979 erreicht, während die Zahl der Aktionen gegen Sachen auf 132 Anschläge zurückzugehen begann.
Deutlicher war die abfallende Parabel im Jahr 1980, in dem die Zahl der Anschläge gegen Personen auf 35 zurückging, die gegen Sachen auf 95. Dieser Trend setzte sich in den folgenden zwei Jahren fort, wobei sich allerdings die Aktionen gegen Sachen schneller verringerten (auf 40 im Jahr 1981 und auf 25 im Jahr 1982). Die Zahl der Anschläge gegen Personen blieb hingegen höher (1981: 1982: 25) 23).
Wir können somit davon ausgehen, daß die Entwicklung des italienischen Terrorismus 15 Jahre umfaßt, während derer zumindest zwei unterschiedliche Protestwellen erkennbar werden. Während dieses Zeitraums verändert sich die politische Chancenstruktur, was die verschiedenen sozialen Bewegungen und ihre Organisationen auf unterschiedliche Weise beeinflußt.
In einer ersten Phase (von 1970 bis 1975) zeigt der Terrorismus in Italien im Vergleich mit den anderen industrialisierten Demokratien, in denen das-selbe Phänomen existiert, keine Besonderheiten. Die ersten Untergrundorganisationen entstanden in der abfallenden Phase des Protestzyklus und schienen (zumindest während der gesamten ersten Hälfte der Dekade) die radikaleren Ränder einer gewaltlosen Massenbewegung zu repräsentieren. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hingegen wurde der italienische Terrorismus zum politischen Akteur und begann, das politische System zu beeinflussen. Die Länge und Intensität dieser zweiten Phase machen den Terrorismus in Italien zu einem im Vergleich mit anderen industriellen Demokratien einzigartigen Phänomen 1. Der Protestzyklus Ende der sechziger Jahre und die ersten terroristischen Organisationen Politische Gewalt entstand als ein Nebenprodukt des Protestzyklus Ende der sechziger Jahre. Eine Studie über die Charakteristika und die Dynamik des Zyklus beschreibt die Entwicklung gewaltsamer Maßnahmen Als wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten. daß die Gewaltkurve während des Protest-zyklus in Italien in keiner Weise mit dem Protest-verlauf im Ganzen vergleichbar war: Sie entfaltete sich später, verlief vor allem über Kleingruppenformationen und nicht über den Einklang einer größeren Anzahl von Handlungen; insgesamt war sie kein wichtiger Aspekt zur Erklärung der immensen Höhe dieses Protestzyklus Die ersten Phasen des Protests verliefen prinzipiell gewaltlos. Gewalt trat nur gelegentlich als Folge ungeschickten Eingreifens der Polizei bei öffentlichen Massendemonstrationen oder von Zusammenstößen mit neofaschistischen Gruppen auf. In den frühen siebziger Jahren erschienen neue Themen auf der politischen Bühne, und die Zahl der sozialen Akteure und der politischen Organisationen stieg. Nunmehr trat als Folge der Konkurrenz politischer Gruppen, die innerhalb derselben oder rivalisierender Bewegungen aktiv waren, eine neue Art von Gewalttätigkeit auf. Vor allem die Gewalt kleiner Gruppen stieg in dieser Periode an, während Massenaktionen zahlenmäßig zurückgingen und an Spontanität verloren. Gewalt ging nicht aus Protestveranstaltungen hervor, die auf bestimmte Forderungen ausgerichtet waren, sondern aus solchen, die einen hohen symbolischen Gehalt besaßen. Darüber hinaus kam es eher zu Gewaltanwendungen, je stärker die beteiligten Gruppen ideologisch motiviert waren
Der Niedergang der Mobilisierung verstärkte den Konflikt zwischen den politischen Akteuren, die während des Protests ihren Zugang zur institutionellen „Decision Making Arena“ verbessert hatten, und denjenigen, die im Gegenteil davon ausgeschlossen worden waren. Am Ende der ersten Hälftedes Jahrzehnts war es den traditionellen politischen Akteuren gelungen, größere Kontrolle über den Protest zu gewinnen. Im Gegenzug reagierten einige Organisationen auf ihren Mangel an institutionellen Möglichkeiten mit einem stärkeren Gebrauch symbolischer Anreize verbunden mit einer Radikalisierung ihrer Maßnahmen.
Seit 1973/74 änderte sich auch das Verhalten der institutionellen Akteure gegenüber dem Protest.
Während die kommunistische Partei und die Gewerkschaften in den ersten Jahren des Protestzyklus die auftretenden Forderungen kanalisiert hatten, begann sich die Situation schon Anfang der siebziger Jahre zu ändern. Die Ölkrise und die Austeritätspolitik der italienischen Regierung zwangen die Gewerkschaften zunehmend in eine defensive Position. Gewaltsame Aktionsformen, die in der Vergangenheit als ein Mittel zur Stärkung der kollektiven Identität toleriert worden waren, wurden nunmehr von den Gewerkschaftsführern kritisiert. Zur gleichen Zeit war ein Zentralisierungsprozeß des Gewerkschaftsmanagements im Gange, der eine stärkere Kontrolle der Basis mit sich brachte In bezug auf die PCI ist festzuhalten, daß um die Jahreswende 1973/74 die Strategie der Einheit der Linken von derjenigen des historischen Kompromisses zwischen Katholiken und Kommunisten abgelöst wurde.
Die Tendenz radikaler Gruppen, gewaltsame Aktionsformen zu benutzen, verstärkte sich durch die zunehmende Isolation, in die sie infolge dieser Entwicklungen gerieten. In der Demobilisationsphase der Bewegung wurden viele politische Aktivisten überflüssig für die Bedürfnisse ihrer Organisationen. Während einige sich in das Privatleben zurückzogen, intensivierten andere ihre politischen Aktivitäten. Sie wurden in einigen Fällen „Professionals“, in anderen verstärkten Sie ihre freiwillige Beteiligung. „Was in Italien zwischen 1972 und 1973 geschah, war ein abruptes Abbremsen der Konfliktualität und der Klassenmilitanz . . .; aus den Strukturen der Partei und der Gewerkschaften traten schlagartig viele Individuen heraus, die alleine eine Erfahrung des Klassenkampfes besaßen; der größte Teil von ihnen blieb frustriert zurück, andere durchliefen psychologische Prozesse der Verzweiflung, andere, von der Gewerkschaft und der Partei zurückgestoßen, setzten ihren Aktivismus fort, indem sie sich in die Bewegung flüchteten ... Es ist dieses abrupte Abbremsen der Phase der Konfliktualität, das die sich beschleunigende Fortsetzung provozierte, ohne weitere Möglichkeit der Kontrolle“ Enttäuscht von den Ergebnissen legaler Aktionsformen — vor allem verglichen mit den Beschwerden, die z. B. die Gewerkschaften überbetont hatten, um ihrer strukturellen Schwäche mit ideologischen Mitteln zu begegnen — stellten die extremistischen Ränder der Bewegung die Hauptbasis zur Rekrutierung in Untergrundorganisationen dar. Der Rückgang der Massenbeteiligung förderte zwar einerseits die Institutionalisierung, andererseits aber auch die Entwicklungvon Ge-walt. Das politische System inkorporierte einige der Organisationen der sozialen Bewegung und unterdrückte zur gleichen Zeit andere.
Zwei nationale Besonderheiten können den hohen Grad von Gewalt innerhalb der italienischen Protestbewegung erklären. Erstens ist der Sektor der sozialen Bewegungen, was die Anzahl an Organisationen betrifft, von hoher Dichte. Dies ist höchstwahrscheinlich auf die starke Politisierung der italienischen Gesellschaft zurückzuführen. Zweitens war der Protestzyklus besonders lang. Dieser Zeitraum, der als Abschluß der Konsolidierung der italienischen Demokratie beschrieben wurde, brachte so große Veränderungen mit sich — so etwa den Beginn moderner industrieller Beziehungen —, daß sie einen langen und intensiven Konflikt erklären. 2. Die „ 77er-Bewegung" und die zweite Welle des Terrorismus Wie schon erwähnt, liegen die Besonderheiten des Falles Italien vor allem in der Entwicklung des Phänomens in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Sie fiel zusammen mit dem plötzlichen Aufstieg und der vorzeitigen Krise einer neuen Protestwelle, die von den Medien meist als „ 77er-Bewegung“ bezeichnet wird. Widersprüchlich in ihrer Ideologie und gewalttätig in ihren Formen endete sie innerhalb weniger Monate und ließ eine relativ große Anzahl halb-illegaler Organisationen zurück. Einige verschwanden, nachdem sie einige Bombenanschläge verübt hatten, andere organisierten sich mehr und mehr und trugen zu dem stetigen Anstieg von Anschlägen gegen Personen zwischen 1978 und 1980 bei. Drei Aspekte dieser Periode müssen in Betracht gezogen werden:
a) das turbulente Auftreten einer neuen Protestbewegung, deren Charakteristiken sich stark von der vorhergehenden unterschieden;
b) die Geschlossenheit des politischen Systems gegenüber dieser spezifischen Art einer sozialen Bewegung; c) das Bestehen von Untergrundorganisationen, d. h. das vorhandene „Angebot“ an Terrorismus. Die Interaktionen zwischen diesen Elementen führten zur Entstehung neuer terroristischer Gruppen in einem Augenblick, als die alten einem raschen Niedergang entgegenzugehen schienen. Befassen wir uns zunächst mit dem ersten Aspekt. Es sei nochmals hervorgehoben, daß die Bedingungen innerhalb des politischen Systems für die verschiedenen kollektiven Akteure unterschiedliche Folgen haben. Wir sollten daher zunächst die „ 77erBewegung“, die in ihren Anfängen äußerst heterogen war, genauer definieren. Zwar war der Faktor, der den Protest auslöste, ein Vorschlag der Regierung zur Reform des Universitätssystems, aber seit den allerersten Anfängen beteiligten sich die unterschiedlichsten Gruppen an der Bewegung: „proletarische Jugendzirkel“, von der feministischen Bewegung organisierte „consultori", jugendliche Selbsthilfegruppen gegen Drogenhändler, Komitees für die „Selbstreduktion“ von Elektrizitätsrechnungen, linke Piratensender.
Ist es berechtigt zu sagen, daß die Forderungen dieser Gruppen antagonistisch zum demokratischen System waren? Der Forderungskatalog, den die „ 77er-Bewegung“ präsentierte, hätte, trotz aller ihrer Widersprüche, zum größten Teil durch institutionalisierte Verhandlungen erfüllt werden können. Die sich manifestierende Geschlossenheit des politischen Systems ist nicht auf die Unerfüllbarkeit der Forderungen zurückzuführen. Ausschlaggebender Faktor war, daß die „ 77er-Bewegung“ tatsächlich außerhalb des „universe of the traditional political discourse“ stand, d. h. außerhalb der traditionellen Funktionen des politischen Systems und außerhalb dessen, was als politisch galt Die Ideologie der Bewegung schenkte ökonomischen Forderungen wenig Beachtung. Sie zielte auf das ab, was Forscher der neuen kollektiven Bewegungen definiert haben als die Wiederaneignung einer Identität gegenüber einer Macht, die über reine ökonomische Ausbeutung und politische Herrschaft hinausgeht Aus diesem Grund fanden die neuen Forderungen keine institutioneilen Akteure, die bereit gewesen wären, sie innerhalb des politischen Systems zu vermitteln.
Neben den Merkmalen des Protests von 1977, die in sich selbst mit traditionellen Akteuren unvereinbar waren, trugen weitere Faktoren dazu bei, die Bewegung von potentiellen Unterstützern zu isolieren. Der Sieg der laizistischen Kräfte im Referendum über Ehescheidung, und die Gewinne des PCI bei den Lokalwahlen von 1975, die in den allgemeinen Wahlen im folgenden Jahr bestätigt wurden, hatten negative Auswirkungen auf die Organisationen der sozialen Bewegung, die seit der Protestwelle der sechzigerJahre überlebt hatten. Nach dem Wahlerfolg von 1976 war die Strategie der PCI bestimmt von dem Wunsch, als verläßliche Partei angesehen zu werden, fähig, Regierungsfunktionen auf nationaler Ebene zu übernehmen. Diese Periode begann mit der parlamentarischen Vereinbarung zwischen DC und PCI im Juli 1977, die zu Andreottis Min-derheitsregierung bei Enthaltung (oder Nicht-Opposition) der kommunistischen Partei führte. Sie wurde damit fortgesetzt, daß die PCI der neuen Regierung Andreotti im März 1978 das Vertrauen aussprach. Die strategischen Veränderungen der PCI beeinflußten ihr Verhalten gegenüber der neuen Jugendbewegung: Von einem ungeschickten Versuch, die Bewegung zu kooptieren — dies führte zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Aktivisten der Bewegung und Ordnungskräften der Gewerkschaften während einer Rede Luciano Lamas, des Führers der größten Gewerkschaft CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavaro/Allgemeine italienische Konföderation der Arbeit), in der Universität von Rom —, ging man zur völligen Ablehnung aller Gruppen und Interessen über, die im Protest aktiv waren. Im gleichen Zeitraum mußten die Gruppen der neuen Linken ernsthafte Wahlverluste hinnehmen, die ihre Fähigkeit untergruben, den Protest zu organisieren.
Die Radikalisierung ihrer Maßnahmen wurde weiter gefördert durch die unzeitigen oder unangemessenen Reaktionen der politischen Institutionen auf den Protest. Im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern, die keinen eigenen Terrorismus erlebten, ist hervorgehoben worden, daß die historische Schwäche des italienischen Bürgertums das italienische politische System durchlässiger für Protest gemacht hat Die positive Entwicklung der Konfrontation zwischen dem politischen System und den kollektiven Akteuren wurde allerdings schon bald durch die wirtschaftliche Krise abgeblockt. Während der zweiten Protestwelle reagierte das politische System negativ auf Forderungen, die sich auf spezifische Probleme bezogen. Erst nach langer Zeit begannen die Lokalverwaltungen, wenn auch mit reichlicher Konfusion, auf die Beschwerden einzugehen, die während der Unruhen von 1977 vorgebracht worden waren. Außerdem fand die „ 77er-Bewegung“ im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin keine institutioneile Anerkennung
Die Eskalation kollektiver Aktionen wurde auch durch eine dritte Bedingung beeinflußt: das vorhandene „Angebot“ an Terrorismus, d. h. die Existenz von Untergrundorganisationen. „Es sind die Roten Brigaden, die das , Angebot an Terrorismus 4 herstellen und seine Fortsetzung garantieren, indem sie durch ihre Präsenz und ihre Aktionen ... die Plausibilität, die Möglichkeiten, oder in gewisser Weise die mögliche Alternative des bewaffneten Kampfes suggerieren“
Zusammenfassend können einige Beobachtungen zur Chancenstruktur gemacht werden, die den Organisationen der zweiten Protestwelle zur Verfügung stand. Die Organisationen der Bewegung fanden unter den institutionellen politischen Akteuren keinerlei Verbündete. Die Handlungen erfolgten, wenn auch in geringem Umfang, seitens radikaler Gruppen, die in der vorhergehenden Periode entstanden waren. Der Mangel an Vermittlung radikalisierte die Aktionsformen, während das Bedürfnis, sowohl traditionelle als auch neue Inhalte beizubehalten, die Ideologie konfuser und abstrakter machte. Interessen, die von ihrer Beschaffenheit her verhandelbar waren, wurden in der Interaktion mit einem politischen System, das für neue Forderungen unzugänglich geworden war. nicht mehr vermittelt.
III. Die strategische Wahl des Untergrunds und die Entstehung terroristischer Organisationen
Im folgenden sollen die Auswirkungen dieser politischen Chancenstruktur auf die Organisationen der Protestbewegung anhand einer Analyse der Gründungsphase terroristischer Gruppen untersucht werden. Dadurch wird es möglich, sich mit einem weiteren Aspekt der Ursachen des Terrorismus auseinanderzusetzen: den Merkmalen jener zunächst innerhalb legaler Organisationen aktiven Gruppen, die sich später für den Untergrund entschieden.
Der Prozeß der Bildung von Untergrundformationen spielte sich in Italien nicht in der Form einer kasualen Aktivierung von Kontakten zwischen Individuen mit persönlicher Neigung zu Gewalt ab. Untergrundorganisationen wurden von Personen aufgebaut, die nicht nur frühere Erfahrungen politischer Beteiligung in legalen Organisationen gemeinsam hatten, sondern auch durch starke Bande der Solidarität, die in den meist kleinen lokalen Untergruppierungen gewachsen waren, und durch enge zwischenmenschliche Beziehungen aneinandergebunden waren. Um einige Beispiele zu nennen Die BR (Brigate Rosse/Rote Brigaden) wurden in Mailand von Aktivisten einer der zahlreichen linken Gruppen gegründet. Einige von ihnen kamen ursprünglich aus dem marxistisch-leninistischen Umfeld, andere aus der eher traditionellen Linken. Ausgehend von denselben Wurzeln breitete sich die Gruppe im folgenden Jahr nach Turin aus. Völlig anders gelagert ist die Geschichte der „Roten Brigaden“ in Rom, wo eine „Kolonne“ erst 1976 entstand: Die meisten der Gründungsmitglieder hatten vorher PO (Potere Operaio/Arbeiter-Macht) angehört und waren durch Freundschafts-und Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden.
Alle Gründungsmitglieder von PL (Prima Linea/Front-Linie) kamen aus den CCPO (Comitati Comunisti per il Potere Operaio/Kommunistische Komitees für die Macht der Arbeiter), einem informellen Zusammenschluß von Gruppen, die Exmitglieder von LC (Lotta Continua/Fortgesetzter Kampf) und PO gegründet hatten, und die sich um die Zeitschrift „Senza Tregua“ sammelten. In Mailand kamen die Mitglieder der „Kommunistischen Komitees“ (Comitati Comunisti), die den CCPO voran-gingen, aus derselben Sektion von LC in der Arbeitervorstadt Sesto San Giovanni. In Turin teilten die ersten Aktivisten von PL eine gemeinsame Vergangenheit in den „Arbeiter-und Studentenkomitees“ und in den von LC organisierten „Jungen Proletarischen Zirkeln“ in Borgo San Paolo. Die Gründer von PL in Florenz kamen aus zwei „Senza Tregua“ -Gruppen: dem „Collettivo Architettura“ und dem „Collettivo Mensa“.
Die zweite Gruppe von Organisationen, die zu analysieren ist, entwickelte sich aus Beziehungen von Personen, die schon Mitglieder von Untergrundformationen waren: aus den FCC entstanden im Frühjahr 1978 die RCA (Reparti Comunisti d’Attacco/Kommunistische Angriffs-Abteilung) und „Guerriglia Rossa“; aus den RCA im Jahr 1980 die „Lo Muscio Brigade“; aus PL 1979 „Für den Kommunismus“ und 1981 die „Nuclei“; aus den BR und den FAC im Jahr 1979 der MCR (Movimento Comunista Rivoluzionario/Revolutionäre Kommunistische Bewegung). Auch für den Entstehungsprozeß dieser zweiten Gruppe terroristischer Organisationen besaßen schon bestehende Solidaritätsbeziehungen und persönliche Kontakte eine besondere Bedeutung. Dies wurde z. B. von dem Richter hervorgehoben, der „Guerriglia Rossa“ untersuchte und definierte als: „Eine Gruppe von Personen, die gegenseitige Freundschaftsbeziehungen und eine Vergangenheit der Mitgliedschaft in den FCC gemeinsam hatte.“
Welches waren nun aber die Merkmale der legalen Organisationen, aus denen die Untergrundgruppen ihre anfänglichen Mittel nahmen? Einige Interpretationen des italienischen Terrorismus betonen die Rolle der Ideologie derjenigen legalen Gruppen, die der Doktrin des „Operaismo“, die in den sechziger Jahren entstanden war, anhingen Meine Untersuchungen zur Geschichte bewaffneter Gruppen zeigen, daß sie innerhalb legaler politischer Organisationen entstanden, deren Ideologien Gewalt rechtfertigten.
Die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes wurde von legalen Gruppen betont, die häufiger zitiert werden, wenn über die Entstehung von Untergrundorganisationen gesprochen wird: CPM (Collettivo Politico Metropolitano/Politisches Kollektiv der Metropole), LC, PO, CCPO, „Rosso“. Die Zeitschrift von CPM betonte die Notwendigkeit, die kämpfenden proletarischen Massen von dem Prinzip zu überzeugen, daß es ohne militärische keine politische Macht gebe PO und LC wurde vorgeworfen, eine effiziente halb-militärische Struktur aufgebaut, die Aktionen der ersten BR in ihren Zeitungen befürwortet und politischeGewalt verherrlicht zu haben. Mitglieder der Redaktionen von „Rosso“ und „Senza Tregua“ wurden wegen „insurrezione armata contro i poteri dello stato“ gerichtlich verfolgt, wobei die Propaganda für soziale und politische Gewalt, die in den beiden Zeitschriften enthalten war, die Basis der Anklage bildete.
In Italien dominierte im Sektor der sozialen Bewegungen eine politische Kultur, die den Gebrauch gewaltsamer Maßnahmen rechtfertigte. Diese Rechtfertigung entwickelte sich in dem Kontext einer linken Kultur, die charakterisiert ist durch ideologische Komponenten wie die Mythologie der bevorstehenden Revolution, die Definition der Demokratie als einer die Ausbeutung verdeckende Maske, die Dominanz der Ideologie über die Theorie, die Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv, die Propaganda für einen gewaltsamen Umsturz der Institutionen des Staates In diesem Sinne waren ideologische Prinzipien, die den Boden für terroristische Ideologien vorbereiteten, in der Kultur der Bewegung weit verbreitet.
Ideologie scheint somit eine wichtige Rolle dabei gespielt zu haben, Aktivisten einiger Organisationen zum Terrorismus zu bringen. Ideologie kann allerdings aus wenigstens drei Gründen nicht als bestimmender Faktor für die Entscheidung zum bewaffneten Kampf angesehen werden. Erstens waren die eher generellen Inhalte dieser Ideologien — die Definition des Feindes, die Präfiguration der zukünftigen Gesellschaft usw. — nicht spezifisch für die Gruppen, aus denen terroristische Organisationen entstanden. Sie waren im Gegenteil in der linken Kultur weit verbreitet. Zweitens trifft dasselbe auf die diskutierten Strategien zu. Wenn es auch wahr ist. daß CPM und PO von Aufstand sprachen, und LC schrieb: „alles und jetzt“, so wurden Anfang der siebziger Jahre dieselben Schlagworte doch auch von Organisationen aufgenommen, die sich gegen den Aufbau einer militärischen Struktur entschieden. Drittens bezogen sich auch Individuen und Gruppen, die später den Terrorismus kritisierten. in der Vergangenheit auf dieselben Ideologien. Abschließend muß betont werden, daß selbstverständlich nur sehr wenige Mitglieder von LC und PO und auch von „Rosso“ und „Senza tregua“ in den Untergrund gingen.
Ideologien scheinen eher als fördernde Faktoren oder als Vorbehalte bei der Entwicklung eines Akteurs und der Definition seiner Strategien zu wirken, denn als Ursachen kollektiven Verhaltens.
Keine umfassende Erklärung der Aktionen einer Organisation kann sich alleine auf politische Über-zeugungen stützen. Auf der anderen Seite sind Ideologien ex-post Rationalisierungen einer vorher bestehenden Eskalation der Aktionsformen.
Nicht nur die ideologischen Prinzipien, sondern auch die politische Kultur, die als Theorie entwikkelten Strategien sowie das tatsächliche Verhalten, müssen beachtet werden. Es wird von der Hypothese ausgegangen, daß es die durch die Länge des Protestzyklus hervorgerufene Eskalation der Aktionsformen war, die das Auftreten unvermittelbarer Forderungen und die Radikalisierung der Ideologien bestimmte. Die Gruppen, die bis zum Ende des Zyklus überlebten, ohne eine Möglichkeit zur Institutionalisierung zu finden, durchliefen häufig einen Prozeß der Abschottung ihrer Organisationsstrukturen. aus dem heraus sich Untergrundformationen entwickelten.
Im Verlauf der Interaktionen zwischen den kollektiven Akteuren der beiden Protestwellen und ihren Gegnern begannen die Gruppen, die die Ergebnisse gewaltloser Formen politischer Intervention als ungenügend beurteilten, verschiedene Formen von „pratica degli obiettivi“ zu benutzen, von denen einige — wie etwa die Besetzung von Fabriken oder wilde Streiks — gewaltsame Reaktionen der Gegenseite provozierten. Teile der Bewegung antworteten mit einem graduellen Prozeß der Bewaffnung auf staatliche Repression. Auf den Demonstrationen wandelten sich die Waffen, die Aktivisten zu defensiven Zwecken trugen, von Steinen zu Stökken, von Stöcken zu Eisenstangen, von Eisenstangen zu Molotowcocktails, von Molotowcocktails zu Pistolen. In den größeren Fabriken wurden Sabotage und physische Gewalt von den Gewerkschaften in der Zeit der größten Konflikte toleriert. Die Radikalisierung der Aktionsformen — beeinflußt durch die Präsenz bewaffneter Organisationen — war der wichtigste Faktor, der die vorzeitige Krise der „ 77er-Bewegung" hervorrief, durch die dann eine gewisse Anzahl junger Aktivisten, die auf Grund ihrer politischen Sozialisation mit illegalen Formen kollektiver Aktion sympathisierten, zum Terrorismus kamen -Zwei Indikatoren zeigen die Verbindung zwischen der Gründung bewaffneter Organisationen und der Ausbreitung gewaltsamer Maßnahmen: die Geographie der Entstehungsorte der Gruppen und die politische Sozialisation, die ihre ersten Mitglieder durchliefen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, daß sich terroristische Organisationen in den Städten entwickelten, in denen stärker mit gewaltsamen politischen Aktionen experimentiert wurde. Die BR wurden in Mailand gegründet, wo die Arbeiter-und Studentenkämpfe die meisten Verbindungen aufwiesen und sich in großen Massendemonstrationen ausdrückten, denen sich die Polizei oft gewaltsam entgegenstellte. Ebenfalls in Mailand wurden Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre einige Aktivisten der Bewegung während Polizeiaktionen oder bei Kämpfen mit Rechtsradikalen (letztere auch verantwortlich für das Massaker in Piazza Fontana im Jahr 1969) getötet. In diesem Klima wurde der Ruf nach Rache laut. So entstanden in Mailand in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre viele bewaffnete Gruppen (PL, FCC, RCA, GR [Guerriglia Rossa/Rote Guerilla], Lo Muscio Brigade, PAC, um nur einige zu nennen) ein Zeitraum, in dem die Stadt die größte Anzahl gewaltsamer Zwischenfälle erlebte: von den „proletarischen Enteignungen“, die 1974 begannen, über die ersten physischen Attacken gegen Fabrikmanager, die von Organisationen außerhalb der BR ausgingen, bis zu den „bewaffneten Demonstrationen“ 1976/77
Die zwei wichtigsten terroristischen Gruppen (BR und PL) breiteten sich nach Turin aus, wo die Arbeiter-und Stadtteilbewegungeh in der ersten Hälfte der siebziger Jahre die dramatischsten Formen angenommen hatten, unter anderem mit gewalttätigen Hausbesetzungen und „irruzioni armate“. Seit 1976 entstand eine wachsende Zahl von Untergrundorganisationen in Rom: UCC, FAC, die römische Kolonne der BR und viele kleine bewaffnete Gruppen mit einer sehr beschränkten Bandbreite von Aktionen. Dies spielte sich wiederum im Kontext einer Radikalisierung der Aktionsformen ab, die nach den großen Industriestädten des Nordens auch die Hauptstadt ergriff. Auch in Rom stieg der Gewaltpegel kontinuierlich an Versuche bewaffneter Organisationen, terroristische Basen in Gegenden aufzubauen, in denen gewaltsame Aktionen weniger weit verbreitet waren, mißlangen hingegen.
Die Lebensgeschichten von Gründern terroristischer Organisationen verdeutlichen die Rolle, die ihre Teilnahme an gewaltsamen kollektiven Aktionen für ihre politische Sozialisation spielte. Sie nahmen während ihrer Mitgliedschaft in legalen Gruppen in signifikantem Maße in den halb-militärischen Strukturen von Organisationen teil, die nicht im Untergrund waren. Viele der Gründer von PL in Turin. Mailand und Florenz hatten dem „Servizio d’Ordine“ von LC angehört. Mitglieder des „Servizio d’Ordine“ von LC und PO spielten auch eine Rolle bei der Gründung von UCC und FAC. Die Mehrheit der ersten Mitglieder der BR in Turin und Rom hatte an den halb-illegalen Strukturen von PO teilgenommen, die um die Zeitschrift „Linea di Condotta“ organisiert waren. Andere Gründungsmitglieder der BR in Turin kamen aus der ersten in Italien aktiven bewaffneten Organisation, den GAP (Gruppi Armati Proletari/Bewaffnete Proletarische Gruppen). Die FCC entstanden, wie gesehen, aus einer Spaltung der Mitglieder der um „Rosso“ gruppierten Organisationen, genauer gesagt der Mitglieder der „Kommunistischen Brigaden“ (Brigate Comuniste), die für die bewaffnete Verteidigung öffentlicher Demonstrationen und illegale Aktionen zuständig war. Viele der jüngeren Gründungsmitglieder von FCC. PL und anderen kleineren Formationen in Mailand nahmen an den „proletarischen Enteignungen“ und „bewaffneten Demonstrationen“ der zweiten Hälfte der siebziger Jahre teil. Eine gewisse Anzahl der ersten Mitglieder der römischen BR war wegen ihrer Mitgliedschaft einer der gewalttätigsten Gruppen der „Arbeiter-Autonomie“ (Autonomia operaia), dem „Collettivo di Via dei Volsci", gerichtlich verfolgt worden. Auch einige Mitglieder von NAP und PAC, einfache Kriminelle, die während ihrer Gefängniszeit politisiert worden waren, hatten Erfahrungen in illegalen Aktionen, wenn auch mit nicht-politischen Zielen. Die kleinen Untergrundgruppen, die seit 1979 entstanden, wurden von Terroristen gegründet, die aus den größeren bewaffneten Organisationen kamen
Zwei Schlußfolgerungen können aus den Daten über die früheren politischen Erfahrungen der Gründer terroristischer Organisationen gezogen werden. Erstens sind Individuen, die während ihrer Mitgliedschaft in legalen politischen Organisationen den Einsatz gewaltsamer Aktionsformen erfuhren. eher bereit, an illegalen politischen Gruppen teilzunehmen. Es ist anzunehmen, daß eine Umgebung, in der gewaltsame Praxis weit verbreitet ist. eine Art von Aktivisten produziert, für den politisches Engagement mehr mit physischem Kampf als mit Verhandlungen identifiziert ist. Zweitens sind die Gründer terroristischer Organisationen keine isolierten Individuen, sondern im Gegenteil Personen. die in ein komplexes Beziehungsgeflecht politischer Solidarität eingebunden sind. Es ist dieses Beziehungsgeflecht, das untersucht werden muß. um die Gründe für die persönliche Verwicklung in die Gründung von Untergrundgruppen zu verstehen. Unsere Daten erlauben es uns. die Analyse der Entstehung terroristischer Organisationen stärker zu spezifizieren. Gesellschaftliche Einflüsse wie z. B. Umweltressourcen, nicht vermittelte Interessen, radikale Ideologien und gewaltsame Aktionen können von bewaffneten Organisationen nur aktiviert werden, falls sie sich speziell in den individuellen Beziehungen konkretisieren, die durch eine starke Neigung zu politischer Gewalt charakterisiert sind.
Der letzte Schritt in der Entstehung einer terroristischen Organisation ist die Wahl des Untergrunds durch vorher existierende Gruppen oder Fraktioneu von Organisationen. Die Präsenz von ideologischen und strategischen Verbindungen in der Gesellschaft, die die Wahl extremer Aktionsformen und die Bildung von Beziehungen, bestehend aus Aktivisten, die zu politischer Gewalt sozialisiert sind, favorisieren, ist noch keine ausreichende Erklärung für die Entstehung von Terrorismus. Nicht alle Mitglieder einer sozialen Bewegung kämpfen jedoch mit denselben Taktiken für ihre Ziele. Es ist daher nötig, das problematische Thema strategischer Entscheidungen in kollektiven Aktionen einzuführen, um die Gründe zu verstehen, warum sich — obwohl die Präsenz einiger struktureller Prädispositionen und individueller Neigungen vorausgesetzt werden kann — nur wenige Gruppen dafür entschieden haben, in den Untergrund zu gehen Aus den Daten ergeben sich hierzu zwei Beobachtungen. Erstens entsteht Terrorismus aus einer Eskalation im Gebrauch illegaler Maßnahmen, die einige der stärker beteiligten Gruppen zur Entscheidung für den Untergrund drängt, um so der Entdeckung durch den Staat zu entgehen. Das auslösende Element für den definitiven Ausstieg aus der Legalität ist eine repressive Aktion von Seiten des Staates gegen einige spezifische Gruppen. Zweitens spaltet sich die politische Führung angesichts dieses auslösenden Elements, um mit unterschiedlichen Strategien zu experimentieren. Der Prozeß der Reaktion auf bestimmte Ereignisse ist daher nicht vorherbestimmbar. Dies kann anhand der Schritte überprüft werden, die die drei wichtigsten terroristischen Organisationen — BR. PL. FCC — auf ihrem Weg in den Untergrund durchliefen. Die Geschichte der Gründung der BR ist mit den fortwährenden Spaltungen einer lokalen Gruppe in Mailand verbunden. Die Entscheidung für den Untergrund wurde in sehr gradueller Weise getroffen. Anfangs benutzten die BR Taktiken, die zwar illegal waren, sich aber im Rahmen dessen hielten, was in der Umgebung der Bewegungen toleriert wurde. Die Gruppe verfolgte in den ersten zwei Jahren die organisatorische Strategie der „doppia militanza“: eine geheime Organisation, aber öffentliche Aktivität ihrer Mitglieder. Dies funktionierte bis zum Mai 1972, als die Gruppe Verhaftungen und Hausdurchsuchungen hinnehmen mußte. Zu diesem Zeit-punkt entschieden sich die meisten Mitglieder dafür. in den Untergrund zu gehen, aber nicht alle akzeptierten diese Entscheidung und einige verließen die Gruppe
Auch die Entstehung von PL kann im Sinne gradueller Entscheidungen analysiert werden, die von den Networks einiger Individuen innerhalb der Organisation, aus der heraus die bewaffnete Gruppe entstand, getroffen wurden. Anfang der siebziger Jahre entwickelten radikale Ränder einiger Organisationen der Bewegung in Mailand ein strategisches Projekt, das darauf abzielte, den Gebrauch illegaler Taktiken mit der Bewahrung legaler Strukturen zu verbinden. Dies führte von der Abspaltung einer Fraktion von LC, die 1973 die Notwendigkeit einer Bewaffnung vertrat, zum Aufbau einer kleinen bewaffneten Gruppe in der Peripherie Mailands, die sich im selben Jahr als „Kommunistische Komitees“ konstituierte. Im Jahr 1976 schlossen sie sich mit einer Gruppe von Aktivisten von PO zu den CCPO zusammen Den Mißerfolg des ursprünglichen Programms demonstriert die gerichtliche Verfolgung einiger Mitglieder wegen des ersten von der Gruppe ausgeführten Mordanschlags. Während der Bemühungen, die Krise zu überwinden, spalteten sich die CCPO Ende 1976 über der Auseinandersetzung um zwei verschiedene Strategien. Eine Gruppe kritisierte illegale Aktionen, eine andere aber, die die militärischen Strukturen der Organisation repräsentierte, beschloß, die organisatorische Abschottung und den Einsatz gewaltsamer Mittel zu verstärken, und gründete PL. Ähnlich ist die Entwicklung der Gruppen um die Zeitschrift „Rosso“, aus denen die FCC entstanden. Auch in diesem Fall entschieden sich einige Gruppen Schritt für Schritt dafür, verstärkt gewaltsame Aktionsmittel einzusetzen. Diese Gruppen, die sich in Mailand um die Jahreswende 1974/75 entwickelten, benutzten zunehmend illegale Aktionen: nicht nur Bomben oder Molotowcocktails gegen Autos und Häuser, sondern auch „bewaffnete Protestmärsche“, „proletarische Enteignungen“ und Raubüberfälle Die Debatte über die Notwendigkeit einer stärkeren Militarisierung der Organisation entwickelte sich im Mai 1977 nach der Ermordung eines Polizisten während einer Demonstration. Dies verstärkte die Furcht vor staatlicher Repression. Wiederum favorisierte eine Fraktion der Organisation Massenaktionen, die Führer der militärischen Struktur hingegen entschieden sich dafür, den Prozeß der Bewaffnung zu beschleunigen. Die strategische Wahl des Untergrunds durch politische Organisationen ist somit ein gradueller Prozeß und nicht ohne Umkehrmöglichkeiten. Sie spiegelt schon vorher bestehende Gegensätze innerhalb der Führung wider und ist ein von einer Fraktion benutztes Instrument, um eine Krise zu bewältigen. Die Entscheidung für den Untergrund vermindert einige Kosten, auch wenn dafür der Preis eines gleichzeitigen Verlustes einiger Vorteile gezahlt werden muß. Die Präsenz vorteilhafter Umweltbedingungen und die Beziehungen von Aktivisten, die zu gewaltsamen Formen kollektiver Aktion zusammenkommen, machen diese Entscheidung möglich.
IV. Schlußfolgerungen: Politische Struktur und die Gründung terroristischer Organisationen
Wechselseitige Interaktionen zwischen Umwelt, Gruppen und Individuen vorausgesetzt, mußte unsere Untersuchung über die Entstehung terroristischer Organisationen die in der Umwelt präsenten Vorbedingungen, die Merkmale der Beziehungen mobilisierter Individuen und die strategischen Entscheidungen der kollektiven Akteure in Betracht ziehen. Die Ergebnisse sind im Schaubild 2 zusammengefaßt.
Bestimmte Bedingungen müssen in der Gesellschaft präsent sein, damit Terrorismus entstehen kann. Diese Beziehungen können als Interessen. Ideologien und Aktionen definiert werden. a) Kollektive Interessen, die nicht effizient vermittelt werden. Politische Untergrundorganisationen nehmen für sich in Anspruch, die Repräsentanten von in der Gesellschaft präsenten kollektiven Interessen zu sein. Terroristische Organisationen wenden sich wie andere politische Organisationen an spezifische soziale Gruppen. Sie vertreten allerdings keine spezifischen Interessen, die sich von denen, die innerhalb der Bewegung durch weniger extreme Aktionsformen verfolgt werden, unterscheiden. Die Wahl der Maßnahmen ist nicht fest mit der Natur der beteiligten Interessen verbunden, sondern wird im Gegenteil durch die Interaktion zwischen politischen Gruppen und dem Staat bestimmt. Die Präsenz mobilisierbarer Interessen, die noch nicht institutionell vermittelt sind, kann einige Organisationen ermutigen, ihren Einfluß auf dem politischen Gebiet durch eine Radikalisierung ihrer Aktionsformen zu vergrößern. b) Eine politische Kultur, die Gewalt rechtfertigt.
Diejenigen politischen Formationen, die in den Untergrund gehen, sind mit Ideologien ausgestattet, die den Gebrauch physischer Gewalt als Mittel politischer Intervention rechtfertigen. Trotzdem ist die Aufnahme des bewaffneten Kampfes kein unausweichliches Resultat der Ideologie. Die Ausbreitung einer gewalttätigen politischen Kultur, die Gewalt rechtfertigt, ist eine notwendige Vorbedingung für die Entwicklung bewaffneter Gruppen. Die Ideologie einiger Organisationen erlaubt es ihnen, terroristische Praktiken zu wählen, indem sie alle Vorbehalte gegenüber dem Gebrauch illegaler Strategien beiseite räumt. Sie bietet darüber hinaus eine ex-post Rechtfertigung für die Aufnahme bewaffneter Aktions-und militärischer Organisationsformen. c) Die Bereitschaft zu gewalttätigen Aktionen. Diejenigen Gruppen, die sich später für den Untergrund entscheiden, benutzen extrem gewaltsame Aktionsformen schon bevor sie eine Ideologie des bewaffneten Kampfes entwickeln. Die Praxis der Gewalt ist weder der Ideologie dieser Gruppen wesentlich, noch ist sie die unausweichliche Konsequenz der eingesetzten Mittel. Sie entwickelt sich graduell in den Interaktionen der verschiedenen Akteure, die sich im Konflikt befinden. Wenn keine effiziente institutioneile Vermittlung der Interessen stattfindet, produziert die Verlängerung der Mobilisationsphase eine Radikalisierung der Aktionsformen. In dieser Weise breitet sich eine Reihe gewaltsamer Aktionen aus, die durch den Gebrauch im täglichen Leben der verschiedenen Organisationen legitimiert werden.
Diese Vorbedingungen in der Umwelt bringen hervor: d) Politische Gruppen mit halb-illegalen Strukturen.
Untergrundorganisationen werden von Personen gegründet, die durch gemeinsame Militanz in Organisationen der Bewegung verbunden sind. Diese Organisationen haben keine spezifischen Merkmale, soweit Interessen, Ideologien oder Aktionen betroffen sind. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Präsenz halb-illegaler Strukturen. Wie die Ergebnisse zur Geschichte der wichtigsten Untergrundgruppen und zu den früheren politischen Aktivitäten der Gründungsmitglieder zeigen, haben die Gruppen, die sich für den Untergrund entscheiden, in stärkerem Maße spezifische Mittel, die für gewaltsame Aktivitäten eingesetzt werden können. Im Fall bewaffneter Formationen werden die Solidaritätsbeziehungen der Gründungsmitglieder hauptsächlich durch Personen getragen, die schon früher gewaltsame Formen politischer Aktionen, wenn auch innerhalb legaler Organisationen, benutzt hatten.
Ihre Sozialisation gab ihnen ein Konzept politischen Engagements, das eher mit direkten Aktionsformen als mit Verhandlungsprozessen verbunden war. Der Aufbau einer Untergrundorganisation ist dennoch eine politische Entscheidung, die von vorher bestehenden Gruppen getroffen wird. e) Strategische Entscheidungen von Organisationen.
Gruppen, die illegale Strategien benutzen, können entstehen, wenn Interessen durch das institutionelle System nicht effektiv vermittelt werden, wenn die politische Kultur zur Gewalt vorbestimmt und wenn soziale Bewegungen gewaltsame Maßnahmen benutzen. Während sie mit verschiedenen möglichen Strategien experimentieren, sehen einige Organisationen in der Aufnahme immer radikalerer Maßnahmen ein Mittel, um mögliche Mitglieder anzuziehen. Angesichts staatlicher Repression bietet der Untergrund den Vorteil, einige Kosten (z. B. das Risiko der Verhaftung) zu vermindern, wenn auch zum Preis einer Verminderung der Vorteile, die in einem kurzen Zeitraum verfügbar sind. Die Radikalität der Maßnahmen, Ideologien und Organisationsformen ist somit ein Instrument, um die Identität der Gruppe zu verstärken. Gewaltsamer Aktivismus bietet symbolische Kompensationen für den Mangel an praktischer Effektivität an. Die Entscheidung für gewaltsame Aktionen beantwortet Forderungen, die in Krisenzeiten innerhalb der Bewegung auftreten.
Die gesellschaftlichen Faktoren, die den Aufstieg des Terrorismus fördern, sind somit die Präsenz neu auftauchender Interessen in der Gesellschaft, die nicht institutionell kanalisiert werden, und die Ausbreitung von Ideologien und Strategien, die Gewalt rechtfertigen und einplanen. In Italien entwickelten sich diese Vorbedingungen während der beiden Protestwellen. In der ersten Welle produzierte die Dimension der Reformen, die nötig gewesen wären, denen aber ein Mangel zeitgerechter Antworten des politischen Systems gegenüberstand, einen sehr langen Protestzyklus mit zunehmender Radikalisierung der Aktionen. Während der zweiten Welle wurde diese Entwicklung durch das „Angebot“ einer organisierten Gewalt und den Mangel institutioneller Verbündeter noch verstärkt.
In bezug auf die in der Einleitung gestellten Fragen können nunmehr einige Schlußfolgerungen über die Beziehung zwischen Protestbewegungen und dem Auftreten von Terrorismus gezogen werden. Die Entwicklung der Protestmaßnahmen wird durch die Veränderungen in der politischen Chancenstruktur über den ganzen Zyklus hinweg beeinflußt. Dieser Einfluß hat unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen Organisationen der sozialen Bewegung. Eine politisch ineffiziente Ant33 wort von Seiten des politischen Systems beeinflußt die Länge und Ausbreitung des Protests. Allgemein gesagt: Je größer die Verbreitung des Protestes ist, desto wahrscheinlicher werden gewaltsame Vor» fälle bei Massenaktionen. Je länger der Zyklus dauert, desto wahrscheinlicher ist es, daß sich die Aktionen radikalisieren und Gewalt kleiner Gruppen entsteht. Die „Dichte“ des Sektors sozialer Bewegungen — im Sinne der Anzahl von Organisationen — und die Art der politischen Kultur — im Sinne von Akzeptanz von Gewalt — fördern die Entwicklung gewaltsamer Strategien. Diejenigen Organisationen, die keinen Zugang zum institutionellen „Decision Making System“ haben und deren Ideologie den Gebrauch gewaltsamer Mittel erlaubt, sind am ehesten bereit, halb-illegale Strukturen aufzubauen, aus denen terroristische Gruppen hervorgehen. Diese Art der Entwicklung führt allerdings eher zu einem „Low-Scale“ -Terrorismus. In Italien fand der volle Ausbruch von Gewalt statt, als sich eine neue Protestwelle ausbreitete, ohne irgendwelche Verbündeten im institutionellen politischen System zu finden, das seinerseits keinen Versuch machte, den Protestierenden eine politische Antwort zu geben oder einige der Organisationen der sozialen Bewegung anzuerkennen. Unter diesen Umständen breitete sich Gewalt von Anfang an aus. „High-Scale“ -Terrorismus entsteht daher aus einer erfolglosen Protestbewegung.
Eine vergleichende Analyse wäre nötig, um zu untersuchen, inwieweit diese Schlußfolgerungen generalisierbar sind. Eigene Untersuchungen über Untergrundorganisationen in Italien zeigen, daß die Bedingungen der politischen Chancenstruktur nicht nur das Entstehen, sondern auch die Entwicklung des Terrorismus beeinflußen In Italien verringerten die Instabilität der Regierungen und Konflikte zwischen den Parteien der Regierungskoalition über einen langen Zeitraum hinweg die Effizienz staatlicher Antworten auf den Terrorismus. Es waren das Entstehen einer neuen politischen Kultur im Sektor der sozialen Bewegungen, die vehement den Gebrauch gewalttätiger Maßnahmen ablehnte, und eine neue Zugänglichkeit gegenüber auftretendem Protest von Seiten der institutionellen Verbündeten, die zu Beginn der achtziger Jahre die Isolation von Untergrundorganisationen förderten.
Donatella della Porta, Dr. phil., geb. 1956; Forschungsassistentin an der Abteilung Politikwissenschaft und Gesellschaftswissenschaften des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit G. Pasquino) Terrorismo e violenza politica, Tre casi a confronto, Bologna 1983; (Hrsg.) Terrorismo in Italia, Bologna 1984; (zus. mit M. Rossi) Cifre crudeli. Bilancio del terrorismo italiano, Bologna 1984: sowie zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.
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