Die Bedeutung der ETA für Gesellschaft und Politik im spanischen Baskenland
Peter Waldmann
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Zusammenfassung
Im Unterschied zu den Terroristen in den zentraleuropäischen Industrieländern wie der Bundesrepublik Deutschland oder Frankreichs, die Splittergruppen ohne nennenswerten Anhang darstellen, steht hinter der baskischen ETA ein nicht geringer Teil dieser ethnischen Minderheit. Im ersten Abschnitt wird kurz auf die Ursprünge des baskischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie dessen Wiedergeburt unter dem repressiven Franco-Regime (1939— 1975) eingegangen. Es wird erklärt, warum die ETA als die einzige Organisation, welche sich unter scheinbar aussichtslosen Bedingungen gegen die Entrechtung und Unterdrückung des baskischen Volkes zur Wehr setzte, damit die Sympathie der Mehrheit der baskischen Bevölkerung und deren Solidarität gewann, eine Solidarität, die auch nach dem Über-gang Spaniens zur parlamentarischen Monarchie fortdauert. Gegenwärtig ist die ETA nur die Speerspitze einer breiten radikallinksnationalistischen Bewegung. Im zweiten Abschnitt werden die Struktur und Funktionsweise dieser Bewegung und ihrer einzelnen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen dargestcllt. Obwohl numerisch deutlich in der Minderzahl, üben die Anhänger des radikalnationalistischen Blocks doch aufgrund ihrer überlegenen Mobilisierungskraft und ihres Fanatismus einen beträchtlichen Druck in allen Bereichen des öffentlichen Lebens aus. Erst in jüngster Zeit beginnt sich aus den gemäßigten Segmenten der baskischen Gesellschaft heraus ein Widerstand gegen diesen Kontrolldruck zu formieren. Der dritte Abschnitt wendet sich schließlich den Maßnahmen zu, welche die Madrider Regierung zur Bekämpfung und Eindämmung des baskischen Terrorismus getroffen hat, und wirft die Frage auf, inwieweit diese kurz-und langfristig erfolgreich sind.
Um das Gewicht der ETA und des von ihr praktizierten Terrorismus in und außerhalb des Baskenlandes richtig einzuschätzen, gilt es zunächst, diesen Typus der ethnisch motivierten Gewaltausübung von dem sich aus einer sozialrevolutionären Ideologie speisenden Terrorismus radikalisierter Mittelschichtsgruppen in hochindustrialisierten Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien abzugrenzen. Während die RAF oder die „action directe“ nur über eine äußerst begrenzte Anhängerschaft verfügen, bei der überwältigenden Mehrheit dieser Gesellschaften hingegen mit ihren Attentaten auf Unverständnis und Abscheu stoßen, kann die ETA — ähnliches gilt auch für die nord-irische IRA — auf die Sympathie und indirekte, teils auch direkte Unterstützung bei einem beachtlichen Teil der baskischen Bevölkerung zählen. In der Zeit der Franco-Diktatur, bis 1975, stand praktisch die gesamte baskische Ethnie hinter der Gewaltorganisation; deren Mitglieder, die Etarras, galten als Helden und Märtyrer, welche die Ehre eines kulturell und politisch geknechteten Volkes durch ihre gewaltsamen Widerstandsaktionen retteten. Dieser stillschweigende Konsens ist seit dem Übergang Spaniens zur Staatsform der parlamentarischen Monarchie entzweigebrochen, da viele Basken den Sinn blutiger Gewalttaten in einem politischen System, das andere, friedliche Möglichkeiten der Interessenwahmehmung einräumt, nicht mehr einzusehen vermögen. Nach wie vor steht aber eine „Minderheit innerhalb der ethnischen Minderheit“ unverbrüchlich zu der terroristischen Organisation. Aufgrund ihres politischen Engagements, ihrer Durchsetzungsmethoden und nicht zuletzt wegen der lange anhaltenden unentschlossenen Haltung der übrigen politischen Kräfte im Baskenland übt diese Minderheit, die linksnationalistischen „abertzales", einen weit über ihre rein numerische Bedeutung hinausreichenden Einfluß in der Region aus.
I. Der historische Kontext: ETA als Ehrenretter des baskischen Volkes
Etwas vereinfacht lassen sich zwei Hauptphasen des nationalistischen Erwachens der baskischen Ethnie unterscheiden, die Jahrhunderte lang am Rande der politischen Ereignisse in Spanien gestanden hatte. Die erste fiel in die Jahrzehnte vor und nach der Jahrhundertwende, die zweite setzte in den sechziger Jahren unter der Franco-Diktatur ein. Die erste Phase, die aufs engste mit dem Namen des Begründers und charismatischen Führers der nationalistischen Bewegung. Sabino de Arana y Goiri, verbunden ist, war in jüngster Zeit wiederholt Gegenstand eingehender historiographischer Untersuchungen, so daß wir zuverlässige und gründliche Informationen über sie besitzen Danach kann als erwiesen gelten, daß die Hauptträgergruppe der damals neuen Strömung sich aus dem mittleren baskischen Bürgertum rekrutierte. Dieses fühlte sich durch die Herausbildung einer baskischen Großbourgeoisie, die in jenen Jahrzehnten den Aufbau einer Schwerindustrie und mächtiger Banken im Raum von Bilbao (Vizcaya) betrieb, in seiner wirtschaftlichen und sozialen Stellung bedroht. Sein Alarmruf, durch die Industrialisierung, Urbanisierung und die damit zwangsläufig einhergehende Säkularisierung würden die ethnische Eigenart und Solidarität in Frage gestellt, fand vor allem in jenen traditionalistischen Bevölkerungsgruppen Resonanz, in denen das baskische Brauchtum und die baskische Spra-ehe, das Euskara, fest verankert waren und die sich auch stark damit identifizierten: dem kleinstädtischen Bürgertum und den im Primärsektor Beschäftigten, den Bauern, Pächtern und Fischern. Allerdings war dies nur eine Minderheit der regionalen Bevölkerung, so daß die nationalistische Bewegung lange Zeit aus einer Position der Schwäche heraus operieren mußte, was ihr einen besonders bitteren und aggressiven Zug verlieh. Der Zorn und die Geringschätzung der Nationalisten galten vor allem den zahlreichen spanischen Arbeitskräften, die, angelockt durch das Arbeitsplatzangebot und die relativ hohen Löhne in dem neuen Industriegebiet, aus den Nachbarprovinzen nach Vizcaya geströmt waren. Sie wurden als ein rassisch minderwertiger Fremdkörper betrachtet, der den Zusammenhalt und den traditionellen Wertekonsens der Ethnie gefährdete. Zum politischen Vertretungsorgan der neuen Bewegung wurde der Partido Nacional Vasco (PNV), der über Jahrzehnte hinweg eine politische Monopolposition innerhalb des nationalistischen Lagers innehatte.
Die zweite Phase nationalistischer Mobilisierung, die in den sechziger Jahren begann und bis heute nicht abgeschlossen ist, nahm von ganz ähnlichen Strukturbedingungen ihren Ausgang wie ihre Vorläuferin im 19. Jahrhundert. Nachdem die spanische Wirtschaft durch den Bürgerkrieg (1936— 1939) und den anfänglich von Franco verfolgten Kurs wirtschaftlicher Autarkie stark zurückgeworfen worden war, setzte ab der Mitte der fünfziger Jahre eine zögernde Erholung ein. Die Schrittmacherrolle bei der wieder in Gang kommenden Industrialisierung. die in den sechziger und frühen siebziger Jahren dann einen geradezu stürmischen Verlauf nahm, wurde erneut von den beiden traditionellen spanischen Industrieregionen, Katalonien und dem Baskenland, übernommen Während im 19. Jahrhundert der industrielle Aufschwung innerhalb des Baskenlandes im wesentlichen auf den Großraum von Bilbao beschränkt geblieben war, erfaßte er nun das Gebiet beider Küstenprovinzen, d. h. Vizcayas und Guipüzcoas. und drang vor allem in die engen Täler des Hinterlandes der letztgenannten Provinz vor. Die Zahl der im Primärsek-tor Beschäftigten ging auf weniger als zehn Prozent aller Beschäftigten zurück; wie beim ersten Industrialisierungsschub wurde das Baskenland zur Ziel-region einer intensiven Wanderung von Spaniern aus ärmeren Nachbargebieten, die am steigenden Wohlstand der Region partizipieren wollten. All dies bedeutete eine erneute große Herausforderung für die baskische Sprache und den herkömmlichen baskischen Lebensstil, die aufgrund ihrer Verwurzelung in einem ländlich-kleinstädtischen Sozialmilieu Mühe hatten, unter den veränderten Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft zu überleben. Was jedoch die baskische Kultur mehr noch als der Modernisierungsprozeß in Bedrängnis brachte, war ein politischer Faktor: das auf die Errichtung eines spanischen Einheitsstaates abzielende franquistische Herrschaftssystem.
General Franco hielt den geeigneten Augenblick für gekommen, um den seit Beginn des Jahrhunderts immer machtvoller sich entfaltenden nationalistischen Bewegungen an der nördlichen Peripherie des Staates, die dessen Einheit gefährdeten, ein für allemal das Rückgrat zu brechen und die Spanier „von oben“ zu einer homogenen Nation zusammenzuschweißen. Sowohl die Basken als auch die Katalanen hatten während des Bürgerkriegs auf der Seite der Republikaner gegen die Aufständischen gekämpft. Das mußten sie nach dem Sieg der letzteren bitter büßen. Unmittelbar nach der Eroberung und Unterwerfung beider Regionen (Baskenland: 1937; Katalonien: 1939) setzten die Repressionen ein, die sich insbesondere gezielt gegen alle Manifestationen kultureller Autonomie richteten. Der Gebrauch des Katalanischen bzw. Baskischen bei Behörden und im öffentlichen Verkehr wurde mit Strafen belegt, und die regionale Sprache und Kultur wurden konsequent aus dem Erziehungswesen verbannt. Den Unterricht an den Schulen übernahmen Lehrer aus anderen Gebieten Spaniens, die Kinder durften sich nicht einmal untereinander in ihrer Muttersprache verständigen. Das Regime ließ mit anderen Worten nichts unversucht, um die Regionalkulturen auszulöschen und jedes Anzeichen eines nationalistischen Widerstandes im Keim zu ersticken. Wie reagierte die Minderheitsbevölkerung in dieser existenzgefährdenden Lage?
Der Widerstand und der kulturelle Selbstbehauptungswille der Basken äußerten sich im wesentlichen in drei Formen Die erste bestand im politischen Boykott eines Regimes, das sie als Ethnie negierte. Anlaß für die Demonstration einer Hal-tung politischer Verweigerung boten vor allem die vom Diktator in größeren zeitlichen Abständen (1947; 1966; 1976 das letzte fand bereits nach Francos Tod statt, zählt aber noch zur Franco-Ära im weiteren Sinn) durchgeführten Referenden zu wichtigen politischen Fragen. Insbesondere bei den zwei Volksabstimmungen von 1966 und 1976 erreichte die Zahl der Enthaltungen in keiner spanischen Region vergleichbar hohe Werte wie im Baskenland.
Eine zweite kulturelle Selbstbehauptungsstrategie bildete der Rückzug aus dem Staatsgehäuse in die zivile Gesellschaft. Die baskische Gesellschaft verfügt, ähnlich anderen Minderheiten, über eine reiche Vielfalt von Gruppen und Vereinen, die zu den Hauptträgern des ethnischen Brauchtums zählen. Zu erwähnen sind unter anderem Freundesgruppen Jugendlicher („cuadrilla"), Pfadfindergruppen, Berg-und Wandervereine, Sportclubs, Chöre und Volkstanzgruppen, gastronomische Gesellschaften. Ungeachtet der rigorosen Machtausübung durch das Franco-Regime reichte dessen Kontrollkapazität nicht aus, um auch in diese gesellschaftlichen Gruppen einzudringen, die Mauer hermetischen Schweigens zu durchbrechen, durch die sich die Minderheit nach außen hin gegen den Druck des Regimes zu schützen suchte. Unter den Minderheitsangehörigen bildete sich ein eigener Geheim-code heraus, durch den auch scheinbar harmlose Gesten und Verhaltensweisen einen eindeutigen politischen Protestsinn erhielten. Waren die bisher beschriebenen Widerstandsformen primär passiver Natur, so kam die dritte einer offenen Kampfansage an die Diktatur gleich. Sie bestand anfänglich in Angriffen auf Symbole und Einrichtungen des Zentralregimes, aus denen später Morde an Polizisten und Regimerepräsentanten wurden. Ihre Urheber waren Mitglieder der Geheimorganisation ETA.
Es fehlt hier der Platz, um die innere und äußere Entwicklung der ETA sowie deren Rolle im regionalen Widerstand gegen die Franco-Herrschaft im einzelnen darzustellen. Deshalb begnügen wir uns mit der thesenartigen Aufzählung einiger Punkte, deren Kenntnis unentbehrlich ist, um das hohe Prestige. das die Terroristen in Teilen der baskischen Bevölkerung bis heute genießen, richtig einschätzen zu können
Die ETA, deren offizielle Gründung Ende der fünfziger Jahre bereits eine längere Vorgeschichte hatte, ist aus der Initiative einer Gruppe von Studenten entstanden, die sich zunächst primär dem gemeinsamen Studium der baskischen Sprache und Literatur widmete. Ihre Radikalisierung im Laufe der sechziger Jahre ist vor allem zwei Umständen zuzuschreiben: der unnachsichtigen Verfolgung und Unterdrückung, denen sämtliche Manifestationen des kulturellen Überlebenswillens der Ethnie (wie etwa das Singen baskischer Lieder) von Seiten der spanischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt waren; und der schwachen Präsenz des gemäßigten PNV im Baskenland, dessen Vertretung in Paris gewaltsamen Widerstand ablehnte und statt dessen das Ende der Franco-Herrschaft abwarten wollte.
Nachdem die ETA in den sechziger Jahren einmal auf den Gewaltkurs eingeschwenkt war, hielt sie stets an ihm fest. Zwar gab es in ihren Führungsgremien oft Diskussionen, ob im Interesse einer politischen Öffnung nicht ein Verzicht auf Gewalt-aktionen geboten sei; auch machten Vertreter des zeitweise starken marxistischen Flügels geltend, die durch die Anschläge provozierten staatlichen Verfolgungsrazzien erschwerten die Mobilisierung der Arbeiterschaft. Im Ergebnis behielten aber immer die Vertreter des „harten“ Flügels die Oberhand, oft indem sie durch Morde, Entführungen etc. vollendete Tatsachen schufen. Nicht mit dieser Linie einverstandene Gruppen wurden entweder aus der Organisation ausgestoßen oder verließen sie freiwillig, um andere Verbände bzw. Parteien zu gründen. Was die baskische Öffentlichkeit vor allem beeindruckte, waren der Mut und die Entschlossenheit, mit denen sich die Etarras einem scheinbar aussichtslosen Kampf stellten. Als bezeichnend in diesem Sinn kann ihr Verhalten im Burgos-Prozeß von 1970 gelten, der auch international beträchtliche Aufmerksamkeit erregte. Von dem Regime als Schautribunal gegen aufsässige Landesverräter inszeniert, wurde er von den beschuldigten ETA-Mitgliedern. die unerschrocken ihren Standpunkt vertraten und sogar die baskische Nationalhymne im Gerichtssaal anstimmten, zu einem Anklageforum gegen die Diktatur umfunktioniert. Von diesem Augenblick an hatte die junge Gewaltorganisation keine Rekrutierungsprobleme mehr. Vor allem junge Leute aus dem Hinterland der Provinz Guipüzcoa wollten in sie aufgenommen werden. ETÄ-Angehörige bewegten sich in der baskischen wie Tsetung). Gesellschaft „Fische im “ (Mao
Rückblickend liegt das Hauptverdienst der ETA darin, daß sie dem Überlebenswillen der Ethnie öffentlichen Ausdruck verlieh Durch ihre Anschläge bewies sie die Verwundbarkeit der Diktatur und rettete zugleich die Ehre und das Selbstwertgefühl der im übrigen zum schweigenden Erdulden der Unterdrückung gezwungenen Minderheit. Dies haben die Basken der ETA nie vergessen. Ihr Beispiel machte Schule. Wie die zahlreichen Demonstrationen und Streiks ab 1970 beweisen, gewann der Oppositionswille des baskischen Volkes dank der ETA erneut Kraft und Stimme. Von 1970 bis 1975 fanden nicht weniger als vier Generalstreiks im Baskenland statt, durch die das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt wurde.
In den Generalstreiks äußerte sich eine durch die Diktatur erzeugte politische Sensibilisierung und intensive Mobilisierung der baskischen Bevölkerung, die auch nach Francos Tod nicht abflaute. Die Empörung der Ethnie über das ihr zugefügte Unrecht war so groß, die daraus abgeleitete Ablehnung des von Madrid ausgehenden Zentralismus so stark, daß davon auch das die Nachfolge der Franco-Diktaturantretende demokratische Regime erfaßt zu werden drohte. Dieser Übertragungseffekt hätte nur durch einen klaren Bruch der neuen demokratischen Führungselite mit dem franquistischen Herrschaftssystem vermieden werden können. Ein solcher Bruch kam bekanntlich nicht zustande — generell nicht und ebensowenig in bezug auf das Verhalten der Zentralbehörden gegenüber der baskischen Minderheit. Die unter Franco eingesperrten Basken wurden nur zögernd, unter Druck, entlassen; die spanischen Sicherheitskräfte griffen bei Demonstrationen in der kantabrischen Region weiterhin sehr hart durch; eine verfassungsrechtliche Anerkennung der Autonomierechte des kleinen Volkes ließ mehrere Jahre (bis 1979) auf sich warten. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen die Generalstreiks anhielten und die Behauptung der ETA, Gewalt sei als Druckmittel, um die zentralistischen Politiker zur Einsicht zu bringen, weiterhin unentbehrlich, breites Gehör fand.
Erst im Laufe der achtziger Jahre setzte die zunehmende Distanzierung breiter Bevölkerungsgruppen von der Gewaltorganisation ein. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der ins Auge springenden Brutalität und Unmenschlichkeit der ETA-Aktionen, die im Unterschied zu den Anschlägen während der Franco-Zeit für die Täter keinerlei Risiko mehr implizieren, zum anderen in dem gegenüber jener Zeit grundlegend veränderten politischen Kontext, der die gewaltsame Durchsetzung politischer Ziele als illegitim und zudem wenig aussichtsreich erscheinen läßt. Dabei darf jedoch dreierlei nicht übersehen werden: Erstens ist die rationale Ablehnung des Gewaltkurses nicht mit der Aufkündigung der emotionalen Bindung an die Gewaltorganisation gleichzusetzen; die historische Dankes-schuld wirkt insoweit stark nach. Zweitens bezieht sich der Dissens primär auf die Gewalt als Mittel der Politik. Hinsichtlich ihres politischen Zieles, eine weitergehende Unabhängigkeit von der Zentralregierung zu erlangen, als sie durch das 1979 verabschiedete Autonomiestatut gewährt wird, kann sich die ETA dagegen der Unterstützung von fast der Hälfte der baskischen Bevölkerung sicher sein. Drittens ist es der ETA schließlich gelungen, ein gesellschaftliches und politisches Netzwerk aufzubauen, daß ihre politischen Wünsche und Vorstellungen, unabhängig von den Gewaltaktionen, in der baskischen Öffentlichkeit vertritt und ihnen Nachdruck verleiht.
Einige Trägergruppen dieses Netzwerkes, das sozusagen die zivile Lobby der ETA darstellt, sowie deren Aktionsformen werden im folgenden zu studieren sein. Zuvor seien aber ein Schaubild und eine Tabelle eingefügt, die einerseits einen Über-blick über die auf das Konto der ETA gehenden politischen Morde geben, andererseits ein Bild von der Einstellung der baskischen Bevölkerung zu zentralen ethnischen Problemen, insbesondere in bezug auf die politische Zukunft und die ETA, vermitteln.
II. Die ETA als Lobby und die Lobby der ETA
Abbildung 2
Tabelle 1: Einstellung der baskischen Bevölkerung zu einigen Schlüsselproblemen, insbesondere zur ETA und zum bewaffneten Kampf (1985) *)
Quelle: Cambio 16 vom 8. 7. 1985.
*) Seit dem Ende der Franco-Diktatur sind zahlreiche Umfragen zur ethnischen Problematik und zur Frage der Legitimität der Gewaltanwendung im Baskenland durchgeführt worden, die teilweise in ihren Resultaten variieren, was außer mit dem unterschiedlichen Befragungszeitpunkt auch mit unterschiedlichen Frageformulierungen zusammenhängt. Das 10— 15 Prozent der baskischen Bevölkerung hinter der ETA stehen, ist indes ein immer wieder auftauchendes Ergebnis (ausführlich hierzu R. P. Clark [Anm. 5]. 1984. S. 166 ff.). Bei Frage 1 ist zu bedenken, daß rund 50 Prozent der gegenwärtig in der Region lebenden Bevölkerung von spanischen Zuwanderern abstammen. Wenngleich die erste Folgegeneration ihre nicht-baskische Herkunft oft durch Überidentifikation mit der neuen Heimat zu kompensieren trachtet, fühlen sich von den Zugewanderten selbst viele immer noch nur als Spanier oder sowohl als Spanier als auch als Basken.
Tabelle 1: Einstellung der baskischen Bevölkerung zu einigen Schlüsselproblemen, insbesondere zur ETA und zum bewaffneten Kampf (1985) *)
Quelle: Cambio 16 vom 8. 7. 1985.
*) Seit dem Ende der Franco-Diktatur sind zahlreiche Umfragen zur ethnischen Problematik und zur Frage der Legitimität der Gewaltanwendung im Baskenland durchgeführt worden, die teilweise in ihren Resultaten variieren, was außer mit dem unterschiedlichen Befragungszeitpunkt auch mit unterschiedlichen Frageformulierungen zusammenhängt. Das 10— 15 Prozent der baskischen Bevölkerung hinter der ETA stehen, ist indes ein immer wieder auftauchendes Ergebnis (ausführlich hierzu R. P. Clark [Anm. 5]. 1984. S. 166 ff.). Bei Frage 1 ist zu bedenken, daß rund 50 Prozent der gegenwärtig in der Region lebenden Bevölkerung von spanischen Zuwanderern abstammen. Wenngleich die erste Folgegeneration ihre nicht-baskische Herkunft oft durch Überidentifikation mit der neuen Heimat zu kompensieren trachtet, fühlen sich von den Zugewanderten selbst viele immer noch nur als Spanier oder sowohl als Spanier als auch als Basken.
1. Herri Batasuna (HB): politischer Stellvertreter und Sprachrohr der Gewaltorganisation Die Entwicklung des Parteiensystems im Baskenland seit dem Ende der Franco-Ära läßt sich durch zwei Trends kennzeichnen Zum einen ist das stetige Vordringen nationalistischer, d. h. auf die Region begrenzter gegenüber gesamtspanisch orientierten Parteien zu beobachten. Brachte es der PNV während der Zweiten Republik (1931 — 1936) neben den starken gesamtspanischen Parteien durchschnittlich nur auf ein knappes Drittel der abgegebenen Wählerstimmen, so hat sich der Anteil der für baskische Parteien votierenden Wähler inzwischen auf fast zwei Drittel aller Wähler erhöht, ohne daß ein Ende dieser Entwicklung abzusehen wäre. Dies hängt, und dies wäre der zweite Zug, nicht zuletzt mit der ideologischen und organisatorischen Ausdifferenzierung des baskischen Parteienspektrums seit dem Übergang zur parlamentarischen Monarchie zusammen. Insbesondere existiert heute, im Unterschied zur vorfranquistischen Zeit, neben einer baskischen „Rechten“ auch eine baskische „Linke“, die gleich durch zwei Parteien vertreten ist: Euskadiko Ezquerra (EE) und Herri Batasuna (HB). Beide sind aus Absplitterungen der ETA hervorgegangen. Während sich aber EE im Zeichen eines konsequent verfolgten sozialistischen Parteiprogramms zunehmend von der Gewaltorganisation entfernt hat und gegenwärtig zu deren Gegnern zählt, stellt HB die wichtigste Lobby-gruppe für die ETA innerhalb der politischen Sphäre dar.
Eigentlich ist HB keine Partei, sondern ein aus zahlreichen Gruppierungen, Kleinparteien, Komitees und dergleichen bestehendes Wahlbündnis, an dessen Spitze ein rund fünfzigköpfiges Koordinationsgremium, die Mesa Nacional (wörtlich: nationaler Tisch) steht. Aufgrund ihrer starken Orientierung auf die Parteibasis hin und der großen Bedeutung, die dem aktiven Engagement der Mitglieder beigemessen wird, gleicht HB in mancher Beziehung eher einer sozio-politischen Bewegung als einer Partei im üblichen Sinn, und Bewegung ist es auch, was die „Batasuneros“ vor allem in die baskische
Politik und Gesellschaft bringen wollen. Prinzipiell gegen das Autonomiestatut und die darin festgelegte Kompetenzaufteilung zwischen dem Zentral-staat und der „Autonomen Baskischen Gemeinschaft“ (so die offizielle Bezeichnung) eingestellt, trachtet HB mit allen Mitteln danach, eine Normalisierung der politischen Situation im Baskenland zu verhindern. Eines dieser Mittel besteht im systematischen Boykott der parlamentarischen Vertretungsorgane. HB-Führer kandidieren zwar bei Wahlen zum regionalen und zum nationalen Parlament. weigern sich aber, sofern sie gewählt werden, ihre Abgeordnetensitze einzunehmen und am politischen Entscheidungsprozeß zu partizipieren (eine Ausnahme bildet die lokale Ebene der Stadträte; hier wirkt HB mit). Statt dessen schüren sie Unruhen, wenn immer sich ein günstiger Anlaß dafür bietet. Ein gutes Beispiel liefert der sogenannte Flaggenstreit. Dabei geht es um die Frage, welche Fahnen bei den allsommerlichen Festspielen im Baskenland gehißt werden dürfen und müssen, die spanische oder die baskische, beide oder keine. HB benützte die Festwochen Jahr für Jahr, um durch das ostentative Niederholen und Verbrennen spanischer Fahnen den Anspruch des Baskenlandes auf uneingeschränkte Souveränität gegenüber Madrid zu unterstreichen. Diese Provokation führte zwangsläufig zum Einschreiten der Sicherheitskräfte und harten, oft blutigen Auseinandersetzungen zwischen militanten Nationalisten und Politikern. HB kommen solche Auseinandersetzungen gelegen, bestätigen sie die Partei doch in ihrer Rolle einer Widerstandskraft gegen den politischen Status quo, die alle unzufriedenen Bevölkerungsgruppen mobilisiert und bemüht ist, die Ineffektivität der bestehenden institutionellen Ordnung zu beweisen. Ihre Grundhaltung des Boykotts der parlamentarischen Demokratie rückt HB in die unmittelbare Nähe der ETA. Denn auch die Gewaltorganisation macht geltend, trotz des Übergangs zur Demokratie habe sich am Zustand der Unterdrückung und Entmündigung Euskadis durch Madrid im Grunde nichts geändert. Nach wie vor würden den Basken grundlegende demokratische Freiheiten vorenthalten. würden politische Dissidenten in der Region eingesperrt und gefoltert. Die gemäß dem Autonomiestatut gewählten politischen Vertreter der Region machten das schmutzige Spiel von Madrid mit und verrieten damit die wahren Interessen des baskischen Volkes. Um eine definitive nationale Befreiung zu erreichen, dürfe man sich auf keine faulen Kompromisse einlassen, sondern müsse hart bleiben, d. h. fortfahren mit militanten Demonstra-Btionen und Gewaltanschlägen. Die Übereinstimmung in der Zielorientierung von HB und der ETA zeigt sich besonders augenfällig an ihrer gemeinsamen Berufung auf die sogenannte „Alternative KAS“. Es handelt sich dabei um ein noch aus den siebziger Jahren stammendes Fünfpunkte-Programm, das die Minimalforderungen für die Aufgabe des bewaffneten Widerstandes enthält. Diese Forderungen lauten im einzelnen
1. Generalamnestie für die ETA-Häftlinge, die gegenwärtig in spanischen Gefängnissen einsitzen, und sofortige, an keinerlei Formalitäten geknüpfte Rückkehrmöglichkeit für die zahlreichen ins Ausland, vor allem nach Frankreich geflüchteten Etarras.
2. Gewährung sämtlicher demokratischer Freiheitsrechte, einschließlich des demokratischen Selbstbestimmungsrechts. 3. Rückzug sämtlicher spanischer Sicherheitskräfte aus dem Baskenland.
4. Verbesserung der Lebensbedingungen für die breiten baskischen Bevölkerungsschichten, insbesondere für die baskische Arbeiterklasse.
5. Der Einschluß Navarras in die Autonome Baskische Gemeinschaft, nach Abhaltung eines Referendums. Es würde hier zu weit führen, die fünf Forderungen zu kommentieren und die Gründe aufzuzählen, aus denen die Madrider Regierung nicht oder nur bedingt dazu bereit ist, auf sie einzugehen. Wichtig ist jedoch, sich den „taktischen“ Charakter des Fünf-punkte-Programms vor Augen zu führen, dessen Annahme durch die Gegenseite nur die Voraussetzung weiterer Verhandlungen sein soll. Als strategisches Fernziel wird von den radikalen Nationalisten die gänzliche Loslösung vom spanischen Staatsverband, in Verwirklichung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts des baskischen Volkes, anvisiert.
Die Übereinstimmung in den politischen Fern-und Nahzielen sowie in den Durchsetzungsmethoden legt die Vermutung nahe, zwischen der ETA und der HB gebe es noch weitere Verbindungen. Diese Vermutung wurde in Spanien immer wieder geäußert, gestützt auf sporadische Belege und Hinweise. Nachdem indes die HB-Vertreter stets ihre organisatorische Selbständigkeit betonten und von der ETA diesbezüglich keine Auskünfte erhältlich waren, blieb es lange bei bloßen Spekulationen und Verdächtigungen. Erst aufgrund der Aushebung mehrerer ETA-Verstecke in Südfrankreich in jüngerer Zeit kam mehr Licht in die Natur der Beziehungen zwischen den beiden Gruppierungen. Dabei hat sich die Hypothese einer weitgehenden organisatorischen, finanziellen sowie personellen Abstimmung bzw. Verflechtung zwischen ihnen im wesentlichen bestätigt So hat man Belege dafür gefunden, daß HB nahestehende politische Verbände aus der ETA-Kasse finanzielle Zuwendungen erhalten haben. Aus Protokollen gemeinsamer Sitzungen von ETA-und HB-Vertretern geht hervor, daß die ETA erheblichen Einfluß auf politische Einzelentscheidungen der Partei nahm und auch ein gewichtiges Wort bei der Besetzung von Posten parteinaher Einrichtungen mitsprach. Umgekehrt waren HB-Mitglieder der Gewaltorganisation wiederholt bei der Anlage von Vorrats-und Waffenlagern behilflich und leisteten Etarras in Notfällen Flucht-hilfe. Daß ehemalige, manchmal auch aktive Etarras in der Parteiorganisation mitarbeiten und dort teilweise wichtige Funktionen ausüben, ist ohnedies kein Geheimnis. Besonders bekannt wurde der Fall von Carlos Yoldi, einem 23jährigen ETA-Mitglied, der während seiner Untersuchungshaft von HB auf die Wahlliste für das baskische Parlament gesetzt und nach seiner Wahl zum Abgeordneten von derselben Partei sogar für das Amt des Lehendakari, d. h.des baskischen Ministerpräsidenten, vorgeschlagen wurde.
Insgesamt ergibt sich das Bild einer subtilen Funktionsaufteilung zwischen den beiden Organisationen, wobei die ETA offenbar rangmäßig HB überlegen ist, d. h. in Zweifelsfällen die letzte Entscheidung hat. Die ETA verkörpert die Prinzipien rigider Hierarchie und Disziplin als Voraussetzung ihres Wirkens im Untergrund, HB steht für das Gegenprinzip einer offenen, losen Formation im legalen politischen Raum; jene kann nur eine begrenzte Zahl von Mitgliedern aufnehmen, diese trägt dem Mobilisierungsverlangen breiter Gruppen im Dienste der nationalistischen Sache Rechnung; jene versucht, den parlamentarischen Rechtsstaat durch Gewaltanschläge aus den Angeln zu heben, diese setzt ihm zu, indem sie seine Institutionen unterwandert und aushöhlt. Während schließlich die ETA aufgrund ihrer Abgehobenheit vom „schmutzigen“ politischen Alltagsgeschäft für die Bewahrung nationalistischer Mythen einen wichtigen Beitrag leistet — dem Mythos vom baskischen Helden und Märtyrer sowie genereller von einem künftigen makellosen baskischen Gemeinwesen —, so gibt demgegenüber HB, lärmend und protestierend, der Unzufriedenheit vieler Basken mit den konkretengegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Mißständen in der Region Ausdruck, Es läßt sich unschwer beweisen, daß es sich bei der hier skizzierten Arbeitsteilung nicht um das Wunschprogramm eines radikalen Intellektuellen handelt, sondern um ein Funktionsschema, das sich in der Praxis oft bewährt hat. Als Beispiel lassen sich etwa die öffentlichen Kampagnen und Demonstrationszüge anführen, die HB nach ETA-Attentaten zu inszenieren pflegt, um die baskische Öffentlichkeit abzulenken und von der Notwendigkeit der Fortführung des „bewaffneten Kampfes“ zu überzeugen. Oder die Reaktionen der ETA auf Denunziationen politischer Gegner durch die HB. die einem Todesurteil für die Betreffenden gleichkommen können. Der beste Beweis für die Erfolgs-trächtigkeit der von beiden Organisationen verfolgten Doppelstrategie wird jedoch durch das gute Abschneiden von HB bei Wahlen erbracht. Ihr Stimmenanteil liegt seit 1979 ziemlich konstant bei etwa 15 Prozent aller im Baskenland abgegebenen Wählerstimmen, in der letzten Wahl zum Regional-parlament (Ende 1986) stieg er sogar auf 17, 5 Prozent an Offenbar nimmt ein beträchtlicher Teil der baskischen Bevölkerung der linksnationalistischen Parteienkoalition ihr offenes Bekenntnis zum Gewaltkurs der ETA keineswegs übel, sondern honoriert es im Gegenteil.
Die Gründe für dieses Verhalten werden deutlicher. wenn man die Anhängerschaft von HB betrachtet. Es stellt sich nämlich heraus, daß sie ihren Rückhalt in denselben sozialen Gruppen findet, aus denen nach einschlägigen Untersuchungen auch die ETA ihren Nachwuchs rekrutiert -Der „typische“ HB-Sympathisant ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. kommt aus der Provinz Guipüzcoa, gehört der unteren Mittelschicht an (ist z. B. Facharbeiter oder kleiner Angestellter), besitzt einen mittleren Bildungsabschluß und fühlt sich primär als Baske. Die Arbeitsteilung zwischen politischer Formation und Gewaltorganisation muß bei genauer Analyse demnach zu einem Funktionsdreieck: ETA — HB — Sympathisantenschicht erweitert werden, in dem jeder Gruppe bestimmte Aufgaben zufallen. Die ETA repräsentiert die militärische Avantgarde des nationalen Befreiungskampfes und stellt dessen Führungskader. Die breite
Schar der ETA-Anhänger und Sympathisanten bildet einerseits die Muttergruppe der Gewaltorganisation, die dieser emotionalen und logistischen Beistand gibt und sie bei Bedarf personell ergänzt; andererseits bewirkt sie mit ihrer Unterstützung für HB, daß die Bewegung auch in der legalen Sphäre, im Parlament und auf der Straße präsent ist. HB wiederum nimmt diese politische Vertretungs-und Mobilisierungsfunktionen wahr, dient aber zugleich auch als Bindeglied zwischen den anderen zwei Teilen der Bewegung, indem sie deren solidarischer Verbundenheit öffentlichen Ausdruck verleiht.
Die Herausbildung dieser merkwürdigen, teils legal, teils illegal operierenden Protestfront muß vor dem Hintergrund einer zunehmenden inneren Distanzierung vieler Jugendlicher und junger Erwachsener von den Institutionen der parlamentarischen Demokratie gesehen werden, die in allen Industrienationen zu beobachten ist, sich im Baskenland jedoch besonders ausgeprägt findet. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die spanische Verfassung in dem 1978 durchgeführten Referendum bei den Stimmberechtigten im Baskenland keine Mehrheit fand und auch das Autonomiestatut nur mit knapper Mehrheit angenommen wurde. Wenngleich die Zahl der Stimmenthaltungen seit 1979 stetig zurückgegangen ist, liegt sie immer noch bei fast 30 Prozent der Stimmberechtigten. E. Larana hat in diesem Zusammenhang von einer Dele-gitimierung des Repräsentationsprinzips im Baskenland gesprochen, durch die sämtliche Organe der parlamentarischen Demokratie in Mitleidenschaft gezogen würden Der konstante Wahlerfolg von HB erkläre sich nicht zuletzt daraus, daß es dieser populistischen Partei am besten gelinge, die aus der Legitimitätskrise resultierende politische Apathie breiter baskischer Wählerschichten zu durchbrechen. Denn HB spreche Gefühle an und komme mit ihrem dezentralisierten Aufbau und dem Appell an basisdemokratische Prinzipien dem nostalgischen Wunsch vieler Basken nach der Wiederherstellung überschaubarer, kleiner Selbstverwaltungseinheiten entgegen. Außerdem repräsentierten die HB-Führer einen traditionellen Typus personalisierter, charismatischer Autoritätsbeziehungen, der im Baskenland immer noch großen Anklang finde. 2. Ein Netzwerk militanter gesellschaftlicher Protestgruppen HB tritt als politischer Exponent der militant separatistischen Bewegung besonders in den Vorder- grund, steht aber keineswegs allein. Vielmehr hat die politische Sensibilisierung und Mobilisierung der baskischen Bevölkerung (verbunden mit dem bereits erwähnten Hang zur Assoziation) eine Vielzahl von Vereinigungen, Komitees und Gruppierungen hervorgebracht, die von ihrer Themenstellung und Zielorientierung her alle mehr oder weniger direkt mit der nationalen Unterdrückung und ihrer Aufhebung und damit mittelbar zugleich mit der ETA befaßt sind. Bezeichnenderweise gibt es hinsichtlich der Annahme, die ETA und HB bildeten den Mittelpunkt eines weitverzweigten Geflechtes von radikal-nationalistischen Gruppen und Verbänden keinen grundlegenden Dissens zwischen den Gegnern und den Verteidigern der nationalistischen Bewegung. Ein kürzlich bekannt gewordener Bericht einer Madrider Polizeibehörde kommt insoweit nicht zu gänzlich anderen Erkenntnissen als etwa J. Lang, der die baskische Sezessionsbewegung mit offenkundiger Sympathieverfolgt In der folgenden Aufstellung versuchen wir, einen ungefähren Überblick über die Breite dieses Netzwerks und dessen zentrale Aktionsformen zu vermitteln. Es soll nicht die Vorstellung geweckt werden, alle hier aufgezählten Vereinigungen würden unmittelbar von der ETA oder der HB gesteuert. Eine solch simplifizierende Sichtweise würde der Komplexität und inneren Pluralität des radikal-nationalistischen Lagers nicht gerecht werden. Auch bei HB gibt es unterschiedliche Flügel, nicht alle ihre Führer und Untergruppen sind mit der ETA-Linie einverstanden und beugen sich dem Diktat der Gewaltorganisation. Dasselbe gilt zum Teil noch mehr für andere Gruppierungen. Beispielsweise wäre es verfehlt, die radikalen Priester oder die Sprach-und Kultur-vereinigungen als verlängerten Arm der ETA bezeichnen zu wollen. Was alle diese Gruppen indes eint und es insofern berechtigt erscheinen läßt, sie dem Block des militanten Nationalismus zuzuordnen, ist der Umstand, daß sie sich nicht eindeutig und öffentlich von den Terroristen distanzieren, sondern deren fortgesetzte Attentate verständlich und entschuldbar finden, sofern sie sie nicht sogar begrüßen. Damit tragen sie willentlich oder unwillentlich zum Fortbestand und zur weiteren Festigung der radikal-nationalistischen Bewegung bei, die den Avantgardeanspruch der ETA hinsichtlich des nationalen Befreiungskampfes bestätigt und legitimiert. Um die Funktionsweise des Geflechts von Unterstützungsgruppen besser verstehen zu können, seien zwei von ihnen herausgegriffen, die recht unterschiedlich sind, nämlich die baskische Rock-szene und die Amnestieorganisationen.
Schon in den siebziger Jahren gab es Ansätze zur Entwicklung einer spezifischen baskischen Rock-musik, die neben traditionelle Formen baskischer Musikpflege wie Männerchöre oder das Singen improvisierter Verse durch einzelne (bertsolari) trat Doch erst im Laufe dieses Jahrzehnts gewann der Rock in der Region jenen schnellen, harten, aggressiven Duktus, entstanden jene auf die baskische Situation gemünzten bekannten Texte, welche Musikkritiker vom „radikalen baskischen Rock“ als einem Sonderphänomen sprechen lassen. Inzwischen sind Rockeinlagen zum festen Bestandteil jedes größeren Festprogramms im Baskenland geworden, sie ziehen oft Tausende von Jugendlichen an.
Einer der Grundzüge baskischer Rockgesänge ist die Stimmung tiefer Frustration, die sie verbreiten und, unmittelbar damit zusammenhängend, eine trotzige Anti-Haltung gegenüber dem bestehenden gesellschaftlichen und politischen System. Zielscheiben der Angriffe baskischer Rockmusiker sind vor allem die Polizei, Militär und Militärdienst, die Politiker und die Religion, aber im Grunde bleibt niemand und nichts von ihnen verschont, nicht einmal die Revolution und unter Umständen nicht einmal das Baskenland. Der Hintergrund der aggressiven Slogans und Verse ist die teilweise desperate wirtschaftliche Situation der Jugendlichen im kantabrischen Raum — die Jugendarbeitslosigkeit liegt deutlich über dem spanischen Durchschnitt —, die in Verbindung mit ihrem hohen politischen Bewußtseinsgrad bei vielen zu einer radikalen linken Einstellung geführt hat, bei einer noch größeren Zahl jedoch einen Anarchismus nährt, der seinen Niederschlag unter anderem in der verbreiteten Stimmenthaltung bei Wahlen findet. Der radikale Rock reflektiert offenbar genau diese wütende „Gegen-alles“ (anti-todo) -Einstellung eines Großteils der baskischen Jugend. Die tumultartig und manchmal chaotisch verlaufenden Rockfestivals liefern ein getreues Abbild ihrer Weitsicht und der in dieser Welt wahrgenommenen Orientierungsund Handlungschancen. Daß der radikale baskische Rock bislang von den gesamtspanischen Massenmedien wenig zur Kenntnis genommen wurde, ist ein Grund mehr für die Heranwachsenden der Region, sich mit ihm zu identifizieren.
Unser zweites Fallbeispiel, die Amnestiebewegung (Gestoras por Amnestia) hängt eng mit der erwähnten Forderung der „Alternative KAS“ zusammen, sämtliche baskischen Gefangenen bedingungslos auf freien Fuß zu setzen und den ins Ausland Geflüchteten eine Rückkehr in die Heimat unter Ersparung sämtlicher Formalitäten zu gestatten. Trotz der Begnadigung zahlreicher unter Franco inhaftierter Etarras im Jahr 1977 sitzen derzeit erneut rund 400 ETA-Mitglieder in spanischen Gefängnissen ein. etwa 1 000 Etarras sollen flüchtig, d. h. auf der Suche nach einem politischen Asyl in Drittländern sein. Dies sind aktuelle Zahlen; die heikle Dimension des Gefangenenproblems, das bei den Basken an tiefsitzende Wunden rührt, erschließt sich jedoch erst, wenn man in die jüngste Geschichte zurückblickt. Es ist allgemein bekannt, daß die Basken die Hauptlast der franquistischen Unterdrückung zu tragen hatten. Ein Autor hat ausgerechnet, daß 1975 die politisch Inhaftierten aus dem Baskenland 70 Prozent aller spanischen Strafen ab-büßten. Verteilt man die von ihnen verbüßten Gefängnisjahre auf die gesamte baskische Bevölkerung, so entfielen auf jeden Einwohner rund 13 Stunden Der Übergang zur Demokratie brachte insoweit keine grundlegende Änderung. Wie in periodisch publizierten Anzeigen von EGIN zu lesen ist, sollen seit 1975 rund 11 000 Basken in Anwendung antiterroristischer Gesetze festgenommen worden sein, drei davon sind durch die Folter umgekommen, drei weitere verschwunden. Stellt man den begrenzten Umfang der im Baskenland lebenden Bevölkerung (etwas über 2, 5 Mio.) in Rechnung und bedenkt man weiter, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen der Verfolgung durch die Sicherheitsbehörden intensiver ausgesetzt waren als andere, so wird man bei den ersteren eine Art von Repressionstrauma unschwer nachvollziehen können. Insbesondere im Hinterland der Provinz Guipüzcoa gibt es gebietsweise kein Dorf, kein Stadtviertel, keine Großfamilie und keinen Freundeskreis, die nicht den Verlust eines geschätzten Mitglieds, Verwandten oder Bekannten durch Tod, Flucht oder Strafhaft zu beklagen hätten. Hier haben die „Gestoras de Amnistia“ besonders großen Rückhalt, können ihre Appelle mit einer kaum nachlassenden Resonanz rechnen.
Die „Gestoras“ haben einen gut organisierten Verband entwickelt, an dessen Spitze eine nationale Kommission steht, dessen Dynamik — diesen Zug teilt er mit anderen linksnationalistischen Gruppierungen — im wesentlichen durch eine aktive, engagierte Basis bestimmt wird Im Mittelpunkt des Engagements steht die wirtschaftliche, rechtliche und emotionale Betreuung der Inhaftierten sowie generell die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen und menschenunwürdigen Haftbedingungen. Die Wahrnehmung der damit umrissenen Aufgabe ist keineswegs einfach, da die meisten ETÄ-Mitglieder weitab vom Baskenland, in mittel-und südspanischen Gefängnissen einsitzen. Die Organisation regelmäßiger Sendungen aller Art und persönlicher Kontakte, zu denen auch gelegentlich Solidaritätsbesuche größerer Gruppen gehören ist mit einem beträchtlichen finanziellen und zeitlichen Vorbereitungsaufwand verbunden. Die Kommunikation verläuft keineswegs einseitig von den Angehörigen. Bekannten. Gesinnungsgenossen der Inhaftierten zu diesen; vielmehr melden sich die Terroristen selbst ebenfalls regelmäßig zu Wort. Beispielsweise forderten sie von dem HB-Abgeordneten im Europa-Parlament eine Erklärung, nachdem dieser sich kritisch über einen ETA-Anschlag geäußert hatte. Man griffe daher zu kurz, würde man die Funktion der Amnestiegruppen auf die humanitär motivierte individuelle Hilfestellung für die Gefangenen reduzieren. Indem sie eine kontinuierliche Verbindung zwischen diesen und dem radikal nationalistischen Block herstellen, sorgen sie vielmehr dafür, daß die Militanz der inhaftierten Etarras für die Bewegung als ein Aktivposten erhalten bleibt, verhindern gleichzeitig, daß die Gefangenen sich ihrerseits der Kontrolle durch die Bewegung entziehen und halten schließlich bei beiden, den inhaftierten Etarras und ihren radikalen Muttergruppen im Baskenland, die verpflichtende Erinnerung an gemeinsame Opfer und Entbehrungen im Dienste der nationalistischen Sache wach.
Diese integrierende und koordinierende Funktion der „Gestoras“ trat 1987 besonders deutlich hervor, als die spanische Regierung ihre Bemühungen, die Solidarität der ETA-Gefangenen aufzubrechen, intensivierte. Zum einen wurden die Haftbedingungen verschärft, wurden insbesondere die baskischen Häftlinge, die sich bis dahin gemeinschaftlich von den übrigen Kriminellen ferngehalten hatten, in kleinen Gruppen auf zahlreiche spanische Gefängnisse verteilt und dort in Einzelzellen eingesperrt. Zum anderen erneuerte die Regierung ihr Angebot eines individuellen Straferlasses, sofern der einzelne Terrorist sich zu künftigem Verzicht auf Gewaltanwendung verpflichte. Vor allem diese letztere Initiative wurde in linksnationalistischen Kreisen aufs heftigste angegriffen. Nicht zu Unrecht sieht man darin den Versuch, die Gemeinschaft der inhaftierten Gewaltaktivisten innerlich zu entzweien und ihren Widerstandsgeist zu brechen. Sowohl Gefangenengruppen als auch Vertreter der Amnestieorganisation sprachen von einer Erpressungsaktion der Madrider Zentralbehörden, welche die Gefangenen, die sie als Geiseln in ihrer Gewalt hätten, zu einem Reuebekenntnis zwingen wollten, um die nationale Widerstandsfront zu schwächen. Angesichts der Versuchung, sich individuell zu salvieren, sei es doppelt wichtig zusammenzustehen. Nur die bedingungslose Entlassung sämtlicher baskischer Strafgefangener sei als Lösung akzeptabel.
Um dieser Forderung eine möglichst große Resonanz zu verleihen, wurde Ende 1987 mit großem Aufwand die Zehnjahrfeier zur Gründung der Gestoras begangen. Zu dem umfangreichen Programm, das sich über mehrere Tage erstreckte undauf das ganze Gebiet des spanischen Baskenlandes ausgedehnt war, zählten unter anderem ein größerer international besuchter wissenschaftlicher Kongreß über Folter und Repression sowie Selbsteinschließungen, Kettenbildungen, Plakataktionen, Ausstellungen und Filmvorführungen, Gedenkfeiern für getötete bzw. verschwundene Etarras, Telegrammaktionen für Gefangene und Gefängnisbesuche, Feste und Festivals 3. Politischer Druck und Gegenwehr Die vorangegangenen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, das Baskenland sei sozusagen von den radikal-nationalistischen Gruppen okkupiert, der überwiegende Teil seiner Bevölkerung sei, offen oder geheim, mit der ETA im Bunde. Dieser Schluß wäre irrig, es sei nur an das aus Tabelle 1 hervorgehende breite politische Meinungsspektrum in der Region erinnert sowie daran, daß HB nur gut 15 Prozent der Wähler hinter sich hat. Die militanten Linksnationalisten bilden nur eine Minderheit, allerdings eine sehr aggressive Minderheit, die ihren Einfluß unentwegt auf Kosten der anderen politischen Parteien und Gruppen auszudehnen trachtet.
Der von ihr ausgeübte expansive Druck macht sich in mehrfacher Art und Weise bemerkbar. Die spektakulärste und zugleich skandalöseste Form sind die Mordanschläge der ETA. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen sich diese ausschließlich gegen Exponenten des Zentralstaats, etwa Polizeibeamte oder Militärgouverneure, richteten. Heute kann kein Baske, gleich welcher sozialen Schicht er angehört. aus welcher Familie er stammt oder welche Verdienste er um sein Volk erworben haben mag, sicher vor einer Strafaktion der Gewaltorganisation sein. Selbst ehemalige Etarras. die aus dem Verband ausgeschieden sind, müssen seine Rache fürchten. HB als ETA-nahe Partei verfügt damit über eine sehr wirksame Waffe, um politische Gegner. wenn sie schon nicht für ihren Kurs gewonnen werden können, so wenigstens zum Schweigen zu bringen.
In besonderem Maße sind baskische Unternehmer, leitende Angestellte und wohlhabende Selbständige den Einschüchterungen und Drohungen der ETA ausgesetzt. Diese verlangt von ihnen, durch eine „Revolutionssteuer“ (impuesto revolucionario) zur Erhaltung der Organisation und zur Finanzierung ihrer Aktivitäten beizutragen. Es ist schwierig, konkrete Angaben über die auf diesem Wege eingetriebenen Zwangsgelder zu machen von der Polizei in französischen Schlupfwinkeln der Terroristen gefundene Listen „Steuerpflichtiger“ zeigen jedoch, daß das Tributsystem bis vor kurzem gut funktionierte und der Gewaltorganisation zu einem in die Millionen gehenden Jahreseinkommen verhalf. Neben dem unmittelbaren finanziellen Aderlaß, den die baskische Wirtschaft dadurch erlitt, dürfen die sozialpsychologischen Folgen eines sozialen Klimas von Angst und Erpressung, in dem vermögende Basken leben, nicht unterschätzt werden. Etwa fünftausend von ihnen sollen in den vergangenen zehn Jahren ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben so daß in der an unternehmerischen Talenten traditionell so reichen Region erstmals ein gewisser Mangel an privatwirtschaftlicher Initiative erkennbar ist.
Der Rekurs auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ideologischer und teils auch pragmatischer Ziele beschränkt sich jedoch nicht allein auf die ETA, sondern kennzeichnet, wenngleich in weniger krasser Form, auch den legalen Flügel der radikalnationalistischen Bewegung. Ihre Intoleranz und Ressentiments bekommen vor allem die Sozialisten zu spüren, die einzige gesamtspanische Partei, die nach wie vor über eine bedeutende Stammwählerschaft in der Region verfügt. Anonyme Drohbriefe an PSOE-Politiker und nächtliche Telefonanrufe sind keine Seltenheit. Stadträte der Partei mußten Beleidigungen und Beschimpfungen über sich ergehen lassen, ihre Autos und Wohnheime wurden demoliert, bisweilen mußten sie auch Pfiffe und Schläge einstecken. Die Sitze der Partei („casa del pueblo“) wurden mit ETA-Emblemen beschmiert und waren oft Angriffen ausgesetzt. Im Frühjahr 1987 warfen beispielsweise baskische Jugendliche Molotowcocktails in die Bar einer Casa del pueblound verletzten dadurch mehrere Personen zum Teil erheblich
Bedenkt man zudem, daß die linksnationalistische Bewegung über eine die übrigen Parteien weit übertreffende politische Mobilisierungsfähigkeit verfügt und aufgrund ihrer unentwegten Demonstrationen, Versammlungen, Märsche und sonstigen Protestaktionen ständig im öffentlichen Leben des Baskenlandes, vor allem auf dessen Plätzen und Straßen, präsent ist. so leuchtet ein. daß ihr politischer Einfluß weit über ihren begrenzten numerischen Umfang hinausgeht. Dabei profitiert sie davon, daß die Basken gewisse Züge einer traditionellen Gemeinschaft bewahrt haben, beispielsweise einen hohen Grad sozialer Kontrolle, der zum einen mit der fehlenden Ausdifferenzierung einer Privat-und Intimsphäre zum anderen mit der großen informellen Kommunikationsdichte der baskischen Gesellschaft zusammenhängt. Mag die intensive Kontrolle des einzelnen durch die Gemeinschaft die Widerstands-und Überlebensfähigkeit der Ethnie unter den Bedingungen äußerer Bedrohung steigern. so wird sie zu einem Belastungsfaktor, wenn die Bevölkerung, wie dies heute der Fall ist, in ihrer politischen Einstellung gespalten ist. Denn sie erzeugt einen Konformitätsdruck, zwingt den einzelnen, öffentlich Farbe zu bekennen, wobei er davon ausgehen muß. daß seine Reaktionen und Äußerungen rasch weitergegeben werden. HB und ihre radikale Gefolgschaft machten sich dies zunutze, indem sie versuchten, ein informelles Kontrollmonopol über die baskische Gesellschaft zu erlangen.
Lange Zeit trug diese Strategie Früchte. Nur ein kleiner Teil der Basken wagte die vom radikal-nationalistischen Block militant geltend gemachten Hegemonieansprüche offen zurückzuweisen, die meisten reagierten mit Unsicherheit, Verständnis und vor allem mit Angst. Die Angst galt zunächst dem Risiko, wegen einer unvorsichtigen Bemerkung oder einer von dritter Seite erhobenen Verdächtigung, die das Mißfallen der HB-Vertreter erregen könnte, zum Opfer eines Anschlags auf Leib und Leben zu werden. Doch sie erschöpfte sich nicht in dieser physischen Seite. Daneben trat die soziale Angst, d. h. die Befürchtung, wegen einer abweichenden politischen Meinung von den Links-nationalisten als Verräter an der baskischen Sache hingestellt, vom Freundes-und Bekanntenkreis ge-schnitten zu werden und in die soziale Isolierung zu geraten Um dieser drohenden sozialen Ächtung zu entgehen, schwieg die Mehrzahl der Basken zum mörderischen Treiben der ETA und den intoleranten politischen Praktiken von HB, paßte sich rein äußerlich an, selbst wenn sie innerlich beides ablehnte. Allerdings gab es immer einzelne, welche die Übergriffe einer allzu sehr von der Richtigkeit ihres politischen Kurses überzeugten Minderheit nicht widerspruchlos hinnahmen. So weigerten sich gelegentlich Unternehmer, den ETA-Drohungen nachzugeben und die von ihr geforderte Summe zu bezahlen. Nach tödlichen Anschlägen auf harmlose Bürger, deren Sinn niemand verstand, wurden auch manchmal Stimmen des Abscheus und der Anklage gegen die Gewaltwillkür laut, doch handelte es sich dabei, wie gesagt, um seltene Ausnahmen.
Wenn es einen bemerkenswerten Zug in der baskischen Entwicklung der letzten zwei Jahre gibt, dann ist es die Tatsache, daß aus diesen sporadischen Gegenstimmen mittlerweile ein Chor geworden ist. daß sich im Baskenland eine breite Widerstands-front gegen das radikal-nationalistische Lager und vor allem gegen die ETA und ihre Gewalttaten gebildet hat. Der erwähnte Anschlag auf ein lokales PSOE-Büro, bei dem einige Personen schwer verletzt wurden, löste energische und massive Protest-demonstrationen aus. Nach der Ermordung eines Polizisten, der mit einer Baskin verheiratet war, wurde in einer Ortschaft in Guipüzcoa erstmals ein Generalstreik zum Zeichen der Ablehnung eine Aktion der Gewaltorganisation, nicht aus Solidarität mit ihr durchgeführt Den bisherigen Höhepunkt der öffentlichen Zurückweisung des An- Spruchs der ETA, über Tod und Leben der baskischen Mitbürger zu bestimmen, stellte die Reaktion auf die Ermordung zweier Geschäftsleute in Eibar und Elgoibar im Frühsommer 1988 dar. Zur Begründung der tödlichen Anschläge behauptete die ETA, die beiden seien in den Drogenhandel verwickelt gewesen — ein emotional hochbesetztes Thema, da im Baskenland die Zahl der Drogentoten für spanische Verhältnisse ungewöhnlich hoch ist. Diese Beschuldigung und die daran geknüpfte „Hinrichtung“ zweier als Patrioten bekannter Männer löste einen Sturm der Entrüstung aus. Wiederholt wurden Trauer-und Protestkundgebungen unter dem Motto „Das Baskenland gegen ETA“ veranstaltet, an denen sich viele Tausende beteiligten. Der Untergrundorganisation wurde vorgeworfen, auf bloßen Verdacht und Verleumdung hin Menschen umzubringen. Dies sei weit schlimmer als die Vorgehensweise der oft kritisierten spanischen Justiz, die zumindest ein ordentliches Verfahren mit Anklage, Verteidigung und Beweiszwang kenne. ETA usurpiere eine Justizgewalt, die ihr nicht zu-stehe. Sowohl in den Stadtversammlungen als auch auf der Provinz-und Regionalebene gerieten die HB-Vertreter in Bedrängnis, da sie als einzige Partei im Baskenland die Attentate nicht verurteilten. Man beschuldigte sie, für die ETA Spitzeldienste zu leisten und nicht vor faschistischen Methoden zurückzuschrecken, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Auch die Kirche, eine im tiefkatholischen Baskenland sehr einflußreiche moralische Instanz, ergriff Partei, indem sie sich offen gegen die Ausübung widerrechtlichen Drucks und die Fortsetzung des sinnlosen Mordens aussprach. Einige Städte wandten sich direkt an die ETA mit dem Ersuchen, die Waffen niederzulegen und zur Wiederherstellung des Friedens im Baskenland beizutragen.
Der Bann der Angst, der über ein Jahrzehnt lang auf der baskischen Bevölkerung lastete, scheint sich demnach allmählich zu lockern; auch politische Fragen, die bislang tabu waren, werden nun allmählich öffentlich und kontrovers diskutiert Damit tritt neben das traditionelle Spannungsverhältnis zwischen Madrid und der Region eine zweite Achse des Konflikts zwischen den radikalen und den gemäßigten baskischen Nationalisten. Daß die ersteren nunmehr mit vermehrtem Widerspruch und Widerstand rechnen müssen, ist nicht so sehr einem Gesinnungswandel der Mehrheit der Basken bzw. ihrer politischen Repräsentanten zuzuschreiben als vielmehr der geschwächten Position der ETA. Dies wiederum hängt mit dem von der spanischen Regierung verfolgten Kurs der Terrorismusbekämpfung zusammen, dem wir uns nun abschließend zuwenden.
III. Maßnahmen der spanischen Regierung gegen die ETA
Abbildung 3
Tabelle 2: Militante nationalistische Gruppierungen im Baskenland und ihre Aktionsformen a) Gruppierungen b) Aktionsformen
Tabelle 2: Militante nationalistische Gruppierungen im Baskenland und ihre Aktionsformen a) Gruppierungen b) Aktionsformen
Die von der PSOE-Regierung in Madrid während der vergangenen fünf Jahre betriebene Politik zur Eindämmung der politischen Gewalt im Baskenland bildet eine Kombination von Kontrollmaßnahmen einerseits, die auf die Reduzierung und Entmachtung der ETA abzielen, und von Ansätzen der Öffnung und Aussöhnung mit dem baskischen Volk einschließlich seiner radikalen Gruppen andererseits. Um die ETA in die taktische Defensive zu drängen, verbesserte die spanische Regierung ihren Verfolgungsapparat und war vor allem um eine Zusammenarbeit mit den französischen Sicherheitsbehörden bemüht. Diese Bemühungen waren erstmals erfolgreich, so daß die ETA ihren Stützpunkt im südfranzösischen Baskenland räumen mußte.
Unter den „positiven“ Initiativen ist der ab 1984 stockend in Gang gekommene Dialog zwischen dem spanischen Innenministerium und der ETA sowie in jüngster Zeit der Versuch einer generellen Annäherung der Regierung in Madrid an die politischen Kräfte im Baskenland herauszuheben.
Wie wichtig es für die spanische Regierung war, Paris von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens gegen den baskischen Terrorismus zu überzeugen, wird deutlich, wenn man sich die Bedeutung des südwestfranzösischen Rückzugsraumes für die Gewaltorganisation vor Augen führt Schon Anfang der sechzigerJahre wichen die ersten Etarras vor dem repressiven Zugriff des Franco-Regimes in dieses Gebiet aus, das sich wegen der räumlichen Nähe zu Spanien und der ethnischen Verschwisterung seiner Bevölkerung mit den spanischen Basken als ein ideales Fluchtziel anbot. Doch blieb es nicht bei dieser Funktion einer Zufluchtszone für in Bedrängnis geratene baskische Oppositionelle. Das Gebiet um Biarritz, Bayonne und St. Jean de Luz entwickelte sich vielmehr weiter zum Regenerierungsraum für die baskischen Akti- visten und schließlich zur zentralen Ausgangsbasis der meisten ihrer Anschläge. Nachdem die ETA-Führung dort ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte, schuf sie sich eine eigene Infrastruktur, bestehend aus ideologischen und waffentechnischen Schulungszentren, Vorrats-und Waffendepots, einem Verkehrspark, Büros und Archiven.
All dies konnte mit Wissen der französischen Behörden geschehen, da das an eine großzügige Asyl-praxis gewöhnte Frankreich während der Franco-Diktatur keinerlei Grund sah, gegen den Aufenthalt flüchtiger ETA-Mitglieder auf seinem Territorium einzuschreiten. Doch auch nach Francos Tod und dem Übergang Spaniens zu einer neuen parlamentarischen Regierungsform machte Paris lange Zeit keine Anstalten, den Etarras das politische Asylrecht zu entziehen. Das Argument der spanischen Regierung, die Freiheitskämpfer von gestern seien heute als gefährliche Terroristen einzustufen, die unschuldige Menschen umbrächten, wurde von der französischen Regierung mit Skepsis aufgenommen. da diese gewisse Zweifel an der Gründlichkeit des demokratischen Wandels im südlichen Nachbarstaat hatte — Zweifel, die durch Informationen über Fälle von Folterung in spanischen Gefängnissen zusätzliche Nahrung fanden.
Erst 1984 konnte der sozialistische Ministerpräsident Felipe Gonzales in Verhandlungen mit seinem französischen Amtskollegen Mitterrand einen ersten Durchbruch hinsichtlich der Frage der baskischen Gewalttäter erzielen. Frankreich begann, zunächst zögernd. Etarras auszuliefern bzw. in Drittländer abzuschieben, eine Praxis die unter Chirac verstärkt fortgeführt wurde und schließlich 1987 in einigen razziaartigen Festnahmeaktionen gipfelte, die zu einer weitgehenden Säuberung des Gebiets von Etarras und ihren Angehörigen führten.
Die Gründe für diesen Wandel in der Handhabung der Exilerlaubnis der französischen Regierung sind vielschichtig; teils hängt er mit der zwischenzeitlichen Bewährung Spaniens als demokratischer Staat zusammen, der den Makel einer autoritären politischen Vergangenheit spätestens mit der Aufnahme in die EG als definitiv getilgt hatte, teils damit, daß Frankreich in Form der „action directe“ und eines sporadisch im eigenen Baskenland aufkeimenden Terrorismus erstmals selbst mit der Terrorismus-problematik konfrontiert war. Schließlich spielt auch der diplomatische Druck eine Rolle, den Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland und die USA in Richtung einer internationalen Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung ausübten. Die Folgen der Aufkündigung des Asylrechts für Etarras in Südfrankreich waren für die ETA katastrophal. Sie verlor, sozusagen über Nacht, ihren Hauptstützpunkt und ihr Koordinationszentrum; ihre Infrastruktur war zerstört, ihre Führer über mehrere Kontinente verstreut. Sie war, mit einem Wort, extrem geschwächt.
Dieser Rückschlag traf sie in einem Moment, in dem sie auch innerhalb Spaniens zunehmend in Bedrängnis geriet. Die spanische Regierung hatte alles daran gesetzt, um die Gesetze gegen den Terrorismus zu perfektionieren und die Effizienz der mit seiner Verfolgung betrauten Sicherheitsbehörden zu steigern. Noch 1984 wurden die bereits bestehenden gesetzlichen Regeln gegen den Terrorismus verschärft, indem die Strafen gegen politische Gewalttäter heraufgesetzt, eine Reihe von Straftat-beständen im Umfeld des Terrorismus (betreffend z. B. die Propagierung und Rechtfertigung terroristischer Aktionen) geschaffen und die Dauer des polizeilichen Gewahrsams für Terrorismus-Verdächtige auf zehn Tage verlängert wurde. Da der Beschuldigte in dieser Zeit von jedem Außenkontakt abgeschnitten war und keinerlei Möglichkeit hatte, die Berechtigung seiner Festnahme durch einen Richter überprüfen zu lassen, war, wie Kritiker der Regierung vorhielten, einem Mißbrauch polizeilicher Befugnisse durch Schikanen aller Art bis hin zur Folter Tür und Tor geöffnet. Um eine zügige und unnachsichtige Aburteilung der angeklagten Etarras zu gewährleisten, ist außerdem ein Sonder-gericht für sie zuständig, das weitab vom Baskenland liegt, wo die meisten inkriminierten Gewalttaten begangen werden. Das Mißtrauen gegenüber der baskischen Justiz, das in dieser Kompetenzregelung zum Ausdruck kommt, bestimmte auch lange Zeit die Einstellung Madrids gegenüber der baskischen Polizei, die im Autonomiestatut von 1979 vorgesehen ist. Der Auf-und Ausbau baskischer Polizeibehörden wurde von der Zentralregierung verzögert, aufgrund der Befürchtung, sie würden gegenüber der ETA zu nachsichtig sein, leicht von der Gewaltorganisation unterwandert werden können und schlimmstenfalls sogar als Kerntruppe eines gegen die Madrider Vorherrschaft rebellierenden national-baskischen Befreiungsheeres dienen. Aus all diesen Gründen zog es die Zentralregierung vor, die Zuständigkeit für die Terrorismus-bekämpfung in den Händen gesamtspanischer Polizeikräfte, insbesondere der noch von der Franco-Zeit her im Baskenland verhaßten „Zivilgarde“ (Guardia civil) zu belassen.
Ein effektives Gegengewicht gegen die von Madrid entwickelte Kontrollmaschinerie, deren erklärtes Ziel die Eliminierung des Terrorismus ist, deren Druck aber auch viele unschuldige Basken zu spüren bekommen, stellt allein die spanische Justiz dar, die, ungeachtet des Grollens des spanischen Innenministers. Beschwerden inhaftierter Basken über polizeiliche Übergriffe stets rücksichtslos nachgegangen ist. So war es denn auch das Verfassungsgericht, das in einer Entscheidung die Verfassungswidrigkeit einiger Bestimmungen des Anti-Terrorismus-Gesetzes rügte und deren Revision forderte. Inzwischen hat die spanische Regierung jedoch aus eigenen Stücken die Aufhebung des Sondergesetzes bzw.dessen Einbeziehung in das allgemeine Strafgesetz in Angriff genommen und ist generell zu einer offeneren, weniger auf den polizeilichen Verfolgungsapparat gestützten Behandlung des Baskenproblems übergegangen. Dies hängt mit der zunehmenden Betonung der zweiten Komponente der Politik der Zentralregierung gegenüber der kleinen Region zusammen, in deren Mittelpunkt Dialog und verstärkte Zusammenarbeit mit den baskischen politischen Kräften stehen.
In diese Dialogbereitschaft ist auch die ETA selbst mit eingeschlossen. Die ersten Kontakte von Regierungsvertretern mit der Gewaltorganisation hegen schon einige Jahre zurück; das Gespräch zwischen ihnen riß mehrmals ab, wurde jedoch immer wieder aufgenommen. Dabei ging und geht die spanische Regierung von der Prämisse aus, angesichts der Schwächung der ETA und der zunehmend verzweifelten Lage ihrer wenigen noch in Freiheit befindlichen Mitglieder — deren Leben zudem durch Anschläge der rechtsextremistischen Organisation, des GAL, bedroht ist — bleibe der ETA-Führung keine andere Wahl, als den Dialog mit Madrid zu suchen, um einen ehrenvollen Rückzug und eine weitgehende Sanktionsfreiheit für ihre zur Rückkehr in das zivile Leben bereiten Angehörigen auszuhandeln. Diese Annahme klingt so plausibel, daß an die Unterredungen zwischen beiden Seiten in der Öffentlichkeit stets große Hoffnungen geknüpft wurden.
Zwei Umstände haben indes wiederholt die Fortführung der Gespräche behindert und scheinen deren Erfolg auch für die Zukunft in Frage zu stellen. Zum einen pflegt die ETA während derartiger Dialoge besonders spektakuläre, grausame Anschläge zu verüben. Dies kann auf die Existenz eines harten Flügels innerhalb der ETA hindeuten, der einen Friedensschluß mit allen Mitteln torpedieren will, ist jedoch mit größerer Wahrscheinlichkeit als Demonstration der Stärke zu interpretieren, die Madrid zu größeren Zugeständnissen zwingen soll. Tatsächlich erschweren es diese Anschläge jedoch der Regierung, die Fortsetzung des Dialogs „mit Mördern“ vor der öffentlichen Meinung des Landes zu rechtfertigen.
Der zweite Umstand bezieht sich auf die Natur dieses Dialogs, der von der Regierungsseite als bloßes Gespräch hingestellt, von der ETA hingegen mehr als „Verhandlungen“ verstanden wird. Nur vordergründig geht es dabei um eine terminologische Frage; tatsächlich unterstreicht die Bezeichnung „Verhandlungen“ den politischen Charakter derartiger Gespräche, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß die ETA von einer zumindest teilweisen Erfüllung der in der „Alternative KAS“ enthaltenen politischen Forderungen nicht abzurücken bereit ist. Demgegenüber legt die Regierung den Akzent auf die möglichst reibungslose Rückführung der Etarras in die zivile Gesellschaft, spielt also den politischen Gehalt der Kontakte herunter. Nachdem die Gespräche mit der ETA selbst nicht recht vorankommen, unternimmt die spanische Regierung parallel dazu den Versuch einer Annäherung an die baskischen Parteien, in der Hoffnung, die ETA politisch isolieren und ins gesellschaftliche Abseits drängen zu können. Auch dieser Weg ist nicht ganz neu. Schon vor rund fünf Jahren machte Felipe Gonzales den bürgerlichen Parteien im Baskenland vergeblich den Vorschlag, sich auf der Basis eines minimalen Wertkonsenses mit der spanischen Regierung zu verständigen. Man fühlte sich damals noch in der Solidaritätspflicht gegenüber der ETA und protestierte deshalb auch gegen das sich abzeichnende Auslieferungsabkommen zwischen Spanien und Frankreich bezüglich der in Südfrankreich lebenden Terroristen.
Inzwischen hat sich allerdings im Lager der bürgerlichen politischen Kräfte im Baskenland ein deutlicher Einstellungswandel vollzogen, bedingt durch die offenkundige Schwächung der ETA und die steigende Brutalität und Willkür ihrer Gewaltakte, bedingt auch durch das Auseinanderbrechen des PNV. das ein Verbleiben der Restpartei an der Regierung nur um den Preis einer Koalition mit den Sozialisten, der Partei von Felipe Gonzales, erlaubt. Gonzales seinerseits kommt der öffentlichen Meinung im Baskenland entgegen, indem er neuerdings eine zügige Aufstockung der baskischen Polizeikräfte verspricht und. wie schon angedeutet, das Anti-Terrorismus-Gesetz an das gewöhnliche Strafrecht angleicht. Erst vor diesem politischen Hintergrund wird die jüngst von vierzehn spanischen und baskischen Parteien ratifizierte Erklärung gegen den ETA-Terrorismus verständlich, der sich zahlreiche politische Gremien im Baskenland anschlossen. Kann man demnach den antiterroristischen Initiativen und Maßnahmen der spanischen Regierung Erfolg bescheinigen, ist ein Ende des Blutvergießens durch die ETA und der dadurch verursachten repressiven Gegenschläge der Polizei in Sicht? Während man den ersten Teil der Frage mit einem vor-B sichtigen Ja beantworten kann, bleiben hinsichtlich der Perspektive einer definitiven Beendigung terroristischer Gewalttaten Zweifel. Diese knüpfen teils an die Doppelstrategie der Regierung einer vermehrten operativen Umzingelung und Einengung der Gewaltorganisation, verbunden mit der Aufnahme eines Dialogs zu ihr. an, teils an die im zweiten Abschnitt dargelegte Existenz eines weitverzweigten Netzwerkes von Sympathiesantengruppen. Die Intensivierung des Verfolgungsdrucks durch die spanische Polizei hat im Zusammenhang mit der Aufkündigung des traditionellen Refugiums der ETA durch Frankreich zwar zu einer Zerschlagung eines Großteils der Kader und der operativen Zellen der Organisation geführt, wodurch ihre Handlungsfähigkeit stark herabgesetzt ist. Doch ist die Zahl der Anschläge und vor allem der Opfer deshalb nicht merkbar zurückgegangen.
Der Rekurs auf Gewalt ist, wie auch der Fall des Baskenlandes unter Franco beweist, in aller Regel ein Zeichen von Ressourcenschwäche und wirklicher oder vermeintlicher Bedrängnis. Durch eine Akzentuierung dieser Situation, also indem man die Gewaltakteure vermehrt in die Enge treibt, läßt sich der Terrorismus zwar temporär schwächen, jedoch nicht definitiv eindämmen. Im Zweifel ist aufgrund mangelnder sorgfältiger Vorbereitung und Steuerung der Aktionen eher mit einer wachsenden Brutalität der Anschläge, d. h. einer größeren Zahl nichtintendierter Opfer zu rechnen. Was den Dialog zwischen der spanischen Regierung und der ETA anlangt, so darf man neben allen anderen Bedenken, die dagegen vorgebracht worden sind — unter anderem das Argument daß er das Mandat einer demokratisch gewählten Regierung überschreite und als Anreiz auf andere Gruppen wirken könnte, sich ebenfalls illegaler Druckmethoden zu bedienen —. nicht vergessen, daß dieser Dialog im Grunde einer Untermauerung der usurpierten politischen Sprecherrolle gleichkommt, die die ETA in Hinblick auf das Baskenland reklamiert.
Warum aber sollte die Gewaltorganisation freiwillig im Dialog auf die künftige Verübung terroristischer Anschläge verzichten, wenn doch derselbe Dialog indirekt ihre stets vertretene These bestätigt, man könne den politischen Gegner nur durch Waffengewalt an den Verhandlungstisch zwingen? Sowohl die Strategie vermehrter Kontrolle als auch jene eines Dialogs mit der Gewaltorganisation lassen zudem die im zweiten Abschnitt herausgearbeitete Tatsache unberücksichtigt, daß die ETA von einer breiten radikalnationalistischen Bewegung im Baskenland unterstützt wird. Auch wenn die ETA-Führung tatsächlich einlenken sollte, ist damit noch keineswegs gesagt, daß sämtliche Gruppen ihrer Anhängerschaft der neuen Befriedungsdevise Folge leisten würden.
Um eine allmähliche politisch-gesellschaftliche Isolierung der ETA zu erreichen, erscheint die dritte Initiative der spanischen Regierung am aussichtsreichsten, die auf eine zunehmende Annäherung an die gemäßigten Kräfte im Baskenland und deren Unterstützung gegen das radikalnationalistische Lager abzielt. Insbesondere ist es notwendig, die baskische Exekutive mit all jenen Kompetenzen und Instrumenten auszustatten, die ein bloßes politisches Koordinationsorgan von einem echten Staat unterscheiden, der verbindliche Entscheidungen treffen und durchsetzen kann: mit einer eigenen Kriminal-und Sicherheitspolizei, eigenen Staatsanwälten und Gerichten, kurz einem eigenständigen Sanktionsapparat Erst wenn die baskische Exekutive sich dank dieser ihr zugestandenen Vollmachten aus der unglücklichen Rolle eines Prellbocks zwischen Madrid einerseits und den extremen Nationalisten andererseits befreien kann, erst dann wird sie imstande sein, das notwendige Maß an Unterstützungsbereitschaft und Loyalität in der baskischen Bevölkerung zu mobilisieren, um den Hegemonieanspruch des „Gegenstaates“ ETA und seiner radikalen Anhängerschaft wirksam in die Schranken zu weisen.
Peter Waldmann, Dr. jur., geb. 1937; 1956— 1962 Studium der Rechts-und Sozialwissenschaften in München und Paris; 1. und 2. juristisches Staatsexamen; 1973 Habilitation für Soziologie; seit 1975 o. Professor für Soziologie/Sozialkunde an der Philosophischen Fakultät I der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: Der Peronismus (1943— 1955), Hamburg 1974 (eine gekürzte spanische Fassung erschien 1981 in Buenos Aires); Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977; (Mitautor) Die geheime Dynamik autoritärer Diktaturen. Vier Studien über sozialen Wandel in der Franco-Ära, München 1982; (Hrsg.) Gewalt in Lateinamerika, Köln-Wien 1978; (Hrsg.) El Poder militar en la Argentina (1976— 1981), Frankfurt 1982; sowie Aufsätze über autoritäre Regime und politische Protestbewegungen in Lateinamerika und Spanien.
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