Acht Jahre der Regierung Reagan neigen sich dem Ende zu; ein Anlaß, Bilanz zu ziehen: Welche Änderungen wurden in diesen Jahren herbeigeführt? Wie sind die getroffenen Maßnahmen und ihre Wirkungen zu beurteilen, wenn man sie an den ursprünglichen Zielsetzungen mißt? Absicht der Regierung sei es nicht — so Reagan 1980 — generell Sozialleistungen abzubauen, sondern vielmehr sie zu verbessern und zielsicherer zu gestalten, indem Mißbrauch verhindert wird; man wolle den Bedürftigsten helfen, nicht denjenigen aber, die unrechtmäßig die Leistungen des Wohlfahrtsstaates beanspruchen. Um dies zu erreichen, sollten Leistungen gekürzt, aber auch in die Verantwortung der Einzelstaaten ganz zurückgegeben werden.
Wurden diese Ziele eingelöst? Die Politik der Regierung Reagan führte in einer ersten Phase einen erheblichen Abbau von Sozialleistungen herbei, der im ersten Schwung der konservativen Wende durchgesetzt werden konnte. Doch ob dieser wirklich eine bessere Ausrichtung der Leistungen auf die wirklich Bedürftigen nach sich zog, daran sind Zweifel angebracht. Einige Jahre nach dem konservativen Aufbruch schälen sich immer deutlicher wichtige sozialpolitische Initiativen der Einzelstaaten heraus, die die Lücke zu schließen suchen, die der Bund bei seinem teilweisen Rückzug aus der Sozialpolitik hinterlassen hat. Dies geschah aus dem aktuellen sozialen Problemdruck heraus, obwohl Reagan seine umfassenden Reföderalisierungspläne, die eine formale Kompetenzumschichtung vom Bund zu den Einzelstaaten anstrebten, im Kongreß nicht durchsetzen konnte. In jüngster Zeit schließlich lassen Vorschläge von Bundespolitikern aufhorchen, die — unterstützt durch die demokratischen Mehrheiten in Repräsentantenhaus und Senat — darauf hindeuten, daß die Verantwortung des Bundes, Sozialleistungen zu verbessern, wieder stärker akzeptiert wird.
I. Abbau von Sozialleistungen
Unter dem Eindruck wirtschaftlicher Rezession und der fiskalischen Krise der Städte breitete sich das wirtschaftspolitische Credo der Reagan-Administration schnell aus und wurde für die Politik bestimmend: Eine angebotsorientierte Politik sollte durch radikale Steuersenkungen wirtschaftliche Wachstumsenergien freisetzen, die Investitionsbereitschaft der Unternehmererhöhen und damit mittelbar über „Sickereffekte“ Arbeitslosigkeit und Armut vermindern.
Damit einher ging die Überzeugung, daß ein Zuviel an Staat gefährlich sei (Reagan: „Government is not the solution to our problems; government is the problem“), ein Versorgungsstaat die Initiative des einzelnen lähme und einer Vielzahl von Interessengruppen, die von der sozialen „Dienstleistungsindustrie“ leben, unverhältnismäßige Profitchancen böte und daher eingedämmt werden müsse.
Sehr schnell schälte sich in Erklärungen und Handlungen der Regierung jedoch eine interessante Differenzierung zwischen Armenpolitik und Sozialversicherungspolitik heraus: Während die erste zu der Zielscheibe wohlfahrtsstaatlicher Kritik erhoben wurde, blieben die Sozialversicherungsleistungen in der politischen Diskussion und von Kürzungen (zunächst) weitgehend verschont denn — so die Argumentation — Sozialversicherungsleistungen wie die bundesstaatliche Krankenversicherung für Alte (Medicare) oder die Rentenversicherung (Social Security — OASDI 2) basieren ja aufVersicherungsleistungen und stellen wohlerworbene Ansprüche dar, während die erste — aus Steuermittel finanziert — zu vielen Arbeitsunwilligen die Chance böte, auf Kosten der Allgemeinheit ein Leben lang, ohne eine Gegenleistung zu bieten, von öffentlichen Leistungen zu profitieren.
Der Bundesstaat — so Reagan — hat in der Sozialpolitik versagt: „Indeed it (federal authority, A. W. -H.) has created more problems in welfare.education. housing, food stamps, medicaid“ Konkret wurde vorgeschlagen, die Verantwortung für die beiden einkommensabhängigen Wohlfahrtsprogramme Aid for Families with Dependent Children (AFDC) sowie das Nahrungsmittelprogramm (Food Stamps) den Einzelstaaten zu überantworten. Im Gegenzug bot die Regierung an. die medizinische Versorgung für Arme (Medicaid) ganz in bundesstaatliche Regie zu übernehmen. Dieser Tausch wäre — nach der Einschätzung D. P. Moynihans — in manchen Staaten einer Abschaffung von AFDC und Food Stamps gleichgekommen. Der ehrgeizige Plan eines New Federalism, der Übernahme von AFDC und Food Stamps durch die Staaten und von „Medicaid“ durch den Bund, stieß in der politischen Öffentlichkeit jedoch überwiegend auf Ablehnung. Republikanische Gouverneure neigten zu mehr Wohlwollen, demokratische. insbesondere in alten Industriegebieten des Nordostens, zeigten sich eher skeptisch Politiker der großen Städte äußerten die Befürchtung, daß die Staaten aus Angst davor. Arme anzuziehen, die freiwilligen Sozialausgaben gering halten würden Große Unterschiede in dieser Hinsicht bestünden in den einzelnen Staaten schon jetzt, durch das Abtreten von Wohlfahrtsfunktionen an die Staaten würden sie noch verstärkt. Demokiatische Politiker stellten eine kühle Rechnung auf: „The President (would) give the States the most difficult constituencies; minorities, low-income families, foodstamps recipients“ Dafür übernähme er die respektableren Klientele, die Alten und die Kranken, in seine Verantwortung.
Zwar wurde eine solch umfassende Umschichtung von Kompetenzen zwischen Bund und Staaten nicht realisiert, jedoch erhebliche Kürzungsmaßnahmen im Rahmen der bestehenden Programme vorgenommen: Mit Hilfe des neuen Budgetinstrumentes „Reconciliation“ wurden im Rahmen des Omnibus Budget Reconciliation Act in den ersten zwei Jahren der Amtszeit Reagans die Weichen gestellt und Leistungen deutlich ausgedünnt. Das Schwergewicht der Kürzungen lag dabei, wie erwähnt, auf den Programmen für die Armen und den einkommensabhängigen Programmen mit Anspruchsberechtigung und nicht auf den Sozialversicherungsprogrammen.
So wurden im Bereich der Sachleistungen für Arme der Anspruch auf Nahrungsmittelmarken gekürzt, indem die Einkommensgrenze gesenkt wurde, die Eigenbeteiligung bei der medizinischen Hilfe für Arme (Medicaid) erhöht und den Staaten weniger Zuschüsse für freiwillige Leistungen gewährt, sowie die Wohnbeihilfen für einkommensschwache Mieter gesenkt. Eine Ausdünnung erfuhren nicht nur die bedürftigkeitsabhängigen Leistungen mit Anspruchsberechtigung, sondern auch die sogenannten Discretionary Programs, deren finanzielle Gesamthöhe der Kongreß jedes Jahr festsetzt, beispielsweise „Essen auf Rädern“, die Ernährungsberatung für Mütter, Schulernährungsprogramme, Weiterbildungsprogramme und Arbeitsvermittlung. Die Arbeitslosenunterstützung wurde ebenfalls gekürzt, das Bundesbeschäftigungsprogramm CETA (Comprehensive Education and Training Act) lief im September 1981 ganz aus und hatte Entlassungen aus dem Dienst der Kommunen von rund 400 000 Personen zur Folge.
Betrachten wir einige Kürzungen schwerpunktmäßig, so erweisen sich insbesondere die Kürzungen im Rahmen der Familienbeihilfe (Aid for Families with Dependent Children) als folgenreich, deren Anspruchsberechtigung deutlich eingegrenzt und auf diejenigen Personen beschränkt wurde, deren Einkommen unter 150 Prozent des „Bedürftigkeitsstandards“ eines Staates (die dieser gemäß seiner durchschnittlichen Lebenshaltungskosten festlegt) liegen. Auch wurde AFDC für Erwerbstätige und diejenigen, die eine Arbeit aufnahmen, gekürzt und zum Teil ganz abgeschafft indem die Abzugs-möglichkeiten von Erwerbseinkommen (Income disregards) eingeschränkt wurden Ebensowenig können heute AFDC-Leistungen für schulpflichtige Kinder zwischen 18 und 21 Jahren geltend gemacht werden. Den Einzelstaaten steht es frei, dies bei 18jährigen zu gewähren e Die Regierung schätzt, daß bundesweit dadurch rund zehn Prozent der bisher Leistungsberechtigten ihren Anspruch verloren haben und die Leistungshöhe für die weiterhin Empfangsberechtigten um rund sieben Prozent gekürzt wurden Immer häufiger wurden AFDC-Empfänger zu Workfare herangezogen, d. h. gegen eine geringe Vergütung zur gemeinnützigen Arbeit verpflichtet Die AFDC-Kürzungen treffen meist alleinstehende Mütter und ihre Kinder -Schon vor den Kürzungen fielen die Leistungen der Einzelstaaten sehr ungleich aus: Eine Familie von drei Personen erhielt 1983 in Mississippi nur 96 US-Dollar monatlich, jedoch in Kalifornien 1977 bereits 300 US-Dollar In zwei Dritteln der Staaten betrugen (1983) die Familienbeihilfe-Leistungen (AFDC) weniger als 65 Prozent des Einkommens der Armutsgrenze. Auch wenn man die Food Stamps in Geldwert dazu-zählt. erhöht sich das AFDC-Einkommen nicht über die Armutsgrenze So wurde AFDC vom Hilfeprogramm für eine breit definierte Gruppe armer Familien mit Kindern, erwerbstätig oder nicht, zu einem schmalen Programm für meist nicht-erwerbstätige, alleinstehende Mütter und deren Kinder. Eine gravierende Folge ist, daß diejenigen, die ihren Anspruch auf Familienbeihilfe verlieren, häufig auch keinen Anspruch mehr auf Medicaid erheben können
Die arbeitenden Armen sind somit von den Kürzungsmaßnahmen besonders betroffen, weil ihr Leistungsanspruch eliminiert oder gekürzt wurde, und Hand in Hand damit ihr Anspruch auf andere Wohlfahrtsprogramme wie Nahrungsmittelprogramm und Medicaid. Sie sehen sich häufig in einer „No-Win-Choice-Situation“, müssen zwischen einem schlecht bezahlten Arbeitsplatz oder einer etwas höheren Wohlfahrtsleistung wählen. In dieser Situation entscheiden sie sich eventuell für die Wohlfahrtsleistung, eine Wirkung „. . . totally contrary to the (administration’s) stated philosophy“ So haben in 24 von 48 untersuchten Staaten „AFDC(Familienbeihilfe) -Mütter“, die erwerbstätig sind, weniger Einkommen als „AFDCMütter“, die nur Wohlfahrtsempfängerinnen bleiben
Im Bereich der Beschäftigungsförderung lief 1981 der Comprehensive Education and Training Act aus, damit auch die Bundesförderung für das Public Service Employment Progra von 48 untersuchten Staaten „AFDC(Familienbeihilfe) -Mütter“, die erwerbstätig sind, weniger Einkommen als „AFDCMütter“, die nur Wohlfahrtsempfängerinnen bleiben 21).
Im Bereich der Beschäftigungsförderung lief 1981 der Comprehensive Education and Training Act aus, damit auch die Bundesförderung für das Public Service Employment Program, das Beschäftigungsmöglichkeiten für Personen bietet, die auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar sind 22). Erleichtert wurde dies durch den Umstand, daß das Public Service Employment Programm hinsichtlich seiner Wirksamkeit sehr umstritten war bzw. ist, denn es geht mit einem hohen Verwaltungsaufwand einher und eröffnet zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten.
Nachfolger des Beschäftigungsprogrammes CETA ist das Job Training Partnership Program, das entsprechend den Reföderalisierungszielen der Regierung von den Einzelstaaten in Zusammenarbeit mit der Industrie durchgeführt wird. Daneben besteht noch das alte Job Corps Program für Jugendliche. Die beiden Maßnahmen werden gegenwärtig in den Medien kontrovers diskutiert: während die Regierung das Job Corps Program gerne auslaufen ließe, weisen dessen Befürworter darauf hin, daß es unterprivilegierten Jugendlichen viel mehr nütze als das neue Job Training Partnership Program, das zwar billiger sei, jedoch nur von relativ wenigen Jugendlichen beansprucht würde 23).
Auch die Zuschüsse für die Arbeitsvermittlung erfuhren eine erhebliche Einschränkung, die zur Folge hatte, daß mehrere hundert lokale Arbeitsämter geschlossen werden mußten; allerdings machte das öffentliche Job Placement Service immer nur einen kleinen Anteil der gesamten Stellenvermittlungen auf dem Arbeitsmarkt aus 24).
Gleichzeitig wurde das Arbeitslosengeld 1982 um 6, 5 Prozent gekürzt (bis 1987 um 17 Prozent Insbesondere die Langzeitarbeitslosen sind davon betroffen, denn die „Supplementary Benefits“, die nach der normalen maximalen Bezugsdauer von Arbeitslosengeld von Wochen bei hoher Arbeitslosigkeit 26) weitere 13 Wochen lang bezahlt werden konnten, wurden zunächst stark eingeschränkt, dann ganz abgeschafft. 1982 bezogen nur 45 Prozent der Stellenlosen Arbeitslosengeld In einem Lebensbereich verschärfte sich die Problemsituation, unter anderem bedingt durch Kürzungsmaßnahmen der Bundesregierung, besonders drastisch: im Wohnungsbereich. Deutlich setzte die Reagan Regierung ihre Prioritäten im Wohnungsbau darauf, die Zuschüsse für den Eigenheimbau auszuweiten, Wohnhilfen für Einkommensschwache und die Wohnumfeldentwicklung (Housing Assistance and Community Development) hingegen einzuschränken So zog sich der Bund aus der Subventionierung des Wohnungsbaus nach 1980 stark zurück. „Since 1981, the Federal Government had not just walked away, it has run away from housing programs, especially those for low and moderate-income Americans.“
Die alten Wohnungsbauprogramme des Bundes nach dem Housing und Community Development Act von 1974, insbesondere die Inanspruchnahme von Sektion 8 ein Programm für die Vermietung von existierenden Wohneinheiten einerseits und den Bau für neue oder die Sanierung von alten Wohneinheiten andererseits, wurde erschwert. Insgesamt kürzte die Regierung die Bundesausgaben für Billigwohnungen von 25 Mrd. US-Dollar auf 8 Mrd. US-Dollar jährlich Der Intention nach sollte Sektion 8 eigentlich ein Instrument sein, um die Nachfrage nach Wohnungen zu steigern, wurde praktisch jedoch dafür benutzt, um das Wohnungsangebot zu fördern, indem die Bautätigkeit bezuschußt wurde. Diese Hypothekarförderung für Bauherrn, die Wohnungseinheiten für einkommensschwache Gruppen anbieten, läuft 1988 aus. Damit drohen 500 000 Wohnungen für sozial schwache Familien in den Sog der „Gentrification" zu gelangen, das heißt, sie werden privat saniert und dann zu höheren Preisen wieder vermietet, natürlich nicht an die alten Bewohner.
Mit dem Antritt der Reagan-Administration wurde die Wohnzuschußkomponente von Sektion 8 wieder aktiviert: Der Wohnzuschuß (Housing Voucher) wird als die Lösung der Wohnungsprobleme propagiert Mittelfristig beabsichtigt die Regierung, den Wohnungsbau nicht mehr produktionsorientiert zu fördern, also über den öffentlichen Wohnungsbau, Hypothekarzins-Zuschüsse und Hypothekarkredit-Garantien, sondern konsum-orientiert zu subventionieren: Warum — so die Überlegung — nicht die Arbeitslosen, die Armen, dahin bringen, wo die Arbeitsplätze sind, häufig also weg aus den sozialen Brennpunkten der Großstädte in neue Industriegebiete? Um die erforderliche Mobilität zu ermöglichen, sollen Wohn-Gutscheine (Housing Vouchers) angeboten werden, die einen Zuschuß zu den Wohnkosten am neuen Arbeitsplatz leisten. Diese richten sich (ohne Anspruchsberechtigung) an einkommensschwache Haushalte (bis maximal 50 Prozent des SMSA Durchschnittseinkommens) für drei bis fünf Jahre Gegenwärtig wird ein entsprechendes Modellprogramm in verschiedenen Regionen der USA durchgeführt. Die Administration hofft, bis in die neunziger Jahre alle Bundeswohnungsbauprogramme durch ein Voucher-System abzulösen und die Wohnungsbautätigkeit ganz der privaten Bauwirtschaft zu überlassen Dahinter steht die Auffassung einer „neuen städtischen Wirklichkeit“ die davon ausgeht, daß die städtischen industriellen Zentren im zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Leben der USA eine immer geringere Rolle spielen werden.
Diesen Bestrebungen der Bundesregierung fügt sich das Konzept des „Triage“ ein Große Komplexe von öffentlichen Wohnungsbaueinheiten werden abgerissen, weil dem Department of Housing and Urban Development die Kosten dafür, diese Hochburgen von Verbrechen, Drogenmißbrauch, ungesunden Lebensbedingungen und langfristiger Wohlfahrtsabhängigkeit instandzuhalten, zu hoch sind. An deren Stelle soll der Bau zerstreuter kleinerer sozialer Wohnungsbaueinheiten treten, in der Hoffnung, auf diese Weise den Circulus vitiosus von ungünstigen Umwelteinflüssen, Armut, Arbeitslosigkeit. Schwangerschaft von Teenagern undKriminalität, in dem die heutige städtische Unter-schicht verhaftet ist, durch die räumliche Zerstreuung aufzubrechen. Das Konzept hat nur einen großen Nachteil: Die Konstruktion kleiner öffentlicher Wohnungsbauprojekte stößt überall auf den Widerstand von Local Community Boards und örtlichen Maklern, die in ihrer Nachbarschaft keine sozialen Wohnungsbauten tolerieren wollen („Not in my backyard“).
Eine Folge der Sparpolitik im öffentlichen Wohnungsbau und der öffentlichen Wohnungshilfe präsentiert sich in immer bedrückenderer Form: in der wachsenden Obdachlosigkeit. Obdachlose tauchen immer zahlreicher auf den Straßen der Großstädte auf: Schäbig angezogene Männer und Frauen, die in Müllcontainern herumstochern, in Eingängen von Gebäuden und über Luftschächten der Subway kauern, um sich im Winter warmzuhalten, sind kein ungewöhnlicher Anblick. Ihre Erscheinung ist heruntergekommen, das Verhalten of seltsam und ziellos, ihre Habseligkeiten tragen sie in Plastiktaschen und verschnürten Schachteln mit sich herum — all dies unterscheidet die Obdachlosen im Straßenbild von den anderen Fußgängern
Die Zahl der Obdachlosen lag 1984 nach einer konservativen Schätzung des Department of Housing and Urban Development bei rund 250 000 bis 350 000 Personen Familien machen ein Drittel der Obdachlosen aus, es sind insbesondere Familien mit nur einem Eltemteil, den Müttern Die Ursachen, die der wachsenden Obdachlosigkeit zugrunde liegen, sind Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, aber auch gesundheitliche Probleme, verschärft durch die Entlassung von psychisch Kranken aus stationären staatlichen Einrichtungen, die in den sechziger Jahren begann und bis heute andauert. Im Staat New York beispielsweise wurden zwischen 1965 und 1977 126 000 Personen entlassen
Grundsätzlich weist der Bund die Zuständigkeit für die Versorgung von Obdachlosen von sich und fordert Kommunen und Staaten zum Handeln auf, allerdings bietet die Bundesregierung eine Anzahl von Zuschüssen an. mit deren Hilfe die Kommunen Leistungen für die Obdachlosen bereitstellen können. Viele Obdachlose haben Anspruch auf Supplemental Security Income (SSI), eine Unterstützung für Alte und Behinderte und städtische Wohlfahrtsleistungen. Dieser Anspruch besteht jedoch zu häufig nur der Form nach. Denn nur wenige der Obdachlosen verfügen über die notwendige Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Behörden und erhalten diese Leistungen auch. In ihrer aufrüttelnden Untersuchung „Private Lives and Public Spaces“ stellten Baxter und Hopper fest, daß „. . . the process of applying for income maintenance programs and undergoing the periodic review is so forbidding that only the most clever, assertive and persistent can negotiate it on their own“
Seit die Bundesregierung (1987) überdies bei der Berechnung von Supplemental Security Income für arme Alte, Blinde und Behinderte mitberücksichtigt ob diese Personen gratis Nahrungsmittel, Unterkunft, Brennholz und Winterkleidung von Kirchen und karitativen Organisationen erhalten und diese Sachleistungen auf Supplemental Security Income anrechnet, ist die Inanspruchnahme noch mehr gesunken. Die freien Wohlfahrtseinrichtungen laufen Sturm gegen diese Maßnahme. „For every bag of groceries we give these poor people, the Government will reduce their benefit checks“ „It defeats the whole purpose of trying to help someone with private assistance.“ Im Kongreß sind gegenwärtig Gegenmaßnahmen im Gang, die darauf abzielen, die Nichtberücksichtigungsregel (von 1984 bis 1987) zu verlängern.
Eine wachsende Gruppe von Obdachlosen stellen die Familien dar, die ihre billigen Wohnungen verloren, sei es, weil sie die Mieten nicht bezahlten, das Gebäude abbrannte oder zusammenbrach, sei es, daß sie von dem Hauptmieter, mit dem sie eine Wohnung teilten (doubling up) vertrieben wurden Diese obdachlosen Familien werden provisorisch in „Welfare Hotels“ untergebracht, bis die Städte preisgünstige Wohnungen für sie finden. Diese „vorläufige Situation“ dehnt sich jedoch häufig auf Jahre aus
Nach dem Emergency Assistance Program des Bundes zahlt dieser bis zu 100 US-Dollar pro Nacht für ein Zimmer in einem Welfare Hotel für obdachlose Familien. Obwohl Präsident Reagan sich darüber mokierte, daß die Stadt New York 37 000 US-Dollar im Jahr ausgebe, um eine Familie in einem Hotel unterzubringen, wo sie doch für dasselbe Geld der Familie ein Haus kaufen könne untersagte die Bundesregierung der Stadt die Mittel aus diesem Programm für den Bau von Wohnungen für Obdachlose zu verwenden, aus Gründen der inneradministrativen Arbeitsteilung: Das Department of Health and Human Services, das für die Bundeswohlfahrtsprogramme verantwortlich ist, geriete damit in das Aufgabenfeld des Wohnungsbaus und -erwerbs hinein, wofür es nicht kompetent sei Dafür kündigte die Bundesregierung 1987 an, daß sie ihre Unterstützung für die Unterbringung von obdachlosen Familien in „Shelters" und Hotels nunmehr auf 30 Tage beschränken würde
Auch im Bereich der medizinischen Versorgung ergaben sich deutliche Veränderungen, die durch bundesstaatliche Maßnahmen bedingt sind. Wieder zeigt sich zunächst die typische Divergenz: Das „Armutsprogramm“, das heißt die medizinische Hilfe für die Einkommensschwachen, die stationäre und ambulante medizinische Versorgung, Pflege und Vorsorge (für Kinder) umfaßt, wurde von Anfang an deutlich eingeschränkt, indirekt über die Tatsache, daß oft mit dem Verlust des Anspruchs von Sozialhilfe (Familienbeihilfe, AFDC) auch der Verlust von Medicaid einherging, aber auch ganz gezielt direkt durch eine Kürzung der Gesundheitsleistungen nach Medicaid. Eine Folge der ersten Kürzung (über Familienbeihilfe) ist, daß fast 33 Millionen arbeitende arme Amerikaner, die keine AFDC-Empfänger sind, kein Medicaid erhalten. sich aber auch keine private Krankenversicherung leisten können. Sie fallen somit zwischen Stuhl und Bank. Dies bedeutet auch, daß die Krankenversicherung eine besondere Schwelle darstellen kann, wenn eine Familie bestrebt ist. aus der Wohlfahrtsabhängigkeit heraus in die wirtschaftliche Selbständigkeit zu gelangen: Eine Person, die Arbeit annimmt kann gerade zuviel verdienen, um noch in den Genuß von Medicaid zu gelangen und viele Arbeitgeber in Niedriglohnbereichen bieten keine betriebliche Krankenversicherung an. Dies mag die Bereitschaft schmälern, eine Arbeit anzunehmen.
Die Regierung versuchte von Anfang an, eine direkte Begrenzung der Medicaid-Ausgaben politisch durchzusetzen, was sich aber nicht realisieren ließ. Der Kongreß willigte jedoch ein, die Rate des Zuschußanteils des Bundes an Staaten zu vermindern
Im Unterschied zur medizinischen Hilfe für Arme (Medicaid), wurde Medicare, die Krankenversicherung für Amerikaner über 65 Jahren und Behinderte, zunächst kaum in Kürzungsmaßnahmen miteinbezogen. Medicare besteht aus zwei Teilen: Zum einen schließt sie die Bezahlung von Krankenhausbehandlungen und -aufenthalt (die ersten 60 Tage) sowie Heim-und Hauspflege ein, zum anderen besteht sie aus einer ergänzenden freiwilligen Versicherung für die ambulante ärztliche Versorgung (Supplementary Medical Insurance), für die eine Prämie entrichtet wird, die 1987 17. 90 US-Dollar im Monat betrug. Rund 95 Prozent aller über 65jährigen werden von Medicare erfaßt. 1982 wurde die „Hospital Insurance“ auf den Öffentlichen Dienst ausgedehnt und 1983 auf die Angehörigen gemeinnütziger Organisationen In der ersten Amtsperiode Reagans wurde Medicare nur wenig berührt von Kostendämpfungsmaßnahmen, obwohl die Regierung von Anfang an mit dem Anspruch auftrat, mehr Markt-und Kostenbewußtsein bei den Konsumenten zu schaffen Allerdings wurde langsam die Selbstbeteiligung erhöht. 1986 betrug sie 20 Prozent der ärztlichen Kosten Rund 61 Prozent der Alten haben eine zusätzliche private Krankenversicherung, um die Lücke abzudecken, die durch die „Cost-Sharing“ -Regeln entstanden ist
Angesichts der immer schneller wachsenden Kosten im Gesundheitssektor führte die Bundesregierung 1985 eine Ausgabenkontrolle auch für Medicare ein. und zwar für den Bereich der stationären Behandlung: Die Kosten für die 30 Millionen über 65jährigen Patienten und behinderten Amerikaner, die Medicare erfaßt, werden nicht mehr einfach seitens der Bundesregierung den Krankenhäusern erstattet, vielmehr zahlt diese eine feste Gebühr entsprechend einem Katalog von 467 „Diagnosted Related Groups“ von Krankheiten und Operationen. Das System wurde über drei Jahre hinweg Schritt für Schritt in Kraft gesetzt. Wenn ein Krankenhaus weniger aufwendet als die festgesetzte Gebühr für die Behandlung eines Patienten, kann es einen Gewinn erzielen, wenn es mehr ausgibt, muß es mit einem Verlust rechnen. Was die finanzielle Seite anbetrifft, so zeigt das Diagnosted-Related-Groups-System günstige Ergebnisse: Für Medicare-Patienten ist die Verweildauer im Krankenhaus von durchschnittlich zehn Tagen auf weniger als acht Tage gesunken. Die Kostensteigerung im Krankenhaussektor sank von 9 Prozent jährlich (1974 bis 1984) auf 6, 2 Prozent 1985/86
Ähnlich wie Medicare blieb Social Security (OASDI) die Rentenversicherung für Alte, Hinterbliebene und Behinderte, zunächst vor Eingriffen verschont. Als Reagan Kürzungen auf „the most sacred Federal program of all“ auszudehnen suchte, schlug dies bezeichnenderweise fehl. Die Regierung hatte 1981 vorgeschlagen, die Finanzen der Rentenversicherung zu sanieren, indem die Frührenten (ab 62 Jahren) von 42 Prozent auf 38 Prozent des Vorrentenalter-Gehalts gekürzt werden, und die Rentenanpassung um sechs Monate zu verschieben Der politische Aufschrei, der diesem Vorschlag gefolgt war, veranlaßte Reagan, seinen Plan schleunigst zurückzuziehen. Um die Wogen zu glätten, richtete Reagan eine überparteiliche Kommission ein, die einen Sanierungsvorschlag für die Rentenversicherung entwikkeln sollte.
Schließlich wurden dann die Minimalrenten für Leistungsempfänger, die nach 1981 in Rente kommen, sowie Hinterbliebenenrenten für College Studenten fallengelassen 1983 wurde dann die „Payroll Tax“ für Social Security, die Spezialsteuer, die zur Finanzierung von den Versicherten als Beitrag erhoben wird, erhöht. Folgen dieser Maßnahmen sind, daß die gesetzliche Rentenversicherung heute einen Überschuß von über 30 Mrd. US-Dollar verzeichnet, ein Trend, der sich bis zum Jahre 2030 fortsetzen soll. Finanzierungsprobleme werden erst dann entstehen, wenn „the baby boomers head for Sarasota and begin to draw down the cash in the trust fund“
Als Fazit ergibt sich, daß die Sparmaßnahmen in der ersten Amtszeit der Reagan Regierung nicht den Anspruch Reagans erfüllt haben, eine Sozialpolitik für die „Bedürftigsten“ und „rechtschaffenen Armen“ zu betreiben. So entfielen rund zwei Drittel der Einsparungen 1982 auf Leistungsprogramme des Bundes, die für Amerikaner vorgesehen sind, die offiziell als „arm“ eingestuft werden Darüber hinaus drohten die Sparmaßnahmen eine große Zahl erwerbstätiger Einkommensschwacher unter die Armutsschwelle zu drängen und die — wenn auch bescheidenen — sozialen Fortschritte, die durch den „Krieg gegen die Armut“ erreicht worden waren, zunichte zu machen. Sicher bargen die Wohlfahrtsleistungen der „Great Society“ der siebziger Jahre die Gefahr in sich, eine „Kultur der Abhängigkeit“ entstehen zu lassen Jedoch mag die Tendenz zu einer Herausbildung einer „städtischen Unterschicht“ noch verschärft werden, weil die „Mobilitäts-Programme“, die über Ausbildungs-, Weiterbildungs-und Arbeitsbeschaffungsprogramme eine Chance der ökonomischen und sozialen Eigenständigkeit bieten, zum Teil ganz abgeschafft (CETA) oder eingeschränkt wurden. Auch kann man einigen Programmen ihre Wirksamkeit nicht absprechen So fiel beispielsweise die Zahl armer Älter von 18 Prozent (1966) auf 13 Prozent (1980). Für männliche Schwarze ist der Rückgang noch deutlicher: von 17 Prozent (1966) auf 9 Prozent (1980) Als erfolgreiche Strategien zur Armutsbekämpfung gelten die Ernährungs-Programme wie die Vergabe von Food Stamps, Schulspeisungen und Ernährungshilfen für Mütter (WIC), denen es gelang. Hunger und schlechte Ernährung bei Kindern deutlich zu verringern Somit waren die Armen vom Sparimpetus der gegenwärtigen Regierung am meisten betroffen und nur bedingt die Rentner und Veteranen, deren Programme zwar viel kostspieliger sind deren Empfängerjedoch nur zu einem Fünftel als arm bezeichnet werden können. Das Sicherheitsnetz der Armen besteht aus einem Flickwerk vielfältiger, zweckgebundener Einzelprogramme für Einzelbedürfnisse. Gerade diese sind aber dem Rotstift im besonderen Maße zum Opfer gefallen oder unter dem weiten Mantel von Blockzuschüssen verschwunden, deren Verwendung im einzelnen den Staaten obliegt. Wie haben die Einzelstaaten darauf reagiert?
II. Initiativen der Staaten und die Reaktion des Bundes
Zwar kam der „große Tausch“ (Familienbeihilfen [AFDC] und Foodstamps gegen Medicaid) nicht zustande, der die Aufrechterhaltung zentraler, bundesstaatlicher Wohlfahrtsfunktionen in Frage gestellt hätte, die während des New Deal eingeführt worden waren, jedoch wurden massive Kürzungen bei den Bundeszuschüssen an die Staaten getroffen: Die einschneidendsten Kürzungen wurden 1981 getroffen, das Eisen geschmiedet solange es heiß war: Um 7 Prozent wurden Bundeszuwendungen an Staaten und Kommunen gekürzt, die erste solch tiefgreifende Kürzung seit 25 Jahren In diesem Zusammenhang wurden bei der Bundeshilfe an Einzelpersonen, also bei Familienbeihilfe und Medicaid, die gemeinsam von Bund und Staaten finanziert werden, Kosten auf die Einzelstaaten und Kommunen verlagert „Many of the federal , savings’ are actually shifts in costs to state and local governments"
Zunächst traten die Staaten kaum mit eigenen Programmen an die Stelle der reduzierten Bundesunterstützung. „In the short run at least, the changes in AFDC relieved pressures on both federal and state budgets. The bulk of the bürden was thus bome by the working poor.“ Jedoch haben sich die Staaten bemüht, die strengere Gewährungspraxis zu umgehen, indem sie ihre Bedürftigkeitsstandards erhöhten, damit Anspruchsvoraussetzungen für Familienbeihilfe leichter erfüllt werden können
Der Anspruch der Bundesregierung war es, Zuschüsse gezielter im Hinblick auf den örtlichen Problembedarf zu verteilen. Allerdings schälte sich nach einigen Jahren der Erfahrung mit dem „Neuen Föderalismus“ Reagans heraus, daß es nicht zu einer schwerpunktmäßigen Verteilung, vielmehr zu einer stärkeren Streuung von Mitteln kam damit zu einer relativ schlechteren Versorgung der Problemregionen. Dies läßt sich unter anderem daran ermessen, daß die sozialen und ökonomischen Probleme in den Zentren derjenigen Städte sich verschärften, die die traurige Spitzenreiterposition bei den „Problemstädten“ einnehmen: Newark, Hart-ford. Cleveland, Baltimore, Chicago, Detroit und New York blieben — gemessen am Central City Hardship Index in noch ausgeprägterem Maße — nach wie vor in dieser Position.
Die Zuspitzung des Unterschieds zwischen reichen und armen Kommunen zwang viele Staaten, ihre Instrumente zur Bekämpfung von Armut neu zu überdenken, so daß gegenwärtig von den Einzelstaaten interessante Initiativen zur Problemlösung ausgehen, die zum Teil auch Eingang in die bundes-politische Arena finden. Es wird als „Paradoxon der Reaganschen Devolution“ bezeichnet, daß die Staaten in der Sozialpolitik aktiviert wurden und damit die Bestrebungen der Bundesregierung, staatliche Interventionen zu verringern, konterkarierten Die meisten innovativen Reaktionen kommen in den größeren, alten, im allgemeinen liberaleren bzw. progressiveren Einzelstaaten vor, aber sie lassen sich auch in Staaten beobachten, die diesem Typ nicht entsprechen: Florida, Massachusetts, New Jersey, New York und Oklahoma. Eine geringe innovative Reaktion zeigt Kalifornien, eine mittlere Mississippi, Ohio und Texas „Conservatives who gleefully assumed that shifting the responsibility for social programs to the States would mean the end of the programs have discovered that the state govemments were not as conservative as they thought.“ 38 Staaten erhöhten ihre Steuern 1983, einige reagierten, indem sie ihre Ausgaben in Bereichen steigerten, in denen Reagan Kürzungen vorgeschlagen hatte, die aber nie zustande kamen. Dies führte überraschend zu einer Nettozunahme der öffentlichen Gesamtausgaben, was die Bundesregierung nicht bezweckt hatte
Ein Beispiel für neue staatliche Aktivitäten, das hier allerdings nicht weiter vertieft wird, weil es den Rahmen der Sozialpolitik im engeren Sinne sprengt, ist die Schulpolitik. Ein weit verbreiteter funktionaler Analphabetismus veranlaßt immer mehr Einzelstaaten, ihre Schulsysteme in Frage zu stellen, die Vorschulkindergarten-Erziehung auszudehnen, die Lehrer leistungsorientiert und besser zu bezahlen, deren Weiter-und Fortbildung zu intensivieren sowie die Lerninhalte zu revidieren, damit den Schülern mehr grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden.
Zentral in unserem Zusammenhang ist die Diskussion um die Reform des Wohlfahrtssystems, die von einzelnen Staaten ausging: Im Mittelpunkt steht — nicht überraschend — Arbeit als Heilmittel, um die Armutsprobleme zu entschärfen. Jedoch hat sich in den letzten Jahren eine Neubewertung und eine Neuinterpretation von „Workfare“ (Hilfe zur Arbeit) vollzogen. Während die amerikanischen Liberalen. zu denen die Welfare Community in den Vereinigten Staaten überwiegend gehört, in den siebziger Jahren die Anwendung des Instruments „Workfare“ noch entrüstet ablehnten, zeichnet sich seit Mitte der achtziger Jahre ein sachter Sinneswandel in dieser Frage ab. „Workfare“ wird gegenwärtig in einer ausgeweiteten Form in vielen Staaten angewendet: „Workfare New Style“ ist heute nicht nur die obligatorische „Community Arbeit“, um die Sozialhilfe „abzuverdienen", sondern schließt Arbeitsvermittlung und Ausbildungsmaßnahmen mit ein und schafft zumindest kurzfristige Beschäftigungsmöglichkeiten auf der Eingangs-stufe, häufig auch eine längerfristige Integration in den Arbeitsmarkt So hat beispielsweise der Staat New York seine Beschäftigungs-und Ausbildungsbemühungen für Sozialhilfeempfänger stark intensiviert und 12 000 Wohlfahrtsempfänger in Ausbildungsmaßnahmen, das Work Experience Program, eingegliedert, das in städtischen Behörden und gemeinnützigen Organisationen durchgeführt wird. Allerdings scheinen Anspruch und Wirklichkeit noch relativ stark auseinanderzuklaffen. „In practice most city welfare recipients are exempt from work and training requirements. and some of those who are not have never been called in.“ Immerhin hat sich im Staat New York die Zahl der Wohlfahrtsempfänger 1985/86 um 4. 5 Prozent(50 842 Personen) reduziert was jedoch nicht nur durch solche Programme bedingt ist. sondern durch den wirtschaftlichen Aufschwung.der sich gegen Ende der ersten Amtszeit Reagans bemerkbar machte und — damit verbunden — die sinkende Arbeitslosigkeit. Kalifornien führte 1985 das GAIN (Greater Avenue for Independence) Programm ein. eine sehr umfassende Maßnahme zur Verbindung von Wohlfahrt und Arbeit, das eine Vielzahl von Ausbildungs-und Beschäftigungsmaßnahmen anbietet, so beispielsweise einen kompensatorischen Unterricht für Analphabeten. Die Teilnahme ist obligatorisch für Mütter mit schulpflichtigen Kindern und Väter, bis sie Arbeit finden oder keine Wohlfahrtsunterstützung mehr benötigen
Auch in Massachusetts ist eine Renaissance von „Workfare“ in Anwendung (Massachusetts Employment and Training Program), das Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist freiwillig, jedoch schöpfen die Sozialarbeiter des Staates alle Möglichkeiten aus — von der freundlichen Überzeugung bis hin zur brieflichen Aufforderung —, um die Klienten dem Arbeitsmarkt zuzuleiten. Mütter mit Kindern unter sechs Jahren werden in der Regel nicht zur „Hilfe zur Arbeit“ herangezogen
Am meisten von sich reden jedoch macht New Jersey, das als erster Staat einen Kompetenzverzicht des Bundes erzielte, um eigenständig eine der weitreichendsten Wohlfahrtsreformen des Landes einzuleiten. So erzielte der Staat in langen Verhandlungen mit der Bundesregierung das Recht, die Bundesmittel zu behalten, und nach eigenem Gutdünken für Wohlfahrtszwecke wiederzuverwenden, die es aufgrund seiner Reformmaßnahmen einspart. Ein Teil der Wohlfahrtsempfänger die eine Arbeit als Betreuer in einer Familientagesstätte aufnehmen, dürfen ihre Wohlfahrtsunterstützung sowie Medicaid (Medicaid: zwölf Wochen lang) behalten — was eine Umkehrung der Maßnahmen bedeutet (Arbeit schließt Sozialhilfe aus), die zu Beginn der Reagan-Administration beschlossen worden war. Darüber hinaus erhielt New Jersey das Recht, das Programm selbst abgestuft anlaufen zu lassen und in verschiedenen Counties (Kreisen) unterschiedlich anzuwenden
Eine breite Auswertung der einzelstaatlichen Work/Welfare-Initiativen (mit rund 35 000 Wohlfahrtsklienten) kam zu dem Ergebnis, daß ein substantieller Teil der Wohlfahrtsempfänger zur Teilnahme an den Aktivitäten veranlaßt werden konnte, daß diese zu höheren Verdiensten (zwischen 8 bis 37 Prozent) führten und die Wohlfahrtszahlungen bis elf Prozent (in Arkansas) senkten. Jedoch sind Work/Welfare-Programme keine einfachen Lösungen für das Problem Armut und Abhängigkeit. Viele Maßnahmen sind so erfolgreich, daß sie aufrechterhalten werden sollten, aber nicht in dem Maße, daß sie allein die Bedingungen verändern könnten, die Armut und Abhängigkeit hervorbringen Die Diskussion um die Reform des Wohlfahrtssystems fand auch auf Bundesebene Widerhall. Seit 1987 lassen sich hier Bemühungen beobachten, die auf eine bessere Absicherung der Sozialleistungen ausgerichtet sind. Die politischen Ursachen werden zum einen in den veränderten Mehrheiten im Kongreß (in beiden Häusern demokratische Mehrheiten), aber auch in den politischen Kosten gesehen, die für die Regierung durch die „Irangate“ -Affäre entstanden sind. Insbesondere im Kongreß, aber auch bei der Regierung wird zunehmend die Bereitschaft deutlich, das soziale Sicherungssystem besser auszustatten. In erster Linie gelten die Bemühungen dem Wohlfahrtssystem und dessen Reform. Der Beschluß der Gouverneure der Einzelstaaten wurde aufgegriffen und mündete in drei verschiedene Vorschläge zur Veränderung von Aid for Families with Dependent Children, die gegenwärtig aufder bundespolitischen Bühne diskutiert werden: Die „Moynihan Bill“ (ein Entwurf des demokratischen Senators Daniel P. Moynihan aus New York), ein Entwurf des Repräsentantenhauses sowie eine Vorlage des Weißen Hauses. Sowohl der Vorschlag des Repräsentantenhauses als auch derjenige Moynihans fordert einen schärferen Vollzug der Unterhaltspflicht für Väter. So sieht die „Moynihan Bill“ vor, daß das Unterhaltsgeld automatisch vom Lohn des Vaters abgezogen wird (allerdings ist es oft schwierig, diese Väter aufzufinden. und wenn dies gelingt, sind sie oft arbeitslos).
Sowohl die Senatsvorlage Moynihans, als auch diejenige des Repräsentantenhauses wollen nicht nur alleinstehenden Müttern mit Kindern, sondern auch armen Familien mit Mutter und Vater eine Unterstützung gewähren da ansonsten die Gefahr besteht, daß die Väter ihre Familien verlassen, damit deren Anspruch auf Familienbeihilfe (AFDC) nicht verloren geht Das Kernstück aller drei Entwürfe bezieht sich auf „Hilfe zur Arbeit“ (Workfare). Die Pflicht jedes Hilfeempfängers, Arbeit anzunehmen oder sich für den Arbeitsmarkt ausbilden zu lassen, wird nachdrücklich betont. Hilfen bei der Umschulung, Arbeitssuche sowie in großzügigem Umfang für die Betreuung von Kindern, wenn die Mütter bei der Arbeit oder in der Schule sind, soll gewährleistet werden. Auch soll der Versicherungsschutz von Medicaid länger aufrechterhalten werden -Das Reformgesetz, der Family Security Act, das weitgehend auf der „Moynihan Bill“ basiert, wurde 1988 durch beide Häuser des Kongresses verabschiedet.
Auch im Wohnungsbereich, in dem die Einzelstaaten nach dem Rückzug des Bundes zu mehr Initiativen gezwungen wurden, wurde schließlich — auf-gerüttelt durch die desolate Situation der wachsenden Zahl von Obdachlosen — 1988 auch auf Bundesebene wieder ein Wohnungsbaugesetz verabschiedet. Es verlängert die Bundeszuschüsse für 152 000 bedürftige Familien, die demnächst ausgelaufen wären und sieht die Renovierung von rund 10 000 (!) baufälliger öffentlicher Wohnungsbau-Einheiten vor.
Gegenüber den Obdachlosen haben wiederum die Einzelstaaten und die Städte, zum Teil — so die Stadt New York — durch gerichtliche Urteile gezwungen, ihre Wohlfahrtspolitik überdacht und gewähren auch den alleinstehenden Obdachlosen eine bescheidene Wohlfahrtszahlung sowie Medicaid-Leistungen. Aber Obdachlose sollen — soweit möglich — in Ausbildungs-und Beschäftigungsprogramme eingegliedert werden. In anderen Staaten werden solche Zahlungen schon länger angeboten, da keine Obdachlosenunterkünfte vorhanden sind, oder aber es werden Gutscheine ausgegeben, die für eine Hotelunterbringung verwendet werden können. Direkte Geldzahlungen leistet außer dem Staat New York jedoch kein Staat an alleinstehende Obdachlose Einige Staaten sind dazu übergegangen, es gesetzlich zu ermöglichen, psychisch kranke Obdachlose zwangsweise zur stationären Behandlung einzuweisen, wenn deren Leben auf der Straße gefährdet ist
Sowohl auf der Ebene der Einzelstaaten als auch auf Bundesebene lassen sich im Gesundheitssektor politische Initiativen beobachten, die aus zwei Entwicklungen folgen und die staatliches Handeln als dringend geboten erscheinen lassen: Zum einen die anhaltende Kostenausweitung im Gesundheitssektor, zum anderen der Umstand, daß trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten Jahre und der sinkenden Arbeitslosigkeit (5, 5 Prozent 1988) eine Vielzahl von Niedriglohnstellen entstanden sind, die mit keiner betrieblichen Krankenversicherung einhergehen, aufgrund der bundespolitischen Kürzungsmaßnahmen in der ersten Amtsperiode Reagans aber auch nicht mehr unter Medicaid fallen.
Um die Ausgabenexpansion im Gesundheitssektor einzudämmen, trägt sich die Bundesregierung mit dem Gedanken, das System der Diagnosted Related Groups von Krankheitsbehandlungen und Operationen, das für Medicare, also die Krankenversi-cherung der Alten im stationären Bereich gilt, auch auf die ambulante ärztliche Behandlung auszudehnen. Ein Beirat (Physican Payment Review Commission), der vom Kongreß berufen wurde, entwikkelt gegenwärtig einen standardisierten bundesweiten Gebührenkatalog für ambulante Leistungen .der allerdings regionale Unterschiede berücksichtigt, die den örtlichen Lebenshaltungskosten und Preisen für medizinische Dienstleistungen entsprechen
Entsprechend haben einige Staaten, so New Jersey, damit begonnen, die Vergütungspraxis für viele Patienten nicht nur bei Medicare, sondern auch bei „Blue Cross“ und „Blue Shield“ sowie Medicaidversicherten Patienten, umzustellen und schreiben den Krankenhäusern vor, sich nach vorgeschriebenen Gebührenordnungen zu richten, wenn sie die Kosten für bestimmte Behandlungen und Operationen abrechnen. Im Staat New York scheiterte allerdings bisher die Verabschiedung eines solchen Gesetzes daran, daß zwischen Gouverneur und Parlament keine Einigung darüber erzielt werden konnte, wie die Gebühren festzulegen sind. Während sich das Parlament dafür aussprach, bei den Gebühren die „Kostengeschichte“ eines jeden Krankenhauses mitzuberücksichtigen, möchte der Gouverneur die Kosten für eine ganze Region, also viele Krankenhäuser, festlegen, weil ansonsten Krankenhäuser, die traditionell hohe Preise verlangt haben, belohnt, diejenigen, die weniger „teuer“ waren, bestraft würden
Eine weitere Kosteneinsparung, die in den Einzelstaaten praktiziert wird, ist die Einschränkung der Zahl von Medikamenten, die an Medicaid-Patienten bezahlt werden. So hat beispielsweise New Hampshire nur noch drei Rezepte pro Monat bezahlt, dies jetzt jedoch dahingehend abgeändert, daß eine Eigenbeteiligung von einem US-Dollar pro Arzneimittel verlangt wird
Auf Bundesebene werden gegenwärtig verschiedene Varianten diskutiert, die Medicare-Patienten vor zu hohen finanziellen Belastungen bei schweren und langwierigen Erkrankungen („Catastrophic 111-ness“) schützen sollen. Zwei Gesetzentwürfe stehen in der politischen Diskussion: eine Vorlage des Repräsentantenhauses und eine des Weißen Hauses. Der Entwurf des Repräsentantenhauses sieht vor, daß die Eigenbeteiligung für die Krankenhauskosten 544 US-Dollar pro Jahr nicht überschreiten soll, unabhängig davon, wie lange eine Person im Krankenhaus weilen muß Kein Versicherter des Medicare Systems soll darüber hinaus mehr als 1 043 US-Dollar im Jahr für ärztliche Leistungen bezahlen, die vom Staat als „reasonable charges“ anerkannt werden. Medicare soll aber auch 150 Tage (heute 100 Tage) Pflege in einem Pflegeheim finanzieren, und Heimpflege von sieben Tagen pro Woche (bis maximal 35 Tage) bezahlen. Darüber hinaus soll nach den Vorstellungen des Repräsentantenhauses Medicare (nach einer Eigenbeteiligung von 500 US-Dollars) 80 Prozent der Kosten für Medikamente übernehmen Nach dem Vorschlag der Regierung soll eine unbegrenzte Krankenhausbehandlung gewährt werden, nachdem zunächst 2 000 US-Dollar vom Patienten selbst getragen wurden Finanziert werden sollen die erhöhten Leistungen nach den Vorstellungen des Repräsentantenhauses, indem die Versicherungsprämien progressiv mit einem steigenden Einkommen erhoben werden bis zu einer maximalen Prämie von 580 US-Dollar pro Jahr bei einem Einkommen, das über 14 166 US-Dollar pro Jahr liegt (wobei Social Security Renten nicht als Einkommen angerechnet werden)
Eine stärkere Bezuschussung von Medicare-Patienten hat der Staat New York bei der Verwendung von Medikamenten eingeführt. Alte Patienten, die über ein geringeres Einkommen als 15 000 US-Dollar im Jahr verfügen (Ehepaare 20 000 US-Dollar) erhalten durchschnittlich einen Zuschuß von 60 Prozent der Kosten für jedes Medikament
III. Fazit
Acht Jahre Sozialpolitik unter Reagan brachten frühe und massive Kürzungsmaßnahmen bei den „Armutsprogrammen“, während die Sozialversicherungsprogramme zunächst schonend behandelt wurden, später aber auch kostendämpfenden Maßnahmen unterlagen. Der Rückzug des Bundesstaates aus der Sozialpolitik rief — mit einiger Verzögerung — eine Vielzahl einzelstaatlicher sozialpolitischer Maßnahmen hervor, um der Armutsproblematik Herr zu werden. Einige dieser Initiativen schlagen sich heute — unter veränderten politischen Rahmenbedingungen und aufgrund des seit 1983 anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs — auch in den neuen bundespolitischen Aktivitäten zur Verbesserung des sozialen Sicherungssystems nieder.
Wie wirkten sich die Sozialpolitik und die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre auf die Lebenssituation der armen Amerikaner aus? Die Armutsquote, die diejenigen Familien erfaßt, die mit ihrem Einkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze (11 203 US-Dollar 1986) liegen, sank von 15, 2 (1983) auf 13, 6 Prozent (1987). Sie ist jedoch höher als sie in den Jahren 1967 bis 1980 war Rund 3, 7 Millionen Erwachsene erhalten Familienbeihilfe-Leistungen, ungefähr ein Viertel von ihnen über neun Jahre lang Gleichzeitig hat sich das durchschnittliche Familieneinkommen 1986 (inflationsbereinigt) um 4, 2 Prozent auf 29 458 US-Dollar im Jahr erhöht Die Arbeitslosenquote reduzierte sich mit 5, 7 Prozent 1987 auf das niedrigste Niveau seit 1979 Innerhalb einer sich verringernden Gesamtarmut verfestigt sich ein harter Kern und es schälen sich neue Armutsprobleme heraus, die sich in der „städtischen Unterschicht“ kumulieren: eine rasch wachsende Gruppe von unverheirateten Müttern, immer häufiger im Teenager-Alter, eine wachsende Armut unter den spanischstämmigen Amerikanern sowie eine steigende Zahl von Obdachlosen.
Somit schält sich ein zwiespältiges Bild heraus: auf der einen Seite sinkende Arbeitslosigkeit und Armut und ein bescheiden gestiegenes Durchschnittseinkommen, auf der anderen Seite eine Verfestigung von Armut und Abhängigkeit bei bestimmten Gruppen, die mit politischen Maßnahmen schwer aufzubrechen sind. Es erscheint allerdings auch fraglich, ob sie aufgrund von „Sickereffekten“, die sich aus dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum ergeben, verschwinden werden.