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Die „Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom November 1938 | APuZ 43/1988 | bpb.de

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APuZ 43/1988 München 1938: Illusion des Friedens Die „Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom November 1938 Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus 1933-1939 Wird Österreichs Geschichte umgeschrieben?

Die „Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom November 1938

Anselm Faust

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Judenpogrom im November 1938 war eine an das In-und Ausland gerichtete Inszenierung der nationalsozialistischen Machthaber. Anlaß der gelenkten Ausschreitungen war das Attentat des polnischen Juden Herschel Grünspan auf den deutschen Legationssekretär vom Rath. Durch teils mündliche, teils schriftliche Befehle aus München und Berlin waren Organsiation und Ablauf der „Reichskristallnacht“ vorgegeben, weshalb sie überall nach demselben Muster vonstatten ging, wenngleich nicht jede Einzelheit den Intentionen ihrer Anstifter entsprach. Der Pogrom und die anschließenden Maßnahmen waren weniger als Rache-und Sühneakte, sondern in erster Linie als Mittel zur Intensivierung der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik gegenüber den Juden konzipiert. Gleichwohl war der Pogrom ebenso wenig das Resultat vorausschauender Planung, wie er ein impulsiver Revancheakt der Bevölkerung war. Insbesondere die Analyse der jeweiligen Vorgänge vor Ort zeigt, daß er aus einer Vielzahl hastig befohlener und flüchtig koordinierter Einzelaktionen bestand. Ein „Voraussignal für Auschwitz“ war der Pogrom letztlich nicht, da sich keine gerade historische Entwicklungslinie zwischen den Ereignissen des November 1938 und der systematischen Vernichtung der Juden in den Lagern Osteuropas ziehen läßt. Die Novemberereignisse scheinen die Polarisierung der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der Judenpolitik des Regimes vertieft zu haben. Die Judenfeinde fühlten sich gerechtfertigt und ermuntert, während sich die Gegner der antijüdischen Politik bestätigt sahen und viele bislang Gleichgültige nicht länger unberührt blieben. Die allgemeine Stimmung im Herbst und Winter 1938/39 hat die „Reichskristallnacht“ indes nicht geprägt.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 und in den Tagen darauf wurden in Deutschland die meisten der ca. 400 Synagogen in Brand gesteckt oder demoliert, jüdische Friedhöfe wurden verwüstet, jüdische Wohnungen und Geschäfte zerstört und geplündert. An die 100 Juden wurden ermordet, zahllose andere gequält und vergewaltigt, ca. 30 000 Juden wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Von den Nationalsozialisten „Judenaktion" oder „Aktion gegen die Juden“ benannt, gingen diese Vorgänge als „Kristallnacht“ bzw. „Reichskristallnacht“ in die Geschichte ein -Diese Bezeichnung stammt möglicherweise aus dem Berliner Volksmund, der sie in Anspielung auf den Kristallüster eines Berliner Kaufhauses, der am 9. /10. November 1938 zerschlagen wurde, geprägt haben dürfte. Obwohl sie keine Schöpfung des nationalsozialistischen Regimes ist, verharmlost sie das Geschehene. Sie scheint bereits vor 1945 inoffizieller Sprachgebrauch geworden zu sein, wird aber heute mehr und mehr durch den zutreffenderen Begriff Pogrom („Verwüstung“) ergänzt und ersetzt, der mit Bezug auf frühere antijüdische Ausschreitungen in Ruß-land einen gewalttätigen Angriff auf Eigentum und Leben einer Bevölkerungsminderheit bezeichnet.

I. Der Anlaß

Der Novemberpogrom von 1938 war eine an das In-und Ausland adressierte Inszenierung der nationalsozialistischen Machthaber, die sie unter Inanspruchnahme aller ihnen zur Verfügung stehenden Herrschaftsinstrumente gleichzeitig in ganz Deutschland stattfinden ließen, ohne daß allerdings die Ausführung in jeder Einzelheit ihren Intentionen entsprach. Anlaß der gelenkten Ausschreitungen war das Attentat des polnischen Juden Herschel Grünspan (in polnischer Schreibweise: Grynszpan) auf den deutschen Legationsrat vom Rath.

Dem Attentat auf vom Rath war die spektakuläre Abschiebung eines Teils der in Deutschland wohnenden polnischen Juden vorausgegangen Um diese zumeist schon lange Jahre im Deutschen Reich lebenden polnischen Staatsbürger nicht nach ihrer Zwangsemigration, die sich angesichts der judenfeindlichen Politik der Nationalsozialisten als realistische Möglichkeit abzeichnete, aufnehmen zu müssen, hatte die polnische Regierung sie aufgefordert. ihre Pässe überprüfen zu lassen. Allen, die sich länger als fünf Jahre außerhalb Polens aufgehalten hatten, drohte der Entzug der Staatsbürgerschaft. Daran war das nationalsozialistische Regime indessen nicht interessiert. Kurz vor Ablauf der Überprüfungsfrist wurden Ende Oktober 1938 ca.

18 000 der in Frage kommenden Juden verhaftet und nach Osten transportiert, wo sie teils im polnischen Grenzgebiet unter elenden Bedingungen Unterkunft fanden, teils so lange notdürftig im deutsch-polnischen Niemandsland kampierten, bis sie in ihre Heimatstädte zurückgebracht wurden. Unter den abgeschobenen polnischen Juden hatte sich auch die Familie Grünspan aus Hannover befunden. Der siebzehnjährige Herschel, der sich zu dieser Zeit bei seinem Onkel in Paris aufhielt, beschloß daraufhin, den deutschen Botschafter in Frankreich zu ermorden, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Vorgänge in Deutschland zu lenken. Am Morgen des 7. November sprach er auf der Botschaft vor und wurde an den — ihm unbekannten — Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath verwiesen.den er mit zwei Revolverschüssen lebensgefährlich verletzte

Die Berichte über das Attentat beherrschten am 8. und 9. November die Frontseiten der deutschen Presse. Von Goebbels Propagandaapparat sorgsam gesteuert, deuteten die Zeitungen die Tat eines Einzelgängers sofort in das Werk des „internationalen jüdischen Verbrechergesindels“ um und drohten den deutschen Juden „Folgen“ an Schon kam es zu ersten Ausschreitungen.

II. Die Inszenierung des Pogroms

Am späten Nachmittag des 9. November erlag vom Rath seinen Verletzungen. Zu dieser Zeit hielten sich alle, die in der nationalsozialistischen Bewegung Rang und Namen hatten, in München auf, wo alljährlich an diesem Tag die zentralen Veranstaltungen zur Erinnerung an den Hitler-Putsch von 1923 stattfanden. Gegen 21 Uhr wurde Hitler, der sich auf einem Kameradschaftsabend der „alten Kämpfer“ befand, die Nachricht aus Paris überbracht, und etwa eine Stunde später verkündete Goebbels sie den versammelten Parteiführern. Goebbels hielt eine wüste antisemitische Rede, in der er auch erwähnte, „daß es in den Gauen Kur-hessen und Magdeburg-Anhalt zu judenfeindlichen Kundgebungen gekommen sei, dabei seien jüdische Geschäfte zertrümmert und Synagogen in Brand gesteckt worden. Der Führer habe auf seinen Vortrag entschieden, daß derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien; soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten.“

Obgleich sich Goebbels einer direkten Aufforderung zur Aktion enthielt, verstanden die Anwesenden seine Absicht: Nach Ende der Veranstaltung eilten die Funktionsträger der NSDAP und etwas später auch die Führer der SA zu den Telefonen, um ihre Dienststellen in mehr oder minder präziser Form anzuweisen, gegen Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen loszuschlagen. Fünf Minuten vor Mitternacht kündigte der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin (Gestapa), SS-Standartenführer Heinrich Müller, den Dienststellen der Geheimen Staatspolizei fernschriftlich an. es würden „in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden“. Sie seien nicht zu stören; vielmehr sei die Festnahme von 20 000 bis 30 000 Juden vorzubereiten

Müller scheint auf Informationen über die Goebbels-Rede hin selbständig gehandelt zu haben, denn die nach München gefahrenen Spitzen von SS und Polizei, die beim Kameradschaftsabend kaum vertreten waren, wurden erst durch Meldungen über die beginnenden Ausschreitungen auf die Vorgänge aufmerksam. Nachdem sich der „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ Heinrich Himmler bei Hitler rückversichert hatte, ließ er um 1. 20 Uhr den Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich. einen ausführlichen Befehl an die Geheime Staatspolizei und an den Sicherheitsdienst (SD) absetzen.der das Fernschreiben Müllers im wesentlichen bestätigte und es zugleich konkretisierte. Um 1. 40 Uhr schließlich versandte Goebbels eine Zusammenfassung seiner Rede an die Gauleitungen.

Mittels dieser teils schriftlichen, teils mündlichen Anweisungen wurden während der Nacht vom 9. zum 10. November innerhalb weniger Stunden die Rollen für die Inszenierung des Pogroms verteilt; — Die „Aktion gegen die Juden“ sollte in Form spontaner Demonstrationen der über die Mordtat empörten Bevölkerung erfolgen. Während sich die Partei offiziell zurückhielt, fiel es den unteren Gliederungen der NSDAP und der SA zu. vor Ort den „Volkszorn" zu mobilisieren, ohne selbst allzu sehr in Erscheinung zu treten.

— Die Polizei sollte den richtliniengemäßen Ablauf der Aktion garantieren, Plünderungen verhindern, nichtjüdische Geschäfte schützen, hierfür ggf. SS und SD in Anspruch nehmen und mit der Verhaftung wohlhabender Juden ein Hauptziel des Pogroms realisieren.

Organisation und Ablauf des Pogroms waren somit vorgegeben, weshalb er überall im Reich nach demselben Muster vonstatten ging; die Einheitlichkeit der Aktionen wurde durch die personellen Verflechtungen zwischen der Partei und ihren Verbänden, den kommunalen Verwaltungen und dem Polizeiapparat gefördert. Da am Abend des 9. November nicht nur in München, sondern auch andernorts Parteiveranstaltungen anläßlich des „Marsches auf die Feldherrnhalle" von 1923 stattgefunden hatten, war das notwendige Personal durch Alkoholgenuß und Hetzreden zumeist schon eingestimmt und leicht zu mobilisieren. Ziel der NS-Truppen waren zunächst die Synagogen und Betsäle, dann die Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen der Juden. Kleinere Gemeinden ohne eigene starke Parteiorganisation wurden vom Terror von auswärts angereister Verbände überzogen.

Formal korrektes Verhalten, ja auch Vorbehalte einzelner innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates blieben demgegenüber im Endeffekt wirkungslos. Vielmehr zeigte sich, daß das Regime Energien freisetzte, die sich der von ihm beanspruchten totalen Kontrolle eine Zeitlang entzogen. Durch Unzulänglichkeiten der Befehlsgebung und durch die Unfähigkeit oder den Unwillen der Sicherheitsorgane zum energischen Einschreiten begünstigt, nahmen die nationalsozialistischen Verbände die Gelegenheit wahr, ihre seit Jahren systematisch aufgebauten, aber auf höheren Befehl zumeist gezügelten Aggressionen gewalttätig auszuleben. Daß sie hierbei oft über die Intentionen ihrer Auftraggeber hinausschossen, gereichte dem Regime letztlich mehr zum Nutzen als zum Schaden: Neben dem Terror stellte die immer neue Festigung der Loyalität seiner organisierten Anhänger durch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse eine wesentliche Voraussetzung seiner inneren Stabilität dar. Den marodierenden NS-Verbänden folgte der Mob.der die Ausnahmesituation zur persönlichen Bereicherung, zur Rache für vermeintliches oder tatsächliches Unrecht, zur Demonstration ressentimentgeladener Überlegenheitsgefühle und zum Austoben sinnloser Gewalt nutzte. Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch verweigerte die ihr von der Propaganda zugedachte Rolle empörter Demonstranten. Erschrocken, hämisch, neugierig oder teilnahmslos, aber jedenfalls passiv verharrte sie in der Zuschauerkulisse.

III. Die Absichten des Regimes

Die Absichten, die das nationalsozialistische Regime mit dem Pogrom verfolgte, erschließen sich aus dessen Vorgeschichte und Durchführung sowie aus den ihm folgenden Maßnahmen Die tödlichen Schüsse auf vom Rath fielen zu einer Zeit, als die Nationalsozialisten zur „Lösung der Judenfrage“ entschlossener waren denn je, da das Resultat ihrer auf die Vertreibung der Juden zielenden Diskriminierungspolitik bis dahin weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war. Die jüdische Auswanderung war seit ihrem Höhepunkt im Jahr 1933 rückläufig, und dem Regime erschien die Präsenz der Juden in seinem Herrschaftsbereich um so unerträglicher, je näher der Zeitpunkt des Krieges heranrückte. Dieser Krieg war längst geplant, ohne daß der Termin schon feststand.

Seit Herbst 1937 kam es deshalb zu einer Verschärfung der antijüdischen Repressionsmaßnahmen. Nach einer längeren Phase relativer Ruhe, mit der man u. a. auf die Olympischen Spiele 1936 Rücksicht genommen hatte, schwoll die Welle der Hetzpropaganda.der Ausschreitungen und der alltäglichen Schikanen wieder an. Im Interesse der Rüstungsfinanzierung wie gleichermaßen der Forcierung der Auswanderung richtete das Regime sein Augenmerk nun vor allem auf die Vermögen der verbliebenen Juden und deren Rolle in der Wirtschaft Die Verdrängung der Juden aus dem privatwirtschaftlichen Sektor war zunächst eher unsystematisch erfolgt, indem ihnen in Handwerk und Einzelhandel Geschäftseröffnungen und -übernahmen verweigert wurden (was seit 1933/34 generell möglich war) oder jüdische Geschäftsleute durch teils offenen, teils stillen Boykott der Kunden und Lieferanten zur Schließung bzw. zum Verkauf ihrer Betriebe unter ungünstigen Bedingungen gedrängt worden waren.

Die Periode dieser „freiwilligen“, jedoch äußerst effektiven „Arisierung“ ging 1938 in den offenen Zugriff auf die jüdischen Betriebe und Vermögen über, der die „Entjudung“ der Wirtschaft vollenden sollte. Er wurde mit der Registrierung aller Vermögenswerte bei den Behörden im Frühjahr 1938 vorbereitet. § 7 der „Anmeldungs-Verordnung“ deutete die Absicht an: „Der Beauftragte für den Vierjahresplan kann die Maßnahmen treffen, die notwendig sind, um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft sicherzustellen.“ Am gleichen Tag wurden Verkauf. Verpachtung und Neueröffnung jüdischer Betriebe genehmigungspflichtig. womit sich die gegebenen Steuerungsmöglichkeiten verbreiterten. Und im Oktober betonte Hermann Göring, dem als „Beauftragten für den Vierjahresplan“ die Koordinierung der Wirtschaft für die Aufrüstung oblag, die „Judenfrage müßte jetzt mit allen Mitteln angefaßt werden, denn sie müßten aus der Wirtschaft raus“

IV. Improvisationen

Wenngleich also die Ermordung vom Raths überaus gut in das judenpolitische Konzept der nationalsozialistischen Führung paßte, so war der Pogrom dennoch ebenso wenig das Ergebnis vorausschauender Planung, wie er ein impulsiver Racheakt der Bevölkerung war. Angesichts der Gleichzeitigkeit und Massenhaftigkeit der Ereignisse hat wohl niemand in Deutschland der am nächsten Tag von Presse und Rundfunk verbreiteten Version von „spontanen Kundgebungen“ Glauben geschenkt. Die Annahme, der Pogrom sei vorausgeplant gewesen, lag dem gegenüber sehr viel näher In Wirklichkeit aber bestand er aus einer Vielzahl hastig befohlener und flüchtig koordinierter Einzelaktionen.

Zwar kann man davon ausgehen, daß seit dem 7. November in den politischen Schaltstellen des Regimes überlegt worden ist, auf welche Weise das zu erwartende Ableben vom Raths gegen die Juden verwandt werden könnte. So hatte Gestapa-Chef Müller offenbar eine Verfügung bereits in der Schublade liegen, denn anders hätte er wohl kaum schon vor Mitternacht selbständig konkrete Anweisungen erteilen können, die später zwar noch modifiziert, aber nicht mehr entscheidend abgeändert wurden. Und womöglich war auch Goebbels taktisch raffinierte Rede, mit der er zum Pogrom ermunterte, die Partei aber bedeckt hielt, wohlvorbereitet, obgleich er zu Improvisationen durchaus fähig war.

Indessen belegen die Reaktionen innerhalb der nationalsozialistischen Führung wie auch die Befehlsgebung, die Aufeinanderfolge der Anweisungen sowie deren Inhalt und Weitergabe durch die Instanzen, daß sich die politischen Spitzen selbst nicht einig waren (so mokierte sich Himmler über Goebbels Vorpreschen, und Göring erregte sich über die angerichteten Sachschäden) und daß Vorüberlegungen allenfalls in der einen oder anderen Dienststelle ohne konkretisierende gegenseitige Absprachen angestellt worden sein können. Auf jeden Fall waren sie über die Münchner und Berliner Zentralen nicht hinausgelangt, denn die mittleren und unteren Führungsebenen von Verwaltung, Polizei und Partei waren völlig unvorbereitet.

„Nirgends wird ein SA-Brandstiftertrupp auf Abruf bereitgestellt, nirgends gibt es Vorkehrungen für die Lagerung von Brennmaterialien, nirgends wartet gar ein Partei-oder SA-Funktionär am Telefon auf die Durchsage eines Codewortes.“ Sowohl für den Beginn als auch für den Abbruch der Aktion bedurfte es mehrerer Befehle. Häufig wurden sie verkürzt, verändert oder verspätet weitergegeben. Nicht selten hatten Partei und SA schon losgeschlagen, bevor die Polizei informiert worden war. Anderswo tat sich in der Nacht zum 10. November überhaupt nichts. Der NSDAP-Kreisleiter von Er-bach im Odenwald z. B. zögerte mangels eines prä-zisen Befehls bis zum Vormittag des 10. November, um dann doch seinen Ortsgruppenleitern die letzte Entscheidung selbst zu überlassen. Die Gestapo-Stelle Düsseldorf alarmierte ihre Außendienststellen erst zwei Stunden nach dem Fernschreiben Müllers von 23. 55 Uhr, und die Anweisung Heydrichs von 1. 20 Uhr gab sie erst nach etwa zweieinhalb Stunden weiter. Die Polizeifunkstelle Mönchengladbach-Rheydt empfing erst morgens um halb neun Uhr aus Berlin offizielle Informationen für die Ordnungspolizei. Die Gestapo und das Regierungspräsidium in Köln benachrichtigten die Landräte zwischen acht und neun Uhr. so daß die Polizei längere Zeit nicht Bescheid wußte und in der Gemeinde Ruppichteroth die Zerstörung der Synagoge gar zu verhindern suchte.

Die SA-Brigade „Kurpfalz“ in Mannheim z. B. erhielt den Befehl, die Synagogen „zu sprengen oder in Brand zu setzen“, wogegen der Landrat des pfälzischen Kreises Wittlich einen Funkspruch bekam, daß „Brandlegungen unter allen Umständen zu vermeiden“ seien.

Entgegen den Intentionen der Propagandaleitung waren die Akteure an ihren Uniformen oft leicht zu erkennen. Unklarheit bestand auch über die Beteiligung der SS. Laut der Weisung Müllers konnte sie zur „Gesamtaktion“, laut Heydrich aber nur zur „Durchführung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen“ herangezogen werden. Die Gestapo-Stelle Düsseldorf übernahm einfach beide Formulierungen, und häufig gingen die SS-Formationen ganz selbständig vor.

Vielenorts entglitten die Aktionen der Straße der Kontrolle des Regimes. Mehrfach befahl Berlin im Laufe des Tages die Verhinderung von Plünderungen und die Verfolgung der Täter. Als Goebbels am Abend die Demonstrationen abbrach, waren viele Parteigliederungen und der unorganisierte Mob so schnell nicht wieder zu bremsen. Noch Tage später kam es zu Akten der Gewalt und der Zerstörung.

V. „Einschneidende Maßnahmen gegen die Juden“

Das Regime ließ gegenüber der Öffentlichkeit keinen Zweifel, daß die „Kristallnacht“ nur der Auftakt der „Folgen“ war, die es den Juden gleich nach dem Attentat Grünspans angedroht hatte. Es verbarg auch weder seine Absicht, die Vorfälle zur Intensivierung der Vertreibung zu nutzen, noch die hierzu eingesetzten Mittel, die vor allem darauf abzielten, den Juden die bislang noch verbliebene materielle Existenzgrundlage zu entziehen.

Nachdem bereits am 10. November damit begonnen worden war. die äußeren Zeichen der Zerstörungswut zu beseitigen, wurden die Juden am 12. November zur Behebung aller Schäden auf eigene Kosten verpflichtet; ihre Versicherungsansprüche verfielen zu Gunsten des Reiches. Die Ruinen der Synagogen mußten aus dem Stadtbild verschwinden. Wie die zerstörten Gemeindehäuser und Betsäle durften sie nicht wieder hergerichtet werden, sondern wurden auf Kosten der Synagogengemeinden abgerissen, sofern sie nicht umgebaut und zweckentfremdet wurden, nachdem die Grundstücke in „arischen“ Besitz übergegangen waren.

Die „Ausschaltungs-Verordnung“ vom 12. November untersagte den Juden mit Wirkung vom 1. Januar 1939 den Betrieb von Einzelhandels-und Versandgeschäften sowie handwerklicher Unterneh17 men und die Tätigkeit als Betriebsführer und leitende Angestellte, weshalb seit dem Pogrom geschlossene Geschäfte. Handwerksbetriebe und Gaststätten gar nicht erst wieder öffnen durften. Darüber hinaus konnten die Inhaber jüdischer Gewerbebetriebe jeglicher Art nach der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 zum Verkauf ihrer Geschäfte gezwungen werden. Das gleiche galt für Grundeigentum. Damit ging die „Arisierung“ der Wirtschaft in ihre Endphase. Ein weiterer Schritt zur faktischen Enteignung war die „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark, an deren Aufbringung sich jeder Jude in Form einer Abgabe von 20 Prozent (später 25 Prozent) seines Vermögens zu beteiligen hatte.

Daß der Pogrom und die anschließenden Maßnahmen weniger als Rache-und Sühneakte, sondern in erster Linie als Mittel der nationalsozialistischen Verdrängungspolitik konzipiert waren, zeigten nicht zuletzt die Verhaftung der Juden und ihre Einlieferung in Konzentrationslager, durch die der auf die Juden ausgeübte Druck, ihre wirtschaftlichen Positionen aufzugeben und das Land zu verlassen, nochmals erhöht werden sollte. Darauf deutet schon das ausschließliche Interesse des Regimes an der Verhaftung wohlhabender männlicher Juden hin.

Die Verhaftungen begannen im Verlauf des 10. November und wurden danach noch tagelang fortgesetzt. Anschließend wurden die meisten Inhaftierten in die Konzentrationslager Sachsenhausen. Buchenwald und Dachau überführt — im gesamten Reichsgebiet zwischen 26 000 und 36 000 Personen. Buchenwald mußte bald wegen Überfüllung gesperrt werden, doch auch in den anderen Lagern herrschten katastrophale Zustände. Die Juden wurden brutaler als die anderen Häftlingsgruppen behandelt, so daß die Lagersterblichkeit sprunghaft anstieg. Gleichwohl unterschieden sich die schlimmen Verhältnisse, denen sie unterworfen wurden, noch von den unsäglichen Haftbedingungen der späteren Vernichtungsperiode.

Noch während die Transporte in die Lager unterwegs waren, setzten die ersten Entlassungen ein. bei denen die ausreisewilligen und zur „Arisierung“ ihrer Betriebe bereiten und benötigten Juden bevorzugt wurden. Nach und nach kamen dann auch die übrigen wieder frei, so daß sich z. B. — nach einem Höchststand von 9 812 am 14. November 1938 — am Ende des Jahres nur noch 1 63 November 1938 — am Ende des Jahres nur noch 1 637 „Aktionsjuden“ im KZ Buchenwald befanden 13).

VI. Reaktionen

Der Pogrom war die vorläufige Zuspitzung der nationalsozialistischen Politik, die Juden aus dem deutschen Volk „auszutilgen“, und nur wenige der Betroffenen erkannten die Absicht nicht. Insofern erfüllte er seinen Zweck. Manchen Juden trieb die Verzweiflung in den Selbstmord, und die Auswanderung wurde nun zur Massenflucht. Zwischen Herbst 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939 verließen fast ebenso viele Juden das Deutsche Reich wie in den vorausgegangenen fünfeinhalb Jahren. Die Verbleibenden waren — im stetig engmaschiger geknüpften Netz diskriminierender und entwürdigender Vorschriften eingeschnürt — mehr denn je auf den moralischen, finanziellen und organisatorischen Beistand der jüdischen Gemeinschaft angewiesen, da ihnen das Regime jede Unterstützung verweigerte und die nichtjüdische Bevölkerung nur selten helfen wollte und konnte.

Von den Gruppierungen des organisierten Widerstandes im Inland nahm allein die KPD öffentlich zu den Ausschreitungen Stellung. Die katholische Kirche, neben Teilbereichen des evangelischen Raumes die einzige gesellschaftlich bedeutsame Gruppe, die den Gleichschaltungsdruck der Nationalsozialisten als unabhängige Institution überdauerte. fand kein offenes Wort des Protestes, weil sie selbst in einem „gemäßigten“ Antisemitismus verfangen war. die Juden ihr zu fern standen und sie ihre Kräfte im eigenen Interesse auf den „Kirchenkampf“ konzentrierte. Die „Bekennende Kirche“ blieb ebenfalls stumm. Das kirchenamtliche Schweigen schloß allerdings mutige Einwände. Solidaritätsbekundungen und die tätige Barmherzigkeit einzelner Geistlicher. Ordensangehöriger und Laien nicht aus. und insgesamt entsprach die Reaktion der Bevölkerung auf den Pogrom keineswegs den Erwartungen des Regimes und den Behauptungen seines Propagandaapparats 14). Wenngleich quantitative Angaben nicht möglich sind, kann man doch die Bevölkerung des „Dritten Reiches“ gemäß ihrer Haltung zu ihren jüdischen Mitbürgern in drei Gruppen einteilen.Zwischen den vergleichsweise kleinen Gruppen der aktiven Judenfeinde auf der einen und der Vorurteilslosen auf der anderen Seite gab es die Mehrheit der Indifferenten, deren latenter „passiver“ Antisemitismus die Lebensbedingungen der Juden nicht weniger bestimmte als der Haß der Fanatiker. Denn diese konnten sich der Zustimmung jener sicher sein, solange sie sich in einem bestimmten, durch die bürgerlichen Normen „Anstand“ und „Ordnung“ gesetzten Rahmen bewegten — ohne freilich befürchten zu müssen, offene Gewalt könne offenen Widerstand provozieren. So fanden beispielsweise die diskriminierenden „Nürnberger Gesetze“ von 1935, die die Radikalen keineswegs befriedigten, in „gemäßigten“ Kreisen ein durchaus positives Echo, weil man meinte, daß mit ihnen eine Wiederherstellung rechtlicher Zustände gelungen und das Ende von Willkür und Terror gegenüber den Juden eingeleitet sei.

So weit die Quellen verallgemeinernde Aussagen zulassen, scheinen die Novemberereignisse die Polarisierung der Bevölkerung über die nationalsozialistische Judenpolitik vertieft zu haben. Die Juden-feinde fühlten sich durch das Attentat Grünspans gerechtfertigt und durch die offizielle Billigung der Aktionen ermuntert. Wohl nicht ohne aktuellen Anlaß wurden Anfang 1939 die Regierungspräsidenten angewiesen, dem „Unwesen“ der Denunziationen wegen „judenfreundlichen“ Verhaltens Einhalt zu gebieten, da sie „einen in jeder Hinsicht unerfreulichen Mißstand“ bedeuteten, der die „unbedingt erforderliche gleichmäßige Anspannung aller deutschen Menschen für produktive lebenswichtige Aufgaben“ erschwere

Auf der anderen Seite sahen sich die Gegner der nationalsozialistischen Judenpolitik bestätigt, und manchen bislang Gleichgültigen ließ sie nicht länger unberührt. In vielen Quellen ist zu erkennen, daß der Pogrom allzu offensichtlich gegen wichtige Wertvorstellungen der deutschen Gesellschaft verstieß. Denn er entlarvte schlagartig die selbst noch durch die „Nürnberger Gesetze“ genährte Vorstellung einer scheinbar legalen, „humanen“ Verdrängung der jüdischen Mitbürger als Illusion. Plünderungen und Zerstörungen widersprachen bürgerlichen Besitz-und Sicherheitsidealen und zudem existentiellen Bedürfnissen der Bevölkerung in einer Zeit, in der sich der Lebensstandard eben erst wieder dem vor der Weltwirtschaftskrise erreichten Niveau annäherte und die Propaganda ständig Sparsamkeit zugunsten der. kriegsnotwendigen Selbstversorgungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft predigte.

Als krasser, illegaler und „unordentlicher“ Vorfall schreckte der Pogrom alle, die Recht und Ordnung schätzten, und sei es auch nur die Scheinlegalität und die polizeistaatliche Ordnung des „Dritten Reiches“. Offene Gewalt verletzte schließlich den christlichen Grundsatz der Nächstenliebe und das bürgerliche Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde, die sich so lange mit Judenfeindschaft vertrugen, so lange diese für die Mehrheit der Bevölkerung eher abstrakt blieb: eine Ideologie, die von anderen verkündet und von anderen in eine Politik umgesetzt wurde, die andere betraf. Buchstäblich über Nacht war jedoch der Antisemitismus so konkret wie nie zuvor geworden, richtete er sich nicht mehr gegen „die Juden“, die nach und nach und für teilnahmslose Zeitgenossen kaum wahrnehmbar aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, sondern gegen den gedemütigten und drangsalierten jüdischen Nachbarn.

Daß solcherart wertorientierte Vorbehalte gleichwohl nicht notwendigerweise den antisemitischen Konsens weiter Bevölkerungskreise mit dem Regime ernsthaft in Frage stellten, verdeutlichen die Reaktionen des Regimes selbst. Denn nicht zum erstenmal, aber wegen der Häufung der Vorgänge besonders augenfällig zeigte sich bei der Verfolgung der in den Novembertagen begangenen Straftaten die den Nationalsozialisten eigene Doppelmoral. Sie gebot ihnen, einen Schleier sinnentleerter Rechts-und Ordnungsnormen aufrechtzuerhalten, und gestattete es ihnen zugleich, in seinem Schutz verbrecherisches Tun zu befehlen und zu akzeptieren.

Das Regime ließ während des Pogroms geschehene Eigentumsdelikte polizeilich und gerichtlich verfolgen, Tötungen, schwere Körperverletzungen und Beschädigungen jüdischer Wohnungen und Geschäfte jedoch nur, wenn „eigensüchtige Motive“ zugrunde lagen; Sachbeschädigungen an Synagogen und jüdischen Friedhöfen nahm es von der Verfolgung aus. Angehörige der NSDAP und ihrer Gliederungen hatten sich zunächst vor der partei-eigenen Gerichtsbarkeit zu verantworten, vor der sie selbst bei schweren Verbrechen mit Milde, wenn nicht gar mit Straffreiheit rechnen konnten, sofern ihr Verhalten sich im Rahmen der nationalsozialistischen Vorstellungen von „Anstand“ und „Ordnung“ gehalten hatte. Zudem wurde ihnen die Annahme zugebilligt, auf höheren Befehl gehandelt zu haben. Doch auch vor der ordentlichen Justiz kam es auf Anweisung aus Berlin gewöhnlich nur wegen Plünderung, Raub, Erpressung und Sittlichkeitsverbrechen zu Verurteilungen, während Verfahren wegen Mord und Totschlag niedergeschlagen wurden.

So ist die vom Regime beschworene „Empörung der Bevölkerung“ zwar häufig auf Widerwillen und Ablehnung in der Bevölkerung gestoßen, doch hat dies die allgemeine Stimmung im Herbst und Winter 1938/39 wohl nicht geprägt. Wenngleich die Mißbilligung der antisemitischen Verfolgungen zu-nahm, so hatten die meisten Deutschen doch andere Interessen und Sorgen als das Schicksal der Juden, mit denen zu sympathisieren außerdem verhängnisvolle Folgen haben konnte. Überdies rückte das Regime die Judenpolitik alsbald wieder aus den Schlagzeilen der Zeitungen und schlachtete lediglich das Begräbnis Ernst vom Raths, das am 17. November mit großem Zeremoniell in dessen Heimatstadt Düsseldorf stattfand, propagandistisch aus. Es wäre interessant zu wissen, wieviele der Tausende, die den Weg des Trauerzuges für vom Rath säumten, dies aus eigener Betroffenheit taten, und wieviele nur ihre Neugier auf den „Führer“ und die übrige angereiste Prominenz befriedigten.

Der Überlegung wert erscheinen darüber hinaus die — mit einem Abstand von 50 Jahren allerdings kaum schlüssig zu beantwortenden — Fragen, wie-viele Menschen den Pogrom überhaupt miterlebten. wieviele bereit waren, ihn bewußt wahrzunehmen. und inwieweit ihr Denken und Handeln durch den Pogrom bestimmt wurde. 1939 wohnten 90 Pro-19 zent aller deutschen Juden in nur 200 Gemeinden, weshalb die Novemberereignisse in den zahllosen Kleinstädten und Landgemeinden ohne jüdische Bevölkerung allenfalls ein Medienereignis waren. Wo es zu Aktionen kam. gab es zumeist nur relativ wenige Augenzeugen; wer später die Trümmer sah, brauchte nicht zu verharren und konnte schnell zur Tagesordnang, zu den Pflichten und Ablenkungen des Alltags übergehen

Während die jüdischen Geschäftsleute noch die Trümmer ihrer Läden von den Bürgersteigen räumten. fand z. B. auf der Düsseldorfer Pferderennbahn das „Ernst-Bischof-Rennen“ statt. An der Börse drückten lediglich kleinere Glattstellungen auf das Kursniveau; rasch kam es zu einer „kräftigen Erholung“. Die Glasindustrie profitierte von der Zerstörungswut. Die Bevölkerung klagte in diesen Wochen über die mangelhafte Qualität der Kartoffeln und diskutierte eine Verlängerung der Arbeitszeit. Vielerorts liefen die Kinder in diesen Novembertagen mit den Martinszügen durch die Straßen, und am 11. 11. begann der rheinische Karneval. In Köln wurde zum Auftakt der Saison die Grundsteinlegung des Ostermann-Brunnens auf dem „Ostermann-Pläätzge“ vorgenommen. Dem „Westdeutschen Beobachter“ zufolge zeigte die kleine Feier „so recht das fröhliche alte Köln, das in Willi Ostermann einen unvergeßlichen Künder gefunden hat und in seinen Liedern ewig weiterleben wird “. Weitsichtige Menschen begannen schon mit den ersten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Wurde ihre Vorfreude von Gedanken an die Juden getrübt?

VII. Der Pogrom und der Holocaust

Der Novemberpogrom war der Höhepunkt der gegenüber den Juden vor dem Krieg angewandten Gewalt, doch war er kein „Voraussignal für Auschwitz“ wenngleich er manchem Zeitgenossen erst die Augen über das wahre Ausmaß des nationalsozialistischen Judenhasses öffnete und eine noch schlimmere Zukunft als nicht ausgeschlossen erscheinen ließ. Aber es führt kein geradliniger historischer Entwicklungsstrang von den Transporten nach Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen im November 1938 in die späteren Ver-nichtungslager Osteuropas: Der seit 1933 praktizierten Umsetzung des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus in staatlich sanktionierte Diskriminierungs-und Vemichtungsmaßnahmen lag kein ausgearbeiteter und streng eingehaltener Plan zugrunde

Das Endergebnis der nationalsozialistischen Judenpolitik.der Holocaust, wie auch das propagandistisch manipulierte Selbstbild des Regimes und sein Sprachgebrauch („Endlösung“, „Ausrottung“, „Ausmerze“ etc.) verleiten leicht zu falschen Schlüssen. Es ist zwar unübersehbar, daß die Judenfeindschaft ein zentrales und durchgängiges Element nationalsozialistischer Weltanschauung und Politik war, aber die tatsächliche Form und die Durchführung blieben lange Zeit vage und wurden von pragmatischen Überlegungen mitbestimmt. Die nationalsozialistische Rassenpolitik wurde nicht konsequent und nicht ohne jede Hinderung durch andere Ziele durchgesetzt. Vielmehr sahen sich die Führungsspitzen genötigt, auf wirtschaftliche Notwendigkeiten ebenso Rücksicht zu nehmen wie auf die Reaktionen des Auslandes und Empfindlichkeiten in Teilen der deutschen Bevölkerung den Maßnahmen. gegenüber antijüdischen Die Politik des „Dritten Reiches“ gegenüber den deutschen Juden zerfällt in zwei große Abschnitte: In den Jahren von 1933 bis 1941 erfolgt schrittweise die rechtliche und soziale Ausgliederung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, um ihnen den Aufenthalt in Deutschland zu verleiden und sie zur Emigration zu bewegen. In dem 1941 beginnenden zweiten Abschnitt ist hingegen nicht mehr ihre Auswanderung bzw. ihre Ausweisung das Mittel zur „Endlösung“, sondern ihre physische Vernichtung. Im ersten Abschnitt lassen sich mehrere Perioden aufzeigen, die den Wechsel der Strategien und die Verschärfung der Maßnahmen verdeutlichen:

— 1933/34 erfolgt zunächst die von „wilden Aktionen“ begleitete Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben.

— 1935 bis 1937 weitet sich die jüdische Isolierung vor allem durch den Ausbau des rechtlichen Diskriminierungsinstrumentariums und durch die fortschreitende Verdrängung aus der Wirtschaft aus, während Einzelaktionen zurücktreten.

— Mit dem Ziel, die Auswanderung voranzutreiben, wird 1938/39 insbesondere im wirtschaftlich-sozialen Bereich der auf die Juden ausgeübte Druck verstärkt. Hierbei spielt der Pogrom vom November 1938 eine herausragende Rolle. Doch seine äußere Form ist nicht mehr typisch. Als offener Exzeß nationalsozialistischer Horden und des unorganisierten Mobs wiederholt er sich nicht; vielmehr erscheint er als Nachklang der „revolutionären“ Phase des Nationalsozialismus, dessen Terror zunehmend in bürokratisierten und effizienteren Bahnen abläuft.

Daß diese Perioden nicht die Abfolge eines vorgegebenen Stufenplanes nachvollziehen, zeigt sich nicht zuletzt in der improvisierten Organisation des Novemberpogroms und wird im Zweiten Weltkrieg besonders deutlich, als der bisher verfolgte Weg zur „Endlösung“ in eine Sackgasse mündet. Während einerseits in schneller Folge Millionen Juden unter den Zugriff der bald zügellosen nationalsozialistischen Willkür geraten, wird das Ziel ihrer „Ausschaltung“ durch Auswanderung aufgrund des Kriegszustandes mit den meisten Aufnahmeländern und aufgrund des gewaltigen Umfangs des in Frage kommenden Personenkreises immer illusionärer. Als Versuche, die Juden in bestimmten Regionen der besetzten Gebiete zusammenzuziehen, im Chaos enden und Pläne, sie auf die Insel Madagaskar oder hinter den Ural abzuschieben, spätestens mit der unerwarteten Dauer des im Juni 1941 begonnenen Krieges gegen die Sowjetunion hinfällig werden, geht das Regime im Herbst 1941 zum Mittel der systematischen Deportation und Vernichtung über, nachdem es schon vorher zu Tötungsaktionen an polnischen und sowjetischen Juden gekommen ist. Insgesamt fallen diesem Massenmorden ca. 5, 7 Millionen Juden zum Opfer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wichtigste Literatur zum Thema: Hermann Graml. Der 9. November 1938. „Reichskristallnacht“. Bonn 19575; Wolfgang Scheffler. Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Novemberpogroms 1938. in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 44/78; Heinz Lauber. Judenpogrom: „Reichskristallnacht“ November 1938 in Großdeutschland. Daten — Fakten — Dokumente — Quellentexte — Thesen und Bewertungen. Gerlingen 1981; Herbert Schultheis. Die Reichskristallnacht in Deutschland nach Augenzeugenberichten. Bad Neustadt a. d. S. 1985; Anselm Faust. Die „Kristallnacht“ im Rheinland. Dokumente zum Judenpogrom im November 1938. Düsseldorf 19882; Walter H. Pehle (Hrsg.). Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt/M. 1988.

  2. Hierzu zuletzt Trude Maurer. Abschiebung und Attentat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der Vorwand für die „Kristallnacht“, in: W. H. Pehle (Anm. 1). S. 52— 73.

  3. Helmut Heiber. Der Fall Grünspan, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 5 (1957). S. 134— 172; Friedrich Karl Kaul. Der Fall des Herschel Grynspan. Berlin (Ost) 1965.

  4. So z. B. die Rheinische Landeszeitung vom 8. November 1938. Zur Presseberichterstattung vor allem Karl-Ludwig Günsche. Phasen der Gleichschaltung. Stichtagsanalysen deutscher Zeitungen 1933— 1938. Osnabrück 1970.

  5. (IMT) Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945-1. Oktober 1946. Bd. XXXII. Dok. 3063-PS: Bericht des Obersten Parteigerichts der NSDAP vom Februar 1939, Nürnberg 1947/49.

  6. Die verschiedenen Befehle zur Organisation des Pogroms sind wiedergegeben bei W. Scheffler; H. Lauber; A. Faust (alle Anm. 1).

  7. Siehe neben den in Anm. 1 genannten Titeln Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Klaus Drobisch /Rudi Goguel /Werner Müller, Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933— 1945, Berlin (Ost) 1973; Arnold Paucker/Sylvia Gilchrist /Barbara Suchy (Hrsg.), Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. The Jews in Nazi Germany 1933— 1943, Tübingen 1986 (deutsch-englisch).

  8. Hierzu zuletzt Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933— 1943, Frankfurt/M. 1988.

  9. Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens vom 26. April 1938. RGBl. 1938/1. S. 414.

  10. IMT, Bd. XXVII. Dok. 1301-PS. S. 163.

  11. So z. B. in den Stellungnahmen der KPD im November 1938, abgedr. bei H. Lauber (Anm. 1), S. 179 ff.; vergl. Wolfgang Benz, Der Rückfall in die Barbarei. Bericht über den Pogrom, in: W. H. Pehle (Anm. 1), und Uwe Dietrich Adam, Wie spontan war der Pogrom?, in; ebd.

  12. U. Adam (Anm. 11), S. 88. Zu den nachfolgenden Beispielen siehe H. Graml (Anm. 1). S. 32 f.; Johannes Simmert (Bearb.), Die nationalsozialistische Judenverfolgung in Rheinland-Pfalz 1933 bis 1945, in: Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland von 1800 bis 1945, hrsg. von der Landesarchivverwaltung in Verbindung mit dem Landes-archiv Saarbrücken. Bd. 6. Koblenz 1974. S. 1 — 256; H. Lauber (Anm. 1). S. 88 f.; A. Faust (Anm. 1). Kap. 2 und 3.

  13. Zum folgenden insbesondere Ian Kershaw. Antisemitismus und Volksmeinung: Reaktionen auf die Judenverfolgung. in Martin Broszat /Elke Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit. Bd. 2. München 1979. S. 281-347; William Sheridan Allen. Die deutsche Öffentlichkeit und die „Reichskristallnacht“ — Konflikte zwischen Werthierarchie und Propaganda im Dritten Reich, in: Detlev Peuckert /Jürgen Reulecke (Hrsg.). Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981. S. 397— 411; Sarah Gordon. Hitler. Germans. and the „Jewish Question“. Princeton 1984.

  14. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. RW 18— 14. Bl. 149.

  15. Zum folgenden ausführlicher A. Faust (Anm. 1). Kap. 5.

  16. Westdeutscher Beobachter vom 12. November 1938.

  17. So Max Oppenheimer /Horst Stuckmann /Rudi Schneider. Als die Synagogen brannten. Zur Funktion des Antisemitismus gestern und heute. Frankfurt/M. 1978. S. 14. Siehe beispielsweise jetzt auch W. H. Pehle in der Vorbemerkung zu der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung (Anm. 1). Pehle vertritt die Auffassung, daß die Ausschreitungen des November 1938 „konsequent auf ein Ziel“ hinausgelaufen seien: auf die Vernichtung der Juden (S. 10). was von den Autoren des von ihm edierten Bandes allerdings sehr viel differenzierter gesehen wird. Zur ausgedehnten und z. T.sehr heftig geführten wissenschaftlichen Diskussion um die „Planmäßigkeit“ der nationalsozialistischen Judenpolitik siehe u. a. Konrad Zur Kwiet. historiographischen Behandlung der Judenverfolgung im Dritten Reich, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen. 27 (1980). S. 149— 92; Otto D. Kulka. Major Trends and Tendencies in German Historiography on National Socialism and the „Jewish Question“ (1924— 1984). in: Year Book XXX of the Leo Baeck Institute. London 1985. S. 215— 42; Kurt Pätzold. Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen. Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus, in: Dietrich Eichholz /Kurt Goss-weder (Hrsg.). Faschismusforschung. Positionen. Probleme. Polemik. Köln 19802. S. 181— 208; Uwe Dietrich Adam. Der Aspekt der „Planung“ in der NS-Judenpolitik. in: Thomas Klein /Volker Losemann /Gunther Mai (Hrsg.). Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1984. S. 161— 78; Wolfgang Scheffler. Wege zur „Endlösung“, in: Herbert A. Strauss /Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Bonn 1985. S. 186— 214; H. Graml, in: Pehle (Anm. 1).

  18. Zur Einordnung des Novemberpogroms in den Gesamtzusammenhang der „Lösung der Judenfrage“ sehr dezidiert Kurt Pätzold. Der historische Platz des antijüdischen Pogroms von 1938. Zu einer Kontroverse, in: Jahrbuch für Geschichte. 26 (1982). S. 193— 216; siehe auch A. Barkai (Anm. 8). S. 146 ff.

Weitere Inhalte

Faust, Anselm, Dr. phil., geb. 1943: Archivar am Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv, Düsseldorf. Veröffentlichungen u. a.: Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, 1973; (Mitautor) Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, Bd. 3: 1914— 1945, 1985; Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich, 1986; Die „Kristallnacht“ im Rheinland. Dokumente zum Judenpogrom im November 1938. 19882.