I. Einleitung
Wann immer die Anthropologie der vergangenen fünfhundert Jahre nachgezeichnet wird, so sollte von vornherein nicht die falsche Einstellung mitschwingen. daß es um eine bloße geistesgeschichtliche Erinnerung an etwas Zurückliegendes geht, das nur noch als Kuriosität neugierig macht. Grundsätzlich gilt, daß philosophisches Erinnern (wozu die Geistesgeschichte in ihrer vornehmsten Bedeutung zählt) niemals den Zweck hat. etwas im Wissen hinter sich zu bringen und es dort abzulegen, im „rastlosen Zusammenscharren alles einmal Dagewesenen . . . Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt.“
Im besonderen gilt dieser Grundsatz eines verarbeitenden Erinnerns aber gerade für die Renaissance, jenen Beginn der Neuzeit, der in seiner Grundprägung bis zum heutigen Tage Spuren des Denkens und Verhaltens hinterlassen hat. von denen man sich erst heute zu lösen beginnt. Was die Geschlechterfrage angeht und dabei in besonderem Maße die Frauenfrage, so hat auch hier die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit einige Lösungen vorge
II. Anthropologie und Frauenbild der Renaissance
Die Neuzeit setzt ein mit der gewaltigen Ouvertüre der Renaissance. Sie umfaßt in Italien, dem Mutterland der neuen Bewegung, etwa den Zeitraum zwischen 1300 und 1600, also zwischen Petrarcas Geburt (1304) und Giordano Brunos Tod (1600). Ihre erste Phase nennt man den Humanismus, der in Italien bis etwa 1470 datiert, nämlich bis zu der neu einsetzenden Welle des Platonismus; die anschließende Phase gilt als Hochrenaissance. In den anderen europäischen Ländern vollzieht sich das Umdenken weg von den mittelalterlichen Bindungen phasenverschoben; in Deutschland etwa um 100 Jahre und im übrigen durch die Reformation und ihre religiöse Fragestellung auch von vornherein anders akzentuiert. legt.deren aktuelle Bedeutsamkeit es zu überprüfen gilt. „Herkunft bleibt Zukunft“ — ein schmaler Satz Heideggers, der lange durchdacht werden muß. Unter diesem Motto seien die folgenden Grundlinien von bereits gelebten Entscheidungen nachvollzogen.
Der jetzt versuchte „Gang des Geistes durch die Geschichte“, um den Ausdruck Hegels zu gebrauchen. beabsichtigt gerade nicht, Gelehrsamkeit über das Vergangene auszubreiten, aber auch nicht, unmittelbare Widerhaken zum heutigen Verständnis der Geschichte auszulegen. Es geht vielmehr darum, im Gesamt der Geistesgeschichte einige Bestimmungen der Zuordnung von Frau und Mann deutlicher zu kennzeichnen, ihre Veränderungen und Weiterentwicklungen darzustellen, nach Größe und Grenze der jeweiligen Zuordnung zu fragen. Denn es genügt nicht, ein vom „männlichen Denken“ inspiriertes Menschenbild zu benennen oder abzuweisen, wenn nicht gezeigt wird, wo es seinen Ursprung hat, wie gerechtfertigt es ist, warum seine Berechtigung durch einen anderen Anspruch überwunden wird und, wenn man einen Wechsel fordert, wo dieser überhaupt notwendig ist — je genauer, desto weniger Wunschdenken.
Mit dem Humanismus regt sich stürmisch das Bewußtsein einer neuen Zeit, neuer „humanitas“: Im Mittelpunkt der „Studien des Menschen“ steht zunächst der Wunsch, den goldenen Entwurf der Antike „wiedergeboren“ und lichtvoll heraufzuführen. Je länger, desto mehr wird mit dieser Betonung des Menschen als der Mitte der Welt eine Doppelentdeckung verbunden: die Gewinnung des Raumes nach außen und die Gewinnung der Ichstärke nach innen. Beide sind verklammert unter dem Denken der Unendlichkeit; diese ist nicht mehr nur eine theologische Qualität, sie wird nun auch eine Qualität des Kosmos und des menschlichen Geistes. Die Erfindung der Perspektive bedeutet auf der anderen Seite eine Betonung des Auges, das sich die gesehene Welt nunmehr „erschafft“. Mens, der Geist, wird mensura. Maß der Außenwelt. Diese Vorherrschaft der mens drückt sich bis in die Mode hinein aus: Die Stirn als Sitz des Denkens wird betont, die Schläfen werden ausrasiert. Auch die Schulterbetonung durch Keulenärmel erhebt das Haupt zum betontesten Körperteil. Symbolisch damit verbunden ist das Sonnenzeichen als beliebter Ausdruck der Rationalität; die Welt des Tages wird nun messend, rechnend, wägend ausgeleuchtet. Die Selbstbewußtwerdung über die mens geht einher mit dem Gewinnen unbedingter Individualität: Porträts, Biografien. Briefe, das Unverwechselbare wird gesucht. Pico della Mirandola schreibt 1493 eine Rede „Über die Würde des Menschen“, worin Gott Adam in die Mitte der Welt stellt als jenen zweiten Gott, der nun die Welt zu ordnen habe.
Die Anthropologie der Renaissance ist zweifellos auf den Mann hin formuliert: als Träger der Rationalität und selbstbewußten Reflexivität, als den (noch selbstherrlich) Messenden mit dem Ziel der Bändigung und Mechanisierung der Natur, der Unterwerfung der Materie durch Erforschen ihrer Gesetzlichkeit. So begreift sich der „uomo universale“ der Renaissance gerade in der aufbrechenden Faszination rationaler Macht als ein männlicher „zweiter Gott“. Pico läßt den Schöpfer zugunsten Adams sich zurückziehen; Eva erscheint in diesem Paradiesesgespräch nicht. Es stellt sich die Frage, wie die Frau an den neu formulierten „studia humaniora“. an dem neuen „Welt-und Selbstverhältnis“ teil hat. Und in der Tat bildet sich ein neuer Typus des Frauenbildes heraus, der sich von den — fast ausschließlich klösterlich gebundenen — mystischen Frauengestalten des Mittelalters unterscheidet. In der Renaissance zeigt sich auch bei Frauen die Teilhabe an der gewonnenen Rationalität (am Wissen in aller Breite, an der methodischen Systematisierung neuer Erkenntnisse) wie die Teilhabe an der gewonnenen Individualisierung.
So finden sich im italienischen Quattro-und Cinquecento, welche die europäische Erstformulierung des Renaissancedenkens leisteten, verschiedene Möglichkeiten weiblicher Entfaltung. Freilich bleiben sie ohne jede Ausnahme auf die oberste soziale Schicht, die Aristokratinnen oder Patrizierinnen beschränkt; im allgemeinen wird die intensive Ausbildung der Töchter auch nur in Zusammenhang mit derjenigen der Söhne vollzogen.
Diese Sitte wurde später in wohlbestallten Bürger-häusern übernommen, bedeutsam ist in jedem Fall die grundsätzliche Bereitschaft der höheren Schichten. die Töchter in die Welt, insbesondere in die der literarischen Bildung eintreten zu lassen. Freilich endete diese Ausbildung in der Regel entweder mit der Ehe oder mit dem Klostereintritt, den beiden überkommenen Existenzformen der Frau; dennoch gibt es nicht ganz seltene Ausnahmen unverheirateter.selbstbewußt im väterlichen Hause lebender Töchter, die sich ein „Studio“ einrichten und sich in manchen Fällen darin abbilden lassen.
Als markante Frauentypen dieser Zeit bilden sich heraus: die Fürstin als Patronin der Künste und des Wissens, von den geförderten Gelehrten oder Künstlern in Widmungen und Gedichten gepriesen — so Eleonora von Aragon. Herzogin von Ferrara, ihre Schwester Beatrice von Aragon. Königin von Ungarn. Bianca Maria Sforza, die Venezianerin Caterina Cornaro. Königin von Zypern, und schließlich, meistgerühmt. Isabella d’Este Gonzaga von Mantua. Ferner die Politikerin — einmal abgesehen von den eben Genannten, die berüchtigte Caterina de Medici und. über Italien hinausgreifend. Elisabeth I. von England mit ihrem „Schatten“ Maria Stuart. Einen besonders ruhmvollen Fall stellt Caterina Sforza dar. die nach der Ermordung ihres Gatten Girolamo Riario die Herrschaft Forli gegen die Mörder, schließlich auch gegen Cesare Borgia behauptete, dann unterlag, aber den Ruhmestitel einer „virgo“ und der „prima donna d’Italia“ für ihre bewundernden Zeitgenossen behielt. Schließlich bildet sich in der Renaissance ausdrücklich die Frau als Gelehrte heraus. Nicht in Schärfe davon abzusetzen ist ein letzter Typus von Frau in der Renaissance: die Dichterin. Sie gehört weithin zum Typus der Gelehrten, da im humanistischen Fächerkanon auch die Poesie in hoher Achtung stand: Bildung war geradezu ausgewiesen durch die Kenntnis. Deutung und (wesentlich!) Nachahmung der griechisch/lateinischen Dichtung. Doch entwikkeln sich in der generationenlangen Übung auch Frauen, die das Medium der Poesie zu hoher Blüte und. bei aller Klassizität, zu eigenständigem Ausdruck entfalten — im Cinquecento tauchen Frauen-namen von Weltgeltung in der Lyrik auf wie Vittoria Colonna und Gaspara Stampa (die von Rilke übersetzt wurde). Erst in der deutschen Romantik wird Frauendichtung allerersten Ranges erneut auftreten. Einige bedeutende Dichterinnen seien wenigstens namentlich erwähnt: zu Beginn des 15. Jahrhunderts die berühmte Christine de Pisan. gefolgt am Ende des Jahrhunderts von Lucrezia Turnabuoni (der Frau Cosimo de Medicis und Mutter Lorenzos) und Antonia Pulci. In der Hochrenaissance außerdem Veronica Gambara. Veronica Franco. Isabella Morra, Tullia d’Aragona und Tar* quinia MoLza.
Für das Thema des Frauenbildes sei deutlicher herausgegriffen das Beispiel der Gelehrten (mulier docta), weil sich vornehmlich am Begriff des Wissens eine neue Einstellung zum Frausein erweist. An den „studia humanitatis“ beteiligten sich nachweisbar zahlreiche Frauen. Diese Studien umfaßten in der Regel Grammatik (Latein und Griechisch). Rhetorik, Poesie, Historie und Ethik, also als philologisch/ethische Grundlegung einer Humanisierung des Menschen. Tatsächlich lassen sich mehrere Generationen von Humanistinnen unterscheiden, welche unterschiedslos zu den Männern in diese Welt der Theorie eintreten. Die Namen verschiedener Humanistinnen sind daher ausgezeichnet durch die Kenntnis der alten Sprachen und der großen Literatur sowie durch das selbständige oder „nachahmende“ Arbeiten auf dem Gebiet der genannten Künste.
Als Beispiel sei hier Laura Cereta herausgegriffen. Prototypisch wird Laura seit dem Alter von rund zehn Jahren von ihrem Vater in klassischen Studien unterrichtet. Die begabte Erstgeborene einer vornehmen Familie in Brescia empfand sich immer als die meist Geliebte, und ihre Wissensfortschritte sind wohl auch von dieser bevorzugten Atmosphäre des Lernens nicht zu trennen. Unterrichtsgegenstände waren Latein, später Griechisch und dann erstaunlicherweise die Mathematik, die im Sinne der Zeit stark mit Astronomie und Astrologie verknüpft war. Mehrere Briefe bezeichnen es als ihren tief empfundenen Wunsch, die Abstände von Planeten untereinander zu messen — eine Teilhabe am Zeitgeist des Messens, Wägens und Berechnens. Mit dem starken Interesse an der Moral-philosophie verbindet sich bei Laura ein Nachdenken über die persönliche Unsterblichkeit: Ausdruck des erwachten individuellen Lebensgefühls. In der Korrespondenz entwirft sie ihr eigenes Portrait. oft unter dem Zeichen der „virtus". besonders im Unterschied zur üblichen leeren Gefallsucht der Frauen. Statt den Reizen der Kleopatra zieht Laura die Integrität der Rebecca vor. statt der Schönheit Helenas die Bescheidenheit Rachels (Brief 54). Zugleich beginnt sie die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Gelehrsamkeit in fünf Briefen zu stellen. Gegenüber den männlichen Partnern betont sie die große Zahl gelehrter Frauen in der Geschichte bis zur Gegenwart. Wenn darunter einzelne Frauen als „besondere Wunder“ bezeichnet werden, so bemerkt sie scharfsichtig darin die Verfehlung der richtigen Gesamteinschätzung fraulicher Begabung. Die unbestreitbar geringere Anzahl berühmter Frauen erklärt sie mit der mangelhaften Mädchenerziehung, die sich auf die Pflege des Körpers, nicht des Geistes richte. Dennoch gibt es nach ihrer Ansicht keinen Unterschied zwischen Frau und Mann, falls sich eine Frau mit Eifer den Studien hingibt.
Ein Schreiben vom November 1487 trägt den herausfordernden Titel „Gegen die Frauen, welche die gelehrten Frauen herabsetzen.“ In scharfem Ton gehalten, geißelt der Brief den Neid der Geschlechtsgenossinnen auf die Bildung ihrer gelehrten Schwestern — ein interessantes Zeugnis für die oft zu beobachtende Herabsetzung von Frauen durch Frauen selbst, sofern ein bestimmter Maßstab von „Weiblichkeit“ der genormten Art verlassen wird. Bezeichnenderweise gibt Laura mit 19 Jahren das Schreiben wie auch offensichtlich das Studium auf (eine knapp einjährige Ehe hatte ihre Arbeit niemals wesentlich unterbrochen, da sie häufig die Nacht benutzte, um zu schreiben, nachdem der Haushalt erledigt war). Dieser Bruch mit ihrem intellektuellen Drang entspringt drei Gründen: Zum einen dem Rat ihres Seelenführers, der ihr die Vergänglichkeit des Körpers und der Wissenschaften vorhielt — ein Gedanke, für den sie seit dem raschen Tod ihres Mannes empfänglich war. Zum anderen stirbt ihr Vater, der ihre Studien wohl als einziger rückhaltlos gefördert hatte. Zum dritten scheint sie einem Drang zum aktiven sozialen Leben und zu religiöser Betrachtung nachgegeben zu haben. Als sie mit 30 Jahren stirbt, ist ihre besondere wissenschaftliche Begabung bereits eingeebnet (es sei nicht zu vergessen, daß sie die einzige Invektive aus Frauenhand in der Renaissance verfaßt hat).
Die drei genannten Gründe zum Rückzug aus der intellektuellen Welt sind nicht untypisch: gelehrte Frauen bedurften im allgemeinen der Stütze eines Seelenführers und der Familie, konnten keine autonome Existenz im modernen Sinne führen; außerdem wird die moralische Frage nach der rechten Lebensführung so vorrangig, daß sie die Frage nach dem „Wahren“ verdrängt. Deutlich wird bei Laura die Ethik bereits zur Bändigung ihrer gefühlsmäßig starken Individualität eingesetzt, so, wenn Mäßigung und Disziplin gepriesen werden — und dies vor dem Hintergrund von Lauras erwachtem Selbstbewußtsein. die von sich sagen konnte, sie werde vielleicht noch höher steigen als der Berg Ida (Brief 70). Im Verlaufe ihrer Entwicklung freilich koppelt sich dieses Selbstbewußtsein ab von der früheren Ruhmsucht; in einem ihrer letzten Briefe vom November 1487 nennt sie sich hungrig nach Studium und Literatur, aber nicht des Ruhmes wegen (Brief 73). Dennoch: Gerade die Wendung zur Ethik und zur Religion entspringt einem tiefen Sinnbedürfnis der Renaissance, dem Laura sich offenbar als Frau noch intensiver anschließt.
Insgesamt also repräsentiert Laura den Aufbruch einer Frau in die Welt des Zeitgeistes und des faszinierenden epochalen Neudenkens, einen Aufbruch.der sich aber durch die Ungunst der Umwelt und wohl auch durch die — vom Studium ausgelösten — übermächtig werdenden Existenzfragen zurücknimmt. Die Existenzproblematik wird wichtiger als das Wissen — ohne Zweifel eine legitime Möglichkeit. Offen bleibt bereits in der Renaissance, ob beides gegeneinander hätte ausgespielt werden müssen, wie es im Fall dieser Humanistin zunächst von außen und dann von ihr selbst her geschah.
Als Fazit dieses humanistischen weiblichen Versuches läßt sich festhalten: In der Theorie ist der Anspruch bereits gewonnen. daß Frauen die gleiche Kapazität des „verum“ besitzen, falls die Lebens-umstände ihr das Studium ermöglichen. Zugleich zeichnet sich eine Verschiedenheit ab: Die Verwirklichung des „bonum“ gilt bei Männern und Frauen als unterschiedlich, da eine unterschiedliche Wesenserfüllung notwendig ist. So gibt es frauen-spezifische „virtutes", wie zum Beispiel das Gut der Keuschheit oder der Demut und der Liebe, die Geltung auch in den Wissenschaften beanspruchen, wie Laura Cereta es sich am Vorbild Rachels selbst vor Augen führt. In der Lebenspraxis also bleiben besondere Verpflichtungen der Frau auf eine spezifische Ethik. Die intellektuelle oder geistige Ebenbürtigkeit mit dem Mann aber wird dagegen schon beansprucht.
Eine letzte grundlegende Möglichkeit wird außerdem auf dem Gebiet der „mulier poeta“ gewonnen:
In der Dichtung (in geringerem Maße auch in der Malerei) betätigen sich Frauen auf dem Gebiet des „pulchrum": hier wird gerade im 16. Jahrhundert die individuelle Kapazität für das Schöne geradezu erfordert. Das eigene Ingenium, über das Frau wie Mann verfügen, wird zum Einblick in die Welt des Göttlichen, das sich im Schönen ausdrückt, herausgefordert. Gerade dieses Ingenium überschreitet die Geschlechtergrenzen, ist eigentlich Anteil des Göttlichen im Menschen: Von hier aus lassen sich bei den genannten Dichterinnen der Renaissance, die ja bis zu Weltrang aufsteigen, keine Beschränkungen des individuellen Tones, keine ethische Rücknahme unter frauenspezifischen Vorschriften feststellen: Wenn Vittoria Colonna (1490— 1547) die eheliche Liebe besingt, freilich eine insgeheim unerfüllte, so wird Gaspara Stampa (1520/25 — 1554) eine außereheliche Leidenschaft darstellen. Von einem höher gestellten Mann nach drei Jahren intensiver Bindung verlassen, wird sie alle Zwischentöne eines hoffnungslosen Zustandes entfalten. Gerade weil sie sich der Schwäche ihrer einseitigen Liebe bewußt ist, gelangt sie zu einer unerhörten Steigerung des Ausdrucks und zu einer beispiellosen Feinfühligkeit für ihre eigene seelische Ambivalenz — Töne, die nicht mehr unter „Frauenliteratur“ als Genre einzuordnen sind, sondern geschlechtsspezifische Topoi wie Ethik hinter sich gelassen haben. Hier ist das eigene Ich erwacht, mehr noch, es ist ohne Hinderungen zu Wort gebracht. Freilich bedarf es dazu einer aristokratischen Zuhörerschaft. die solche Töne wünscht und herausfordert. Wenn nördlich der Alpen erst in der Romantik solches gelingt, so wird deutlich, daß im 16. Jahrhundert fast nur in Italien eine solche Ichhaftigkeit auch der Frau bereits möglich war. Anerkennung eines gleichen Intellektes also, unterschiedene moralisch-praktische Verwirklichung des Wesens von Mann und Frau, übergeschlechtliche Betonung des eigenen Ich auf dem Gebiet des Schönen: Im Mutterland der Renaissance, in Italien, sind diese drei Positionen zum Thema Frau gewonnen.
III. Die Rolle der Frau zwischen Renaissance und Neuzeit
Was bisher behandelt wurde, sind tatsächliche Ausgestaltungen fraulicher Lebensmöglichkeit, noch nicht aber eine ausdrückliche Theorie dieser Möglichkeit. Zur „Anthropologie der Frau“ gehört jedoch vor allem der Reflex auf das wirklich Vorfindliehe, die Frage nach dem „Wesentlichen“ der Frau. Die Formulierung dieser Frage setzt für die Neuzeit ein mit Christine de Pisan (1364—ca. 1430). Sie löste nichts Geringeres aus als die berühmte „Querelle des Femmes“ vom 15. bis 18. Jahrhundert, die — wie die Bezeichnung verrät — zunächst vor allem in Frankreich ausgetragen wurde, dann aber auf Deutschland und Italien Übergriff. Diese Querelle zwischen Frauenfreunden und -feinden hat zum Gegenstand die Frage nach dem Wesen der Frau in Weiterführung der scholastischen, biblisch gestützten Argumentation, aber unter Einbeziehung antiker Quellen, neuer Bibelauslegungen (Entschärfung des Eva-Bildes!), rationaler, auch naturrechtlicher Bestimmungen. Die Stellungnahmen von Männern wie von Frauen schwanken dabei zwischen der These, daß Frauen die besseren Menschen seien und der gehässigen Anfrage, „Ob die Weiber Menschen seyn oder nicht?“ (1595, deutsch 1618). Dazwischen liegen eine Fülle anderer, auch ausgewogenerer Behauptungen, die sich mehr um ein Gleichheits-oder Polaritätsmodell gruppieren und weniger auf die Frage nach Unter-oder Überlegenheit abzielen.
Christine de Pisan. von ihren Eltern aus Venedig an den königlichen Hof nach Paris gebracht, von ihrem Vater ausgebildet, durch den Ehemann in den unmittelbaren kulturellen Umkreis des Königshofes eingedrungen, wird nach dem Tode von Vater und Mann ihre Familie ernähren müssen; sie gilt als erste Berufsautorin Frankreichs. Theoretisch am anspruchsvollsten formuliert sie in der „Cite des Dames“ von 1405. aber auch in späteren, zum Teil autobiografischen Schriften, eine Anthropologie der Frau. Im übrigen läßt sie sich gerade in diesem Manuskript bereits selbstbewußt als Intellektuelle in ihrem Studio voller Bücher mit allen Ausstattungen und Hinweisen auf ihren gelehrten Status abbilden; ihr Selbstbewußtsein drückt sich auch in der häufigen Wendung „je, Christine“ aus. 350 Jahre vor Kant wird Christine eine Stadt mit Hilfe der Vernunft errichten und sie ausschließlich für Frauen zugänglich machen. Wichtige Elemente des immer noch nicht hinreichend interpretierten Werkes sind die Exempla. beispielhafte Geschichten über Frauen, die sich später verschiedentlich in den sogenannten Frauenkatalogen wiederfinden. Es geht dabei um die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen, insbesondere aber um ihre Kompetenz bei der Wiederlegung angeblich weiblicher Schwächen und Fehler. Christine scheut sich nicht, bereits vorhandene Geschichten umzuinterpretieren, indem sie einen anderen Kontext schafft und insbesondere die Bewertung von Verhaltensweisen weitgehend ändert.
Christine kann als eine der ersten Entdeckerinnen des historischen Kontextes gelten. Um dies deutlicher zu konturieren, ein Hinweis auf ihre Behandlung der Frage: „Ob es Gott jemals gefallen habe, den weiblichen Verstand durch die Erhabenheit der Wissenschaften zu adeln; ferner die Antwort, die Frau Vernunft daraufhin gibt“ (Kap. XXVII). Hier gelingen vier theoretisch bemerkenswerte Durchblicke: Frau Raison beklagt erstens die historische Vernachlässigung der Frauenbildung, zweitens arbeitet sie mit Kompensation (wenn schon Frauen körperlich unterlegen sind, so kompensieren sie es durch Geist, Tugenden, Religion), drittens benennt sie die Beschränkung weiblicher Lebenserfahrung auf das Haus (Christine erfuhr selbst eine Zurücksetzung durch ihre Mutter in ihrem Studiendrang), viertens folgert sie bei gleichen Bedingungen eine ebenbürtige Intelligenz von Frau und Mann. Die Differenz der Geschlechter sieht sie am intensivsten in der Biologie und dort freilich nicht annäherbar; dennoch hat diese Differenz die deutlichste Kompensation durch die eigentlich geistigen Werte der Frau erfahren. Wo diese Kompensation nicht stattfindet, werden geschichtliche und soziologische Gründe angenommen, nicht aber Wesensdifferenz. Nicht die Frage nach dem Intellekt also, die um diese Zeit bereits egalitäre Antworten findet, sondern vielmehr die Wesensfrage als Frage nach dem „Guten“ von Mann und Frau führt zu einer Unterscheidung. die relativ festgeschrieben durch die Jahrhunderte tradiert wird. Diese Unterscheidung wird teils empirisch (biologisch) vollzogen oder stützt sich auf die biologischen Fakten; wichtiger aber ist. daß diese Vorgabe in der Regel ontologisch gedeutet wird oder durch die Metaphysik des Wesens der Frau bereits a priori feststeht und durch die Biologie gleichsam im nachhinein bestätigt wird (Frau als Empfangende. Passive. Materielle, Sinnliche . . .). Über eine ontologisch-metaphysische Anthropologie wirkt die Religion auch in der Neuzeit: Religiöse Deutungen prägen weiterhin ein Menschenbild, das sich einer historisierenden und gesellschaftlichen Betrachtungsweise noch in weiten Teilen verschließt oder sie nur durch den Filter einer theologischen Metaphorik zur Kenntnis nimmt.
Die Anthropologie der Geschlechterfrage erfordert also erneut auch den Blick auf die Theologie oder Theomorphie (Gottähnlichkeit) des Menschen. Der Verlauf der in ihrer Bedeutung ideengeschichtlich nicht zu unterschätzenden theologischen Deutungsgeschichte des Frauenbildes bietet auch wichtige Anknüpfungspunkte für die zeitgenössischen Versuche einer feministischen Theologie.
Es ist deswegen eine Leistung der frühen Neuzeit, die Adam-Eva-Deutung neu zu bewerten und eine neue Theologie mit dem Ziel der Entlastung Evas zu entwickeln. Der erste bekannte Versuch dieser Art verdankt sich der italienischen Humanistin Isotta Nogarola mit ihrem Essay „Über die gleiche oder ungleiche Sünde Evas und Adams“ von 1451. In diesem Essay verfaßt sie einen Dialog, dessen weiblichen Part sie selbst vertritt. Das Argumentationsschema entlastet sowohl Eva. wie es sie andererseits zugleich in ihrer untergeordneten Stellung hält. Isotta geht nämlich zunächst von der Prämisse aus, Adam wäre das vollkommenere Lebewesen, Eva das unvollkommene, „ihrer Natur nach schwach, unwissend, unbeständig“. Gerade deswegen aber sei ihre Handlung weit weniger sündhaft, weil unreflektiert, unbeabsichtigt, in gewissem Sinne von ihrer gottgewollten Natur geleitet. Auf der Grundlage einer solchen Argumentation wird die Diskussion letztlich offen enden: Der männliche Dialogpartner Ludovicus weicht der Schlußfolgerung aus und vertritt die gewohnte Position: größere Schuld und größere Schwäche; Isotta bleibt bei ihrer Schlußfolgerung: kleinere Schuld, weil größere Schwäche.
Vielleicht läßt sich sagen, daß Isotta zum ersten Mal ein Verfahren anwendet, das in der „Querelle“ später zu einem scharfen Argumentieren zugeschliffen wird: die Voraussetzung des Gegners zu teilen und gerade daraus mit Hilfe der beiderseits anerkannten Logik Unterschiedliches zu folgern. Damit werden weder die heiligen Texte noch die Instrumentarien ihrer Auslegung angegriffen: beides bleibt bestehen und wird nur immanent, geleitet von einer anderen Zielrichtung, anders akzentuiert
IV. Aspekte des Frauenbildes in Italien, Frankreich und Deutschland
Im 16. Jahrhundert verschärft sich nun die Frauenfrage. Deutschland beginnt in die Diskussion einzutreten mit der Verteidigungsschrift des Agrippa von Nettesheim 1529 und seiner „Declamatio de nobilitäte et praecellentia Foeminei sexus“. Dem Spanier und „Converso“ Juan Luis Vives verdankt sich eine — vor dem Hintergrund der Zeit frauenfreundliche — Schrift zur Erziehung der (adeligen) Frau, worin ihr Bildung in ziemlich umgreifendem Maße eingeräumt, ethische Besonderung aber nach wie vor zugewiesen wird. Zugleich bringt das 16. Jahrhundert aber die heftigsten und terminologisch schärfsten Widersprüche zur Anthropologie der Frau hervor: die Inferioritätsthese wird gerade am Ende des Jahrhunderts in Deutschland wie in Italien am heftigsten dargestellt Zeitgleich ist zwischen 1590 und 1630 übrigens der Höhepunkt der Hexenverfolgung im europäischen Maßstab zu verzeichnen. Auf deutscher Seite erscheint 1595 in Latein die 1618 auch ins Deutsche übersetzte anonyme Schrift „Ob die Weiber Menschen seyn oder nicht?“ mit der geradezu aberwitzigen Behauptung, daß den Frauen nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch das Erlöstsein durch Christus abzusprechen sei. Der Dialog stützt sich auf das gesamte vorhandene Argumentationsarsenal von der natürlichen Verfehltheit der Frau, sei es biologisch, psychisch oder geistig. Das „lustig Gespräch“ ist von einer so durchgängigen Absurdität, daß die Forschung mittlerweile zu der Meinung gelangt ist.der Autor habe, wie im Vorwort erkenntlich, überhaupt die Unsinnigkeit der ganzen Fragestellung durch seine Übertreibungen bloßstellen wollen. Da der Anonymus nun zweifelsfrei als Valerius Acidalius (1567 — 1595) identifiziert wurde und sein Lebenslauf — deutscher Latinist mit Ausbildung in Italien — einen an sich klugen Kopf vorstellt, ist der These wohl zuzustimmen, daß er mit der „Disputatio“ eine Verunglimpfung auch der protestantischen Diskutierweise seiner Zeit habe verfassen wollen. Der Einfluß der Schrift geht jedoch nicht auf diese subtile Absicht zurück, vielmehr erweist sich ihre Argumentation als eine auf den naiven Leser unmittelbar wirkende Quelle diabolischer Argumente.
Ende des 16. Jahrhunderts begibt sich auch Italien, insbesondere Venedig, in die Arena solcher An-würfe. Zwei Schriften maskulinen Ursprungs verstärken die Aussage über die dämonische Natur der Frau. Giuseppe Passi mit seiner Schrift „I donneschi diffetti“ (Die Fehler der Frauen) gibt eine Blütenlese böswilliger Zitate von den Kirchenvätern bis zu seiner Gegenwart, worin jeweils bestimmte Laster mit einem historischen Beispiel und einer biblischen Geschichte gekoppelt werden. Die Beispiele sind exklusiv weiblich — die Kur vom Laster wird durch den Mann besorgt, der als Träger der Tugend erscheint. Offensichtliches Ziel ist es. eine bereits theoretisch behauptete und zuweilen wirklich in Anspruch genommene Unabhängigkeit der Frau als unethisch zu erklären und die Abhängigkeit vom Mann als das einzige, auch religiös und historisch legitimierte Mittel der Heilung zu preisen. Sein Zeitgenosse. Abate Tondi, verfaßte die noch gehässigere Schrift „la femina origine d’ogni male“ (Die Frau. Ursprung jeden Übels). Die Frau tut nicht das Böse, sie ist das Böse. Die Polaritätsthese der Geschlechter läßt hier nicht nur die ein- fache Aufteilung von Gut und Böse zu. Sie zwingt auch zur Aufspaltung der Polarität: Der Mann ergänzt sich nicht an der Frau, er hat sie schlechthin zu vermeiden.
Um die Jahrhundertwende werden in Venedig drei Frauen (Lucretia Marinella, Moderata Fonte und Arcangela Tarabotti) auf diese Tiefschläge unmittelbar reagieren und ihrerseits nun die Superioritätsthese der Frau über den Mann in Anspruch nehmen. Man mag diese Antwort einseitig finden — tatsächlich ist sie nichts als die leidenschaftliche Gegenwehr gegen eine Betrachtung der Frau als ausdrücklich inferiores Wesen. Ohne diese Behauptung weiblicher Superiorität ist geistesgeschichtlich nicht zum Thema der Egalität vorzudringen; und erst nach dem „venezianischen Dreigestirn“ wird die Ebene erreicht, auf der dann in Frankreich Marie le Jars de Gournay zum ersten Mal ausführlich die These von der unbedingten Gleichheit und gleichen Würde der Geschlechter aufstellt.
Letztlich wird in den Schriften der Venezianerinnen der Mann überhaupt finalisiert auf die Frau hin begriffen: Gott habe ihn nur geschaffen, „um aus seinem Körper die Frau zu schaffen“ (Kap. 2). Lucretia Marinella wird metaphysisch die Göttlichkeit der Frau unmittelbar in ihrer Schönheit ausgedrückt finden — der neuplatonische Gedanke von der Epiphanie Gottes in allem Schönen wird nun in einem ungeheuren Schritt ausdrücklich auf die Schönheit des Leiblichen angewendet. Nicht zuletzt ist die Frau gerade in ihrem ethischen Verhalten, also in bezug auf das bonum, unvergleichlich viel näher am Willen Gottes als der Mann. Die Frage des verum wird mit einem Katalog gelehrter Frauen, die zugleich tugendhaft waren, beantwortet. Eine bezeichnende Eigentümlichkeit Marinellas besteht darin, daß sie ihren Frauen mehrfach bis dahin für männlich gehaltene Qualitäten wie Tapferkeit. kriegerische Selbstbehauptung und ähnliches zuschreibt — ein Zeichen dafür, daß sie aus dem Polaritätsmodell auszutreten strebt und in der Frau den besseren Menschen, gleichsam geschlechtsübergreifend. zu kennzeichnen versucht. Die unerwartete Schlußpointe Marineilas liegt in der neuen Geschichtswertung: Die Abwesenheit von Frauen, sei es in der geistigen oder politischen Geschichte, die bisher als Beweis für die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechtes galt, wird neu interpretiert: Die Männer hätten aus Furcht vor ihrem Herrschaftsverlust das eigentlich potentere Geschlecht durch Zwang zum Schweigen und zur Abwesenheit gebracht. „Aber wenn die Frauen, wie ich hoffe, aus ihrem langen Schlaf erwachen, in den sie hinabgedrückt sind, so werden diese undankbaren und hochmütigen Männer zahm und demütig.“ Der einzige Nachteil des weiblichen Geschlechtes bleibt die leibliche Konstitution, „zarter und weniger kräftig als das männliche Geschlecht“, was aber durch die weit gemäßigtere Säftemischung (die alte Lehre der Temperamente!) durchaus kompensiert wird. Die physische Anlage zur Mäßigung führt auf geradem Wege zur ethischen Vorrangstellung der Frau vor dem hitzigen und triebhaften Temperament der Männer.
Die Diskussion wird also theologisch, metaphysisch. biologisch, medizinisch und geschichtlich geführt — wobei Marinella nur die Topoi der entgegengesetzten Argumente ausbreitet. Die scheinbare Überzogenheit Marinelias wird durchaus relativiert, wenn man den Hintergrund dieser in vollem Ernst vorgetragenen Schmähschriften um die Wende von 1600 in Rechnung stellt
Als zweite glänzende Theoretikerin muß Moderata Fonte (1555— 1592) mit ihrem posthumen Werk „II merito delle Donne“ gesehen werden ) Mit neun Jahren in einem venezianischen Kloster erzogen, erfährt sie eine recht gute Bildung, die sie kraft ihres ausnehmenden Gedächtnisses zum Teil aus Gehörtem aufbaut. Anders als Marinella wird sie heiraten und bei der Geburt des vierten Kindes 1592 sterben. Reizvoll ist ihr „Verdienst der Frauen“ vor allem wegen der gekonnten Dialog-form (die sich von Marineilas Traktat lebhaft unterscheidet). aber auch wegen des ungewohnt satirischen Tones und Inhaltes der fiktiven Gespräche. Äußerst beeindruckend die Gesprächspartnerinnen. die in ihrer Siebenzahl eine Ärt Prisma weiblicher Lebenserfahrung vorstellen. Eine alte Witwe, eine junge Witwe, zwei Ehefrauen mit unterschiedlicher Glückserfahrung, eine junge, hoffnungsvolle Braut, zwei junge Mädchen, die sich noch nicht zur Ehe entschieden haben: In ihren Erfahrungen kommt ein reiches, unterschiedlich getöntes Bild von Frausein zum Vorschein — immer in der Spiegelung zum Thema Mannsein. Die älteste Frau. Corinna, spielt dabei die Rolle des advocatus diaboli: Ohne den Haupttenor der Gespräche zu bestimmen, bleibt sie mit ihren Einwürfen skeptisch. Zuweilen erreicht Moderata kraft ihrer Lebensnähe und reizvollen unterschiedlichen Erfahrungsebenen eine ungewöhnlich satirische Note. Es wäre der Mühe wert, sie einmal mit Jonathan Swift zu vergleichen. Die Gespräche enden mit einer Frage an eine Teilnehmerin, Leonora: Sie solle sich doch noch einmal, trotz aller erwiesenen Untreue und Unstetigkeit der Männer, überlegen, ob sie nicht wieder heiraten wolle. Leonora antwortet: „Vielleicht . .
Die offene Form der Darstellung, die nicht eigentlich wie bei Marinella zu einem ausgesprochenen Schluß kommt, läßt die Gespräche als unerhört vielschichtiges Dokument der Selbsteinschätzung von Frauen erscheinen. Der differenzierte Ton, mit dem auch positive Eigenschaften der Männer, nicht unwidersprochen von anderen Teilnehmerinnen, vorgestellt werden, verhindert ein plattes SchwarzWeiß-Bild der Geschlechter. Dieses ungewöhnliche Dokument einer Superiorität der Frauen bedarf noch tieferer Deutung, um gerade daran zu kennzeichnen. daß die Rechtfertigung des Frauseins durch Frauen nicht einfach nur Vorurteile mit anderen Vorzeichen versieht.
Frankreich gebührt das Verdienst, über die so lange bloß hin-und hergeschobene Argumentation und Umpolung der Vorurteile hinaus zu einer erstmaligen Erklärung der Gleichheit der Geschlechter gekommen zu sein. Bedeutsamerweise ist es eine Frau, welcher der Titel „De l’galit des hommes et des femmes“ (1622) zu verdanken ist: Marie le Jars de Gournay (1565 — 1645). Wenn sie bis zum heutigen Tage in den Lexika auftritt, dann freilich nicht um dieser Leistung willen, sondern als Herausgeberin, wenn nicht Entdeckerin des Philosophen Michel Montaigne und seiner skeptischen Essais. 1588 lernte die 23jährige Autodidaktin den 55jährigen in Paris kennen, lud ihn mehrfach auf ihr elterliches Schloß Gournay in der Picardie ein und trat nicht nur in ein dauerndes wissenschaftliches Gespräch mit ihm ein, sondern veröffentlichte Montaignes Werk nach seinem Tode. Biographisch erscheint hier ein häufig bekannter Zug: Eine unverheiratete, intelligente, aber nicht ausgebildete Frau und Adelige entscheidet sich aufgrund ihrer Veranlagung zu einem selbständigen Schriftstellerleben.
Ein anderes ihrer Werke, „Le grief des dames“ von 1626, „Die Klage der Frauen“, entwirft ein Zeitgemälde weiblicher Einschränkungen. Der Frau sei verboten: Freiheit, Handeln. Urteil, wahre Rede. Autorität; in der öffentlichen Diskussion sei sie gering geachtet, was sich auch auf die schriftlichen Arbeiten einer Frau ausdehnt. Von Christine de Pisan geschult, spricht Marie vom „Arrest am Spinnroggen“, der nur durch eine allgemeine, alle Klassen umfassende Frauenbildung aufzuheben sei. Ein provozierender Text liegt mit „Des vertus vicieuses" (Über die lasterhaften Tugenden) vor. worin sie eine scharfe Kritik ihres gesellschaftlichen Standes, aber auch der Kirche betreibt. Was als Tugend erscheine, sei bei genauem Hinsehen nur eine Verkleidung eines moralischen Abgrundes — ohne daß sich das Gewissen dieses Zwiespaltes bewußt sei. Im Gegenteil: die äußere Fassade höfischer Lebensart sei leider das einzige Kriterium der Beurteilung eines Menschen.
In der Hauptschrift von 1622 über die Gleichheit von Mann und Frau erhebt sie eingangs die These, daß die bekannte Diskussion um den Vorzug eines Geschlechtes die eigentliche Problematik nur verdunkle. Ursache für eine solche Behauptung des Vorzugs seien die männlichen Vorurteile und die ungeeignete Erziehung der Frauen. Gegenbeweise liefern: Gott, die Kirchenväter und andere große Männer (Platon, Sokrates, bis zu den Humanisten — Marie le Jars scheint hier bewußt oder unbewußt selektiv zu lesen!). Der Rückgriff auf diese Autoritäten wird nun durch systematische Argumentation vertieft: Prinzipiell sei über ein neues Erziehungsmodell sehr vieles zu ändern; biologisch beweise der Unterschied der Körperkraft keine ethische Differenz, da die Tiere noch stärker seien als die Männer; theologisch liest sich der erste Genesistext eindeutig von derselben Ehre und Würde der beiden Geschlechter her; die Prophetie erging ebenso an die Frauen wie die Mäner, selbst das Richteramt in Israel ist für Frauen offen, desgleichen die politische Lenkung des Volkes. Paulus habe den Frauen nur aus Furcht vor ihrer Überlegenheit das Sprechen verboten. Was sich an die Frage nach dem Amt anschließt, die seit den Kirchenvätern für Frauen negativ beantwortet worden ist, läßt sich nur als ein pragmatisches Instrument zur Herstellung des innerkirchlichen Friedens zwischen den Geschlechtern verstehen: Alle Verbote der Sakramentenspendung sind nicht vom Wesen der Frau her formuliert, sondern schlechthin friedens-sichernd. Aus diesem Grunde sind nun alle überkommenen Argumente unter dem Gebot der Gegenwart neu zu hinterfragen: Die Frau verdient die Anerkennung ihres Zugangs zur Bildung mit einer gewissen „Chancengleichheit“, zu theologischen Aufgaben wie Prophetie, selbst zu politischen Aufgaben, die sie übrigens mit nichtbiblischen Beispielen wie Marguerite de Navarre stützt, schließlich Zutritt zu Autorität und Amt auch in der Kirche. Die Apostolin Maria Magdalena besitzt bereits „galit" mit den anderen Aposteln; von daher ist die Sakramentenspendung, abgesehen von der Lehrerlaubnis — mit anderen Worten: das kirchliche Amt — der Frau unterschiedslos zu öffnen.
In einem letzten bedeutenden theoretischen Aus-griff fragt sie — in der Folgerung richtig — nach dem zugrundeliegenden Gottesbild. Herausfordernd und witzig spricht sie von der Unterstellung. Gott sei wohl mit einem Bart ausgestattet, weil er damit die Ähnlichkeit zu den Männern deutlicher nahelege. Statt dessen sei Gott weder männlich noch weiblich; anthropomorphe Bilder würden nur zur Unterdrückung und zu einer Vergegenständlichung Gottes führen. Das Ebenbild, das der Mensch in beiden Geschlechtern vorstellt, müsse auf beide hin gelesen werden, ohne das Urbild einseitig auf den Mann hin festzulegen. Wo dies geschehe, schätzten sich die Männer letztlich blasphemisch höher als Gott, der doch auch Urbild der Frau sei Merkwürdigerweise nimmt sie dann jedoch am Ende eine konkrete Unterordnung der Frau in Kauf; Um des Friedens willen solle sich die Frau in der Ehe unterwerfen, freilich unbeschadet ihrer grundsätzlich gleichen Würde.
In Marie le Jars ist die erste Vertreterin einer — biblisch begründeten — Gleichheit im Sinne der gleichen Würde der Geschlechter anzutreffen. Mit großer innerer Folgerichtigkeit bindet sie theologische, soziologische, biologische, geschichtliche und schließlich kirchliche Argumente zu einer einheitlichen Argumentation zusammen und scheut vor praktischen Folgerungen der Gleichheit (siehe die kirchliche Amtsfrage) nicht zurück. Ihre Thesen lesen sich mit heutigen Augen mit einer unerwarteten Aktualität, die sich in den anderen Schriften der Zeit weit weniger deutlich herstellt.
Im Unterschied zu der französischen Diskussion, die in die Erklärung der Frauenrechte 1791 mündet, zeigt die deutsche Diskussion im 17. Jahrhundert noch eine deutliche Verteidigungsstellung. Vorurteile gegenüber Frauen werden noch weithin defensiv und eher schüchtern beantwortet. Am Beispiel einer außerordentlich berühmten deutschsprachigen Gelehrten. Anna Maria von Schurmann (1607 — 1678), sei eine Ambivalenz in der Frauenfrage und in der eigenen Selbsteinschätzung deutlich gemacht.
Wesentlich ist ihre berühmte „Dissertatio" über das Frauenstudium von 1641, worin eine gewisse Unentschiedenheit in der These neben einer formal ausdrücklich scholastischen und abstrakten Beweisführung auffällt. In vierzehn Argumenten plädiert sie für das Frauenstudium. Drei Teile in der Gedankenführung lassen sich dabei unterscheiden: Die Begründung für den Wert des Frauenstudiums, das für alle Künste und Wissenschaften, auch die Politik, geöffnet werden solle — entwertet wird der Gedanke jedoch durch die Beschränkung dieser Forderung auf die Frau des gehobenen Standes, die ihrer vielen Muße wegen und um den daraus entstehenden Verführungen zu entrinnen, an das geistige Arbeiten zu gewöhnen sei! Der zweite Teil verhandelt die übergreifende, nicht geschlechtliche Charakteristik der Wissenschaften (die gleiche Kapazität des „Wahren“ in männlicher wie weiblicher Intelligenz). Der dritte Teil widerlegt mögliche Gegenargumente, wobei die Autorin freilich durchaus „bescheiden“ und im Rahmen gewohnter, auch frauenfeindlicher Theorien bleibt (später immer wieder als „Beweis“ der Unterlegenheit des weiblichen Geschlechtes, die von ihr angeblich selbst zugegeben sei, verwendet). Sie verbindet hier das theoretisch Erreichte in der Praxis mit einer Rücknahme, ja dem Verzicht der Frauen, sofern sie sich doch primär der Familie zu widmen haben. Bildung wird damit eine Ausnahme und letztlich ein eher moralisches Postulat, um die ungeübte Frau von falschen Gedanken abzuhalten. Durchgängig ist ein großer Ansatz zu erkennen, der freilich vor dem eigenen Mut weit mehr zurückscheut, als es bei Marie le Jars der Fall war. Ihre eigene soziale Ausnahmesituation versucht sie durch Topoi der Bescheidenheit in den akzeptablen Rahmen zu setzen; eine Verallgemeinerung ihrer Situation hält sie nicht für möglich. Offensichtlich war im deutschsprachigen Raum die Diskussion der „Gleichheit“ in Theorie und in Praxis noch weit weniger möglich als in Frankreich. Selbst im Stil, dem scholastischen Traktat, unterscheidet sich Anna Maria von Schur-mann deutlich von der italienischen und französischen Zeitgenossin.
Für das 17. Jahrhundert sind in Deutschland noch fast durchgängig Schriften zur Beschränkung „des Frauenzimmers“ auf Haus und Familie als dem eigentlichen Gegenstand weiblichen Daseins die Regel. Zwei Ausnahmen seien eigens erwähnt, die freilich in der Folge auch kräftigen Widerspruch erfuhren: Johann Frauenlob „Die Lobwürdige Gesellschaft Der Gelehrten Weiber“ (1631/1633.der Autor blieb anonym) und Wilhelm Ignatius Schütz: „Ehren-Preiß Deß Hochlöblichen Frauen-Zimmers“ von 1663. Besonders Schütz, katholischer Rechtsgelehrter aus Speyer, entwickelt in einer reizvollen barocken Sprache ausschließliches Lob der Frauen, mit allen Konsequenzen für Bildung, Beruf. Wirken in der Öffentlichkeit. Recht und Ansehen in der Familie und schließlich verbunden mit einer theologischen Aufwertung. Um zum Bildungsverständnis von Schütz ein anschauliches Beispiel zu geben und da ja immer noch die These vom geringen oder überhaupt nicht vorhandenen „Verstand deß Weibs“ im Umlauf ist, eine Probe seines Arguments: „Wann deß Aristippi Tochter . . . noch bey Leben/und ihre Bücher vorhanden weren/es würde mancher die Schnauppen einziehen/und sich mit aller seiner Einbildung verkriechen müssen.“ Im Gegenteil: Adam habe durch den Fluch an Verstand eingebüßt, der ihm durch den Schweiß „abge11 loffen". während Eva durch die Schmerzen bei der Geburt am Verstand nicht beeinträchtigt worden sei.
Das 18. Jahrhundert bringt eine gewisse Weiterentwicklung und Überwindung einer ausgereizten Diskussion deutlich dabei und schon im Vorfeld der Aufklärung. Erwähnt sei die wichtige Arbeit der Dorothea Christiane Leporin (Erxleben): .. Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten“ von 1742. Der Leporin verdankt die gelehrte deutsche Frauenwelt die erste promovierte Medizinerin, die mit einer Ausnahmegenehmigung von König Friedrich II. von Preußen in Halle 1754 die Prüfung machen durfte und dann praktizierte. In der Schrift über das Frauenstudium schlägt sich die Leporin bezeichnenderweise noch mit denselben Vorurteilen gegen die Gelehrtinnen herum wie Anna Maria v. Schurmann 100 Jahre zuvor. Wieder beginnt sie mit der theologischen Auslegung der Genesis, freilich räumt sie eine unterschiedliche Gottebenbildlichkeit der Geschlechter ein. Auch die naturrechtliche Minderstellung bleibt unangetastet; Ziel der Argumentation ist vielmehr dieselbe Kapazität für die Wissenschaften. Emanzipation also — wohl von der eingeschränkten Lage bedingt — nur für den weiblichen Verstand. Wieder eine Defensive, die sich in einer zugestandenen bescheidenen Nische fraulicher Existenz befriedet. Offensichtlich war es noch nicht möglich, die Egalitätsthese im französischen Stil grundsätzlich zu formulieren. Im Rahmen des Möglichen ist die Leporin aber theoretisch wie praktisch eine wesentliche Brücke zu den Frauen nach der deutschen Aufklärung.
Mit einer kaum ausgelegten Schrift des vorkritischen Kant beginnt nun von Seiten der Aufklärung ein Versuch, die Frau systematisch/philosophisch zu orten, wobei zwar eine Reihe gewohnter Vorgaben erhalten bleibt, trotzdem aber die Diskussion ihrer physischen, moralischen'und wissenschaftlichen Minderwertigkeit unterbleibt, ja das trübe Assoziationsfeld weiblicher Dämonologie fast gänzlich verschwindet. Immanuel Kants Schrift ist ein eigenartiges Zeugnis solcher gutgemeinter Neuorientierung der Anthropologie. Bringt man die Schrift von Kant auf den Begriff, so geht es ihm um eine Polarisierung, nicht Gleichheit der Geschlechter. aber mit deutlichem Akzent auf der Gleichw/ertigkeit der beiden Pole. Die klassische Polarität, seit Augustinus bis zum 18. Jahrhundert die Geschlechterfrage durchziehend, kennt ja deutlich eine Höherbew ertung der Geistseite (männlich) im Gegensatz zur Naturseite (weiblich), immer mit den zugehörigen ethischen Folgerungen verbunden.
Kant behält den „reizenden Unterschied“ (A 49) ohne den Unterton von Wertigkeit — wir finden im Gegensatz des Schönen und des Erhabenen gleichsam die klassische Polarisierung von Natur und Geist, aber ohne ethisches Prädikat. Als Problem bleibt, daß Kant die Frau von der Natur her definiert. Trotzdem gelingt ihm die Entdämonisierung der Frau durch ihre Wesensfestlegung auf das Schöne, also durch ihre Ästhetisierung; eine gewisse Vorrangstellung der Frau durch ihre Natur-ausstattung; die Überwindung der Abspaltung der Geschlechter durch gegenseitige Verwiesenheit; die Ästhetisierung auch der Tugend: Fehler wie Vorzüge der Frau sind schlechtin schön. Kant klammert die Naturrechtsdiskussion für die Ehe aus. Ehe sollte überhaupt nicht als Rechts-, sondern als Neigungsverhältnis verstanden werden (A 80): „Wenn es dahin kommt, daß die Rede vom Rechte des Befehlshabers ist. so ist die Sache schon äußerst verderbt; denn wo die ganze Verbindung eigentlich nur auf Neigung errichtet ist. da ist sie schon halb zerrissen, so bald sich das Sollen anfängt hören zu lassen. Die Anmaßung des Frauenzimmers in diesem harten Tone ist äußerst häßlich, und des Mannes im höchsten Grade unedel und verächtlich.“
Deutlich spricht hier der „galante Kant“, der ja in der eigenen Biographie eine eher platonische Beziehung zum „schönen Geschlechte“ besaß, der aber in seiner fast kindlichen Verehrung der schönen Damen nicht zuletzt dem überlieferten Hexen-bild gerade unter den Intellektuellen den Boden entzog. Von daher muß seine Schrift als ein Neuansatz zur Bewertung der Frau gewürdigt werden, wenn er es auch ausschließlich bei ihrer Ästhetisierung beläßt. Die Grenze dieses Ansatzes wird deutlich durch den Rückschritt hinter eine bereits erreichte Bildungsdiskussion: Kant verlangt vom Schönen keine Bildung, da das Wissen jenes angeboren Schöne und damit angeboren Intuitive zerstöre. Statt Bildung also Ausbildung von Rührung oder Empfindung: „Eben so werden sie (= die . Frauenzimmer') von dem Weltgebäude nichts mehr zu kennen nötig haben, als nötig ist.den Anblick des Himmels an einem schönen Abende ihnen rührend zu machen, wenn sie einigermaßen begriffen haben, daß noch mehr Welten und da-selbst noch mehr schöne Geschöpfe anzutreffen sein . . . niemals ein kalter und spekulativer Unterricht. jederzeit Empfindungen und zwar die so nahe wie möglich bei ihrem Geschlechtverhältnisse bleiben“ (Ä 55). Entsprechend kann sich die Frau negativ zur Pedantin oder Amazone (nicht mehr zur Teufelin!) entwickeln, der Mann zum „läppischen Zieraffen" (A 77): Die Gegenbilder der Geschlechter stammen aus der Verkehrung der Naturordnung. Die Frage stellt sich, was die nicht schöne öder alternde Frau mit dieser Definition von Frausein noch gemein habe. Hier ist die einzige Lücke in Kants galantem System, hier dringt die einzige Möglichkeit tieferer Bildung der Frau, in gewissem Sinne die ihrer Vermännlichung, ein: „Allmählich, so wie die Ansprüche auf Reizungen nachlassen, könnte das Lesen der Bücher und die Erweiterung der Einsicht unvermerkt die erledigte Stelle der Grazien durch die Musen ersetzen, und der Ehemann sollte der erste Lehrmeister sein. Gleichwohl, wenn selbst die allem Frauenzimmer so schreckliche Epoche des Altwerdens herankömmt, so gehört es doch auch alsdenn noch immer zum schönen Geschlecht und es verunzieret sich selbst, wenn es in einer Art von Verzweiflung . . . sich einer mürrischen und grämischen Laune überläßt.“ (A 74)
So verdankt die Anthropologie der Frau dem Philosophen Kant zwar nicht einen „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ — Kants Definition der Aufklärung —. im Gegenteil: Die Unmündigkeit wird als zur Natur der Frau gehörig empfunden. Dennoch ist diese Unmündigkeit nicht mehr diabolisch, minderwertig, naturrechtlich fixiert — sie macht vielmehr den Reiz des Frauseins in einem naiven, von dem ebenso galanten wie pedantischen Kant formulierten Bewußtsein aus. Wie sehr diese Gleichsetzung der Frau mit dem Schönen auf das ausgehende 18. Jahrhundert wirkte, läßt sich an den weiblichen Heroinen von Jean Paul erkennen, die aus Intuition, Empfindung, visionärem Wahrnehmen der Gründe des Daseins bestehen — sofern sie nicht satirisch verzeichnet werden. Im zeitgenössischen Frankreich schrieb wenig später Marie-Olympe de Gouges ihre „Declaration des droits de femme et citoyenne“ von 1791 in der Nachbildung der amerikanischen Menschenrechts-erklärung, die sich ja exklusiv auf die Männer bezogen hatte. Als Aristokratin auf dem Schafott geköpft, wird ihr Erbe von der Engländerin Mary Wollstonecraft übernommen in der Arbeit „A Vindication of the Rights of Women“, 1792. Gouges hatte ihre kurze, aber bahnbrechende Erklärung nicht mehr theologisch, sondern eher ontologisch eingeleitet: Im Pflanzen-und Tierreich sind die Geschlechter in Harmonie. Die Übertragung auf die Menschenwelt bringt unmittelbar die Erklärung der Frauen-und Bürgerinnenrechte hervor (Präambel. 17 Artikel. Postambel). Was hier auf der rechtlichen Ebene gefordert wurde, kann als Grundlage der Frauenrechtsbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts gelten. Bei Gouges wie in dieser Bewegung wird die Frage nach dem „Wesen“ und der daraus stammenden Differenz der Geschlechter umgangen. Diese Frage bleibt jedoch in der zeitgenössischen. gerade deutschen Diskussion noch ausdrücklich wirksam und führt zu einer bedeutenden Vertiefung bisher gewohnter Polaritätsargumente. Dennoch wird auch in der deutschen Diskussion innerhalb der Polaritätsbehauptung ein Punkt erreicht, an dem die Differenz der Geschlechter „aufgehoben“ erscheint. Dieser wichtige Vorgang wird mit Hegels Kennzeichnung der Liebe erreicht.
In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ 1821 handelt Hegel im § 161 — 169 „Die Ehe“ ab. Hier kommt mittelbar das Thema der Geschlechter zum Ausdruck, besonders im § 166. wo noch immer die Polarität von Mann und Frau als leitender Gedanke dient. Hegel versucht bereits im § 161 die Kantsche Neigungsehe als ungenügend zu erweisen.denn sie überwindet sowohl das bloß physische Verhältnis, den Zweck der Produktion von Nachkommen. als auch den bloßen bürgerlichen Kontrakt. aber auch die reine Empfindung, welche der Zufälligkeit (auch der Zeit) unterworfen bleibt. „Die Ehe ist daher näher so zu bestimmen, daß sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche. Launenhafte und bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet.“ (§ 161) Dieses sittliche Verhältnis setzt die natürliche Geschlechterdifferenz voraus.
Die Natur des Mannes wird nun definiert als „das Geistige, als das sich Entzweiende in die für sich seiende persönliche Selbständigkeit und in das Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit, in das Selbstbewußtsein des begreifenden Gedankens und in das Wollen des objektiven Endzwecks“ (§ 166). Die Natur der Frau wird umgekehrt gekennzeichnet als „das in der Einigkeit sich erhaltene Geistige als Wissen und Wollen des Substantiellen in Form der konkreten Einzelheit und der Empfindung“. Die Arbeitsteilung, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft als Trennung von öffentlichem und privatem Bereich herausbildet, wird von Hegel im Sinne einer geschlechtsspezifischen Zuordnung von Betätigungsfeldern interpretiert: „Der Mann hat daher sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweiung die selbständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjektive Sittlichkeit er in der Familie hat. in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Gesinnung hat.“ (§ 166) Als „Gesetz des Weibes“ gilt mithin das Gesetz „der Innerlichkeit. die noch nicht ihre vollkommene Verwirklichung erlangt“ — im Gegensatz gegen „das offenbare. das Gesetz des Staates“. Hegel sieht durchaus einen „tragischen Gegensatz“ in diesem Verhältnis der Geschlechter. Tragik meint in seinem Wortgebrauch ein unbedingtes Verwiesensein aufeinander ohne die Möglichkeit, sich auf der gleichen Ebene, also wahrhaft zu ergänzen. Das Zusammengehören ist ebenso notwendig wie unmöglich. Die Sittlichkeit der Ehe ist dabei weit weniger moralisch gemeint denn als Absicherung der freien Hingabe durch äußere Festschreibungen. Unsittlich ist wesentlich die Unsicherheit eines doch bleibend gedachten Verhältnisses. Hegel läßt die Auflösung der Ehe zu. allerdings nur unter der Voraussetzung deutlicher Unerträglichkeit des Partners. Ansonsten gehört zu ihrer Rechtsstruktur die eigentliche Unauflöslichkeit.
Hegels Ausführungen zur Bildung der Frau spiegeln noch deutlich kantische Vorstellungen: „Die Bildung der Frauen geschieht, man weiß nicht wie. gleichsam durch die Atmosphäre der Vorstellung, mehr durch das Leben als durch das Erwerben von Kenntnissen, während der Mann seine Stellung nur durch die Errungenschaft des Gedankens und durch viele technische Bemühungen erlangt.“ (§ 166) Nicht vergessen werden darf, daß Hegel bei diesen Überlegungen den Durchschnitt des Geschlechts-verhältnisses. also keineswegs die wirkliche Liebe zwischen Mann und Frau im Blick hat. Die Kennzeichnung der Liebe wird vielmehr in den „Vorlesungen über die Ästhetik II über “ in dem Abschnitt den „Begriff der Liebe“ gewonnen und zu einer bis dahin nicht erreichten Höhe geführt. In diesem Abschnitt überwindet Hegel die vorausgesetzte Polarität der Geschlechter: „so ist in der Liebe vielmehr das Höchste die Hingebung des Subjekts an ein Individuum des anderen Geschlechts, das Aufgeben seines selbständigen Bewußtseins und seines vereinzelten Fürsichseins. das erst im Bewußtsein des anderen sein eigenes Wissen von sich zu haben sich gedrungen fühlt . . . Wesentlich wird sie (die Liebe) jedoch hier nur dadurch, daß das Subjekt seinem Inneren, seiner Unendlichkeit-in-sich nach in dies Verhältnis aufgeht. Dies Verlorensein seines Bewußtseins in dem anderen, dieser Schein von Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit, durch welchen sich das Subjekt erst wiederfindet und zum Selbst wird, diese Vergessenheit seiner, so daß der Liebende nicht für sich existiert, nicht für sich lebt und besorgt ist. sondern die Wurzeln seines Daseins in einem anderen findet und doch in diesem anderen gerade ganz sich selbst genießt, macht die Unendlichkeit der Liebe aus.“ (II, 3. Abschnitt. 2. Kap.. 2. a)
Hier ist die Dynamik der Liebe als die Dynamik von Selbstverlust und Selbstgewinn entwickelt: In diesem Vorgang wird jede Form von Natur-oder Geistzuordnung überwunden, weil jeweils verlas-B sen um des Gegenpoles willen, so daß zwar im Einsatz der Bewegung, aber nicht in ihrem Endzustand ein Unterschied noch geltend zu machen ist. Die unbedingte Bezüglichkeit der Geschlechter aufeinander wird in der Liebe ihrer herkömmlichen Bewertung und Unterscheidung entkleidet; das Verhältnis selbst verleiht den Polen des Verhältnisses eine sonst nie erreichte, unterschiedslose Realität. Liebe wird so der Prozeß des gegenseitigen Liebes-opfers. in dem sich die vollkommene Einung ereignet. Es sollte jedoch vermerkt werden, daß Hegels Rechtsphilosophie die Liebe nur als ein Moment der Totalität sittlicher Beziehungen auffaßt, die die Institution der Ehe ausmachen. In seinem früheren „Fragment über die Liebe“ von 1797/98 waren noch deutlichere Bezüge zur Romantik zu erkennen. Deren Vorstellung einer freien Liebe und Sexualität als Beweis für Freiheit und Innigkeit kritisierte er später — anläßlich einer Kritik von Friedrich Schlegels „Lucinde“ — als „romantische Abwertung der Ehe“.
Das fast unerschöpfliche Gebiet der deutschen Romantik kreiste anhaltend um die Frage der Geschlechter. Die Gefühle und die Sinnlichkeit, als Domäne des Weiblichen in der Tradition der Aufklärung entweder dem Rationalitätsanspruch des Geistes untergeordnet, oder aber — wie bei Hegel — in einem Konzept der Sittlichkeit über die Eheinstitution befriedet, entfalten in der romantischen Literatur ihre volle Wirkungskraft. Individualität und Autonomie können nur über die expressive Kraft der Gefühle erreicht werden, die die kalte Gewalt der rationalen Sachwelt aufzusprengen vermag. Das Frauenbild der Romantik schließt den Mittelpunkt der romantischen Welterfassung auf: „Die Frau als die. die in den Mittelpunkt des männlichen Denkens tritt und es zu sich selbst entzündet, ist zugleich die. die unabgelenkt von einer leblosen zerstückelten Sachwelt: aus dem reinen mystischen Verhältnis zum Ganzen des Lebens lebt und es so aus seiner Unmittelbarkeit ursprünglich zu gestalten vermag.“ Das Beispiel zahlreicher Frauen prägt dieses Bild des Weiblichen der Romantik entscheidend mit: Hier kommen zum ersten Mal wieder im Weltmaßstab Frauennamen zum Vorschein, die gleichrangig auf der geistigen Ebene mit dem männlichen Dichter. Maler. Künstler und Schriftsteller in Erscheinung treten; es sei nur erinnert an Bettina Brentano. Caroline von Günderode. Caro-line Schlegel-Schelling. Marianne von Willemer, Sophie la Roche, in gewissem Sinne auch Cornelia Goethe — die Geschichte der Frauenforschung ist hier noch nicht zu Ende geschrieben
Herausgegriffen sei ein Romantiker, um eine neue der Form Geschlechterbetrachtung vorzustellen. Neu freilich nicht wegen eines unbedingt neuen Standpunktes — im Gegenteil werden wir auf das alte Polaritätsmodell, die Spannung aus Gegensätzen. stoßen; neu jedoch wegen der unerhörten Differenzierung und des authentischen Tones, mit dem eine solche Gegensatzspannung zwischen Mann und Frau erlebt, nicht selten sogar erlitten wird.
Exemplarisch für die Romantik wird eine Charakteristik des Frauenbildes bei Joseph von Eichendorff (1788— 1857) gegeben. Auffallend ist die typologische Ähnlichkeit der Personen verschiedener Dichtungen untereinander: der Spielmann, der Ritter.der Dichter, der Philister; und bei den Frauengestalten: das Liebchen und vor allem die Zauberin. die betörende Frau, welche verschiedene Namen tragen kann: Romana. Diana, Venus, Juana, Faustina, oder einfachhin Loreley. Die Doppelerfahrung der Natur und die Doppelerfahrung des Menschen entsprechen sich offensichtlich — gerade der gefährliche, übermächtige Charakter der Natur scheint in der Zauberin verkörpert. Einerseits sieht Eichendorff die Natur als der Wahrheit noch nicht unterworfen, von einer lockenden Autonomie und Selbstgesetzlichkeit, die sich in den Bildern der Nacht, der Schwüle, des Wetterleuchtens, der Venus und des Venusberges ausdrückt. Andererseits träumt diese unentbundene Natur und unentbundene Weiblichkeit von Erlösung; sie ist bereits durchdrungen vom Geheimnis der Vollkommenheit. durchscheinend für die „neue Erde“, die in allem ein Symbol des Himmels sein kann, besonders im Erlebnis des Morgens, des Sonntags, des befriedeten Gartens, der Einsamkeit („Widerschein einer viel ferneren und tieferen Heimat“). Diese Doppeldeutigkeit ist zunächst ununterscheidbar: sie läßt sich bereits in einzelnen Wörtern nachweisen: „schön“, sogar „wunderbar“, „still“ können in ihre Gegenseite umschlagen.
Daher wird auch der Mensch/der Mann bei Eichendorff in eine Entscheidungssituation gestellt, in eine Auseinandersetzung mit dem „verworrenen Leben“ selbst. Auch die seelische Wirklichkeit des Menschen ringt um Klarheit. Klärung oder Erlösung.denn dieselbe naturhafte Unentschiedenheit, die Endlosigkeit mit allen Überraschungen, der* Reichtum des Chaos wird in der Seele mit heftiger Sehnsucht nach dem Überantworten gespiegelt. In dieser Unentschiedenheit zu bleiben, im lockenden Reichtum, wird zur Schuld. Erst in dem Maße, in dem sich die Seele dem „verworrenen Rauschen“ entringt, vollzieht sich ihre Entschuldung.
Nun ist mit traumhafter Sicherheit die dämonische Werbung der Natur und die dämonische Möglichkeit der Seele, in sich verschlossen, entscheidungslos zu bleiben, in Eichendorffs Frauengestalten verkörpert. In „Ahnung und Gegenwart“, dem frühen Meisterwerk, erscheint Romana, die „heidnische Seele“, als sich selbst genügend bis zu einer scheinbaren Selbsterlösung, als blind ohne Richtung, als haltlos. Sie tötet sich selbst, sie kann auch ihr Liebstes töten, nur um sich nicht dafür entscheiden zu müssen (im „Julius“ tötet Faustina Oktavion). Die Klage dieser Frauen ist zugleich das Lied der Sirenen für den Mann, nämlich Verführung nach unten; aber weder Unterwerfung noch Versöhnung mit dem Mann kommen in Frage: seine Liebe wird abgewehrt (Diana; Juana). Diese Natur, „diese Braut“ nimmt den Menschen nicht als „Bräutigam“ an. d. h. nicht die entschiedene Geistigkeit, die Lösung durch Überantwortung nach oben. Wenn sich der Mann der Klage, dem „irren Rufen“ der Natur und der Frau ausliefert, wird er zum Spielmann und Zauberer, zum Magier (wie Eichendorff Brentano schildert). Er ist dann derjenige, der an das Unbewußte (Vertraute oder Unheimliche) rührt, es aber nicht zur Klärung bringt; der Abenteurer.der Kräfte erweckt, sie aber nicht in der Gewalt hat: er lockt zum Venusberg, zum Mittelpunkt der Sinnenwelt, dem magischen Liebesort. Die Aufgabe des Dichters wie des Mannes ist aber nicht die Verfallenheit an die Welt, die rätselhafte Verlorenheit der Seele, die wie im Traum in den Abgrund blickt; seine Aufgabe ist es vielmehr, die unbewußten Rätsel in eine größere Ordnung des Geistigen zu stellen. Hier gewinnt der Dichter/der Mann das Maß des (christlichen) Ritters als eine der Urformen männlichen Daseins. Er weckt und benennt die Dinge, um sie zu klären; er weckt und benennt die Frau als Sinnbild aller Dinge, um sie von sich selbst zu lösen. „Die Natur ist in ihrem Wesen mystisch, als ein verhülltes Ringen nach dem Unsichtbaren über ihr.“ Die Natur steht hier auch für die Frau, das Unsichtbare auch für den Mann.
In der Biographie Eichendorffs ist die bedeutende Tatsache zu vermerken, daß er im Umgang mit der konkreten Frau seines Lebens, mit der geliebten Luise von Larisch, die er 1815 in Berlin heiratete, unerhört gute, gegenteilige Erfahrungen machte: Sie gilt ihm als die eigentliche Hilfe, als die Löserin. als die Tagesklarheit, deren er in seinen Träumen bedarf. Offenbar sind wir in der Problembeschreibung an einen noch zu klärenden Zusammenhang geraten: Ist die Wahrnehmung des „Weiblichen“ möglicherweise unterschieden von der Wahrnehmung der konkreten „Fräu“? So spitzfindig dies zunächst klingt, wird dieses Problem jedoch bis zum 20. Jahrhundert mitgetragen, nämlich hier die Assoziationskette endlos offener Übertragungen von Dämonie. Verführung, Natur. Materie, und schließlich Weiblichem — dort die konkrete Erfahrung mit Frauen, eingeschränkt auf bestimmte Lebensumstände.definierbare Aufgaben. Die beiden Bereiche sind nicht notwendig deckungsgleich, fordern aber deswegen die Frage heraus, ob nicht das Problemfeld des Weiblichen zunächst getrennt werden müsse von der Frauenfrage im einzelnen.
V. Edith Stein: Die Anforderungen des Berufslebens und der gesellschaftlich-politischen Wirksamkeit
Nach der ideengeschichtlichen Betrachtung der Entwicklung des Frauenbildes und der Weiblichkeitsvorstellungen bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhundert kann hier der geschichtliche Prozeß der Entwicklung der Frauenfrage und ihrer sozialen. ökonomischen und politischen Implikationen nicht thematisiert werden Vielmehr sei abschließend in der Absicht der ideengeschichtlichen, vergleichenden Herangehensweise, der es um die modernen Akzente der Frauenfrage zu tun ist. einer Stimme des 20. Jahrhunderts das Wort gegeben: Edith Stein (1891 — 1942). Hinter dem Gesicht der judenchristlichen Märtyrerin von Auschwitz trat die Philosophin. Phänomenologin. Pädagogin bisher etwas zurück; daher sei hier an ihre bedeutende Schrift „Die Frau“ (Werke V) nachhaltig erinnert. Darin finden sich die bis heute aktuellen Problemstellungen in bedenkenswerter Klarheit.
Während ihres Studiums in Göttingen beschäftigte sich Edith Stein ausdauernd mit sozialen und politischen Fragen, aber nicht aus „romantischer Versenkung in vergangene Zeiten; mit (ihm) hing aufs engste zusammen eine leidenschaftliche Teilnahme an dem politischen Geschehen der Gegenwart als der werdenden Geschichte, und beides entsprang wohl einem ungewöhnlich starken sozialen Verantwortungsbewußtsein. einem Gefühl für die Solidarität der Menschheit, aber auch der engeren Gemeinschaften.“ 1932. in „Probleme der Frauenbildung“, kennzeichnet sie die damalige Lage unmißverständlich: „Rechtlich und politisch waren um die letzte Jahrhundertwende die Frauen den Unmündigen, das heißt den Kindern und geistig Minderwertigen, gleichgestellt. Die Reichsverfassung von 1919 brachte die prinzipielle Gleichstellung, die sie zu Vollbürgern machte. Durch die Verleihung des aktiven Wahlrechts wurden sie zu einem politischen Machtfaktor, an dem man nicht mehr vorbeigehen konnte. Das passive Wahlrecht gab die Möglichkeit. sie an verantwortlicher Stelle zu Trägern des Staatslebens zu machen . . . Wir brauchen eine allgemeine gründliche politische und soziale Schulung als Vorbereitung für die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten (übrigens nicht nur für die Frauen, sondern für das ganze deutsche Volk, das ja erschreckend unreif in die demokratische Staatsform hineingeschleudert worden ist) und spezielle Vorbereitungswege für die verschiedenen Posten im Staatsdienst, die nach Frauenarbeit verlangen.“
Nach ihrer Konversion 1922. herausgefordert durch Vortragsreisen in Deutschland. Österreich und der Schweiz, aber auch durch ihre eigene Lehrtätigkeit in St. Magdalena in Speyer, beschäftigt sich Edith Stein mit der spezifischen Mädchenerziehung in einem männlich geprägten Bildungssystem. Hier vermag sie ebenso unpolemisch wie geschichtlich klar zu sehen: „Der Kampf wird geführt gegen eine Mädchenbildung, die fast ausschließlich in der Hand von Männern lag und deren Ziele und Wege von Männern bestimmt waren. Daß es so war. wurde von der großen Masse wie eine unabänderliche Tatsache hingenommen. Und doch war es etwas geschichtlich Gewordenes, und nicht einmal aus grauer Vorzeit Stammendes, sondern eine Errungenschaft der Neuzeit.“ 19)
Edith Steins eigene pädagogische Begabung entwickelt über den verfehlten, nämlich maskulinisierten Ansatz des Jahrhunderts hinaus Richtlinien für eine zeitgemäße und dem Wesen der Frau entsprechende Schulbildung: „Fortführung der allgemeinen Bildung mit besonderer Berücksichtigung der spezifisch weiblichen Aufgaben, Einführung in das soziale und staatliche Leben. Schulung für den besonderen Beruf und Erziehung zu dem entsprechenden Berufsethos.“
Die „groteske, kleinbürgerliche Versimpelung“ des Frauenbildes im 19. Jahrhunderts, das „Ideal einer Zierde des häuslichen Herdes“ wird nun überholt durch die These, die Stein zusammen mit Helene Lange vertritt, „daß die frei entfaltete und recht gebildete weibliche Natur fähig sei zu eigener Kulturleistung, zu einer Leistung, nach der unsere Zeit verlangt, weil sie geeignet ist. die offen zutage liegenden Schäden der männlichen abendländischen Kultur auszugleichen: zu echter Menschen-bildung und helfender Liebestätigkeit.“
Hier gelingt Edith Stein Weitblickendes, weil sie die weibliche Schulung durchaus nicht nur an der unmittelbaren Förderung der Gemütswerte orientiert. sondern an ihrem scheinbaren Gegenteil: der Verstandesschulung. Verzichtet man auf die Übung der Rationalität, so stellt sich das Versäumnis früherer Jahrzehnte wieder ein. welche nur einen Frauentypus entstehen ließen, „der ein Scheinleben in Träumen führt und den Aufgaben der Wirklichkeit gegenüber versagt oder sich wechselnden Gefühlen und Stimmungen wehrlos hingibt, nach Sensationen jagt, die das Gemüt immer wieder in Erregung versetzen, und nicht zu fester Lebensgestaltung und fruchtbarem Wirken kommt.“ Gerade die Stärke des Gemütes, seine „Einfühlung“ verkehrt sich leicht in die Hauptschwäche. Echtes und Unechtes nicht trennen. Schein und Wirklichkeit nicht unterscheiden zu können. So ist Unterscheidungsfähigkeit Werturteil. Beherrschung der Triebkraft durch den Verstand unerläßlich — soll das Gemüt tatsächlich es selbst bleiben. Praktisch schlägt Edith Stein nicht nur die geisteswissenschaftlichen Fächer Religion. Geschichte. Literatur. Biologie. Psychologie und Pädagogik vor. und zwar mit dem Augenmerk auf der praktischen Betätigung. sondern auch die formal bildenden Fächer, nämlich mathematisch-naturwissenschaftlichen und sprachlich-grammatischen Unterricht
Edith Stein betont die kontrollierende Aufgabe des weiblichen Verstandes gerade im Unterschied zu Bestrebungen, die Frau als Gemütswesen dem Mann als dem Verstandeswesen unterzuordnen.
Mit diesem Plädoyer ist freilich keiner abstrakten, sondern der ganzheitlichen Bildung das Wort geredet. Das geht auch daraus hervor, daß Edith Stein die religiöse Erziehung als materialen Grund aller Erziehung ansieht, dem der formale Verstand seine Möglichkeit der Wertung verdankt. Die Hochschätzung des Religiösen geht durch alle Schriften und muß als Edith Steins erstes pädagogisches Anliegen gesehen werden. Damit ist allerdings gerade nicht — wie es heute im Zeichen der Religionskritik geargwöhnt würde — ein Einpassen in traditionelle und allgemeine Frauenbilder angestrebt. Umgekehrt wird vielmehr die echte religiöse Bildung feinfühlig für den „Sonderberuf“ machen. „So können wir als Ziel der individuellen Bildungsarbeit den Menschen bezeichnen, der ist. was er ganz persönlich sein soll, der seinen Weg geht und sein Werk wirkt . . . Wer zur reinen Entfaltung der Individualität hinführen will, der muß zum Vertrauen auf Gottes Vorsehung hinführen.“
Die Eigenart der Individualität kann daher in unserer Zeit auch Lebensformen annehmen, die für vergangene Zeiten mit dem Leben der Frau für unvereinbar galten. Ja. das 20. Jahrhundert hat sogar für viele Frauen bislang undenkbare Lebensformen freigesetzt oder — mehr negativ — ihnen solche aufgezwungen. Um so mehr muß sich die Pädagogik. aber auch das Selbstverständnis der Zeit auf diese neuen Weisen des Frauseins einstellen, nicht klagend oder bedauernd, sondern grundsätzlich bejahend.
Wohltuend unvoreingenommen und wohltuend erfahrungsgeprägt spricht Edith Stein über die Frau im Beruf oder sogar im Doppelberuf der Familie und außerhäuslichen Aufgabe. Hier sind in der Tat schwierige geistige Umstellungen auch von Seiten des Mannes zu leisten, um den Frauenberuf nicht von vornherein abzuwerten: „Meinungen und Urteile der einzelnen Menschen sind weitgehend bestimmt durch das. was man denkt und man sagt. Diese Meinungen und Urteile aber sind von stärkstem praktischem Einfluß. Weil man bis vor wenigen Jahrzehnten der Ansicht war. die Frau gehöre ins Haus und sei zu nichts anderem zu gebrauchen, hat es langwierige und schwere Kämpfe gegeben, bis der zu eng gewordene Wirkungskreis erweitert werden konnte. Wer dies man ist. ist sehr schwer zu fassen.“
Tatsächlich gibt es für Edith Stein keine grundsätzliche Beschränkung der Frau: weder auf die Familie noch auf bestimmte „weibliche“ Berufe, obwohl sie solche tendenziell, z. B. bei der Ärztin oder Lehrerin. gegeben sieht. „Keine Frau ist ja nur Frau, jede hat ihre individuelle Eigenart und Anlage so gut wie der Mann und in dieser Anlage die Befähigung zu dieser oder jener Berufstätigkeit künstlerischer, wissenschaftlicher, technischer Art usw. Prinzipiell kann die individuelle Anlage auf jedes beliebige Sachgebiet hinweisen, auch auf solche, die der weiblichen Eigenart fernliegen.“
Nachdrücklich plädiert Edith Stein gerade von ihrem eigenen politisch-sozialen Interesse her für den Eintrittt der Frau in das Staatsleben, der ja erst seit 1919 offen war. wofür also die Mühe einer ganz neuen Schulung auf sich genommen werden mußte. Tatsächlich ist es so. daß das konkrete Denken der Frau — etwa in der Gesetzgebung —ein hilfreiches, weil menschliches Gegengewicht gegen das Parteiendenken der Männer bilden kann Hier liegt überhaupt der Eigenwert fraulicher Berufsarbeit: eben im Einbringen des Konkret-Menschlichen (wohinter der für sie so wichtige Gedanke der un-austauschbaren Mütterlichkeit der Frau steht). „Die Arbeit in einer Fabrik, in einem kaufmännischen Büro, im staatlichen oder städtischen Verwaltungsdienst. in den gesetzgebenden Körperschaften. in einem chemischen Laboratorium oder mathematischen Institut — das alles erfordert Einstellung auf ein totes oder abstrakt-gedankliches Material. Aber in den allermeisten Fällen handelt es sich Arbeit, Menschen um die mit andern zusammenführt. die zum mindesten mit andern im selben Raum, oft in Arbeitsteilung mit ihnen zu verrichten ist. Und damit ist sofort Gelegenheit zur Entfaltung aller weiblichen Tugenden gegeben. Ja man kann sagen, gerade hier, wo jeder in Gefahr ist, ein Stück Maschine zu werden und sein Menschentum zu verlieren. kann die Entfaltung der weiblichen Eigenart zum segensreichen Gegengewicht werden.“
Umgekehrt ist es auch für die Frau vorteilhaft, sich dem Berufsleben offenzuhalten, weil es eine ihrer Schwächen ausbalanciert: Die Anlage zum Gemüt-haften wird durch die Schulung zum sachbetonten Arbeiten nicht nur in Schranken gehalten, sondern dadurch erst eigentlich schätzenswert. So verleiht nicht nur die Frau dem maskulinen Berufsleben eine menschliche Weite, sondern der Beruf „erzieht“ die Frau zur Beherrschung ihrer Fähigkeiten. Die „Doppellast von Berufs-oder oft nur Erwerbs-arbeit und Familienpflichten“ war für sie dabei durchaus gegenwärtig; sie beschreibt ihre entfremdenden Formen. Einen Rat für diese häufig aufgenötigte Lebensform gibt sie nicht, rät aber deswegen noch nicht vom Berufsleben der Frau ab. Vielmehr sieht sie eine Stütze für diese Überforderung in einem tiefen religiösen Leben.
Deutlich wird, daß sie die Forderungen, ja Nötigungen der Zeit an die Frau sieht, kein Ausweichen davor mehr als möglich erkennt, vielmehr die wirkliche Wappnung durch Frauenstudium und -beruf nachhaltig kennzeichnet. Ja, die Mitsprache der Frau im öffentlichen Leben ist ihr sichtlich ein offenbar gewordenes Anliegen der Zeit.
Frauen von heute werden in Edith Stein teils eine „Schwester aus der Geschichte“, teils eine von der Geschichte überholte Schwester sehen. Die unbedingte Orientierung der Frauenfrage an biblischen und gar kirchlichen Aussagen wird vielen Nicht-gläubigen unnötig erscheinen. Gerade hier aber zeigt sich, welch neue Möglichkeiten Edith Stein den herkömmlich gedeuteten Aussagen abzugewinnen vermochte, wie hilfreich ihr Intellekt dem Glaubenwollen beisprang, wie wenig die Überlieferung dem Geiste nach ausgeschöpft ist. In ihr vereinen sich zwei Freiheiten: die Freiheit der selbständig denkenden Philosophin und die Freiheit einer durch die Offenbarung gebundenen und entbundenen Christin.
VI. Fazit
Seit spätestens diesem Jahrhundert stehen wir vor der Herausforderung vieler (nacheinander oder gleichzeitig wirkender) Möglichkeiten: Weithin bahnt sich eine Überwindung der gewohnten Geschlechterordnung an. und zwar durch eine Einsicht. die ihre eigenen Ziele erst unscharf angeben kann. Seit der frühen Neuzeit, heftiger seit dem 19. Jahrhundert, erstarkt eine Frauenbewegung, deren Gesamtimpuls noch nicht abzusehen ist. Immer neue lebensmäßige, künstlerische, gedankliche Energien werden freigesetzt; nicht zuletzt ist eine Gleichberechtigung gesetzlicher Art gewonnen. Trotzdem: Viele Forderungen, die bereits eingelöst wurden, erscheinen noch als zu oberflächlich gelebt und noch nicht aus der Tiefe einer wirklichen Wandlung der Geschlechterbeziehung stammend. Dazu kommt, daß das Thema „Frau“ heute modisch-kurzlebig entweder unter mancherlei pragmatischen Hinsichten benutzt oder zweckdienlich ideologisch verzeichnet wird, nicht selten auch von Frauen. In der neu zu entwickelnden Anthropologie ginge es darum, die Frau nicht mehr (nur) als Gattungswesen oder als Trägerin der „anima" und undeutlicher „weiblicher Werte“ oder unter dem Vorzeichen des abstrakten „gleichen Rechts“ zu sehen, sondern sie als Mensch „durchsichtig“ zu machen. Heute steht im (nicht nur christlich vorbereiteten) Bewußtsein das Gewinnen eines ganzheitlichen Menschseins an, das sich in besonderer Gültigkeit an der Frau zu bewähren hat: nämlich weder in einer bloßen Rückkehr zur Mütterlichkeit noch in ihrer bloßen Verweigerung, auch nicht in einer bloßen Rationalisierung der Frau oder ihrer Verhinderung. Weniger denn je dürfen diese Gesamtanlagen vereinseitigt (und damit ausgenützt) werden. Das Ziel dieser aufmerksamen Neufindung sei mit dem Mut Edith Steins formuliert: „Menschsein ist das Grundlegende. Frausein das Sekundäre.“
Darin liegt nicht die Gefahr eines Neutrums und einer Schreibtisch-Gleichheit. Denn: In diesem gemeinsamen Menschsein ist Geschichte gegenwärtig und wirksam; der „reizende Unterschied“ (Kant) bleibt ja erhalten, verliert aber seine (selbst) zerstörerische Gegensetzung. Wie das Licht alle Farben zusammenfaßt, sie deswegen aber nicht auslöscht, könnte man in dem Menschsein eine „höchste unteilbare Energie“ (Goethe) sehen, die das Auslöschen nicht der Besonderheit, sondern des Widerspruchs der Geschlechter meint.