Wer könnte leugnen, daß sich im vergangenen Jahrzehnt die Konturen des internationalen Systems verändert haben? Wachsende Interdependenz und wachsende Regionalisierung in verschiedenen Maßstäben sollten in diesem Veränderungsprozeß nicht als widersprüchlich, sondern als komplementär gedeutet werden. Auch heißt Interdependenz keineswegs, daß alle von ihr betroffenen Akteure in gleichem Maße von anderen abhängig sind — Interdependenz ist meist asymmetrische wechselseitige Abhängigkeit. Und Regionalisierung bezeichnet kein Ausscheren aus solchen wechselseitigen Abhängigkeiten. vielmehr den Ausbau von Sub-Zentren für wirtschaftliche, politische oder kulturelle Entscheidungen, wobei diese Sub-Zentren mit den Ober-Zentren stets rückverbunden bleiben.
Die Disziplin der Internationalen Beziehungen hat Richtung und Dynamik dieser Veränderungen in ihren strukturellen Zusammenhängen zu beschreiben und zu analysieren versucht Dies geschah zwangsläufig auf einem so hohen Abstraktionsniveau. daß in der Alltagsdebatte politisch interessierter und oft auch politisch besorgter Bürger wenig davon Eingang gefunden hat. In diesen Debatten hat sich unterdes die Vorstellung verbreitet, daß die nach 1945 gewachsene bipolare Weltordnung an Gestaltungskraft mehr und mehr verloren hat. Neue Ordnungskonzepte für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die Sicherheitspolitik und viele andere Politikfelder in den internationalen Beziehungen kündigen sich an. Die Perspektiven bleiben allerdings unklar und diffus; Wunschdenken und geschichtsphilosophisch inspirierte Spekulationen überlagern häufig nüchterne und systematische Analysen. Dies alles drückt zugleich auch eine Grundstimmung aus, daß man nämlich in einer Übergangszeit lebt.
Unsere Ausgangsthese ist. daß die Konzeption eines mitteleuropäischen Ordnungssystems, das die Nachfolge des im Ost-West-Konflikt geteilten Europas antreten kann (soll?, wird?), ein solches diffuses Ordnungskonzept ist. ohne empirische Basis, aber saugfähig wie ein Schwamm für die unterschiedlichsten Hoffnungen und Träume. Mitteleuropa fungiert als Begriffsleinwand, auf die jeder Hobby-Politiker, aber natürlich auch der ultra-geschickte Polit-Taktiker, seine politischen Wünsche projizieren kann. Das wäre nicht weiter beachtenswert. wenn durch den sich bündelnden Mitteleuropa-Enthusiasmus nicht gleichzeitig Erwartungen geweckt würden, die nur in Enttäuschungen münden können. Das Wechselbad von übertriebenen Hoffnungen, Illusionen und Wunsch-Antizipationen sowie von Enttäuschungen. Frustrationen und Versagungen stellt aber seinerseits einen politischen Faktor dar, denn es kann zum Anstieg des Irrationalismus-Pegels in der politischen Auseinandersetzung führen.
I. Europa zwischen Ost und West
Vorgeordnet ist allen Mitteleuropa-Konzepten der Topos eines Europas zwischen Ost und West In diesem Topos verbinden sich auf problematische Weise geopolitische mit geistesgeschichtlichen, selbstbewußt-auftrumpfende mit quietistischen Vorstellungen über Europa und seine Rolle in den internationalen Beziehungen. Aus der Not, Europa geographisch-politisch eindeutig zu bestimmen, macht dieser Topos eine Tugend und setzt für die beiden inhaltlich unbestimmten Abgrenz-Begriffe nach Baukasten-Prinzip die passend erscheinenden Bezugs-Signalwörter ein: Europa zwischen den USA und der UdSSR, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen (gleichermaßen verachteter) Cola-und Wodka-Kultur.
Substrat dieser Europa-Vision ist ein vages Bewußtsein von der historischen Bedeutung Europas für die Entstehung und Entwicklung der modernen Welt. Die Weltmächte USA und UdSSR werden als Erben Europas wahrgenommen. Zu gewissen Zeiten — etwa in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg — wurden aus diesem Wahmehmungsmuster kultur-und zivilisationskritische Prognosen überden weiteren Verfall Europas abgeleitet. Sie fanden — etwa im Fall von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ — große Resonanz und tauchen sporadisch auch heute wieder auf. Es gibt indes auch eine trotzig-optimistische Ableitung, nach der Europa unter bestimmten Voraussetzungen mit den beiden Weltmächten gleichziehen kann und viele Länder in ärmeren Regionen zu ihrem Vorteil von Europa lernen sollten.
Historisches Bewußtsein kann als politischer Faktor vor allem dann wirksam werden, wenn es hinreichend unpräzise bleibt. Exakte historische Kenntnisse können nämlich demobilisierend wirken. Insofern nimmt es auch nicht wunder, daß die Anhänger einer fiktiven gesamt-europäischen Identität nicht allzu viel Details von der blutigen und zu großen Teilen haßerfüllten Geschichte inner-europäischer Beziehungen zur Kenntnis nehmen wollen.
Ohnehin ist die „Europa-zwischen“ -Vorstellung auf die Zukunft ausgerichtet. Sicherheitspolitisch und kulturpolitisch wird von der Notwendigkeit zur „Selbstbehauptung Europas“ gesprochen. Hinter dieser Formel verbirgt sich der Gedanke, daß der von den USA und der UdSSR seit 1945 globalisierte bipolare Ost-West-Konflikt überwunden werden muß, wozu die Zeit jetzt gekommen sei, und daß im Rahmen der Struktur eines internationalen Systems der Zukunft Gesamt-Europa die Chance erhalten wird, zu einem eigenständigen Akteur zu werden.
Eine Fokussierung des Blickfeldes unter Beibehaltung des Abgrenzungsmodus nach zwei Himmelsrichtungen ergibt den Brennpunkt Mitteleuropa. Auch für dieses Gebilde gibt es, was die allgemeine Diskussion befördert, keine klare Definition. Von Arnulf Baring stammt die ironische Beschreibung von Mitteleuropa als jenem Stück Europas, „das geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt“ Mitteleuropa ist ein Emporkömmling unter den politischen Mythen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Wort evoziert zahlreiche historische Ereignisse, denen das Flair der „verpaßten Gelegenheit“ übergestreift werden kann; es setzt sich ab von der technokratisch-bürokratischen Atmosphäre, die inzwischen Westeuropa in seinem mühseligen Integrationsprozeß umgibt, es trifft auf eine Gemütslücke
II. Rückblick auf Friedrich Naumann
Wenn ein Politiker das Wort Mitteleuropa im Munde führt, schreibt Peter Glotz kokett, wittern die Rechten Verrat am Westen und die Linken die Auferstehung Friedrich Naumanns So ganz dürfte das nicht stimmen, weil die Rechten selber über Mitteleuropa reden; und wer denn — „links“ wie „rechts“ — hat das seinerzeit berühmte, in der ersten Auflage 1915 erschienene Buch „Mitteleuropa“ von Friedrich Naumann wirklich gelesen?
Von all den verschiedenen Mitteleuropa-Vorstellungen, die aus dem Geist des 19. Jahrhunderts geboren wurden, erfuhr die von Naumann die nachhaltigste Resonanz, weil sie im Kontext der imperialistischen Rivalitäten Europas, die im Ersten Weltkrieg explodierten, so etwas wie ein moderates Programm für den als völlig legitim erachteten deutschen Imperialismus darstellte. „Der Inhalt dieses Krieges“, schrieb Naumann 1915. „ist die Bildung des Geschichtskörpers Mitteleuropa und sein Kampf um die Anerkennung im oberen Rat der allergrößten Mächte . . . Gleichzeitig ist es aber eben ein Kampf darum, welche Nationalstaaten stark genug gewachsen sind, um international auftreten zu können. In diesem Sinne treiben wir nationale Weltpolitik . . . Wir beanspruchen, internationale Macht zu sein . . . Als internationale Macht reichen wir den kleineren mitteleuropäischen Völkern die Hand und schlagen ihnen vor, den Gang in die Zukunft mit uns zu wagen und nicht mit den Engländern und nicht mit den Russen.“
Der Anspruch, „nationale Weltpolitik“ betreiben zu können, besaß in Naumanns Augen uneingeschränkte Legitimität, und Bedenken dagegen aus einer moralischen Attitüde heraus würde er — wie die meisten seiner Zeitgenossen — nicht verstanden haben. Auf der anderen Seite sind weder drastische noch moderate imperialistische Kriegs-ziele ohne — aus heutiger Sicht — eigenartige historisch-moralische Drapierungen ausgekommen. Naumann konstruierte sein unter deutscher Vorherrschaft stehendes Mitteleuropa z. B. auf der Basis eines noch zu entwickelnden mitteleuropäischen Menschentyps, der in der Mitte zwischenRussen und Franzosen. Türken und Engländern angesiedelt sein sollte.
Das historische Bewußtsein dieser Generation führte schließlich auch Naumann in die Gefilde politischer Alltags-Mythologie: „Gehen unsere Söhne bloß deshalb zusammen in den Tod. weil sie einen geschriebenen Vertrag haben, oder ist es mehr? Ballten sich nicht die Wolken am Himmel über den Karpathen und über Antwerpen, als ob sich uralte Rosse und Reiter zu grüßen suchten? Das alles war schon einmal ein Reich!“ Uralte Rosse sind kein gutes Kriegsmaterial, zunächst aber beflügeln sie die Einbildungskraft: „Dieses Reich ruckt und stößt jetzt im Weltkriege unter der Erde, denn es will nach langem Schlafe gern wieder kommen.“
Naumanns Mitteleuropa — zwischen Ost und West, was damals hieß: zwischen Russen und Engländern — war in eine Reichsperspektive eingebettet, die eben nicht nur „Reich“ als modernes Empire verstand, sondern als Wiedergeburt des alten Römischen Reiches deutscher Nation unter den Bedingungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Zu diesen Bedingungen gehört die Kraft der verschiedenen Nationalismen als militante Großgruppen-Ideologien. Nur gegenseitige nationale Akzeptanz und gemeinsame Kooperation könnten die Einheit Mitteleuropas sichern. „Wie schön wäre es für uns. die Tschechen zu Deutschen zu machen, wenn es ginge! Aber es geht einfach nicht!“
Zweckgerichtet, aber in der Sache nicht weit von Naumann entfernt, auch wenn er ihn kritisiert, formulierte der Historiker Hermann Oncken das Programm „Mitteleuropa“. Für ihn besteht es in einem von außen (wieder genannt: England und Rußland) zusammengeschweißten Bündnissystem, das auf wirtschaftlichen Interessen und einem gleichgerichteten kulturellen Selbstbewußtsein der Völker in diesem Raum beruht. „Die von uns geführte Mächtegruppe . . . würde eine weltpolitische Betriebsgemeinschaft darstellen, stark und widerstandskräftig genug, um neben einer angelsächsischen, einer russischen und einer japanisch-chinesischen Weltaufteilung dauernd zu Worte zu kommen.“
Diese Perspektive haben sich dann die Nationalsozialisten angeeignet. In ihrer Rhetorik wollten sie die geschichtliche Entwicklung dort aufnehmen, „wo sie vor 700 Jahren unter den Staufern fallen gelassen wurde. Es ist die Politik, die dem deutschen Volk als dem Volk der europäischen Mitte und dem deutschen Reich als dem politischen Mittelpunkt Europas die Aufgabe zumißt, im mitteleuropäischen Raum eine planmäßige politische Ordnung herzustellen.“ Zugleich verbreiterte sich die nationalsozialistische Kriegsziel-Programmatik und griff im Namen nicht nur Mitteleuropas, sondern ganz Europas auf die gesamte Welt aus: „Europa kann seine Weltstellung nur dann behaupten, wenn es mit gewollter Einigkeit an diese Aufgabe herantritt und im Innern ein gesundes Gefüge und einen politischen Aufbau aufweist, der es zu solcher größeren Kraftleistung fähig macht. Ein solcher gesunder Aufbau in Europa wäre aber niemals zu erreichen, wenn die Mitte des Erdteils ausgeschaltet würde, wenn ein starkes deutsches Reich fehlte.“
An dieser Stelle ist vielleicht eine Zwischenbemerkung fällig. Kontinuität und Diskontinuität deutschen politischen Denkens in den letzten beiden Jahrhunderten läßt sich nicht in simple Schemata pressen, wie sie u. a. Georg Lukäcs benutzt hat Auch treffen Urteile wie das, wonach bestimmte Ideen sich wegen ihrer Einverleibung durch den Nationalsozialismus ein für allemal diskriminiert hätten, daneben. Aber das gilt auch für das entgegengesetzte Urteil, wonach solche Ideen, Konzepte usw., die „Hitler beschmutzt hat“ einfach nur einer „chemischen Reinigung unterzogen werden müssen, um wieder makellos dazustehen. Der Nationalsozialismus war weder ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte, noch ihr „innerer Wesenszug“.
III. Die Wiederkehr der Geopolitik
Der als Außenseiter der Zunft auf subtile Weise historische und zeitkritische Betrachtungen miteinanderverknüpfende Publizist Sebastian Haffner hat vor nicht langer Zeit bemerkt: „Der wirklich einschneidende Einschnitt und Umbruch, den das Jahr 1945 in der deutschen Geschichte bewirkt hat. ist nicht so sehr innenpolitisch als außenpolitisch; wenn das Wort nicht verpönt wäre, könnte man sagen: geopolitisch . . . Das Deutsche Reich Bismarcks war ein Reich der Mitte, und es war eine Großmacht. Die Bundesrepublik ist keine Großmacht mehr. Das sieht jeder, aber sie ist außerdem kein Reich der Mitte mehr, sondern ein Grenz-und Randstaat.“ Über diese Bemerkungen ließe sich lange debattieren, z. B. über die Frage, ob der Begriff „Großmacht“ nicht einen Bedeutungswandel durchgemacht hat.der seinen umstandslosen Gebrauch eigentlich nicht weiter zuläßt (denn die Bundesrepublik Deutschland ist, um diesen Gedanken fortzusetzen, in mancher Beziehung sehr wohl eine Großmacht, in anderen aber nicht). Und stimmt es eigentlich, daß das Wort und die Sache „Geopolitik“ wirklich verpönt sind? Viele jüngere Politologen können sich beispielsweise darunter kaum etwas vorstellen.
Geopolitik ist als die Lehre von der Erdgebundenheit politischer Aktionen, insbesondere von Staaten definiert worden Sie begann kurz nach der Jahrhundertwende zu florieren, übrigens keinesfalls nur in Deutschland. Halb Ideologie, halb positivistisch-systematische Wissenschaft, hat die Geopolitik als selbsternannte Lehrmeisterin der (Außen-) Politiker deren Augenmerk auf die vom Territorium und seinen Eigenschaften ausgehenden Bestimmungsfaktoren politischen Handelns gelenkt, auf Bodenbeschaffenheit und klimatische Einflüsse, verkehrsgeographische Bedingungen, Grenzverläufe, Bevölkerungsentwicklung und -Wanderungen usw. Die Geopolitik wurde in Deutschland vor allem von Karl Haushofer „zu einem antiwestlichen Substitut einer Lehre internationaler Politik“ ausgebaut Weil sie darüber nachhaltig in den Sog des Nationalsozialismus geriet. wurde sie nach 1945 in der Tat „verpönt“, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, wohingegen sie in anderen Ländern von berühmten Repräsentanten der Disziplin der Internationalen Beziehungen — wiez. B. von Raymond Aron — in ihrem begrenzten Erkenntniswert durchaus akzeptiert blieb. Nur eben: geopolitische Betrachtungsweisen besitzen einen sehr eingeschränkten Erkenntniswert. Und wenn es verdächtig beflissen gewesen ist. die Geopolitik insgesamt zu verpönen, so ist es gegenwärtig genauso problematisch, sie als Königsweg zur Erlangung tieferer Einsichten in den Gang und die Kräfte internationaler Politik benutzen zu wollen.
Das tun bis jetzt zwar nur wenige. Aber insgesamt läßt sich doch deutlich ausmachen, daß in der Mitteleuropa-Debatte geopolitische Argumente eine neue Aura bekommen haben. Diese Aura umglänzt in erster Linie Begriffe wie „Mitte“ oder „Mittellage“, bei denen es ja auch verführerisch ist. tugendhafte Assoziationen zu haben. So greifen General a. D. Jochen Löser und Ulrike Schilling den Satz von Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf, die Mitte könne niemals Grenze sein, und schlagen vor, „das europäische Zentrum schrittweise aus den Blöcken herauszulösen und auf eine neue politische Grundlage zu stellen“. Dabei lassen sie sich von der Überzeugung leiten, daß die zwischen Frankreich und der Sowjetunion lebenden Mitteleuropäer immer stärkere gemeinsame Interessen entwickelt haben und weiter entwickeln werden. Eine neutrale Konföderation souveräner Staaten würde sich so als Europas Mitte stabilisieren und folgende Länder umfassen: die Beneluxstaaten, die Bundesrepublik, die DDR, die ÖSSR, Polen. Österreich, Üngarn, Rumänien und Jugoslawien. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich in dieser Konstellation nicht vom Westen ab-und zum Osten hinwenden, „sondern im Verbund mit den mitteleuropäischen Nachbarn zu einem festen geopolitisch begründeten Standort“ streben
IV. Mitteleuropäischer Kultur-Pluralismus
Argumentieren die hauptsächlich auf die Sicherheitspolitik blickenden Anhänger von Mitteleuropa-Konzepten wieder mit den alten Formeln der Geopolitik, so beziehen sich viele der an solchen Konzepten interessierten Intellektuellen mehr auf die kulturellen Aspekte Mitteleuropas. Hier kann man mehrere einander überlagernde Kultur-Kreise ausmachen. Für Peter Glotz könnten die drei deutsch-sprachigen Staaten Bundesrepublik, DDR und Österreich — jedes von ihnen sicherheitspolitisch anders einzuordnen — ein Beispiel geben, denn „eine enge Beziehung unserer tief verwandten Kulturen, enge wirtschaftliche Kontakte und ein gemeinsames Eintreten für Abrüstung in Mitteleuropa kann diesen drei Staaten niemand verargen“
Aus einer ganz anderen Perspektive wird die Besinnung auf Mitteleuropa in den osteuropäischen, genauer: den ostmitteleuropäischen Ländern, von denjenigen aufgenommen, die sich von den dort herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unterdrückt fühlen. So griff der 1986 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnete Vaclav Havel in seiner Dankrede das Thema „Europa“ auf, wobei er das Zukunftsbild eines „Weltteils der freundlichen Zusammenarbeit unabhängiger und gleichberechtigter Nationen“ entwarf. Havels Ausführungen sind als Appell zu verstehen, die politische und kulturelle Repression in der Tschechoslowakei. in Polen. Rumänien und Ungarn nicht zu verdrängen. Nicht die block-geteilte Nachkriegs-entwicklung. sondern die historischen Verbindungen der europäischen Staaten sollen zum Fundament europäischer Politik gemacht werden. „Worum es geht“, sagte Havel, „ist ... das unauffällige, je weniger ideologische, desto tiefer und innerlicher gefühlte, alltäglich wirksam geäußerte und so fest wie möglich in den Seelen und Herzen der Völker verwurzelte Bewußtsein von der Einheit unseres Schicksals“.
Die Sprache dieses Appells bedient sich un-oder vorpolitischer Worte. Zum Teil dürfte das darauf zurückzuführen sein, daß direkte politische Aufrufe für die Dissidenten in diesen Ländern sehr . kostspielig'sind. Zum anderen Teil jedoch legt die Natur der Sache eine solche Sprache auch nahe — es geht um Gefühle, Erinnerungen, wohl auch um eine verklärte Vergangenheit, aus der man Trost und Zuspruch ableiten möchte. Auf der Oberfläche erscheint das gar als anti-politisch. Der in diesen Fragen besonders engagierte ungarische Schriftsteller und Soziologe György Konrad ist dementsprechend auch als Verfasser einer „Anti-Politik“ bekannt geworden. Was Mitteleuropa betrifft, so möchte Konrad allerdings aus der „kulturellen Erinnerung“ eine politische Perspektive gewinnen. Weil die „Völker Mitteleuropas“ die ost-westliche Teilung Europas nicht wollen, kann sie auf die Dauer auch nicht bestehen bleiben. In einem phantasievoll-futurologisch ausgemalten Bild der Zukunft sieht Konrad ein pluralistisch organisiertes Eurasien entstehen, das von Verhältnissen geprägt sein wird, die politisch, ökonomisch und kulturell stabilisiert werden, nicht aber militärisch Die Erinnerung an die historischen Bande Europas wird zum Ausgangspunkt einer Perspektive, die sich von den gegenwärtigen Verfestigungen weitgehend gelöst hat. Konrad beurteilt die Integration Westeuropas negativ: „Vereinigte Staaten Westeuropas sind nicht möglich. Möglich sind nur Vereinigte Staaten Europas.“
Konrads Motive, den Mitteleuropa-Topos aufzugreifen, sind von seiner system-oppositionellen Haltung geprägt, aber auch von einem ungarischen Nationalgefühl grundiert. In einer emphatischen Passage seiner „mitteleuropäischen Meditationen“ kommt das deutlich zum Ausdruck: „Ja, wir wollen uneingeschränkte Selbstbestimmung, uneingeschränkte Demokratie und uneingeschränkte Redefreiheit . . . Jawohl, die russischen Truppen sollen nach Hause gehen. Jawohl, wenn die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Lage bedeutet, daß die Russen hier sind und die militärische Diktatur vermutlich installieren und anordnen, dann lehnen wir die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Realität ab . . . Wir können nicht weniger wollen als das, was in den entwickelten Demokratien bereits vorhanden ist. Eine Revolution kann uns nicht ans Ziel bringen. Stufenweise Reformen können uns nicht ans Ziel bringen.“
Im Westen Europas findet die von den intellektuellen Dissidenten Ostmitteleuropas formulierte Sehnsucht nach dem kulturelle und politische Freiheit verheißenden Mitteleuropa nur ein gedämpftes Echo. Konrad, Kundera (der im Westen lebt), Havel und andere werden in der Bundesrepublik Deutschland nur in kleinen Zirkeln mit ihren politischen Äußerungen rezipiert. Das liegt vor allem daran, daß hierzulande die Mitteleuropa-Debatte zum Ersatz der inner-deutschen Debatte, die nicht recht vorwärts gekommen ist, wurde und allenfalls Österreich in die Betrachtung miteinbezieht.
In einem anderen westeuropäischen Land scheinen die ostmitteleuropäischen Überlegungen aus den Kreisen der Dissidenten auf stärker werdende Resonanz zu stoßen — in Frankreich. Frankreich, der europäische Westen par excellence, ist durch die sicherheitspolitischen Kontroversen um die Mittelstreckenraketen und ihre Stationierung in der Bundesrepublik Deutschland erneut auf seine direkte und indirekte Einbeziehung in mitteleuropäische Angelegenheiten aufmerksam geworden. Außerdem haben sich in der politischen Kultur der Pariser Intellektuellen (einer Schicht mit großem Einfluß auf die öffentliche Meinung des Landes) in den siebziger Jahren einige entscheidende Akzente verlagert. Aus dem Abscheu über den „Archipel GU-LAG“ ist ein größeres Verständnis für die Dissidenten in den Ländern des Warschauer Pakts erwachsen. Außerdem ist „Jalta“ bei der politischen Klasse Frankreichs traditionsgemäß eine Legende mit negativem Vorzeichen. All dies fließt zusammen und hat eine intensivere Neugier auf Mitteleuropa entstehen lassen
Auch das französische Interesse am Mitteleuropa
Topos begreift sich als kulturell und nur in dem Sinne als (dann allerdings eminent) politisch, daß die Unterdrückung eines kulturellen Pluralismus in Ostmitteleuropa und möglichst auch in der Sowjetunion endlich aufhören muß.
Diese Forderung kann Würde für sich beanspruchen; und gerade im Westen, wo sich die demokratischen Freiheiten als ein leider häufig gar nicht mehr wahrgenommenes Privileg aller Bürger zeigen, kann sich ihr niemand entziehen. Nur muß man zugleich erkennen, daß fast alle der solche Forderungen unterfütternden politischen Lageanalysen von vereinfachten Prämissen ausgehen: Die historischen Bezüge greifen auf ein harmonisiertes Bild von Mitteleuropa zurück, der Ost-West-Antagonismus wird in seiner Tiefendimension unterschätzt und Übergangs-Strategien vom jetzigen Zustand in den gewünschten der Zukunft sind weit und breit nicht zu sehen. Vorläufig enden diese Träume ausweglos.
V. Die zweite Phase der Entspannung
Das große westdeutsche Interesse an einer Fortführung der Ost-West-Entspannung hat den „Wintereinbruch“, der die Ost-West-Beziehungen zwischen 1979 und 1986 kennzeichnete, überbrückt. Dabei ergab sich eine bemerkenswerte Parallelität dieses Interesses mit entsprechenden Vorstellungen und Hoffnungen der Regime in der DDR und den ost-mitteleuropäischen Staaten. Aus der Erfahrung solcher Gemeinsamkeit — Stichwort hierfür wurde der Begriff „Schadensbegrenzung“ — haben sich in der Bundesrepublik politische Konzepte entwickelt. nach denen es jetzt und in der nahen Zukunft darum geht, eine zweite Phase der Ost-West-Entspannung einzuleiten, die in erster Linie als europäische Politik charakterisiert wird. Akteure dieser neuartigen Entspannungspolitik sind nicht mehr in erster Linie die Bündnisse in Ost und West, die ja noch die Brennpunkte im KSZE-Prozeß bildeten, sondern zuvörderst die europäischen Staaten.
Dieser wichtige Wandel der Entspannungs-Konzeption ist in der Bundesrepublik besonders von Politikern und Publizisten im Umkreis der Sozialdemokratie vorangetrieben worden, aber mit einer gewissen Zeitverzögerung ist ihm auch ein Echo in der seit 1982 regierenden Koalition zugewachsen. wobei die Rolle des außenpolitischen Kontinuitätsfaktors FDP schwer zu beurteilen ist, weil die Entspannungs-Konzeption von Außenminister Genscher sich präziseren Definitionen entzieht. Für die außenpolitischen Geschäfte hat diese Flexibilität der Konturen gewiß ihre Vorteile.
Die europäische Entspannungspolitik lebt nach dem Willen ihrer Vordenker auch von ihrer Distanz zu den „Supermächten“ und konserviert damit in gewissem Sinne jene während der Jahre der großen Demonstrationen gegen die nuklearen Mittelstrekkenraketen und ihre Stationierung als griffiges Argument entwickelte „Äquidistanz“ zu den USA und der UdSSR „Wenn Europa sich nicht zusammenrafft, wird es kolonialer Terrain-Spielball der Supermächte“, hat Peter Glotz bildhaft geschrieben und dabei insbesondere auf die spezifische Betroffenheit der Europäer — vor allem der Mittel-europäer und der Deutschen — von einer Ost-West-Kriegs-Konstellation gezielt. Die Rekonstruktion Mitteleuropas erscheint in dieser Perspektive auch als Antwort auf den kühl antizipierten Verlust der strategischen Gemeinsamkeit des Westens: „Westeuropa wird nur handlungsfähig, wenn es sich bewußt bleibt, daß es Teil-des gesamtenEuropa ist... Was ist Europa heute? Ein doppeltes Glacis: das zerrissene Aufmarschgebiet zweier Globalmächte . . . Wir müssen Mitteleuropa zurückgewinnen; zuerst als Begriff, dann als Realität.“
Der „Heimatkontinent Europa“ koppelt seine auf dem gemeinsamen kulturellen Erbe und der Schockerfahrung vom „Ende des ideologischen Zeitalters“ begründete Entspannungs-Sehnsucht vom Konfrontationskurs der Supermächte ab. Das in einem anderen Kontext entwickelte sicherheitspolitische und militärstrategische Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ dient hier nur noch als moralische Mahnung an Washington und Moskau. Denn die entscheidend wirksamen Umrüstungsmaßnahmen können nicht von den Bündnis-sen in multilateralen Ost-West-Verhandlungen eingeleitet werden. „Diesen Beitrag können nur die Deutschen erbringen, denn sie wohnen im gefährdeten Gebiet.“ Unversehens ist damit im sicherheitspolitischen Bereich den Deutschen — und damit zunächst der Bundesrepublik — eine Initiativrolle zugewiesen worden, eine Rolle, die Peter Glotz auch für die kulturelle Überwindung der „Blockgrenze“ fordert. Der Begriff „Mitteleuropa“ soll so als Instrument der Entspannung eingesetzt werden. Eine chemiewaffenfreie Zone, die die Bundesrepublik, die DDR und die SSR umfaßt, ein atomwaffenfreier Korridor in den beiden deutschen Staaten — das sind Perspektiven eines entspannungspolitisch instrumentalisierten Mitteleuropa-Begriffs.
VI. Mitteleuropäische Friedensunion
„Die Deutschen sollten ihre Identität in einem freien Geistesleben, in der friedensstiftenden Universalität des Geistes und der Kultur suchen. Sie sollten eine Mittlerfunktion wahmehmen, anstatt sich als Exponenten des einen oder anderen Macht-blocks zu verdingen.“ Dieser charakteristische Ton des scheinbar ein wenig abgehobenen Bildungsbürgers alter Schule unter den prominenten Politikern der Grünen, Otto Schily, hört sich an wie ein endgültiger Abschied vom Nationalstaat als politischer Organisationsform der Deutschen. Im letzten Wort dieser Passage blitzt allerdings eine so kräftige nationalistische Emotion auf, daß man an der Endgültigkeit dieses Abschieds wieder zu zweifeln beginnt.
Gleichviel — Mitteleuropa als Bezugspunkt kultureller, sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher und anderer Gemeinsamkeiten bringt auch die beiden deutschen Staaten näher zueinander. Auch wenn die geographische Ausdehnung Mitteleuropas von verschiedenen Autoren ganz unterschiedlich bestimmt wird, kommt es nur selten vor, daß „Deutschland“ dort nicht auftaucht. So wie Mitteleuropa als Begriff für eine zweite Phase der Entspannung benutzt werden kann, kann es auch, und zwar über sicherheitspolitische Argumentations-Schienen, als Anreiz für eine Umformulierung der deutschen Frage dienen.
Schily und die mitteleuropa-politisch interessierten Grünen halten diese beiden Ebenen aber auf der Oberfläche strikt getrennt. Der von Schily in die Debatte gebrachte Plan einer mitteleuropäischen Friedensunion sieht vor, daß sich Österreich, die beiden deutschen Staaten, die CSSR, Ungarn, Polen, Belgien und die Niederlande sowie Dänemark zusammenschließen und sich zu einer ABC-waffenfreien Zone erklären, ihre Streitkräfte schrittweise reduzieren, wechselseitige Militärinspektionen zulassen. die kulturelle, wirtschaftliche und politische Kooperation pflegen, in Sicherheitsfragen ständige Konsultationen institutionell festlegen, einen Hilfsfonds für die Dritte Welt beschließen und schrittweise volle Freizügigkeit im Reiseverkehr ihrer Bürger herstellen
Wenn er auch nicht originell ist, so ist Schilys Plan doch repräsentativ für ein auf Mitteleuropa bezogenes Denken, das den Ost-West-Konflikt lediglich als eine Machtblock-Konfrontation der Supermächte versteht. Vorwegnehmend sei daher an dieser Stelle gleich hinzugefügt, daß diese Identifizierung zweier im Grunde gleichartiger Machtblöcke den Boden für eine später einsetzende, allerdings gegenüber herkömmlichen Urteilen seitenvertauschte Differenzierung vorbereitet, nämlich zwischen den intransigenten’ USA und der „flexiblenUdSSR.
VII. Die deutsche Frage an Mitteleuropa
Wer die Struktur des Ost-West-Konflikts umdeutet und die substantielle Gegensätzlichkeit seiner Protagonisten leugnet, baut damit zugleich die deutsche Frage als operatives Problem europäischer Politik neu auf.
Mit nicht unerheblicher, wenn auch zwiespältiger Resonanz in der eigenen Fraktion und Partei, vor allem aber mit positivem Echo in zahlreichen rechtsgerichteten Publikationsorganen legte der Bundestagsabgeordnete der CDU Bernhard Friedmann 1986 einen Plan für die Wiedervereinigung Deutschlands vor der im Jahr darauf unter dem Titel „Einheit statt Raketen“ auch als Buch publiziert wurde
Auch dieser Plan partizipiert an der allgemeinen, von Oskar Lafontaine bis Wolfgang Venohr unbestritten die Debatte einfärbenden anti-amerikanischen Grundstimmung. Wenn die USA sich von den Westeuropäern abkoppeln (für Friedmann ist dafür besonders das SDI-Unternehmen aussagekräftig), dann müssen diese und zumal die Deutschen ihre Sicherheits-und Entspannungspolitik selber in die Hand nehmen. Da die Teilung Deutschlands Ursache der Spannungen in Europa ist müßte man zu einem Arrangement kommen, bei dem die „Wiedervereinigung Deutschlands als Sicherheitsgarantie für Ost und West“ wirken soll.
Wie man auch aus der entgegengesetzten Interpretation heraus zu denselben Schlußfolgerungen gelangen kann, zeigt ein Blick in das rege publizistische Schaffen von Wolfgang Venohr. Wie Friedmann nach der vertraglichen Eliminierung der SS 20 und Pershing II. so ging Venohr davor davon aus. daß die sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik desolat sei. Nach Jahren der Entspannung, die den Europäern suggerieren sollten, daß sich die Weltmächte auf eine längere Phase multilateraler Kooperation einrichten wollten, zerriß 1979 dieser manipulative Schleier. Mit dem NATO-Doppelbeschluß sei deutlich geworden, „daß auf einem künstlich geschaffenen Zustand des machtpolitischen Status quo kein wahrer Friede geschaffen werden kann“ Mit den nuklearen Mittelstrekkenwaffen hätten sich die Weltmächte ein Instrumentarium zugelegt, mit dem sie die zuvor schon beschlossene Eingrenzung des Krieges auf Europa auch durchzusetzen könnten. Letztlich werde der Atomkrieg in Europa aber auf Deutschland und Mitteleuropa — Begriffe, die Venohr fast bedeutungsgleich benutzt — beschränkt bleiben. Damit aber entfalle das einzig akzeptable Argument für die Aufrechterhaltung der deutschen Teilung, nämlich das eines den regionalen Frieden garantierenden Gleichgewichts.
Die konflikt-bereinigte Historie und Geographie sind für Venohr die einzig tragfähigen Schienen realitätskonformer Politik. „Die Herrschenden in beiden Teilen Deutschlands hatten ja über Jahrzehnte hinweg so getan, als stünde es in ihrer Macht, durch das ständige Drehen der ideologischen Gebets-mühle ... die Gesetze der Geographie und der Geschichte außer Kraft setzen zu können . . .“ Nun, da es nicht mehr funktioniere oder immer mehr Menschen in diesem Raum merkten, daß es nicht funktioniert, braucht es eine neue Ordnung für Deutschland: „Dieses Land (und mit ihm Mitteleuropa) braucht eine Friedensordnung. Eine Friedensordnung in Deutschland aber kann nicht auf Spaltung und Feindschaft beruhen, sondern nur auf der natürlichen Vereinigung beider deutscher Staaten.“ Nationalpolitische und mitteleuropäisch-ordnungspolitische Funktionen fallen zusammen; mit dem vereinigten Deutschland konstituiert sich zugleich Mitteleuropa.
VIII. Das Reich als Phantom
Im Januar-Heft 1987 der Zeitschrift „Mut“ wurde von Karlheinz Weissmann ein Aufsatz unter dem programmatischen Titel „Das Herz des Kontinents. Reichsgedanke und Mitteleuropa-Idee“ publiziert. den im folgenden Heft eine Zuschrift des renommierten Ideologen des Konservatismus, Gerd-Klaus Kaltenbrunners, zum „Gründlichsten, Verständnisvollsten und Tiefschürfensten" erklärte.„was zu diesem Thema in den letzten Jahren, man muß schon sagen: Jahrzehnten gesagt worden ist“ Das macht neugierig, wenngleich auf ein wenig beklommene Weise. Wie argumentiert Weissmann? Nun, er bündelt eine Reihe von schon beschriebenen Vorstellungen über die Obsoleszenz der Ost-West-Konfliktstruktur und verlängert diese dann um jenen schon im Titel seines Aufsatzes zitierten Reichsgedanken. Die historische Erinnerung an die Funktion Deutschlands in der Mitte des Kontinents werde mit neuer Spannkraft wieder ordnungsbestimmend werden. Das Reich als europäische Ordnungsform werde durch zwei Aspekte gekennzeichnet, die es auch als Ordnungsinstanz oberhalb der Nation auszeichnen: zum einen, daß das europäische Zentrum ein einheitlicher Herrschaftsraum sei, zum zweiten, daß es gegenüber anderen europäischen Staaten Vorrang beanspruche. Die Reichsgründung 1871 wird (ganz im Sinne Heinrich von Srbiks) als ungenügende Neuordnung Mitteleuropas gedeutet, denn sie habe eine nationale und sogar sub-nationale Reduktion dargestellt, weil sie nämlich die deutschen Österreicher ausschloß Nach dem Zweiten Weltkrieg habe Deutschland als „Führungsmitte des Raumes“ zu existieren aufgehört. Die Zweiteilung Europas nach 1945 habe indes das Ordnungsproblem der Mitte Europas trotz einer langen Stabilitätsperiode keineswegs gelöst, denn „ganz offensichtlich kehren die traditionellen Probleme wieder, auch die, die mit Gewalt beiseite geschoben werden“.
Wenn hier von „Ordnungsproblemen“ die Rede ist, so sind damit in erster Linie Raum-Ordnungsprobleme gemeint, wie sie sich aus strikt geopolitischer Betrachtungsweise darstellen. Probleme der Gesellschaftsordnung werden demgegenüber nur als zweit-oder drittrangig angesehen. Wie rasch man aber mit Hilfe eines geopolitischen Reduktionismus seine polit-theoretische Lagebeurteilung im Handumdrehen verändern kann, zeigt Bernard Willms.
Er nämlich hatte 1982 mit seiner Theorie der deutschen Nation, die einen seins-notwendigen Imperativ kollektiver Selbstverwirklichung der Deutschen zur Geltung bringen wollte, die Argumentation, Deutschland liege in der Mitte und habe deshalb besondere Ordnungsaufgaben zu erfüllen, noch ausdrücklich verworfen. Unter Hinweis darauf, daß es absurd wäre, wenn westeuropäische Staaten eine Hegemonialstellung der Deutschen in Europa befürchten, schrieb er: „Deutschland ist, von Europa her gesehen, nicht mehr Mittellage, weil Rußland nicht mehr als Teil Europas begriffen werden kann . . . Deutschland ist eine europäische Grenzmark . . ,“ In seinen neueren Überlegungen hat Willms nun versucht, sich des Mitteleuropa-Topos zu bemächtigen, wohl nicht zuletzt auch in der aus seiner Sicht legitimen Absicht, den Anschluß an Nachbar-Gruppen nicht zu verlieren. Auf die Frage: „Was sollen die Deutschen tun, wenn sie politisch wieder selbstbewußt sind oder geworden sind?“, gibt er selber die eindeutige Antwort:
. . sie müssen die Neuordnung Europas in Angriff nehmen“. Dabei sei der konzeptionelle Aus-griff auf ganz Europa unvermeidlich, denn Westeuropa allein ermangele die geschichtliche Substanz, um solche Perspektiven umsetzen zu können
Was bei der Umsetzung solcher Perspektiven im einzelnen herauskommt, bleibt bei den meisten Autoren eher diffus. Je heftiger sie sich dieser Diffusität entringen wollen, um so bizarrer werden allerdings ihre Vorstellungen, so daß es ein Gebot der Klugheit sein mag, so lange es geht im konzeptionellen Halbschatten zu verbleiben. Ein Beispiel für derartige Absonderlichkeiten bietet u. a. Harald Rüddenklau, für den sich die deutsche Frage gegenwärtig deshalb immer dringlicher stellt, weil die nationale Teilung nicht länger als friedenserhaltend perzipiert werde und weil die Entscheidung zur Teilung Deutschlands die Ursache gegenwärtiger Bedrohungs-und Rüstungsdynamik sei. Ja, in einem Aufsatz macht er sogar die Rechnung auf, „daß alle europäischen Bündnis-Staaten sowie die USA und die Sowjetunion für die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands pro Jahr 625 Milliarden Dollar aufbringen müssen“ Die Überwindung der Teilung Deutschlands wird für Rüddenklau folgerichtig nicht nur zu einem national-, sondern vor allem auch zu einem sicherheitspolitischen Anliegen. Seine Perspektive faßt er in eindrucksvoller Kürze so zusammen: „Das Deutsche Reich als Sicherheitssystem“
IX. Berlin in Mitteleuropa
Die West-Berliner: Bewohner „eines dritten Platzes in Deutschland, der zum Westen gehört, aber im Osten liegt“? Berlin — „nach wie vor die einzig denkbare Hauptstadt aller Deutschen“? Wann immer die Rede auf Berlin kommt, gibt es diesen eigenartigen Intensivierungs-Effekt: die Schrillen werden noch schriller und die Nachdenklichen (zwei davon haben wir gerade zitiert) werden noch nachdenklicher. Vermutlich liegen die Ursachen für diesen Effekt darin, daß Berün wie in einem Brennspiegel die überkommenen nationalpolitischen und regionalen Probleme Deutschlands sowie diejenigen, die sich aus der Dominanz des Ost-West-Konflikts ergeben haben, bündelt und in einer Art Modell symbolisiert. In der Berlin-Krise 1948 ist die Teilung Europas durch den Ost-West-Konflikt zum ersten Mal dramatisch offenbar geworden und ins politische Bewußtsein der westlichen Welt gedrungen; im Juni-Aufstand 1953 drückte sich die strukturelle Organisations-und Legitimationsschwäche sozialistisch-bolschewistischer Regime und ihre weitgehende Unfähigkeit aus, sozialen Wandel den eigenen Ansprüchen gemäß zu steuern (in zyklisch auftretenden Ausbrüchen hat sich dies später in anderen Ländern des Warschauer Pakts wiederholt ereignet); der Mauer-Bau 1961 erwies sich zuvor rasch als Beginn einer Konsolidierungsphase der DDR, aber sie steht eben wegen dieser „Grenz-Sicherung“ unter denkbar un-normalstem Vorzeichen. In dieser Konstellation — dauerhafte Asymmetrie des Ost-West-Konflikts in Europa, Entspannungswünsche, Renaissance national-und regionalpolitischer Topoi — ist es mehr als verständlich, wenn Politiker und Publizisten sich auf die Suche nach einer neuen Funktion für die geographische, geopolitische, völkerrechtliche „Konstruktion Berlin“ begeben. Wenn man das aber tut, kommt man fast unvermeidlich in den Sog der Mitteleuropa-Debatte.
„Berlin ist die Mitte, die dafür sorgt, daß die Bonner Republik nicht einer verengten Rheinbund
Mentalität erliegt“, schreibt Eberhard Diepgen, und man verwundert sich ein wenig, warum der überragenden (und gewiß gerade für die Berliner nicht immer leicht zu ertragenden) Figur des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland auf eine so uncharmante Weise‘ein Klaps gegeben wird. Aber Diepgen hat eigentlich etwas anderes im Sinn, nämlich die Etablierung Berlins als Balance-punkt deutscher Politik. Er fährt nämlich fort: „Berlin schafft einen Mittelpunkt, der einer ausschließlichen Ost-Orientierung der DDR im Wege steht.“ Wie realistisch dies auch sein mag sowie die daraus abgeleitete Vorstellung von „blockübergreifenden Dauerinstitutionen der Zukunft“, die in Berlin (Ost wie West) residieren sollten, entscheidend ist jedenfalls die Verabschiedung des Front-stadt-Konzepts. Eine Perspektive, welche Berlin in der Mitte Europas ansiedelt, kann sich auf die Vergangenheit berufen und auf die Zeit nach dem Ost-West-Konflikt vorbereiten.
An einer Stelle allerdings hakt sich diese Perspektive — so vorsichtig sie immer vorgetragen und gedacht werden mag — aus dem westlichen Nachkriegs-Konsens aus. Denn so gewiß es vernünftig ist, zukunftsoffen zu denken und nicht einfach gegenwärtige politische Strukturen fortzuschreiben, so zwiespältig wird es, wenn diese Zukunftsoffenheit auf Entscheidungen aufgebaut wird, die sich als Analysen ausgeben und deren Tragweite vermutlich nicht mitbedacht wurde. Um solche Entscheidungen kommt aber in der Tat nicht herum, wer die politische Zukunft z. B. Berlins etwas schärfer konturiert reflektieren will. Ein typisches Beispiel für eine solche auf den ersten Blick gar nicht dramatisch erscheinende Entscheidung, die sich als Analyse, wenn auch als futurologische, ausgibt, findet sich bei Gerhard Heimann: „Es wird sich zeigen, daß eher die Vision eines atlantischen Zeitalters ein Traum war als der geduldige, beharrliche Weg des Ausgleichs in der Mitte Europas, in der Berlin liegt.“
X. Ende des Ost-West-Konflikts?
In einem sehr behutsam und nachdenklich argumentierenden Aufsatz hat Klaus Ritter zu Beginn des Jahres 1988 die politischen Perspektiven nach dem Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow im Dezember 1987 in Washington auszuloten versucht. Eine Reihe von Veränderungen und Ver-Schiebungen weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Faktoren läßt es in der Tat notwendig erscheinen, solche perspektivischen Überlegungen etwas weiter ausgreifen zu lassen. Ritter kommt zu der Schlußfolgerung: „Was dringend benötigt wird, ist weniger eine regionalistische Neuorientierungwesteuropäischer Sicherheitspolitik mit mehr oder weniger aufgesetzten Architekturelementen, sondern ein neues atlantisches Konzept, in das allerdings die Europäer entschiedener als bisher ihre Interessen und ihre Sichtweise einzubringen hätten.“ Die Herbeiführung einer neuen Macht-gruppierung, wie sie der Begriff Mitteleuropa nahe-legt, schließt Ritter expressis verbis aus.
Liest man offizielle Dokumente der Bundesregierungen aus dem letzten Jahrzehnt, so stößt man kaum auf irgendeinen Ansatz, der von dieser Position und ihrer Perspektive abweicht. Diese transatlantische oder westliche Perspektive schließt das eine oder andere Mal Überlegungen über eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Westeuropa und den USA mit ein, wobei insbesondere auf sicherheitspolitische und wirtschaftspolitische Entwicklungen des letzten Jahrzehnts verwiesen wird.
Deshalb wird sich ein kritischer Leser unserer aus mehreren Teiluntersuchungen konzentrierten Studie die Frage vorlegen, ob denn alles, was hier herangezogen worden ist, politisch wirklich relevant ist. Handelt es sich nicht vielleicht um marginale intellektuelle Deliberationen, um die vielleicht runderneuerte Wiederauflage antiquierter Nostalgien ohne politischen Träger, die möglicherweise eine Art Ventilfunktion für Unzufriedenheit, Befürchtungen oder politische Neurosen haben können, aber letztlich nicht ernst zu nehmen sind?
Wenn auch einiges dafür spricht, daß die grundlegende Prämisse für die verschiedenen Mitteleuropa-Vorstellungen falsch ist, nämlich daß der Ost-West-Konflikt seine prägende Kraft eingebüßt habe, so würde man es sich doch zu einfach machen, handelte man nur nach dem Motto . einfach ignorieren 1. Und zwar aus folgenden Gründen:
— Wir haben nur einen kleinen Teil der gegenwärtig in der Diskussion befindlichen Materialien herangezogen, um die Untersuchung nicht zu Über-frachten; Mitteleuropa-Vorstellungen werden von zahlreichen Gruppen und Grüppchen debattiert und als Alternative zur außenpolitischen Grundausrichtung der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen. — Der soziale und politische Ort dieser Debatten ist zwar meistens der Rand des politischen Spektrums, bezeichnenderweise links wie rechts; aber auch in den im Bundestag vertretenen Parteien — nicht zuletzt in der SPD und der CDU — wächst die Resonanz auf solche Gedanken. — Der politische Prozeß zwischen Ost und West verläuft nicht nach einem starren oder vorgegebenen Schema, er wird auch von den Perzeptionen und Handlungen der verschiedenen Akteure wesentlich mitbestimmt. Öffentliche politische Debatten sind deshalb keine müßigen Spiegelfechtereien, sondern reflektieren und beeinflussen staatliches Handeln demokratischer Gesellschaften. Zeugt eine solche Debatte von analytischer Unschärfe und diffusem Wunschdenken, stehen politische Orientierungsschwierigkeiten ins Haus. Wird diese Konstellation rechtzeitig erkannt, läßt sie sich mildern oder gar ganz abstellen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß Debatten wie die von uns beschriebene anrüchig sind, im Gegenteil — sie enthüllen ja gerade ein Defizit und geben so die Möglichkeit, auf diese Herausforderung zu antworten. Nur muß die Chance auch ergriffen werden. Politikwissenschaft und Zeitgeschichte als verantwortungsbewußt analysierende Disziplinen sind hier ebenso gefragt wie die Repräsentanten des politisch-administrativen Führungssystems der Gesellschaft, des Staats.