Gewiß ist es von Zeit zu Zeit gut, daß sich Historiker auf die Aufgaben ihres Faches besinnen. Und daß und wie das geschieht, daran ist die Öffentlichkeit legitimerweise interessiert.
Das Problem ist aber nicht einfach, denn die Lösung kann Folgen haben: primär in der Schule, wo bestimmte Aufgabenstellungen leicht verbindlich gemacht werden können, aber auch in der Forschung. Schließlich haben wir ein kompliziertes System von Prämien (und negativen Privilegierungen), um bestimmte Forschungsrichtungen mit einigem Nachdruck zu fördern. Direkt und vor allem indirekt trägt das notwendigerweise dazu bei, daß andere vernachlässigt werden. Erfahrungen dieser Art mahnen zur Vorsicht. Man sollte daher jeder Besinnung auf die Aufgaben einer Wissenschaft Überlegungen zur Problematik eines solchen Unternehmens vorausschicken.
Aktualitäten wechseln heute, wie man weiß, ungeheuer schnell. Wie unendlich weit liegt zurück, was uns noch vor 20. vor 15 Jahren umgetrieben hat! Wollte man den Unterricht jeweils darauf einstellen. so müßten Fragestellungen. Inhalte und Zielsetzungen alle fünf bis zehn Jahre vollkommen geändert werden. Die Konsequenz wäre, daß die Schüler völlig der Diskontinuität preisgegeben würden (zumal sie dabei ja auch nicht viel Sinn für die Kontinuitäten, die Eigenwilligkeiten überkommener Wirklichkeiten vermittelt bekämen, die in einer tieferen Schicht letztlich doch durchhalten). Die Schüler würden dadurch höchst einseitig ausgebildet. Die Geschwindigkeit, mit der ihr historisches Wissen, ihre intellektuellen Möglichkeiten zu einem halbwegs selbständigen Begreifen von Vergangenheit und Gegenwart, zur Gewinnung eines halbwegs distanzierten eigenen Urteils veralteten, wäre betäubend hoch. Und dies würde ihre Fähigkeiten zur Gestaltung der Zukunft stark beeinträchtigen. Sie wären in besonderem Maße der Manipulierbarkeit ausgesetzt.
Gewiß, die Erfahrung zeigt, daß gerade auch der modernste Unterricht Schüler in Opposition zu sich zu bringen vermag. Es ist überaus fraglich, ob Erziehung bewirkt, was eine hohe Schulverwaltung intendiert. Vieles — und je länger die Zeit dauert, um so mehr — lernt man ja nicht wegen, sondern trotz der Schule. Aber wenn die schulische Ausbildung auch wenig in ihrem Sinne zu bewirken vermag, so kann sie doch den Schülern vieles vorenthalten, und das ist schlimm genug.
Man gerät hier also leicht in ein Dilemma: Einerseits muß der Geschichtsunterricht in einer sich so rasch und tief verändernden Zeit der Besonderheit der jeweiligen Gegenwart Rechnung tragen. Immer neue Probleme werden bewußt, werden dringend, lassen die Aufmerksamkeit in neue Richtungen fluktuieren; auch im Bereich der Geschichte, nicht zuletzt in der des Mittelalters und der Antike. Andererseits sollten bestimmte Dinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit immer wieder wichtig sind, auch immer wieder gelehrt werden — ganz unabhängig von Fragen der Aktualität, ja gegen das, was diese zu gebieten scheint.
Was für ein Bild von der Geschichte kann zum Beispiel entstehen, wenn der Sinn für Staat, Macht und Politik so wenig ausgebildet wird, wie das heute der Fall zu sein scheint? Können wir uns ein solches Defizit erlauben? Werden die Jungen von heute diesen Sinn nicht vielleicht spätestens morgen wieder brauchen? Aber es fragt sich auch, ob man über Staat, Macht, Politik noch lehren kann wie vor 20 und 30 Jahren, von den früheren Zeiten ganz zu schweigen. Zweifellos müssen immer neue Gegenstände in den Geschichtsunterricht aufgenommen werden. Dann aber muß man andere abbauen.
Wie immer man das am Ende tut: Daß mit jeder Besinnung auf die Aufgaben des Geschichtsunterrichts an der Schule eine große Verantwortung verbunden ist, scheint klar zu sein. Ebenso klar ist auch, daß man den höchst schwierigen Aufgaben, die sich hier stellen, nicht beikommen kann ohne eine sehr umsichtige, reflektierte und immer neue Besinnung. Und es entspricht dem Pluralismus unserer Gesellschaft, daß sich eine solche Besinnung öffentlich vollzieht.
Für die Wissenschaft sind die Überlegungen im einzelnen andere, aber sie laufen auf denselben Schluß hinaus. Es gibt auch hier die Forderungen — und Versuchungen — der Aktualität. Und es gibt zugleich die Notwendigkeit, sich abseits dessen, was der Tag einem abzufordern scheint, ganz in weit entfernt liegende Probleme zu versenken. Manches drängt aus den Fragen und Erfahrungen der eigenen Gegenwart heran, öffnet die Augen für bestimmte, bis dahin nicht erkannte Züge selbst weit entfernter Gesellschaften, macht diese vielleicht sogar besonders aktuell, weil an ihnen ein Zusammenhang aufgewiesen werden kann, der eben diese Fragen und Erfahrungen in neuem Lichte erscheinen läßt, der erlaubt sie einzuordnen und zu beurteilen.der Distanz zu ihnen ermöglicht. Insofern ist die Berücksichtigung der Aktualität von größtem Interesse, auch für die historische Forschung. Umgekehrt entstehen damit nicht nur die Gefahren einer unbilligen Aktualisierung von Früherem, sondern auch die der Hektik und einer zu sehr auf den Tag hin ausgerichteten Arbeit. Man kann ja auch, wenngleich es selten geschieht, zuviel für die Öffentlichkeit tun. vielleicht gar versucht sein, sich gar zu aufgeregt zu äußern — und das führt dann leicht dazu, daß man am Ende nichts mehr zu sagen hat (obwohl das Bedürfnis, auf einen zu hören, damit nicht gleich abebbt.).
Wer sich dagegen ganz in die fremde Zeit zu versenken sucht, mag seine Gegenwart zunächst in vielem verfehlen. Aber es könnte sein, daß er dabei Dinge zutage fördert, an die zunächst keiner gedacht hatte und die dann später in der Forschung besondere Relevanz haben und vielleicht sogar für die ganze Gesellschaft interessant sind. Da originelle Forschung einen langen Atem braucht, kann sie wirklich aktuell nur dann sein, wenn sie eine Weile lang gegenüber der Aktualität gewissermaßen selbstvergessen vorangetrieben worden ist. Forschung läßt sich im ganzen nicht planen, und eben deshalb ist sie für Überraschungen gut.
Wer also Aufgaben für seine Wissenschaft formulieren will, läuft Gefahr, sie zu verführen. Aber damit hat sich seine Absicht noch nicht erübrigt. Die Tatsache, daß mit einer solchen Besinnung keinerlei Verfügungsgewalt verbunden ist, erleichtert sie. Und zugleich ist sie aus zwei Gründen unbedingt notwendig.
Der eine ist die Lehrtätigkeit im Fach Geschichte an der Universität: Auch wenn keine Aussicht besteht, daß man sich darüber einigt, was für alle Studenten wichtig ist, so erfordert doch die Planung jedes einzelnen, daß er sich darüber Rechenschaft zu geben vermag. Denn so unendlich jedes Feld der Geschichte ist, so sehr ist es doch in Hinblick darauf, daß ein Studium in relativ kurzer Zeit absolviert werden sollte, unabdingbar, die Lehrveranstaltungen so einzurichten, daß man das Wichtige zu seinem Teil in dieser Zeit vermitteln kann. Zweitens ist eine immer neue Besinnung auf die Aufgaben der Geschichtswissenschaft notwendig als Gegengewicht gegen gewisse immanente Zwänge, die den einzelnen Wissenschaften eignen. Denn mit deren Institutionalisierung ist ja nicht nur die Aufrichtung notwendiger Standards verbunden, über deren Einhaltung dann die sogenannten Fachleute urteilen, sondern sie bringt in aller Regel zugleich eine Tendenz zur Beharrung mit sich. Etablierte Wissenschaften leisten gegen neue Ansätze einen gewissen. zuweilen kräftigen Widerstand. Das ist gar nicht schlecht, denn diese Ansätze vermögen daran, wenn sie wirklich fruchtbar sind, zu wachsen. Und doch kann solcher Widerstand auch hinderlich sein (zumal in unserm Jahrhundert, in dem die Möglichkeit. ohne Institute und ohne irgendein Gehalt oder ein Stipendium zu forschen, so viel geringer geworden ist als im vorigen). Dann ist eine neue Diskussion über die Aufgaben der Wissenschaft notwendig. Sie ist — was die Geschichtswissenschaft angeht — in den älteren Disziplinen schwierig. Denn wo die Wissenschaft nicht direkt von der Gegenwart herausgefordert wird, wo keine direkten Antworten von ihr verlangt werden (oder wo sie wenigstens prätendieren kann, nicht unmittelbar beansprucht zu sein), ist sie weniger auf Erkenntnisse angewiesen, zwingt sich der Maßstab der Fruchtbarkeit, der „Relevanz“ von Forschungsansätzen nicht auf. Dann kann das so menschliche Bestreben, lieber keine Erkenntnis zu haben als daß ein anderer sie erzielt — und gar auf neuen Wegen — sich relativ frei fühlen. Das ist in der neuen und neuesten Geschichte kaum möglich; dafür ergeben sich dort etwa aufgrund der Tatsache, daß nicht nur viele ihre Ergebnisse, sondern auch die Betrachtungsweise selbst politische Konsequenzen haben, andere Hindernisse.
Wenn somit deutlich ist. daß eine Besinnung auf die Aufgaben einer Wissenschaft immer wieder nötig ist. so braucht es nur noch drei Vorbehalte um damit beginnen zu können. Sie ist notwendigerweise subjektiv, und es hat seine Vorzüge, wenn sie sich dazu bekennt, denn dann kann sie um so entschiedener sein. Sie kann nur bestimmte Akzente setzen, bestimmte Notwendigkeiten herausheben, die im Betrieb der Wissenschaft zu wenig besorgt zu sein scheinen. Sie ist nur sinnvoll, weil sie vieles — was von selbst geschieht — gar nicht ändern kann. Sie kann aufgrund ihrer Stellung nur auf bestimmte allgemeine Erfordernisse zielen, nicht auf einzelne Forschungsdesiderate. Ein Althistoriker wäre auch gar nicht in der Lage, für die neuere und neueste Geschichte, um die es dabei vor allem ginge, solche Lücken genauer zu bezeichnen.
I. Thematische Ausrichtung der Historie
Eine erste Gruppe von Aufgaben besteht darin, daß wir versuchen müssen, die Forschungsthematik innerhalb der herkömmlichen Bereiche antik-abendländischer Geschichte sowohl auszuweiten wie insbesondere auch zu vertiefen. Dabei bedürfen meines Erachtens heute besonders zwei Themenbereiche der intensiven Erforschung. Der eine ist die politische Geschichte, der andere der weite Be-reich.der sich etwas ungenau als anthropologische Dimension der Geschichte bezeichnen läßt. Ein herkömmlicher und ein moderner Zweig der Geschichtswissenschaft. so mag es scheinen. Aber die Dinge liegen so einfach nicht.
Die politische Geschichte, die in letzter Zeit, wie mir scheint, zu sehr an den Rand der Forschung und Darstellung geraten ist und für die die Studenten im Durchschnitt erschreckend wenig Sinn haben, bedarf nichteinfach der Wiederbelebung. Sie ist vielmehr neu zu entdecken, denn das politische Handeln, die Grundkategorien von Politik, die Rolle politischer Entscheidungen, auch diejenige des Staates verstehen sich nicht mehr von selbst. Sie bedürfen vielmehr einer neuen Begründung. Es kann nicht mehr ausreichen, einfach die Handlungen und Ereignisse auf der politischen Bühne nachzuzeichnen. sondern es muß zu allererst und jeweils von neuem, gesichert werden, daß, warum und wieweit das Politische eine relative Autonomie hatte, wieweit es darin offen war gegenüber vielerlei Einflüssen von wirtschaftlicher Macht, gesellschaftlichen Interessen, vorherrschenden Einstellungen und vielem anderen — und wieweit es dann doch all diese Einflüsse zu relativieren vermochte und sie mit jeweils verschiedenen Koeffizienten zur Geltung kommen ließ etc. Es ist zu fragen, wie die „Imponderabilien“ der Politik Außenstehenden (unserm Publikum also) zu erklären, wie die Möglichkeiten und Grenzen des politischen Wirkens von Persönlichkeiten zu begreifen sind; ob es etwa stimmt (was für uns so schwer nachvollziehbar ist), daß einige Politiker „groß“ waren. Das ist ja ein strukturgeschichtliches Problem. Und immer neu ist zu fragen, in welchem Maße sich die Gesellschaft (oder wenigstens dasjenige an ihr, was veränderlich ist) dem Zugriff politischer Entscheidung öffnet, inwieweit die wesentlichen Fragen einer Zeit überhaupt in Politik eingefangen werden können. Nicht nur das Handeln der Parteien, sondern auch die Art der Parteiungen wird wichtig, weil sich in ihr die Umsetzung politischen Handelns in den historischen Prozeß vollzieht (oder gerade nicht vollziehen kann). Es erhebt sich für einzelne, für Regierungen wie für ganze politische Systeme die Frage der Macht in den Verhältnissen sowie diejenige der Macht über die Verhältnisse. Dahinter steht das Problem der Relation zwischen politischem Geschehen und eher „von selbst“ ablaufenden, jedenfalls kaum zu beeinflussenden Veränderungsprozessen. die sich von Fall zu Fall recht verschieden ausbilden kann. Damit ist zugleich der Ort der Politik und des politischen Geschehens problematisch geworden.
Dergestalt gilt es. scheint mir. eine Geschichte des Politischen zu entdecken, die neben der Politik stets zugleich deren Einbettung in weite und weiteste Zusammenhänge im Auge hat; den Stellenwert der Politik und seinen Wandel. Eine Geschichte, die elementar genug ist. um auch denen, die sich sehr kritisch (oder auch verständnislos) fragen, was Politik und Staat überhaupt sei und sein solle, diese uralte und für alle bisherige und vermutlich auch die künftige Geschichte so wichtige Dimension der Historie wieder nahebringen und erklären zu können. Daß das nicht nur für die Geschichtswissenschaft von großer Bedeutung ist, leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich klarmacht, wie sehr das Urteil über Politik heute darunter leidet, daß kaum Maßstäbe zu deren Beurteilung vorhanden sind. Man orientiert sich vielmehr einerseits an irgendwelchen blaß gewordenen Vorstellungen darüber, was sein soll, und andererseits an einer Gleichsetzung von dem, was ist (oder zu sein scheint), mit dem, was zu erwarten ist. Es fehlt die begründete Reflexion auf das, was sein kann. Das kann man zwar nicht direkt der Geschichte entnehmen, aber historische Betrachtung kann doch, gerade indem sie die Politik früherer Zeiten erforscht, aufweisen, welche Möglichkeiten Politik grundsätzlich hat; allerdings je nach den Bedingungen unter denen sie betrieben wird. Sie gibt damit im Zweifelsfall keine Vorbilder, aber gerade in der Reflexion auf das, was Politik unter Umständen sein kann, kann sie dazu beitragen, bewußt zu machen, warum diese nicht unbedingt so sein muß, wie sie ist. Übrigens könnte sie auch das Sensorium für das, was Außenpolitik ist und sein kann, wieder beleben. Daß es bei uns im allgemeinen um dieses Sensorium nicht sehr gut bestellt ist, zeigt etwa ein Blick in die deutsche Presse.
Neben der Vertiefung dieser so wichtigen und in letzter Zeit eher an den Rand gedrängten Dimension von Geschichte scheint mir die weitere Ausdehnung (und zum Teil Vertiefung) des historischen Interesses an den zum großen Teil neuentdeckten anthropologischen Dimensionen zu den zentralen Aufgaben heutiger Geschichtswissenschaft zu gehören.
Es ist schwierig, all das aufzuzählen, was in den letzten Jahrzehnten neu zum Gegenstand historischer Forschung geworden ist: Die Geschichte des Klimas, der Arbeit und ihrer Einschätzung, des öffentlichen und privaten Raums, der Freundschaft, der Kindheit, der Krankheit, des Todes, aber auch des Lebensalters, der Lebensformen, des Alltags und der Feste, ganz besonders diejenige der Frau oder — neuerdings — der Geschlechter überhaupt und unendlich vieles andere. Manche Themen, die schon früher behandelt worden waren, wie die Frömmigkeitsgeschichte oder die des Aberglaubens.des Hexenwahns etc., wurden in diesem Zusammenhang neu aufgenommen. Insgesamt ist ein außerordentlicher „Historisierungsschub" erfolgt: Sehr vieles, was entweder das Interesse der Historiker gar nicht gefunden hatte oder nicht als veränderlich angesehen worden war, wurde als historischer Prozeß erkannt.
Man mag für diesen Schub manche forschungsimmanenten (auch forschungspolitischen) Gründe anführen. Letztlich ist es aber doch wohl das Bewußtwerden des umfassenden Wandels unserer Zeit, der Entfernung von den letzten Überbleibseln der „alten Welt“, die Erkenntnis der Fremdheit unserer eigenen Vorfahren und der Zusammenbruch unseres zivilisatorischen Stolzes, die diese Forschungen sehr stark angetrieben hat, indem sie nämlich die Offenheit für neue Ergebnisse, ja das Bedürfnis danach stark vergrößerte. Die „Anthropologie-Geschichte“ (wenn man sie so nennen darf) steht unverkennbar in Zusammenhang mit der Bereitschaft, ethnologische Fragestellungen auch auf die eigene Gesellschaft samt ihrer Vorgeschichte anzuwenden. Die Barrieren zwischen Ethnologie und Geschichte, zwischen frühen Völkern und uns selbst sind insoweit gefallen: Hinter den Unterschieden wird eine grundlegende Gemeinsamkeit des Menschseins sichtbar, und die befähigt uns. die Unterschiede besser, freier, offener wahrzunehmen; im Fremden uns selbst und in uns das Fremde zu erkennen (wobei das „uns“ zum Teil auch unsere Vorfahren einschließt).
Damit ist paradoxerweise sowohl eine „Historisierung“ als auch eine „Dehistorisierung" verbunden. Historisierung insofern, als immer mehr in den Epochen als historisch erkannt wird. Vieles, was man früher für konstant gehalten hat (worin man die Menschen früherer Epochen einfach vertraut nahm), erscheint jetzt als wandelbar — bis hin zur Mutterliebe (und man vermutet darin primär das Andere, das Fremde). Eben damit aber geht insofern eine Enthistorisierung einher, als man nun die enormen Abstände nicht mehr voraussetzt, die uns nach älterer Meinung von allem Früheren scheiden. Der Glaube an die Höhe unserer eigenen Zivilisation ist dahin, und folglich können wir uns der anthropologischen Grundsituation, die wir mit allen andern gemein haben, bewußt werden: Eben sie macht aber, wie gesagt, zugleich die Unterschiede, die Geschichte auch der Weise, Mensch zu sein (angefangen mit der Ernährung, ja mit der Fähigkeit, bestimmte Nahrung überhaupt zu vertragen) erfahrbar und interessant. Eben daraus resultiert die besondere Aktualität der neuen Fragestellungen. Und sie ist natürlich zugleich eine Nachwirkung des historischen Bewußtseins früherer Jahrzehnte, indem erst dieses die Fremdheit selbst der eigenen Vorfahren nennenswert bemerkbar gemacht hat.
Man mag die wachsende kulturelle Verarmung. Verblassung und Angleichung unserer Gesellschaften hinzunehmen, um den Sinn für das Fremde, das Exotische zu erklären (der sich vorher mehr im Raum, seit einiger Zeit aber vor allem in der Geschichte — und gerade in den besonders rätselhaften Zügen früherer Gesellschaften — seine Nahrung sucht).
Wir stehen nun, meine ich, vor der Aufgabe, Forschungen dieser Art weiterzutreiben und nach Möglichkeit auf weitere Felder auszudehnen. Dabei scheint mir die „Geschichte der Affekte“, das heißt der Weisen, in denen Gesellschaften Affekte und deren Ausleben regulieren, von besonderem Interesse. Für die Geschichte der Angst und des Weinens sind schon vielversprechende Anfänge gemacht und insgesamt hat Norbert Elias hier wichtigste Vorarbeiten geleistet, die zwar kaum einfach fortgesetzt werden sollten, an denen man aber aufs Fruchtbarste anknüpfen kann.
Eine andere Frage zielte auf die psychischen Ressourcen. ihre Regenerier-oder Erschöpfbarkeit, die eine bestimmte Form der politischen Einheit, der Wirtschaft oder Gesellschaft voraussetzt (und deren Auslaufen ein wesentliches Glied in deren Niedergang sein könnte).
Mit diesen, oft auf sich und allzusehr auf einzelne Beobachtungen konzentrierten Forschungen stellen sich zugleich viele alte Fragen neu. Was ermöglicht einer Gesellschaft, Kriege zu beginnen, ja eventuell — wie bei den Griechen — Kriege, in denen diejenigen, die sie beschließen, selbst zu Felde ziehen? Welche Einstellung zum Leben, zu den Kindern, zum Gemeinwesen gehört dazu? Wer will das — von heute aus gesehen — noch für unproblematisch halten? Wie kommen griechische Bürgerschaften dazu, sich so stark in der Politik zu engagieren? Wieso kann — wiederum bei den Griechen — Arbeit, materieller Gewinn gegenüber öffentlicher Tätigkeit geringgeschätzt werden? Gerade weil alle frühere Zeit so unendlich weit von uns weg gerückt, so fremd geworden ist, muß man auch in diesen Bereichen anthropologisch neu ansetzen. Unendlich viel, auch an Bekanntem wird neu zu prüfen, neu zu sehen, neu mit Erklärungen zu unterfangen sein, sobald einmal die anthropologischen Voraussetzungen problematisch geworden sind. In dem Stadium, in dem wir uns heute befinden, wird das unvermeidlich sein.
Aber es wird umgekehrt auch, und stärker als bisher. notwendig sein, die große Zahl der neuen Erkenntnisse in bestimmte Zusammenhänge zu bringen. Wir werden nach Kategorien zu suchen haben, die es erlauben, die Vielfalt des Erarbeiteten in Beziehung zueinander zu setzen und auf bestimmte Nenner zu bringen. Am Ende wird zunächst, so vermute ich. eine Geschichte der Weisen. Mensch zu sein, stehen, die ihre Mitte in einer Geschichte der „Individualität“ haben könnte: Der Frage, wie der einzelne im Zusammenhang der Gesellschaft (und der Welt sowie der verschiedenen Lebensbezüge. in die er eingebettet ist oder denen er nebeneinander zugehört) sich stellt. Inwieweit eher individuell. als „Persönlichkeit“ im alten Sinne des Wortes oder eher als Teil eines Ganzen, das er mit anderen ausmacht, inwieweit eher selbständig und in irgendeiner Weise umfassend oder eher im abgegrenzten Bezirk einzelner Funktionen. Das sind Fragen, die auch für frühere Zeiten, Völker und Hochkulturen, die Griechen (und daneben auf andere Weise die Römer) sowie für die Epochen der europäischen Geschichte aufs Fruchtbarste gestellt werden können und die in vielen Punkten zu einem neuen Verständnis der Geschichte (samt verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Hervorbringungen zum Beispiel) führen können. Von diesem Mittelpunkt aus lassen sich auch die verschiedenen Sektoren unseres Lebens. Religion. Politik. Wirtschaft und Geselligkeit und vieles andere auf interessante Weise neu in Beziehung setzen.
II. Methoden von Forschung und Darstellung
Eine andere Reihe wichtiger Aufgaben erwächst in methodischer Hinsicht. Verschiedene der Forschungen. gerade auf dem Gebiet der anthropologischen Dimensionen von Geschichte, sind anscheinend so stark von der Entdeckerfreude bestimmt, daß dabei bestimmte methodische Probleme gar nicht gesehen worden sind. Gerade in der „Alltagsgeschichte“ herrscht zum Teil die Illusion des unmittelbaren Zugangs zu historischen Tatbeständen. Es wird einiger Arbeit bedürfen, um die methodische Bewußtheit der Historie dort zur Geltung zu bringen.
Aber zugleich erwachsen auch neue methodische Probleme. Insbesondere eines scheint mir von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein: Das ist das Verhältnis zwischen Makro-und Mikrogeschichte. Die „große Geschichte“ pflegt ja, wenn auch in je verschiedenem Umfang, immer wieder in die kleinen Geschichten hineinzureichen. Vor allem baut sie in irgendeiner Weise immer auf den kleinen Geschichten auf. Das beginnt damit, daß bestimmte Funktionsweisen der Familie, des Hauses, der Erziehung von den politischen Einheiten vorausgesetzt werden müssen. Das kann sich aber bis in stärkste Beanspruchungen jedes einzelnen in seinem kleinen Kreise hinein fortsetzen. Wie das jeweils geschieht, muß untersucht, es muß aber auch verständlich gemacht werden können.
Ein besonders aktuelles Beispiel für die Problematik, die hier lauert, ist die Geschichte Deutschlands in den Jahren von 1933 bis 1945. Das heißt, der Tatbestand, daß einerseits Makro-und Mikrogeschichte aufs ungeheuerlichste auseinanderklafften: Im „großen“ wurden die schrecklichsten Verbrechen der Weltgeschichte ausgeführt, und im „kleinen“ glaubte das Gros der Bevölkerung, und nicht einmal ohne Grund, sich mehr oder weniger anständig zu verhalten (zum Teil gar mehr oder weniger unabhängig vom Regime und seinen spezifischen Anforderungen). Trotzdem haben andererseits die kleinen Geschichten zur großen in der Summe entscheidend beigetragen: Durch die Weisen der Erziehung, der Werte, die man vermittelte, durch die Sicherung reibungsloser Abläufe, durch die Erwartungen, die man aneinander richtete, durch die Beteiligung am Krieg, in dem man weithin fürs Vaterland sich zu schlagen meinte, ja auch durch die Illusionen, relativ anständig und unabhängig zu leben, die zweifellos zum Funktionieren der Maschinerie beitrugen. Die „große Geschichte“ zog die „kleinen Geschichten“ in sich hinein. Sie hätte ohne sie nicht geschehen können.
Wie aber paßt das eine zum anderen? Wie kann man das als Beteiligter oder Nachfahre — oder auch als Außenstehender — einerseits auseinanderhalten und andererseits zusammendenken? Welche Kategorien haben wir überhaupt, um das zu leisten? Um außerdem die gemeinsamen und zugleich höchstverschiedenen Perspektiven der Zeitgenossen von den unseren zu scheiden? Da ist, so scheint mir, sowohl theoretisch als auch praktisch und insbesondere bei der Erprobung geeigneter Vermittlungsweisen noch Erhebliches zu leisten.
III. Historische Synthesen
Den dritten großen Aufgabenkomplex heutiger Geschichtswissenschaft sehe ich in der Problematik der Synthetisierung. Zunächst, doch das scheint allmählich deutlich geworden zu sein, besteht wie stets eine wesentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, ihre Ergebnisse im Zusammenhang öffentlich vorzutragen. Das ist lange vernachlässigt worden. Zu sehr drängten sich eine ganze Reihe von Forschungsproblemen in den Vordergrund, zu sehr mußte sich die erste Nachkriegsgeneration der deutschen Historiker erst einmal darüber vergewissern. was überhaupt Geschichte sei und wie man sie darzustellen habe. Denn es stellen sich da große Probleme.
Je mehr wir auf immer neue, immer weitere Felder der Einzelforschung vordringen, um so schwieriger wird es, ein Bild von „der Geschichte“ einzelner Völker oder einzelner Epochen zu gewinnen. Wohl kann man versuchen, die verschiedensten Dimensionen. in denen sich das Leben und die Geschichte einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit (etwa Deutschlands von 1800 bis 1866) entfalteten, nebeneinander nachzuzeichnen. Aber das ergibt zunächst nur eine gewisse Vollständigkeit des Berichts respektive der Erzählung. Es ist damit, meine ich. die Frage nach dem Zusammenhang einer Gesellschaft in einer Epoche, die Frage auch nach der angemessenen Weise, diesen Zusammenhang erzählerisch zu vermitteln, schließlich auch die nach den Grenzen des Historikers, noch nicht befriedigend gelöst. Ich zweifle etwa, ob wir, ob selbst die Besten von uns in der Lage sind, der Fülle der kulturellen Äußerungen einer Zeit gerecht zu werden. Das überstiege unsere Zuständigkeit vermutlich um ein gutes Stück. Allerdings sind wir als Historiker — wie wohl keiner sonst — zuständig dafür, das jeweils Epochenspezifische gerade auch an künstlerischen Hervorbringungen herauszuarbeiten, also das. was ich eben den Zusammenhang der Epoche nannte. Das liefe dann auf bestimmte Nenner hinaus. in denen (und in deren Verhältnis) die Eigenart der Zeit und ihrer Geschichte begriffen werden könnte. Bestimmte Weisen etwa, die Welt zu erleben. bestimmte Relationen von Eingebundenheit und Freiheit, bestimmte Fragen — aber auch bestimmte Möglichkeiten für das Individuum, sich selbst auszubilden, weitgehende Geschlossenheit oder eher Aufgliederung in verschiedene Lebens-bezüge, verschiedene Formen der gesellschaftlichen Identität, des Verhältnisses zwischen Krieg und Frieden, zwischen Alltag und Fest, von den selbstverständlich ebenfalls zu berücksichtigenden Produktionsverhältnissen ganz zu schweigen.
Aber vielleicht irre ich mich. Vielleicht verlange ich zuviel. Dann bliebe aber eine These, die ich jedenfalls verfechten möchte: Die Weise, in der wir die verschiedensten Erkenntnisse, die wir von einer Geschichte haben, zu Synthesen bringen können, muß Gegenstand expliziter Reflexion, Rechenschaft und Auseinandersetzung sein; sowohl im allgemeinen wie für die einzelnen Epochen. Wir verwenden seit langem vielerlei Mühe darauf, unsere Analysen methodisch zu begründen, die Quellen-kritik etwa, aber auch Verfahren, wie die der Hypothesenbildung, der Verwendung mittelfristiger Theorien. Doch wie wir dann am Ende Geschichte darstellen, in Vorlesungen und in Büchern, das heißt wie wir sie dann irgendeiner Öffentlichkeit präsentieren, dafür haben wir zwar jeweils unsere Gründe, doch bringen wir sie selten vor. Es gibt freilich gerade in neuerer Zeit rühmliche Ausnahmen von dieser Regel, nur hat sich daran keine wirkliche Diskussion angeschlossen. Aber wir müßten uns allgemein darüber klar werden, müßten uns auch über die vorliegenden Programme — und die Weise, die Vor-und Nachteile ihrer Verwirklichung auseinandersetzen. Das beste Indiz dafür, wie viel da im argen liegt, sind die Rezensionen solcher umfassender Darstellungen, die, wenn es gut geht, sehr klug und einfühlsam, sehr kundig vom Gegenstand (oder doch von vielen der dort behandelten Gegenstände) sein können, sich aber über die Weise der Synthese im ganzen auf wenige Andeutungen zu beschränken pflegen.
In der Synthese, der zusammenfassenden Darstellung. in der alles seinen angemessenen Platz finden muß, beweist sich, so scheint mir, ob und wie eine Geschichte im ganzen begriffen worden ist. Indem die allgemeinen und die jeweils besonderen Prinzipien, die einen dabei leiten, explizit erläutert werden, vermittelt man dieses Begreifen zugleich an Studenten und Leser. Und das ist um so notwendiger. je vielfältiger und unübersichtlicher die Geschichte wird. Nur so wird man auch mehr Klarheit über die Bedeutung politischer Geschichte in den verschiedenen Epochen, auch über den „Stellenwert“ der verschiedenen Feststellungen der Einzel-forschung zu gewinnen und zu verbreiten vermögen. Schließlich sollte man. so meine ich jedenfalls, nicht vergessen, daß zu einer umfassenden Darstellung von Geschichte auch Erzählung gehört; auch wenn moderne Historiographie darin nicht aufgehen kann. Strukturgeschichte etwa sollte sowohl im Zusammenhang dargelegt als auch in den Brechungen erzählt werden, in denen sie sich in den Beteiligten vollzieht, deren Handlungs-und Entfaltungsspielräume.deren Perspektiven und Lebenshorizonte sie bestimmt.
IV. Die Geschichte der „Ökumene“
Es stellen sich aber auch Aufgaben, die über den herkömmlichen Bereich der antik-abendländischen Geschichte weit hinausweisen. Denn es geht doch wohl nicht mehr an, unter Geschichte das zu verstehen. was üblicherweise in diesem Fach behandelt wird: Die Geschichte Europas sowie Nordamerikas. vielleicht noch der südlichen Hälfte des amerikanischen Kontinents und vielleicht auch noch der europäischen Kolonien. Die Geschichte des Islams. Afrikas. Indiens. Südostasiens. Chinas. Japans und anderer Teile der Welt kann kaum mehr wie bisher, beiseite gelassen werden. Zwar hat es seine Gründe, daß diese Geschichten, sofern überhaupt, von Islamisten. Indologen etc. behandelt werden. Gründe, die sowohl in der Wissenschaftsgeschichte wie etwa in der Tatsache liegen, daß die Sprachkenntnisse des Historikers beschränkt sind. Trotzdem drückt sich darin eine inzwischen ungebührliche Verengung aus.
Nur fragt es sich, wie eine stärkere Einbeziehung der „außereuropäischen Geschichte“ in den Horizont unserer Gesellschaft im allgemeinen und der Geschichtswissenschaft im besonderen möglich sein kann. Die Überlegungen dazu sind noch nicht sehr weit gediehen. Das Problem soll im Oktober dieses Jahres auf dem Bamberger Historikertag zur Sprache kommen. Hier muß es mit wenigen Fragen genug sein:
Wenn Geschichtswissenschaft dazu da ist. ihren Absolventen und zugleich der Gesellschaft, in der sie wirkt, einige historische Orientierung zu bieten, so kann sie in ihrer Zielsetzung vernünftigerweise nicht mehr davon absehen, daß Europa nicht die Mitte der Welt (und das Ziel einer vermeintlich am Ende einzigen Weltgeschichte) ist. sondern ein Erdteil unter anderen (und daß seine Geschichte zwar diejenige der ganzen Ökomene.der ganzen bewohnten Welt tief berührt und in Mitleidenschaft gezogen hat, daß ihr Ergebnis aber uns selbst inzwischen zutiefst fragwürdig geworden ist).
Auch wenn man, wie man es zweifellos muß, historische Orientierung zugleich als Orientierung über die eigene Herkunft versteht, so kann diese nur-mehr im Kreis der verschiedenen Geschichten und Herkünfte verstanden und vermittelt werden. Es geht ja darum, uns über unsere historisch gewordene Eigenart zu unterrichten, und zwar nicht mehr nur, was halbwegs eingeführt ist, damit sich etwa die Deutschen durch die Unterschiede zu andern Europäern begreifen, sondern auch damit sich Europäer durch die Unterschiede zu Japanern, Chinesen, Indern, Afrikanern und anderen verstehen und zu verstehen geben. Das bedeutet, wir müssen uns zumindest der eigenen Geschichte in sehr viel weiterem Horizont bewußt werden. Mindestens insofern bedarf es einer vergleichenden Einbeziehung der außereuropäischen Geschichte schon bei der Erfüllung einer der ältesten und wichtigsten Aufgaben europäischer Geschichtsbetrachtung.
Keine Frage, daß eine solche Horizont-Erweiterung höchst fruchtbar ist, auch für das Verständnis der antik-abendländischen Geschichte. Ein Beispiel aus der Antike kann das in Kürze schlagend illustrieren. Wenn man erklären soll, wie es bei den Griechen zur Demokratie kam, weist man gern darauf hin. daß dort schon in früher Zeit, bei Homer. Volksversammlungen bezeugt sind. Daraus scheint dann zu folgen, daß es für die Griechen nahe lag. diese Institution weiterzuentwickeln bis es zur Demokratie kam. Ist einem aber einmal bewußt, daß es auch in der frühen indischen Geschichte, vermutlich in der mesopotamischen, auch in der der Perser.der der Zulus und anderer in früher Zeit Volksversammlungen gegeben hat. die aber dem Prozeß der Kulturbildung zum Opfer fielen, so lernt man daraus, daß das Vorhandensein von Volksversammlungen in früher Zeit offenbar nichts so Besonderes ist. Und das, was man an den Griechen eigentlich erklären muß, ist nicht, daß sie in früher Zeit eine Volksversammlung hatten, sondern daß sie sie im Prozeß ihrer Kulturbildung bewahren und dann immer weiter ausbauen konnten. Schon um die eigenen Fragen richtig stellen und beantworten zu können, braucht man also in dieser Hinsicht — wie in vielen anderen — den Blick weit über die Grenzen hinaus. Das ist im großen überall der Fall, wo es um die Erklärung der Besonderheit europäischer Kultur geht. Eine solche Erklärung brauchen wir nicht nur für uns selbst, sondern auch, um uns heute im Rahmen der andern Kulturen der Welt zu verstehen und verständlich zu machen.
Damit ist zugleich klar, daß im Horizont unserer so sehr zusammenwachsenden Welt die Besinnung auf die eigene antik-abendländische Geschichte (und deren Vermittlung an die Schüler in weitem zeitlichem Rahmen!) neuerdings wichtig wird.
Aber es ist auch offensichtlich, daß wir damit in größte Schwierigkeiten geraten. Wie will man das bewältigen? Ohne der weiteren Diskussion vorzugreifen. kann man, scheint mir, nur sagen, daß wir neben vielerlei Kenntnissen und neben der Fähigkeit der sehr genauen methodischen Behandlung einzelner Probleme sowie derjenigen, bewußt und reflektiert Synthesen herzustellen, auch diejenige eines vorsichtigen und zugleich mutigen Um-Sich-Schauens einüben müssen, eines gewissen Grenzgängertums. Daß dahinter eine weitaus stärkere Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg stehen muß, versteht sich von selbst.
V. Vergleich und „historische Sachkunde“
Ein besonderer Reiz dieser Ausweitung des historischen Horizonts besteht in der damit sich eröffnenden Möglichkeit des Vergleichs. Ohnehin scheint mir der Ausbau der Methode des Vergleichs zu den wesentlichen Aufgaben-heutiger Geschichtswissenschaft zu gehören. Ob das die Griechen sind, deren Demokratie, deren Weise. Mensch zu sein, in ihrer Eigenart (und Fremdheit) erst wirklich einsehbar wird, wenn man sie explizit gegen die moderne und gegen frühere Hochkulturen setzt, oder die Rolle unserer Parteien, die erst wirklich deutlich wird, wenn man sie gegen Parteiungsarten setzt, welche es nicht erlauben, die alltägliche Interessenvertretung mit der Ausfechtung der Grundfragen des Gemeinwesens in einer und derselben Gruppierung zu erledigen — wir haben hier noch sehr viele Erkenntnisse zu erzielen, gerade im Dienste einer Orientierung über uns selbst und unsere Gesellschaft. Wieviele Entdeckungen sind zu machen, wenn man die Frage gründlich und umfassend stellt, die heute zu den wichtigsten gehört: die Frage nach der Eigenart der verschiedenen Kulturen, die dann so wichtig wird, wenn uns unsere eigene Eigenart diskutabel und in vieler Hinsicht fremd geworden ist; besonders wenn sie sich in Auseinandersetzung befindet mit der Eigenart anderer Kulturen. Und wieviele Entdeckungen sind möglich, wenn man einmal uns vertraut scheinende Kulturen, wie etwa die Antike, konsequent als fremd zu betrachten sich angewöhnt! Zu all dem ist ein methodisch gegründeter Vergleich unerläßlich.
Letztlich müßte sich daraus so etwas wie eine historische Sachkunde ergeben: eine Kenntnis vom Menschen und seinen Möglichkeiten, von Institu35 tionen. von Recht und Religion und ihrem Verhältnis zueinander sowie von vielem anderen mehr. Eine solche historische Sachkunde werden wir künftig um so mehr brauchen als sich der Umbruch unserer Zeit stärker auswirkt und bewußt wird. Und die Bedeutung der Geschichtswissenschaft wird nicht zuletzt darin bestehen, daß sie hier etwas zu bieten hat.
VI. Jüngere deutsche Geschichte
Schließlich ein letzter Punkt. Er steht etwas außerhalb dieser eher aufs allgemeine — und auf die allgemeine Geschichte gerichteten — Betrachtung. Denn er betrifft unsere jüngste Geschichte und deren Vorgeschichte. Und er ist angeregt von den Auseinandersetzungen der letzten Jahre, die nun unter dem Namen „Historiker-Streit“ in unsere Geschichte einzugehen im Begriffe sind. In diesem Streit ist nicht über Fakten gestritten worden. Denn über den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes, über das Ausmaß und die Entsetzlichkeit der Verbrechen sind alle einig gewesen; einig auch in deren Verurteilung und im nachwirkenden Leiden daran. Umstritten war „nur“ die Einordnung dieser Verbrechen in die Geschichte und die Weise ihrer Fortwirkung in der Erinnerung sowie die Weise unseres Umgangs damit. Diese Fragen haben, wie man weiß, zu einer überaus heftigen Auseinandersetzung geführt. Sie sind also offensichtlich von größter Bedeutung. Und man kann das nicht anders erklären als damit, daß Geschichte — speziell ein solches Stück Geschichte — noch heute aufs stärkste bestimmend für eine Gesellschaft sein kann. die. aus welchen Gründen auch immer, weitgehend dazu bereit war, sich der Erinnerung an diese Geschichte auszusetzen.
Damit stellt sich das Problem der Geschichtserinnerung. Mithin liegt es nahe, ein in der historischen Forschung auch sonst geübtes Verfahren in diesem Punkt zu praktizieren: Nämlich auch diese Frage in den verschiedenen Teilen der Geschichte durchzuspielen. Damit für Möglichkeiten Beispiele hat die der Geschichtserinnerung — und am Ende dann hoffentlich ein Sachwissen über diese bislang wenig oder jedenfalls nicht in solch einem Horizont diskutierten Fragen erlangt. Die Ergebnisse müßten von großem Interesse sein. Auch hier wäre manch ein Vergleich möglich — auch wenn am Ende vermutlich herauskommt, daß noch nie eine Gesellschaft mit ihrer Geschichtserinnerung vor einer solchen Problematik gestanden hat.
Andererseits stellt sich in Hinblick auf die Vorgeschichte des NS-Regimes die Frage des „deutschen Sonderwegs“ neu. Man wünschte sich insbesondere. daß die Auseinandersetzung zwischen denen, die das NS-Regime primär in der deutschen Geschichte. und denen, die es primär im 20. Jahrhundert. im „Zeitalter der Ideologien“ verwurzelt sehen. offen ausgetragen würde; das heißt, daß man in dieser Hinsicht nicht mehr nur These gegen
These stellt. Und das gleiche gilt für einen speziellen Teil der Vorgeschichte, der sich während des Bismarck-Reichs abspielte und in dem man nicht nur einerseits die Eigenarten der damaligen Sozial-geschichte und andererseits die möglichen Determinationen deutscher Politik durch die machtgeographische Situation ausgeführt sehen möchte. Man wünschte sich vielmehr auch in diesem Punkt eine Auseinandersetzung, die das Ganze des Problems zu klären vermöchte.
Um es zu wiederholen: Es geht bei all dem. was ich vortrug, nur darum, im breiten, vielfältigen Strom der Forschung bestimmte, mir heute besonders wichtig erscheinende Probleme zu akzentuieren. Nicht dagegen wollte ich irgendeine Tendenzwende behaupten oder gar postulieren. Sie könnte sich, wie die Dinge stehen, nur gegen die sozialwissenschaftlich orientierte Richtung der Geschichtswissenschaft wenden. Dazu besteht weder Anlaß noch scheint irgendwo ein intellektuelles Rüstzeug bereitzuliegen. um einen solchen Angriff aussichtsreich führen zu können. Worum es geht, ist vielmehr. die Geschichtswissenschaft nach vorn zu treiben. durch die Integration neuer Fragestellungen und Methoden sowie die Ausweitung des Gesichts-winkels. Die methodische Bewußtheit der Verfechter einer Geschichte als Sozialwissenschaft kann dafür nur dienlich sein, auch wenn manche der Konsequenzen, die diese dabei ziehen, einseitig oder fragwürdig sein mögen; auch wenn sie manche Beengtheit mit sich bringen mag. die man aufbrechen sollte; auch wenn viele ältere Ansätze damit keineswegs widerlegt sind. Jede Zeit erlebt die Geschichte anders, von allem sollte etwas in das Wissen der Historiker eingehen und weitergeführt werden. Nicht zuletzt darin besteht der Fortschritt ihrer Wissenschaft.
Es gibt also sehr viele Aufgaben; und gewiß werden andere zugleich weitere Notwendigkeiten sehen, die hinter den genannten nicht unbedingt zurückzustehen haben. Aufgaben, deren sich die Historiker sehr wohl bewußt sein sollten — um jedenfalls ein gewisses Korrektiv zu haben, einen Maßstab, der es ihnen in ihrer Forschungsplanung dringlich erscheinen lassen sollte, sich immer wieder die Frage nach wichtig und unwichtig vorzulegen. Es ist zugleich die Frage nach der Wichtigkeit historischer Forschung und historischer Lehre sowie des Schulfachs Geschichte in unserer Zeit.