Im Mittelpunkt des „Historikerstreits“, der im Sommer 1986 begann und um die Jahreswende 1987/88 auslief stand die Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte und nach dem Selbstverständnis der Bundesrepublik. Von diesem ideenpolitisch zentralen Problem her gewann der Streit seine Schärfe und Publizität, zu diesem Zentralproblem hatten alle Themen der Debatte Bezug, so verschiedenartig sie im übrigen auch waren. Es ging (a) um die Frage der Vergleichbarkeit des Nationalsozialismus und des nationalsozialistischen Völkermords; (b) um die davon klar zu unterscheidende Frage, inwieweit der nationalsozialistische Völkermord als verständliche Reaktion auf die bolschewistischen Massenvernichtungen im Bürgerkrieg und unter dem Stalinismus zu deuten sei. Einen Nebenschauplatz stellte (c) die Kontroverse darüber dar, inwieweit deutsche Geschichte aus der geographischen Position Deutschlands in der Mitte Europas zu erklären sei. Weiterhin ging es (d) um das dornige Problem der „Historisierung" des Nationalsozialismus, wobei verschiedene Teilnehmer unter diesem äußerst mißverständlichen Begriff Verschiedenes verstanden: Aus welcher Perspektive soll man jene grauenvollen Ereignisse begreifen — aus der Perspektive der Zeitgenossen (aber dann: welcher Zeitgenossen?) oder bewußt aus der distanzierenden Rückschau des Historikers? Wie verhalten sich ferner Verstehen. Analyse und Urteil? Schließlich (e) ging es in fast jedem der Teilthemen zugleich um ein weiteres, sehr generelles Problem: um das der kollektiven Identität und um den Beitrag, den historische Erinnerung — bzw. die Geschichtswissenschaft — dazu leisten kann oder soll.
Hier soll nicht versucht werden, eine Bilanz des Historikerstreits zu ziehen Vielmehr sollen zwei neuralgische Punkte des Streits aufgenommen und weitergedacht werden: zunächst die Frage, was die Rolle des Geschichtswissenschaftlers in einem solchen nicht primär wissenschaftlichen Streit sein kann und sollte; dann die dem „Historikerstreit“ immanente Problematik des internationalen Vergleichs. In diesem Zusammenhang soll dafür plädiert werden, eine lange fruchtbare Vergleichsperspektive. die unter dem mißverständlichen Begriff „Sonderweg“ etwas ins Abseits geraten ist und durch den „Historikerstreit“ überdeckt wurde, wiederaufzunehmen. wenn auch in modifizierter Form.
I. Geschichtswissenschaft und Ideenpolitik
Grenzen der Fachwissenschaft Die meisten Argumente im „Historikerstreit“ waren nicht rein fachwissenschaftlicher Natur. Sie wurden nicht primär an ein fachwissenschaftliches Publikum gerichtet, sondern sie wandten sich über die allgemeinen Medien an interessierte Teile der breiteren Öffentlichkeit. Und sie stellten keine wissenschaftlichen Aussagen in dem Sinn dar. daß sie aus empirischer Forschung folgten oder durch empirische Forschung zukünftig derart bestätigt werden könnten, daß sie auch für Historiker mit divergierenden politischen Anschauungen gleich zwingend und gültig sein würden. Vielmehr kamen in den zentralen und umstrittensten Argumentationen immer auch sehr grundsätzliche Überzeugungen zum Ausdruck, die sich mit fachwissenschaftlichen Mitteln allein nicht stringent begründen oder widerlegen lassen.
Wenn jemand — offenbar aus starken, vermutlich lebensgeschichtlich verwurzelten nationalen Über-zeugungen heraus — meint, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und deren Verlust seien „die wohl gravierendste Kriegsfolge“ (nicht aber der Tod von vielen Millionen Soldaten und Zivilisten und die Verwüstungen sondergleichen, die von diesem Krieg ausgingen — bis hin zur Atombombe und zur Schaffung von Bedingungen, ohne die die Vernichtungslager und der industrialisierte Massenmord an Juden und anderen Minderheiten nicht möglich gewesen wäre), dann wird man diese Wertung leidenschaftlich bestreiten, über sie argumentieren und versuchen können, ihr universalistischere Wertungsmaßstäbe entgegenzuhalten; geschichtswissenschaftlich widerlegen läßt sie sich nicht. Umgekehrt läßt sich zwar gut argumentieren, aber nicht mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft zweifelsfrei belegen, daß dem „Verfassungspatriotismus“ und dem Votum für die — in sich übrigens sehr heterogene — „politische Kultur des Westens“ eindeutig Priorität zuzukommen habe — selbst wenn dies auf Kosten nationaler Identitäten und Zielsetzungen geht Und wenn zwei Historiker gegensätzliche Positionen in bezug auf die Frage vertreten, ob es in der Bundesrepublik an kollektiver Identität mangele oder nicht, muß nicht notwendig einer von beiden ein schlechter Historiker sein
Das soll nicht heißen, daß über solche grundsätzlichen Fragen des gegenwärtigen Selbstverständnisses und der anzustrebenden Zielrichtung zukünftiger Entwicklung etwa nicht rational argumentiert, sondern nur entschieden oder gekämpft werden könnte. Im Gegenteil, um andere zu überzeugen und die eigene Position zu prüfen, wird man Implikationen konträrer Optionen aufdecken, versuchen, ihre vermutlichen Folgen abzuschätzen, ihre Konsistenz prüfen, Vorteile und Nachteile abwägen und andere Argumentationsschritte vornehmen, obwohl man weiß, daß diese wohl manchmal und ein Stück weit, aber selten ganz zum Konsens führen. Denn in Fragen dieser Art sind unterschiedliche Lebenserfahrungen, divergierende Interessen und konträre wertbezogene Zukunftsvorstellungen von Belang, deren spannungsreiche Vielfalt nach aller Erfahrung bestenfalls vermittelt, aber nicht völlig eingeebnet werden kann — jedenfalls nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen und ihre Ergebnisse. Anderenfalls wäre Politik überflüssig und durch Wissenschaft ersetzbar
Fachwissenschaftliche Kompetenz war denn auch keine notwendige Bedingung legitimer Teilnahme am „Historikerstreit“. Man mußte nicht NS-Experte sein, um sich in diesen Streit seriös einzumischen. wie umgekehrt nachgewiesene zeitgeschichtliche Kompetenz nicht davor schützte, in ihm zu versagen. Zweifellos hat mancher Journalist. Sozialwissenschaftler oder Althistoriker Nachdenklicheres. Treffenderes und Beständigeres zu dieser Debatte beigesteuert als mancher Zeithistoriker. Zweifellos haben auch viele Historiker, die sich primär als spezialisiert arbeitende Fachwissenschaftler verstehen, den Streit nicht als ihre Sache gesehen, auf jede öffentliche Äußerung dazu verzichtet und vielleicht sogar im stillen den Kopf geschüttelt über die öffentlichkeitsbegierigen Kollegen, die sich um Dinge kümmerten, die sie als Fachwissenschaftler nicht notwendig angingen.
Zwischen der Argumentationsebene des Historikerstreits und der Argumentationsebene der historischen Fachwissenschaft bestanden zum Teil recht erhebliche Unterschiede. Die Fragen, die in der Fachwissenschaft gestellt werden, sind zwar häufig durch Grundsatzerwägungen, politisch-weltanschauliche Optionen und daraus folgende Erkenntnisinteressen angestoßen und geprägt. Aber sie sind von beschränkterer Art und müssen in methodisch geregelter Form mit Bezug auf empirische Evidenz diskutiert werden. Die sich ergebenden Antworten sind in der Regel von geringerer Reichweite und können nicht beanspruchen, in bezug auf jene Grundsatzfragen eindeutige Entscheidungen herbeizuführen.
Während fachwissenschaftliche Argumente allein nicht ausreichen konnten, bestimmte Grundsatzfragen jenes „Historikerstreits“ eindeutig zu entscheiden, war es umgekehrt im Prinzip möglich, daß sich Historiker, die in jenem Streit konträre Positionen vertraten, gleichwohl auf dem Boden der Fachwissenschaft trafen und verständigten. Eine wissenschaftliche Disziplin lebt davon, daß an ihr Fachgenossen mit verschiedenen politisch-weltanschaulichen Orientierungen, verschiedenen Lebenserfahrungen und verschiedenen Interessen teilnehmen, solange sie sich in ihrer Verpflichtung auf das einig sind, was das Fach als solches konstituiert: Interesse an einem spezifischen Gegenstandsbereich, spezifische Methoden, spezifisches Wissen, eine spezifische Rationalität des Diskurses. Dennoch hatten die Fachhistoriker als solche zu diesem Streit etwas beizutragen, was nur sie beitragen konnten. Unter anderem weil sie dies in gewissem Widerspruch zu den Grundregeln ihrer Profession nicht immer im ausreichenden Maße taten, kam es in dem Streit zu Polarisierungen und Eskalationen, die in dieser Vehemenz vermeidbar gewesen wären.
Fachwissenschaftliche Rationalität, Aufklärung, Kritik Einige der in diesem Streit kontrovers diskutierten Thesen müssen schlicht als empirisch falsch bezeichnet werden. Dazu gehörte vor allem Ernst Noltes Unterstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen den früheren bolschewistischen Massenvernichtungen und dem späteren nationalsozialistischen Holocaust, der damit als nicht ganz unverständliche, gewissermaßen präventive Abwehrreaktion auf eine weiter bestehende Bedrohung aus dem Osten interpretiert und dem somit — bei aller Verurteilung, an der auch Nolte keinen Zweifel ließ — historischer Sinn zugesprochen wurde. Für diesen behaupteten Zusammenhang gibt es jedoch keine empirische Evidenz obwohl danach gesucht worden ist und obwohl diese Zusammenhänge nicht gerade als schlecht erforscht gelten können. Nach den Regeln der Profession muß deshalb eine solche Unterstellung als unverbindliche Spekulation ohne geschichtswissenschaft-liehe Autorität und als so unwahrscheinlich gelten, daß die Bezeichnung „falsch“ angebracht ist.
Mit diesem Beispiel soll gesagt werden: Fachhistorische Argumente reichen zwar nicht aus, die Grundsatzfragen eines solchen Streites verbindlich — also mit geschichtswissenschaftlicher Autorität — zu entscheiden, sie sind jedoch in der Lage, historische Legenden, Mythen und Verzerrungen als solche zu enthüllen und damit in einer solchen Debatte Grenzen zu setzen, außerhalb derer sie unverbindlich, abenteuerlich und irrational wird, innerhalb derer jedoch noch genügend Raum für legitimen Streit bleibt. Wenn der fachwissenschaftlichen Argumentation dies gelingt, ist es nicht wenig -
Die Geschichtswissenschaft verfügt — ähnlich anderen empirischen Wissenschaften — über eine spezifische Form von Rationalität, durch die sie sich von anderen, nicht-wissenschaftlichen Weisen des Umgangs mit Geschichte unterscheidet. Wir wären keine Geschichtswissenschaftler, wenn wir uns dieser Rationalität nicht verpflichtet fühlten. Dazu gehört es: — klare, möglichst eindeutige und Mißverständnisse verhindernde Ausdrucksformen zu wählen, also benutzte Zentralbegriffe, die nicht eindeutig festgelegt sind, zu definieren (auch wenn es umständlich ist); — systematisch und kritisch aufbereitete empirische Evidenz ernst zu nehmen; — bereit zu sein, Phänomene aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, zu beschreiben und zu interpretieren (statt sich einseitig mit einer zeitgenössischen Perspektive zu identifizieren); — zwischen Fragen und Antworten zu unterscheiden und diesen Unterschied nicht durch wiederholte rhetorische Fragen zu verschleiern;— zwischen dem, was möglicherweise geschah (und als theoretisch möglich gedacht werden kann) und dem, was wirklich geschah (und empirisch belegt oder doch empirisch wahrscheinlich gemacht worden ist), scharf zu unterscheiden und den Leser über diesen Unterschied nicht im unklaren zu lassen;
— die Grenzen der Reichweite wissenschaftlicher Aussagen zu kennen und in der Darstellung deutlich zu machen.
Zu jener Rationalität gehört weiterhin die Bereitschaft. eigene Urteile angesichts neuer Evidenz oder zwingender Argumente zu revidieren, auch wenn man es ungern tut und es politisch nicht paßt. Man muß lernen, seine Kritik auf Argumente zu beschränken und die Vertreter dieser Argumente möglichst wenig persönlich anzugehen’ (obwohl dies angesichts der engen Verknüpfung zwischen Argument und Argumentierendem nicht immer ganz möglich ist). Im fachwissenschaftlichen Diskurs geht es überdies nicht ohne Genauigkeit und Differenzierungsbereitschaft ab. Normalerweise, das weiß man als Historiker, läßt sich die Welt nicht in „good guys“ und „bad guys“ säuberlich unterteilen; Zwischentöne, Nuancen und Mischungsverhältnisse herrschen vor. und man muß ihnen in Darstellung und Urteil Rechnung tragen, auch wenn man dadurch an Dramatik verliert. Ich erspare mir, Beispiele aufzuführen, um nicht doch den Streit fortzuführen. Aber es erscheint mir unbezweifelbar. daß Grundregeln dieser Art im „Historikerstreit“ häufig verletzt worden sind, und zwar auch von teilnehmenden Historikern. Warum?
Zum einen: Die Fragen, um die der Streit ging, sind aufwühlend genug. Der Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen als dem schrecklichsten Teil des eigenen „historischen Erbes“ ist und bleibt schwierig und schmerzlich, wenn man nicht eine der vielen verschiedenen Formen von Verdrängung wählen will Allzu leicht macht es sich, wer die Frage nach der Nation als anachronistisch beiseite schiebt, ohne die ungelöste Brisanz anzuerkennen, die in ihr im deutschen Fall steckt. Und in der Debatte um angebliche Identitäts-und Sinndefizite der Gegenwart prallen konträre Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfe aufeinander, deren Streit ideenpolitischer Natur ist. ohne daß er den parteipolitischen Fronten entspräche.
Zum anderen ist die professionelle Identität der Historiker, ihre Kohäsion. Autonomie und kollektive Resistenz gegenüber sprengenden Einflüssen aus dem Raum der politischen Auseinandersetzungen nur mittelmäßig entwickelt: vielleicht stärker als in manch anderer Sozial-und Geisteswissenschäft, aber doch schwächer als in mancher Natur-oder Technikwissenschaft. Eine spezifische Fachsprache der Historiker hat sich nur in Ansätzen entwickelt, der für alle Historiker gleich gültige Kanon an methodischem und inhaltlichem Wissen ist vergleichsweise klein. Gegenstand und gesellschaftliche Funktionen der Historie begründen ihre relative Nähe zu Gesellschaft und Politik. Ideenpolitischen Auseinandersetzungen kann die Historiker-profession deshalb nur begrenzte Resistenz entgegensetzen.
Viele ihrer Mitglieder sind im Konfliktfall nicht bereit, ihrer Rolle als Mitglieder einer Profession gegenüber ihrer Existenz als politisch aktive Bürger eindeutig den Vorrang zu geben.
Man sucht nach Kompromissen. Obwohl gefiltert durch die fachspezifischen Rationalitätsanforderungen und innerprofessionellen Diskursregeln, fragmentieren somit die ideenpolitischen Fronten auch ein Stück weit die sich zuständig erklärenden Teile der Profession. Die distanzierte Rationalität des wissenschaftlichen Diskurses geht aus dieser Situation nicht ganz unbeschädigt hervor.
In enger Verbindung dazu ist ferner auf den Sog zu verweisen, der von den Medien ausgeht und dem gegenüber sich manche Fachwissenschaftler als nicht resistent genug erweisen. Denn mit dem wieder zunehmenden öffentlichen Interesse an dem.
was Historiker tun. sind manche Verführungen verbunden.
Mancher Historiker ist geneigt, wenn er kann, ä tout prix medienwirksam zu formulieren und zu versuchen, einen möglichst ansehnlichen Anteil der öffentlichen Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Daraus können sich Spannungen zu den Prinzipien wissenschaftsadäquater Argumentation ergeben. Überspitzte Polemik zum Beispiel hat gute Chancen, sich öffentliche Aufmerksamkeit zu erzwingen; sie kann aber auch die nötigen Differenzierungen verwischen und zum Abbruch innerprofessioneller Kommunikation beitragen. Noch viel eklatanter tritt der Widerspruch zwischen der Anpassung an den verführerischen Sog der Medien und den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit in Erscheinung, wenn eine blumige, metaphorische Sprache gewählt wird, die glitzernd und blendend über die Probleme hinwegtänzelt, statt sie präzis zu definieren, was ja leicht der schönen Eleganz entbehrt und geringeren Unterhaltungswert hat -So erstrebenswert es ist. mit Argumenten die Öffentlichkeit zu erreichen, und so nötig es ist, dazu einen nicht-hermetischen, nicht-spezialistischen Sprachduktus zu finden, so sehr empfiehlt es sich für die an öffentlichen Debatten teilnehmenden Geschichtswissenschaftler gleichwohl, dabei die Grundregeln ihres Diskurses nicht zu verletzen: nicht um sie der öffentlichen Debatte insgesamt aufzuzwingen (das wäre weder möglich noch wünschenswert), sondern um sie als Korrektiv wirken zu lassen, als Beitrag zur Disziplinierung und Präzisierung politisch aufgeladener Kontroversen. Dies dürfte einen der wichtigsten Beiträge darstellen, den Fachwissenschaftler zur öffentlichen Aufklärung leisten können. Soll dies erreicht werden, darf die Differenz zwischen fachwissenschaftlichem Diskurs und sonstigen Diskursen nicht eingeebnet werden. Die Rolle des Fachhistorikers und die Rolle des Journalisten sind nicht identisch. Die Umständlichkeit der Wissenschaft hat oft ihren Sinn. Auf der Eigenständigkeit des fachwissenschaftlichen Diskurses und der zugehörigen Darstellungsformen zu bestehen, sie gegenüber den Gesetzmäßigkeiten des Feuilletons, der Leitartikler und des Fernsehschirms zu verteidigen, entspricht nicht nur fachwissenschaftlichen Interessen, sondern oftmals auch politischer Vernunft.
Im „Historikerstreit“ ging es u. a. um das Verhältnis von kollektiver Identität und Geschichte. In dieser Debatte hieß Identität, wenn ich richtig verstehe, soviel wie ein konsensförderndes, stabilisierendes und orientierendes Gemeinsamkeitsgefühl und -bewußtsein, das die Legitimität und die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften fördert. Von der Besinnung auf die gemeinsame Geschichte wird erwartet, daß sie Identität in diesem Sinn stärkt. Dieses Denkmuster spielt auch außerhalb des „Historikerstreits“ eine Rolle. Die kompensatorische Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch die Geisteswissenschaften wird als Mittel zur Linderung von Identitätsschäden und Sinnverlusten empfohlen, die uns die fortschreitende Modernisierung angeblich zufügt
Dazu wäre viel zu sagen. Man könnte bezweifeln, ob wir in der Bundesrepublik wirklich so sehr an kollektiver Identitätsschwäche und Sinnverlust leiden. Man könnte argumentieren, daß sich kollektive Identität aus vielen Quellen speist, unter denen die historische Erinnerung nicht die kräftigste sein dürfte. Man könnte darauf verweisen, daß die Suche nach kollektiver Identität nicht notwendig zu Nation und Nationalgeschichte führt, es vielmehr auch andere Dimensionen kollektiver Identität gibt (regionale, europäische, konfessionelle, humanistische etc.), unter denen die nationale nur eine und nicht notwendig die dominante darstellt.
Unter dem Gesichtspunkt, welche Konsequenz man als Fachhistoriker aus dem „Historikerstreit“ ziehen sollte, scheint jedoch folgende Überlegung wichtiger: Es mag ja zutreffen, daß die historische Erinnerung an gemeinsame, weiter wirkende Erfahrungen kollektive Identität im oben umschriebenen Sinn stärken kann. Die jährlichen Feierlichkeiten zum 4. Juli in den USA, zum 14. Juli in Frankreich und zum 1. August in der Schweiz illustrieren diesen Zusammenhang ebenso wie die jährliche Erinnerung an die Oktoberrevolution in der Sowjetunion. Welch gute Dienste Geschichte für die nationale Selbstdarstellung leisten kann, werden nächstes Jahr in nie dagewesener Größenordnung die Feiern zum „bicentenaire" der Französischen Revolution vorführen. Die Vorbereitungen laufen seit Jahren Historische Erinnerungen wurden in den europäischen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts als wichtige Ressourcen entdeckt, und die Suche nach der eigenen Geschichte gehört auch heute dazu, wenn junge Nationen außerhalb Europas ihre Emanzipation betreiben und ihre Identität bekräftigen.
Aber es ist nicht zu bezweifeln, daß solche Identitätsstärkung durch historische Erinnerung mit Hilfe von Denkmälern und Gedenktagen, von historischen Festen, Symbolen und Legenden mindestens ebenso gut geleistet werden kann wie von der Geschichtswissenschaft, deren kritischer Charakter leicht mit dem Ansinnen, zustimmungsfähige Traditionen als Basis der Zusammengehörigkeit zu pflegen, in Konflikt geraten kann: Sei es, daß die nicht geschönte wissenschaftliche Forschung abstoßende, nicht-zustimmungsfähige Erinnerungen ergibt.sei es, daß die massive Sehnsucht nach Zustimmungsfähigkeit die Historiker dazu verführt, ihrGeschäft entsprechend zu betreiben und die Kanten ihrer Ergebnisse harmonisierend abzuschleifen. Ist es notwendig, Beispiele zu nennen?
Auf jeden Fall sind die gesellschaftlichen Funktionen von Geschichte im Sinn der Geschichtswissenschaft vielfältig und durch den Begriff „Identitätsbildung“ nur sehr ungenau beschrieben. Zu den Leistungen der Geschichte für die Gegenwart gehört ja auch die Erklärung historisch bedingter Gegenwartsphänomene. um sich ihnen gegenüber angemessen verhalten zu können. Durch genaue Analyse vergangener Zusammenhänge. Erfolge und Mißerfolge kann man überdies Kategorien gewinnen. die auch unter veränderten Konstellationen die praktische Orientierung erleichtern. Sensibilität erhöhen und gesellschaftlich-politisches Handeln indirekt anleiten. Die Kategorie der nicht-intendierten Folgen von Handlungen z. B. läßt sich vor allem an weit zurückliegenden Zusammenhängen erarbeiten. Auch Ideologiekritik lernt sich besser an vergangenen Konstellationen als an (in ihren Folgen noch unübersehbaren) Konstellationen der Gegenwart. Und die Geschichte kann helfen, durch sekundäre Fremdheitserfahrungen, durch die Beschäftigung mit fremden Kulturen und Lebensmöglichkeiten. durch die Vorführung des anderen, durch Verfremdung Möglichkeitsbewußtsein zu erzeugen, in dessen Licht die gegebene Wirklichkeit unter Legitimationsdruck gerät und ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verliert
Als Wissenschaftler können Historiker nicht primär zur historischen Erinnerung als stabilisierender Traditionsbildung beitragen. Denn der Zweifel, die immer erneute Überprüfung, die Suche nach gegenteiliger Evidenz und konträren Argumenten, die Revision, die Kritik gehören zu ihrem Metier. Das steht in Spannung zu dem. was von der Geschichte als Basis verstärkter kollektiver Identität in den öffentlichen Debatten derzeit erwartet wird, und entsprechend vorsichtig sollten Historiker sein, wenn sie mit solchen Erwartungen konfrontiert werden.
Man kann jedoch aus der Spannung zwischen Geschichtswissenschaft und Identitätsbildung im landläufigen Sinn auch eine andere Konsequenz ziehen.
Man kann versuchen. „Identität“ in einer wissenschaftsadäquateren Weise zu verstehen: nicht als Zustand voll von zustimmungsfähigen Traditionen, sondern als einen in sich pluralistischen, Zustimmung und Kritik vereinigenden, nie abgeschlossenen, immer neuen, sehr spannungsreichen Prozeß der Verständigung zwischen verschiedenen Interessen und Anschauungen. So verstanden, lassen sich die genannten kritischen, erklärenden, aufklärerischen Funktionen der Geschichte als Beiträge zur Identitätsbildung deuten, denn um Verständigung durch Wahrheitsfindung, Kritik und Überzeugung geht es in der Geschichtswissenschaft allemal Der „Historikerstreit“ stellte nur die besondere Zuspitzung einer Situation dar, in der sich die Geschichtswissenschaft häufig befindet. Er war das Paradebeispiel einer ideenpolitischen Auseinandersetzung mit ausgeprägt historischem Bezug, die die Geschichtswissenschaft mit Notwendigkeit tangiert, ohne doch primär eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung zu sein. Ein solcher öffentlicher Streit belegt unmißverständlich den engen Verschränkungszusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutungen. Gegenwartsverständnissen und Zukunftserwartungen, der Geschichte als intellektuelles Interesse und wissenschaftliche Großdisziplin wesentlich konstituiert, aber in der spezialisierten Alltagsarbeit der Historiker oft aus dem Blick gerät.
Es ist aus gesellschaftlich-politischen Gründen eindeutig zu begrüßen, daß sich Historiker an einer solchen Debatte führend beteiligen. Im übrigen ist zu betonen, daß der sogenannte „Historikerstreit“ kein Mißerfolg war. Vielen gelang die Verknüpfung zwischen politischer und wissenschaftlicher Argumentation. Insgesamt hat der „Historikerstreit“ dem öffentlichen Bewußtsein vermutlich vor allem gutgetan: erinnernd, klärend, motivierend. Insgesamt hat die Geschichtswissenschaft ihre große gesellschaftlich-politische Bedeutung kenntlich gemacht und ihre kritisch-aufklärerischen Aufgaben, die sie als Wissenschaft nun einmal hat. einigermaßen effektiv wahrgenommen.
II. Historische Vergleiche: wozu und mit wem?
Die herausforderndste und unhaltbarste These im „Historikerstreit“ bestand in der Unterstellung eines Kausalzusammenhangs zwischen dem zeitlich vorangehenden „asiatischen Klassenmord“ der Bolschewisten und dem nationalsozialistischen „Massenmord“ als einer verständlichen, gewissermaßen präventiven und insofern sinnvollen Reaktion darauf Kaum ein Historiker hat diese These Noltes verteidigt
Sehr viel diskutabler war der von Nolte, Fest u. a. geforderte (aber nicht durchgeführte) Vergleich zwischen NS-Diktatur und Holocaust einerseits, anderen Diktaturen und Genoziden des 20. Jahrhunderts andererseits, mit der — jedenfalls von Nolte formulierten — Absicht, die Singularität der nationalsozialistischen Massenmorde zu hinterfragen. Der Vergleich ist ein unaufgebbares methodisches Instrument der Historiker, gewissermaßen das (unvollkommene) funktionale Äquivalent zum Labor-versuch der Naturwissenschaftler. Wenn man erklären will, muß man vergleichen Selbst wenn der Vergleich tatsächlich zu einer Relativierung des Gewichts des Verglichenen führen sollte — und diese Meinung scheint weit verbreitet —, könnte dies den methodischen Nutzen des Vergleichs und damit seine wissenschaftliche Berechtigung keineswegs in Frage stellen. (Übrigens scheint mir die Kategorie der „Singularität“ weder methodisch, noch politisch. noch pädagogisch eine besonders nützliche Kategorie zu sein: Wenn man den nationalsozialistischen Massenterror für absolut singulär erklärt und der vergleichenden Analyse entzieht, legt man nahe, daß sich dergleichen nie wiederholen kann. Verstellt man sich nicht dadurch gerade das. was man vielleicht aus jener vergangenen Katastrophe lernen kann?) Allerdings sollten diesem Plädoyer für die prinzipielle Statthaftigkeit und Notwendigkeit des Vergleichs einige einschränkende und ergänzende Bemerkungen hinzugefügt werden:
Die vergleichende Interpretation des Nationalsozialismus ist nicht neu. man muß sie nicht erst mit dramatischer Geste fordern. Mit den Konzepten des „Totalitarismus“ und des „Faschismus“ hat man seit langem erfolgreich den Nationalsozialismus in eine vergleichende Perspektive gerückt — entgegen der eher die Singularität des Phänomens betonenden Sicht des Nationalsozialismus als „Hitlerismus“ Allerdings ist einzuräumen, daß beide Konzepte dem Phänomen des Holocaust selbst vielleicht nicht ganz gerecht geworden sind
Nationalsozialismus und Stalinismus In geschichtswissenschaftlichen Vergleichen wird nicht nur nach dem gefragt, worin sich die verglichenen Phänomene ähnelten, sondern auch nach dem, worin sie sich unterschieden. Vergleicht man die nationalsozialistischen und die stalinistischen MassenVernichtungen, wie im „Historikerstreit“ vorgeschlagen, dann ist man zweifellos zunächst mit der schwer faßbaren Massenhaftigkeit des gewaltsamen Todes, des Terrors und des Leidens, der Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrecht auf beiden Seiten konfrontiert, wobei hinzuzufügen ist, daß der Forschungsstand auf der sowjetischen Seite — u. a. wegen der langjährigen Leugnung und Tabuisierung des Themas durch die dortige Politik und Geschichtsschreibung — ungleich schlechter ist als auf der deutschen Seite. Die Zahl der Toten auf der sowjetischen Seite ist weiterhin unklar und umstritten. Man wird zwischen den Opfern des Bürgerkriegs im Gefolge der Revolution, der sogenannten Kulaken-Verfolgungen 1929— 1933 und der späteren „Säuberungen“ 1936— 1938 ebenso unterscheiden müssen wie zwischen den Opfern der (regierungsseitig allerdings mitzuverantwortenden) Hungerkatastrophen und direkter staatlicher Verfolgungen. Aufjeden Fall wurden in der Sowjetunion viele Millionen umgebracht (die Toten des Krieges nicht mitgerechnet), und Millio-nen überlebten nur nach schlimmster Ausbeutung in den Arbeits-und Straflagern Es ist zu hoffen, daß der neue Kurs in der Sowjetunion endlich der historischen Wahrheit ans Licht verhilft, zumal ja deren Unterdrückung in den letzten Jahrzehnten nicht gerade zur Quelle intellektueller, moralischer und politischer Kraft für die Sowjetunion wurde
Dann werden auch Vergleiche zwischen den Schrecklichkeiten Stalins und Hitlers stichhaltiger möglich sein. Aber mit welchem Erkenntnisziel? Um systematisch zu vergleichen, muß man wissen, welche Fragen man mit Hilfe des Vergleichs beantworten will. Der Sinn eines solchen Vergleichs kann ja wohl nicht darin bestehen, die eine Seite durch Vergleich mit der anderen zu entschuldigen oder zu entlasten. Warum sollte die bessere Einsicht in die Motive. Ausmaße, Mechanismen und Folgen des bolschewistischen Terrors die Schuld und Mitschuld der Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen oder auch nur die Last der Erinnerung daran erleichtern? Dies wäre selbst dann nicht zu erwarten, wenn die historische Forschung bessere Mittel besäße, Schuld in den Größenordnungen, um die es hier geht zu ermessen und in ihrem Ausmaß zu vergleichen. Die Mittel der Historiker sind dafür wenig geeignet.
Der genaue Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Terror könnte jedoch dazu führen, daß man die Eigenarten beider und damit ihre Unterschiede besser erkennt: der Unterschied zwischen der bürokratischen, leidenschaftslosen, nahezu perfekten und letztlich unverständlichen Systematik des Massenmords in den Vernichtungslagern des industrialisierten, in einem relativ hohen Grade organisierten Reiches Hitlers einerseits und der brutalen Mischung von Bürgerkriegsexzessen, Massen-„Liquidierungen“, Verschleppungen, Sklavenarbeit, Verhungernlassen und inneren Machtkämpfen („Säuberungen“) im rückständigen Reiche Stalins andererseits. War in Stalins Sowjetunion die massenweise Vernichtung von Menschen nicht doch häufiger die bedenkenlos in Kauf genommene, vielleicht auch insgeheim begrüßte oder sogar zynisch einkalkulierte Nebenfolge primär anders — nämlich ökonomisch (Zwangsarbeit, forcierte Industrialisierung, Erschließung Sibiriens und anderer Regionen, Mangelwirtschaft) oder machtpolitisch (Erhaltung tatsächlich oder angeblich bedrohter Machtpositionen, Eliminierung tatsächlicher, potentieller oder vermuteter Opposition) — motivierter Politik, während der systematische Genozid der Juden, Zigeuner und anderer Verfolgter in Hitlers Deutschland als solcher direkt gewollt, geplant und durchgeführt wurde? Die rassenkämpferische „Logik“ des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats erscheint im Vergleich zur klassenkämpferisch-entwicklungsdiktatorischen Grausamkeit des stalinistischen Verfolgungssystems nur noch auswegloser, unerbittlicher, irrationaler und — unbegreiflicher
Schließlich könnte man — wenn man die hier nur angedeuteten deutsch-sowjetischen Unterschiede gleichwohl einmal ausklammert — den Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus mit der Absicht anstreben, um herauszufinden, welche Bedingungen und Ursachen denn staatlich durchgeführte Massenvernichtungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichten oder nahelegten. Als Antwort auf diese Frage dürfte vor allem auf jene Faktoren zu verweisen sein, die die wissenschaftliche Literatur zum Totalitarismus seit langem erarbeitet hat: die vorangehende Außerkraftsetzung so ziemlich aller freiheitlich-demokratischer, rechts-und verfassungsstaatlicher Grundsätze. die Errichtung eines Einparteiensystems mit monokratischer Spitze, die Institutionalisierung einer Staatsideologie mit starken Elementen säkularisierter Heilserwartungen, Massenmobilisierungs-prozesse mit der Tendenz zur Verselbständigung etc. Man wird darauf verweisen können, daß beide Länder immense innere Anstrengungen unternommen hatten, um im Ersten Weltkrieg zu bestehen, beide aber vernichtende Niederlagen erlitten. Eine gewisse Distanz zur westlichen Kultur und zu deren Institutionen war beiden Ländern eigen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß.
Allerdings dürfte der sehr unterschiedliche gesellschaftsgeschichtliche Stellenwert der beiden totalitären Systeme weiteren Fragen und Vermutungen dieser Art enge Grenzen setzen. Deutschland befand sich 1933 auf einer viel fortgeschritteneren Stufe der Modernisierung als die Sowjetunion zum Zeitpunkt ihrer Entstehung oder irgendwann in den zwanziger bzw. dreißiger Jahren. Der stalinistische Terror hatte entwicklungsdiktatorische Funktion, vom Holocaust läßt sich eher das Gegenteil sagen. Der nationalsozialistische Genozid geschah in einem Land, dessen Geschichte die großen europäischen Erfahrungen von der mittelalterlichen Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt über Humanismus und Reformation bis zur Aufklärung und zum Aufstieg der Wissenschaften im 19. Jahrhundert voll mitgetragen und das — gemessen am Niveau der Zwischenkriegszeit — einen hohen sozialökonomischen Entwicklungsstand erreicht hatte. Rußland dagegen hatte diese europäische Entwicklung nur am Rande mit vollzogen — oft nur als Import —. und die Sowjetunion war im Vergleich zu Mittel-und Westeuropa fast ein Entwicklungsland. Die Chance ist also gering, durch Vergleiche zwischen nationalsozialistischem und stalinistischem Terror eine grundsätzliche und übergreifende Erklärung der totalitären Schrekkensherrschaften des 20. Jahrhunderts zu finden. Und ganz hoffnungslos würde es. wenn man wirklich die Verfolgungen Pol Pots in Kambodscha und Idi Amins in Uganda noch mit einbezöge — auch dieser Gedanke spielte ja bekanntlich eine Rolle.
Auf jeden Fall weist die Frage nach der Ermöglichung totalitärer Diktaturen (mit ihren menschen-verachtenden Massenvernichtungsaktionen) über diese hinaus. In den Vergleich einbeziehen muß man nämlich solche Länder, die entweder mit Deutschland oder mit der Sowjetunion gewisse Ähnlichkeiten aufwiesen, sich aber im hier besonders interessierenden Punkt unterschieden, also trotz ähnlicher Bedingungen und Herausforderungen nicht faschistisch — bzw. stalinistisch — pervertierten. Geht man diesem Erkenntnisziel nach, dann bringt der Vergleich Deutschlands mit der Sowjetunion wenig. Mehr Erkenntnisgewinn verspricht dann in bezug auf Deutschland der Vergleich mit westlichen Ländern. Unter dem mißverständlichen Schlagwort des „deutschen Sonder-wegs“ haben entsprechende Vergleiche eine lange und fruchtbare Tradition. Diese „Westorientierung“ der vergleichenden Interpretation deutscher Geschichte wurde im „Historikerstreit“ durch eine merkwürdige „Ostorientierung“ in den Hintergrund gedrängt. Diese hat bisher nichts Neues erbracht. Es lohnt sich also, zur „Sonderweg" -Debatte zurückzukehren, die nach den Diskussionen und Forschungen der letzten Jahre in einem neuen Licht erscheint
Deutschland und der Westen: die These vom „Sonderweg“ Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren viele von der Existenz eines besonderen „Deutschen Weges“ überzeugt, durch den sich die Entwicklung des Reiches — in Übereinstimmung mit seiner geographischen Lage und historischen Tradition — positiv von der in Frankreich und England abhob. Den nicht-parlamentarischen Charakter der deutschen „konstitutionellen Monarchie“ begriff man als Vorzug. Man war stolz auf die starke Regierung über den Parteien, das angesehene und leistungskräftige Beamtentum und die lange Tradition der Reformen von oben, durch die man den deutschen Weg von den westlichen Prinzipien der Revolution.des Laissez-Faire und der Parteien-Regierung unterschieden sah. Deutsche Kultur schien der westlichen Zivilisation überlegen — eine Ideologie, die ihren Kulminationspunkt in den „Ideen von 1914“ erlebte Nach dem Ersten Weltkrieg begannen einige Gelehrte wie Otto Hintze und Emst Troeltsch diese positive Variante der Sonderweg-These zu relativieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie ihre Überzeugungskraft verloren. Als implizit vergleichendes Interpretament der deutschen Geschichte hat sie seitdem im großen und ganzen keine Rolle mehr gespielt.
An ihre Stelle trat nach 1945 eine liberal-demokratische, kritische Variante der Sonderweg-These, zu deren Stammvätern neben anderen auch FriedrichEngels und Max Weber gehören. Emigranten und andere Kritiker des Nationalsozialismus hatten starken Anteil an ihrer Entstehung. Im Kern versuchte diese kritische Version der Sonderweg-These die Frage zu beantworten, warum Deutschland im Unterschied zu vergleichbaren hochentwikkelten Ländern im Westen und Norden in der Krise der Zwischenkriegszeit faschistisch bzw. totalitär geworden war. Die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus wurde zum Zentrum der historischen Interpretation. In der Sonderweg-These konkretisierte sich der Versuch, die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) in vergleichender Perspektive zu erklären, sie als bedrückenden, aber nicht zu leugnenden Teil des eigenen historischen Erbes zu verstehen und sich zugleich kritisch von ihr zu distanzieren.
Natürlich übersah man nicht die große Bedeutung, die kurzfristige Faktoren für den Zusammenbruch der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus hatten. Wer hätte die Konsequenzen des Ersten Weltkriegs und der als demütigend erfahrenen Niederlage übersehen können? Unbestritten war auch, daß die Schwierigkeiten der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und schließlich die Große Depression die Probleme der ersten deutschen Republik verschärften und zum Aufstieg von Hitler beitrugen.
Aber gleichzeitig griff man ins 18. und 19. Jahrhundert zurück. Durch Vergleiche mit England, Frankreich, den USA oder schlicht „dem Westen“ versuchte man, Besonderheiten der deutschen Geschichte, Strukturen und Erfahrungen, Prozesse und Weichenstellungen zu identifizieren, die zwar nicht direkt zum Nationalsozialismus führten, aber langfristig die Entwicklung liberaler Demokratie in Deutschland behinderten und letztlich den Aufstieg des deutschen Faschismus erleichterten. Zu diesem Argument hat eine große Zahl von Autoren sehr Verschiedenes beigetragen, in der Regel übrigens ohne das Wort „Sonderweg“ zu benutzen.
Helmut Plessner beispielsweise sprach von der „verspäteten Nation“, dem verzögerten Prozeß der Nationalstaatsbildung „von oben“; andere Historiker haben argumentiert, daß der Nationalismus im Kaiserreich eine besonders agressive, frühzeitig nach rechts tendierende destruktive Rolle spielte. Ernst Fraenkel, der junge Karl Dietrich Bracher, Gerhard A. Ritter, M. Rainer Lepsius und andere identifizierten langfristig wirksame Schwächen des reichsdeutschen Regierungssystems: die blockierte Parlamentarisierung, ein scharf fragmentiertes, geradezu versäultes Parteiensystem und weitere Faktoren, die sich später als Belastungen des Weimarer Parlamentarismus auswirkten und zu seinen Funktionsschwierigkeiten beitrugen. Leonard Krieger, Fritz Stern, George Mosse und Kurt Sontheimer betonten die illiberalen, anti-pluralistischen Elemente der deutschen politischen Kultur, auf denen später nationalsozialistisches Gedankengut aufbauen konnte.
Hans Rosenberg und andere zeigten, daß vor-industrielle Eliten, vor allem die ostelbischen Agrarier („Junker“), das hohe Beamtentum und das Offizierskorps viel Macht und Einfluß bis weit ins 20. Jahrhundert behielten. Langfristig standen sie der Demokratisierung und Parlamentarisierung im Wege; wie Heinrich August Winkler und andere ausführten, zeigte sich dies nicht zuletzt an der unheilvollen Rolle, die die agrarischen Interessen im Zusammenbruch der Weimarer Republik spielten.
Die Reichsgründung mit „Blut und Eisen“ unter preußischer Hegemonie vergrößerte den politischen Einfluß und das soziale Gewicht des Offizierskorps mit seinen quasi-ständischen Ansprüchen auf Exklusivität und Autonomie. Zusammen mit den alten Eliten überlebten viele traditionelle — vorindustrielle — Normen, Mentalitäten und Lebensstile, zum Beispiel autoritäre Denkmuster und anti-proletarische Ansprüche im Kleinbürgertum wie auch militaristische Elemente in der politischen Kultur des Bürgertums — man denke an den „Reserveoffizier“. Der Liberale Max Weber kritisierte die „Feudalisierung“ des Großbürgertums, das adelige Überlegenheit in der Politik und aristokratische Normen und Gewohnheiten zu akzeptieren schien, statt nach bürgerlicher Macht zu streben und bürgerliche Kultur zu pflegen. Ohne die Erfahrung einer erfolgreichen Revolution von unten. geprägt durch die lange Tradition der bürokratisch geleiteten Reformen von oben und herausgefordert durch eine anschwellende Arbeiterbewegung. schien das deutsche Bürgertum vergleichsweise schwach und — im Vergleich zum Westen — geradezu unbürgerlich.
Nach der einflußreichen Interpretation von Hans-Ulrich Wehler erschien das Kaiserreich als eine Mischung zwischen höchst erfolgreicher kapitalistischer Industrialisierung und sozioökonomischer Modernisierung einerseits, vor-industriellen Institutionen. Machtverhältnissen und Lebensstilen andererseits. als ein wenig stabiles System also, dessen innere Spannungen zu viel Unterdrückung und Manipulation im Innern wie auch zu einer vergleichsweise aggressiven Außenpolitik führten. In diesem Zusammenhang wurde Deutschlands besondere Verantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs von Fritz Fischer und seinen Schülern betont
Natürlich sahen auch die Vertreter dieser Interpretationsrichtung. daß der Erste Weltkrieg, die Niederlage und die Revolution von 1918/19 einen tiefen Einbruch bedeuteten und die bisherige Macht-Konstellation veränderten. Der alte Obrigkeitsstaat, das Beamtentum und das Militär verloren ein ganzes Stück ihrer herkömmlichen Legitimität, die alten Eliten wurden teilweise ersetzt, eine parlamentarische Demokratie entstand, und die Arbeiterbewegung war einer der Gewinner. Die Sozialdemokratie spaltete sich, aber gewann an Macht; die Entwicklung des Sozialstaats machte rasche Fortschritte. Trotzdem, so sah es die Sonderweg-These, überlebten viele der alten Belastungen und trugen zu den besonderen Schwächen der Weimarer Demokratie bei, so daß sie unter der Herausforderung der Großen Depression kollabierte, während die stabileren Demokratien des Westens und Nordens überlebten.
Dieses Argument hat bekanntlich viel für sich. Nachdem die Parlamentarisierung so lange blokkiert worden war, funktionierte das in Krieg und Niederlage geborene parlamentarische System nur unter Schwierigkeiten und war nicht kraftvoll genug, die tiefen sozialen Spannungen auszugleichen, die im Anschluß an den Krieg und als Folge der wirtschaftlichen Turbulenzen entstanden. Die Kernelemente des wilhelminischen Parteiensystems überlebten die Revolution; die Parteien hatten nicht rechtzeitig gelernt, parlamentarisch zu agieren und die in diesem System notwendigen Kompromisse anzugehen. Traditionale Orientierungen und exklusive Erwartungen hatten in großen Teilen der Oberschicht überlebt — bei den Junkern, in der hohen Beamtenschaft, im Offizierskorps, in der Justiz und in Teilen der Bourgeoisie —, und diese herkömmlichen, vordemokratischen, teilweise vormodernen Orientierungen und Ansprüche stießen zunehmend mit den Weimarer Realitäten zusammen. So erklärt sich, warum große Teile der Oberschicht der neuen demokratischen Republik skeptisch oder feindlich gegenüberstanden und zu ihrem frühen Zusammenbruch beitrugen. In Teilen des Kleinbürgertums überlebten ebenfalls herkömmliche, hohe und fest mit dem Staate rechnende Erwartungen, die sich zum Protest gegen das neue politische System wandelten, als sich dieses unfähig zeigte, sie vor den Herausforderungen der Modernisierung zu schützen. Trotz Berlin und der Weimarer Moderne überlebten und verstärkten sich illiberale Elemente der politischen Kultur; in verschlungener Weise kam dies dem Aufstieg des Nazismus zugute.
Aus dieser Sicht waren es also nicht nur die ökonomische Krise, explosive Klassenspannungen und destabilisierende Modernisierungsfolgen, die die Krise der Weimarer Republik hervorbrachten. Zwar fielen solche „moderne“ Faktoren ins Gewicht, aber sie gab es ja auch in anderen Ländern. In Deutschland jedoch wurden sie durch weiterwirkende, wenn auch in Frage gestellte vormoderne Strukturen und Traditionen verstärkt — das Erbe des Sonderwegs
Kritik und Antikritik Diese hier nur knapp und sehr vereinfacht zusammengefaßte, in sich vielfältige Interpretationsrichtung, die im übrigen eher von ihren Kritikern als von ihren Vertretern mit der Etikette „SonderwegThese“ versehen worden ist, hat nie allgemeine Zustimmung gefunden. Die Kritik an ihr nahm in den letzten Jahren zu. Die wichtigsten Einwände seien kurz rekapituliert. 1. Es sei einseitig, deutsche Geschichte sub specie 1933 (oder 1933 — 1945) zu interpretieren. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Nationalsozialismus liege es auch immer weniger nahe, die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vor allemin bezug auf den Kollaps der Weimarer Republik und den Sieg des Nationalsozialismus zu interpretieren. Deutsche Geschichte vor 1933 sei nicht nur Vorgeschichte von 1933. Sie sei vielmehr auch — zum Beispiel — Teil der Vorgeschichte von 1988 und überdies eine Periode mit eigenem Recht -2. Die Vorstellung eines deutschen „Sonderwegs“, so lautet ein anderer Einwand, unterstellte die Existenz eines „normalen Weges“, von dem die deutsche Entwicklung abgewichen sei. Falls „normal“ so viel wie „durchschnittlich“, „wahrscheinlich“ oder „am häufigsten“ heiße, dürfe es schwierig sein, zu zeigen, daß die französische, die englische und die dar -amerikanische Entwicklung die „Normalität“ stellten — ganz abgesehen davon, daß zwischen diesen Ländern große Unterschiede bestanden und sie sich deshalb zur Zusammenfassung als „westlich“ wenig eignen. Falls „normal“ im Sinne von „Norm“ gemeint sei, dann sei die Schwierigkeit eher noch größer. Denn wenn man „den Westen“ als normatives Modell setze, von dem die deutsche Entwicklung zu ihrem Schaden abgewichen sei, dann impliziere das subjektive Wertentscheidungen und die Gefahr einer Idealisierung „des Westens“ Mit wachsenden Zweifeln am Modell der westlichen Modernisierung hat dieser Einwand an Resonanz gewonnen. 3. Neuere empirische Studien scheinen zu zeigen, daß vielleicht die Kausalbedeutung vormoderner Mentalitäten. Strukturen und Eliten für die Krise der Weimarer Republik überschätzt worden ist. Dagegen werden die Folgen des verlorenen Krieges und der Inflation, die Weltwirtschaftskrise und der angeblich überstürzte Aufbau des Sozialstaats als Erklärungsfaktoren stärker betont. Andere Autoren nehmen eine ältere Argumentationslinie auf und betonen, daß es gerade die rasche Modernisierung war, die zu sozialen und kulturellen Anomien und Spannungen führte, welche ihrerseits die Krise verschärften und das System destabilisierten: der Mißerfolg Weimars als Konsequenz der „Widersprüche der klassischen Moderne“ 4. Neuere Interpretationen des Kaiserreichs haben seine Modernität stark betont: seine Errungen-schäftenauf den Gebieten der Bildung, der Wissenschaften und der Architektur, seine angeblich sehr entwickelte Bürgerlichkeit — im Privatrecht, im Pressewesen, auf dem Theater und in anderen Bereichen der Kultur. Internationale Vergleiche scheinen überdies zu zeigen, daß das, was lange als spezifische Schwäche des deutschen Bürgertums interpretiert worden ist (zum Beispiel die Orientierung des Großbürgertums an aristokratischen Modellen). eher gesamteuropäische Phänomene darstellten
Im Licht dieser und anderer Kritik muß man die These neu angegriffene bedenken, präzisieren und teilweise modifizieren.
Sicherlich gibt es sehr viele Probleme und Themen in der deutschen Geschichte. Verschiedene Personen richten unterschiedliche Fragen an sie, und diese Fragen ändern sich mit der Zeit. Aber wie auch der „Historikerstreit“ wieder gezeigt hat, ist die Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte und darüber hinaus im universellen Kontext auch heute noch zentral. Das liegt an dem exzeptionellen moralischen, politischen und anthropologischen Gewicht dieser an sich kurzen Periode und ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf die deutsche, europäische und Weltgeschichte seitdem. Solange das so ist, besteht kaum die Gefahr, daß Interpretationen, für die „ 1933“ ein Fluchtpunkt darstellt, veralten und an den Gegenwartsinteressen vorbeizielen.
Nur wenn es um die Frage nach den Ursachen, der Geschichte und der Bedeutung des Nationalsozialismus geht, macht die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs Sinn. Eine solche Vorstellung ist vermutlich nutzlos und irreführend, wenn man historische Vergleiche über andere Themen und mit anderen Fragestellungen betreibt, zum Beispiel wenn man die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern vergleicht Natürlich, in gewissem Sinn hat jedes Land — und jeder Ort — seinen Sonderweg. Das ist banal, darauf läßt sich keine große These bauen. Auch ist einzuräumen, daß die Eigenarten der deutschen Entwicklung sich anders darstellen, wenn man sie mit Ostmittel-oder Osteuropa vergleicht statt mit westlichen Ländern. Angesichts dieser unbestreitbaren Sachverhalte sollte man die Hypothese eines deutschen Sonder-wegs (wenn auch nicht notwendigerweise das mißverständliche Wort) für die komparative Diskussion eines grundsätzlichen und weiterhin nicht völlig geklärten Problems reservieren: warum nämlich in Deutschland der liberal-demokratische Rechtsstaat in ein faschistisches bzw. totalitäres System pervertierte, während in jenen Ländern, mit denen die Deutschen sich gerne vergleichen und auch vergleichen sollten, dies nicht geschah — obwohl jene Länder im betreffenden Zeitraum unter ähnlichen Bedingungen existierten und mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert waren.
Zugegebenermaßen sind in der Entscheidung für diese Vergleichsperspektive normative Elemente enthalten. Aber hinsichtlich der Alternative „Faschismus versus demokratischer Rechtsstaat“ oder „Totalitarismus versus demokratischer Rechtsstaat“ war nun einmal die Leistung jener westlichen (und nördlichen) Länder besser, ihre Entwicklung glücklicher als die unsere. Deshalb kann der — unter diesem Gesichtspunkt durchaus einheitliche — westliche Entwicklungspfad als ein historisches (nicht abstraktes) Modell dienen. Zwar kann man nicht eindeutig beweisen, daß es notwendig sei, Deutschland mit Frankreich, England, den skandinavischen Ländern oder Nordamerika zu vergleichen. Aber es lassen sich Überlegungen anstellen, die dafür sprechen — wenn man denn über vergleichende Forschungen herausfinden will, wieso es zur „deutschen Katastrophe“ kam und was sie bedeutet. Denn mit jenen westlichen Ländern war Deutschland nicht nur durch einen ähnlichen Stand der ökonomischen Entwicklung und sozialen Modernisierung verbunden, sondern auch durch gemeinsame Traditionen der Aufklärung, der Menschen-und Bürgerrechte, des Rechts-und Verfassungsstaats. Trotzdem wurde Deutschland faschistisch und totalitär, die westlichen Länder dagegen nicht. Warum? Das ist der Kern der Frage nach dem „Sonderweg“. p
Mit wem will man sich vergleichen? Im privaten wie im öffentlichen Leben, aber auch in der historisehen Forschung ist dies eine entscheidende Frage. Die Wahl, die man trifft, beeinflußt die Ergebnisse des Vergleichs, und sie enthält notwendigerweise normative Implikationen.
Wie steht es nun mit den empirischen Einwänden gegen die Sonderweg-These? Zunächst: Kein ernsthafter Historiker würde argumentieren, daß die Besonderheiten der deutschen Geschichte direkt und mit Notwendigkeit auf 1933 zuführten. Zweifellos mußten viele zusätzliche Kausalfaktoren dazu kommen — von den Folgen des verlorenen Krieges bis zur Person Adolf Hitlers —, und möglicherweise hätte der Sieg des Nationalsozialismus noch Ende 1932 abgewendet werden können. Trotzdem: Die Strukturen und Prozesse, wie sie in der Sonder-weg-Literatur identifiziert worden sind, verschärften die Schwierigkeiten der Weimarer Republik und erleichterten den Aufstieg des Nationalsozialismus. Die jüngere Forschung hat dem Gesamtbild neue Elemente hinzugefügt und Akzente verschoben, die Grundlinien der Interpretation wurden nicht revidiert. Die Zurückweisung der Weimarer Republik durch große Teile der Oberschicht, der anti-demokratische Nationalismus, die Schwierigkeiten des parlamentarischen Systems, die Macht der Agrarier und des Offizierskorps, illiberale Elemente in der politischen Kultur, die Schwäche des demokratisch-republikanischen Lagers: Solche Faktoren erklären den Zusammenbruch der Weimarer Republik mit und sind selbst Produkte vorangehender Prozesse und Strukturen, wie sie von der Sonderweg-These identifiziert worden sind. Der Hinweis auf die „Widersprüche der klassischen Moderne“ paßt gut in die heutige modernisierungsskeptische Grundstimmung. Aber andere Länder waren auch modern — und entgingen dem Schicksal Deutschlands
Zum andern: An der Interpretation des Kaiser-reichs hat sich in den letzten Jahren viel geändert, und damit auch ein zentrales Element der herkömmlichen Sonderweg-These. Mit der „Feudalisierung des Großbürgertums“ war es viel weniger weit her als man lange dachte; die Annäherung von Großbürgertum und Adel war im übrigen ein gesamteuropäisches Phänomen. Die deutsche Bourgeoisie erweist sich zwar im internationalen Vergleich mit dem Westen als relativ schwach, doch in Deutschland gab es — gewissermaßen zum Ausgleich — ein früh entwickeltes und starkes Bildungsbürgertum. Die Schwäche des Liberalismus auf gesamtstaatlicher Ebene mag durch seine fortdauernde Kraft auf der kommunalen Ebene ein wenig kompensiert worden sein. Anderes wäre zwar noch zu nennen, aber insgesamt ergibt gerade die neuere vergleichende Bürgertumsforschung, daß die Sonderweg-These im Kern ihre Gültigkeit behält: Im Verhältnis von Adel und Bürgertum bestanden Eigenarten, die die Schwäche des deutschen Bürgertums dokumentieren. Der relativ markanten Abgrenzung des Bürgertums in Deutschland entsprach seine relativ schwache Ausstrahlungs-und Integrationskraft. Die zahlreichen un-bürgerlichen Züge der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreichs sind so zu erklären. Die bürokratische Einfärbung der deutschen Bürgerlichkeit bezeichnete zugleich eine ihrer empfindlichsten Grenzen
Die vergleichende Forschung der letzten Jahre hat diese besonders wichtige Eigenart der deutschen Entwicklung — neben anderen — immer wieder bestätigt: das Gewicht und die Kontinuität der bürokratischen Tradition. Durch ein früh entwickeltes, effizientes, angesehenes, ausstrahlungskräftiges Berufsbeamtentum und durch eine lange Tradition der erfolgreichen Reformen von oben unterschied sich die deutsche Entwicklung nach Westen wie nach Osten. Ein starker Obrigkeitsstaat bestand.der viel leistete und nicht ohne Grund auf verbreitete Bewunderung stieß, aber mit einer spezifischen Schwäche bürgerlich-liberaler Tugenden — gewissermaßen als Preis — verbunden war. Die bürokratische Tradition prägte die verschiedensten Wirklichkeitsbereiche: die soziale Klassen-und Schichtenbildung, das Schulsystem, Struktur und Mentalität des Bürgertums, die Arbeiterbewegung und das Parteiensystem, die Organisation der großen Wirtschaftsunternehmen, selbst die sozialen Theorien eines Max Weber. Sie erleichterte den frühen Aufstieg des Sozialstaats, aber sie half auch mit. die Parlamentarisierung von Reich und Einzelstaaten bis 1918 zu blockieren. In den verschiedensten Schichten erwartete man viel vom Staat, und wenn diese staatsorientierten Erwartungen enttäuscht wurden, konnten sie leicht in systemkritische Proteste umschlagen. Die bürokratisch-obrigkeitsstaatliche Einfärbung verbreiteter Einstellungen. Haltungen und Mentalitäten erklärt sicherlich mit. warum es in den dreißiger und vierziger Jahren nicht zu mehr Widerstand gegen staatlich initiierte Monstrositäten kam
Vieles bleibt offen und umstritten. Die Forschung ist im Fluß, die Erkenntnisinteressen ändern sich. Aber wenn es — wie im „Historikerstreit“ — um den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte, um deutsche Identität und um das Vergleichen geht, dann stellt die unter dem Stichwort „Sonderweg“ bekannt gewordene Interpretationsrichtung weiterhin die beste Möglichkeit dar. Auch für die Deutung der Entwicklung seit 1945 wie für die historische Einordnung der Gegenwart hält sie einige Hinweise bereit. Die Eigenarten der deutschen Geschichte, die den Aufstieg und Durchbruch des Nationalsozialismus erleichterten, scheinen durch seinen Sieg und seine bald folgende Niederlage entscheidend geschwächt worden zu sein. Der Umbruch der Jahre um 1945 und die rasante Modernisierung danach scheinen den Sonderweg an sein Ende gebracht zu haben Die katastrophale Art. in der dies geschah, hinterließ ihre unverwischbaren Spuren. Der „Historikerstreit“ drehte sich darum. Doch aus der Katastrophe ergab sich eine unverhoffte Chance des Neuanfangs, die nicht ganz vertan worden ist. Dieser Traditionsbruch steht im Zentrum unserer Tradition.