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Zur Kritik des Historikerstreits | APuZ 40-41/1988 | bpb.de

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APuZ 40-41/1988 Zur Kritik des Historikerstreits Deutsche Identität und historischer Vergleich Nach dem „Historikerstreit“ Aktuelle Aufgaben der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsvermittlung Niemandsland Mitteleuropa Zur Wiederkehr eines diffusen Ordnungskonzepts Artikel 1

Zur Kritik des Historikerstreits

Helmut Fleischer

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Kritik zielt nicht so sehr auf einzelne Streitpositionen in der Geschichtskontroverse von 1986/87, sondern mehr auf Fragwürdigkeiten ihrer thematischen Ausrichtung und intellektuellen Fasson. Die negativen Prädikate lauten: unhistorisch, untheoretisch, reflexionsarm. forciert, moralistisch, politisch verkrampft. Der Verfasser meint, es sei eigentlich eine andere Geschichtsdiskussion fällig, ja sogar vorher schon eröffnet gewesen: eine mehr umfassend angesetzte Neuorientierung über den geschichtlichen Ort und die Nachgeschichte des deutschen Nationalsozialismus. Dieses Stück Geschichtsarbeit gelte es nach dem Umweg des „Historikerstreits“ nunmehr aufzunehmen.

Schon die Benennung wurde für viele zum Stein des Anstoßes, und man faßte das Wort wie mit der Pinzette an, garnierte es mit den ominösen „Gänsefüßen“: Der Disput von 1986/87 sei eigentlich gar kein Historikerstreit gewesen. Bei der Namensgebung scheint der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein: Laßt die Historiker einmal richtig über die „apologetischen Tendenzen“ in ihren Reihen streiten! So trifft am ehesten vielleicht der Titel „Zeit“ -Historikerstreit zu.

Wenn man die Streitsache bedenkt — die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ —, ist auch gar nicht so recht einzusehen, warum darüber partout in einem zünftigen Streit der Historiker verhandelt werden sollte. Denn die Historiker, so sagte ihr Verbandsvorsitzender Christian Meier, sind zwar für die Geschichte zuständig, nicht aber ebenso speziell und professionell für deren Gegenwärtigkeit Eben um diese Gegenwärtigkeit, die das Vergangene für die Nachwelt behalten hat, geht es in diesem jüngsten Streit um das deutsche Geschichtsbewußtsein.

Geschichtsbewußtsein ist mehr als nur Geschichtswissen und Geschichtsbild. Vielmehr geht es um bestimmte wesentliche Bedeutungsbezüge, die eine Gegenwart mit näheren oder ferneren Abschnitten ihrer Vorgeschichte verbinden. Die geschichtlichen Haupttatbestände sind dabei meistens in prägnante Formeln gefaßt, in Schlüsselworte, die Schlüssel-ereignisse benennen sollen. So sind jetzt aufs neue die wesentlichen Bedeutungsgehalte, Folgelasten und Konsequenzen der deutschen NS-Vergangenheit zum Problem geworden. Schon vor dem Disput von 1986/87 war von verschiedenen Seiten geäußert worden, daß eine Neuorientierung in unseren historischen Begriffen von der deutschen NS-Vergangenheit vonnöten sei. Der Zeithistoriker Martin Broszat plädierte dafür, das Verständnis des Nationalsozialismus zu „historisieren“. Das bedeutet zum einen, daß wir von einer national-und monumentalgeschichtlichen Vergegenwärtigung des nationalsozialistischen Diktatur-und Kriegsstaates zu einer sozialgeschichtlichen Einordnung des Nationalsozialismus in einen weiter gefaßten Epochenzusammenhang und zu einem tieferen Verständnis der „sozialen Schubkräfte“ gelangen, die ihn zu einer breiten Volksbewegung hatten werden lassen; und zum anderen bedeutet es.den Schritt von einer demonstrativen Behandlung des Nationalsozialis-mus als (negativem) „Lehrstück“ zu einem historischen Begreifen zu gehen.

Der Historikerstreit hat jedoch mit Jürgen Habermas’ „Kampfansage“ in der „Zeit“ erst einmal eine ausgesprochen unhistorische Richtung eingeschlagen. Als Diskussionsvorlage diente ein recht zufälliges Arrangement aus aphoristischen Äußerungen von vier Autoren, die in diesem Arrangement noch mehr fragmentiert zu Wort kamen. Statt der „Ausschau nach dem Ganzen“ wurde fortan ein Hantieren mit Bruchstücken charakteristisch für den Gang der Verhandlung. Statt um den geschichtlichen Ort und Inhalt des Nationalsozialismus ging es vordringlich um „zweierlei Untergang“ und „zweierlei Vernichtungspolitik“. An die Stelle eines Bemühens um Zusammenschau traten Exerzitien des Taxierens und Vergleichens. Kein Wunder, daß manche Historiker sich nur ungern oder überhaupt nicht in den Streit hineinziehen lassen mochten. Statt einer historischen Einstellung dominierte weithin eine sozusagen „geschichtsjuristische“, justizielle Befassung mit Delikten und Verbrechen zu dem Behufe, Verursachungsanteile als Schuldanteile akkurat zurechnen zu können. Ein „negativer Nationalismus“ hielt die Fragestellung in den Perspektiven nationaler Partikularität gefangen — ein neuerlicher ideologischer Sieg des Nationalstaates über das weltbürgerliche Geschichtsdenken. Ausgeblendet blieb bei all dem kriminalistischen Eifer ein Aspekt, unter dem sich eine aufgeklärte Sicht der geschichtlichen Dinge ganz besonders zu bewähren hätte: der Aspekt einer epochalen Pathologie des Sozialen, wie sie sich dem Blick des Psychoanalytikers erschließt.

Dabei wäre es im Zuge einer sozialgeschichtlichen Neuerschließung des Nationalsozialismus als Volksbewegung gerade eminent wichtig, nicht aufs neue nur die „Einzigartigkeit“ der ungeheuerlichsten Gewaltverbrechen zu beschwören, sondern den fatalen Zusammenhang aufzudecken, der mehr indirekt und über mehrere Stufen vermittelt von etwas ganz Gewöhnlichem und nur graduell Besonderem zu dem Ungewöhnlichen, Unerhörten und Einzigartigen hingeführt hat. Letztlich war es ja ein massenhaftes und überaus impulsives Streben nach einem besseren, ansehnlicheren Leben, das da in mörderisch-zerstörerische Gewalt umgeschlagen ist. Der vieldiskutierten „Dialektik der Aufklärung“ wäre eine „Dialektik des guten Lebens“ an die Seite zu stellen, als ein Stück „Selbstaufklärung der Moderne“. Weil der Historikerstreit von 1986/87 so sehr hinter die gestellte Aufgabe zurückfiel, hieß es dann, er sei wohl ein Ereignis gewesen, aber kein geistiges; neue Einsichten habe er nicht gebracht. Was für ein Ereignis war er? Zumindest eines in den Gefilden unserer „politischen Kultur“, genauer, in der Kontakt-und Durchdringungszone, in der sich „ideenpolitisch“ engagierte Wortführer der „politischen Klasse“ mit politiknahen Wortführern des Wissenschaftsbetriebs begegnen, meistens säuberlich nach Fraktionen sortiert. Unter den Klimabedingungen, die jetzt allgemein in dieser Zone herrschen, hat der Streit jedoch ganz erheblich gelitten.

Weil er aber immerhin ein Ereignis war und neue Aufmerksamkeit auf seine unerledigte Aufgabe gelenkt hat. möchte ich im Rahmen einer Methoden-kritik an diesem Historikerstreit einige Orientierungsfragen des Geschichtsbewußtseins aufnehmen und die Probe darauf machen, ob man ihre Diskussion nicht vielleicht in einer anderen Klimazone — im Raum Öffent -einer kritisch-nachdenklichen lichkeit — und in einem anderen Stil fortführen könnte.

Meine Kritik — sie kommt aus der „PhilosophenEcke“ — wird nicht zuletzt zu monieren haben, daß der Historikerstreit so unphilosophisch und überhaupt untheoretisch ausgefochten wurde. Mit Grund hat wiederum Christian Meier (einen Gedanken von Joachim Fest fortführend) daran Anstoß genommen, wie eilfertig man bei uns Gedanken „grundsätzlich unter Vollstreckungsverdacht“ setzt. Man möchte mit Adorno-Horkheimer hinzufügen: als seien sie die Praxis unmittelbar. „Wir nehmen sie“, schreibt Meier, „zu wenig intellektuell. dafür rasch moralisch.“ Unter diesem „Fetischismus“ und dieser Mißdeutung hatten im Historikerstreit zumal die reflexiv verschlungenen Gedanken von Ernst Nolte zu leiden

So wird es im folgenden darum zu tun sein, den Raum für eine sehr betont theoretische Vorverhandlung von Fragen des Umgangs mit der deutschen NS-Vergangenheit auszuloten. Das soll namentlich in diesen drei Arbeitsschritten geschehen: einem geschichtsphilosophisch-erkenntniskritischen, einem politikphilosophischen und einem moralphilosophischen.

Fällig ist jetzt also ein Plädoyer dafür, die öffentliche Geschichtsbild-Debatte zurück auf die Hauptlinie zu bringen — und möglichst auch an einen Verhandlungsort jenseits der Fronten des „Europäischen Bürgerkrieges“ (dessen Ende zu denken, nicht seine Fortsetzung mit anderen Mitteln zu planen, das Anliegen von E. Nolte ist). Auf die Haupt-linie — das heißt: auf den Weg eines historischen Begreifens der epochalen Grundkräfte unseres Jahrhunderts.

Bei der Rede von einer „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ denkt man vor allem an das unheimliche Nachleben, das die Hitlerzeit in unserer geschichtlichen Erinnerung führt. Wenn es heißt, daß wir so oder so mit dieser Vergangenheit „umgehen“, möchte man mehr daran denken, daß sie in uns und unter uns „umgeht“. Indessen gibt es auch in der geschichtlichen Wirklichkeit das Weiterwirken einer Vergangenheit, die noch nicht vollends Vergangenheit geworden ist — also in unserer Nachkriegsepoche eine Fortsetzung von Dynamismen der Weltkriegsepoche „mit anderen Mitteln“ und in anderen Medien. Der höhere Sinn einer neuerlichen geschichtlichen Besinnung könnte darin liegen, auf eine gebührend behutsame Weise diese „Dialektik“ von Kontinuität und Bruch, von Bruch und Kontinuität zwischen unserer Herkunftgeschichte und unserer Gegenwart zu bedenken und zu ergründen.

I. Verfassungsfragen des Geschichtsbewußtseins

Der „Historikerstreit“ kann reichlich Anlaß zu einer tieferen Besinnung darüber geben, was sich überhaupt im Raum eines „Geschichtsbewußtseins“ abspielt, wie sich darin Elemente eines Wissens über Vergangenes mit dem gegenwärtigen Befinden und Treiben der Menschen verschränken, die da „geschichtsbewußt“ mit der Vergangenheit „umgehen“ (oder in denen die Vergangenheit „umgeht“).

Die Kontrahenten des Streits selbst haben sich allerdings recht wenig auf Reflexionen dieser Art eingelassen. Michael Stürmer erneuerte mit leichter Hand die alte Ansicht, aus vergangener Geschichte ließen sich Lehren ziehen, ja die Geschichte verheiße darüber hinaus sogar einen Zuwachs an „Identität“. Jürgen Habermas und andere argwöhnten, damit sei der Geschichte die Rolle eines „Religionsersatzes“ zugedacht und die geschichtliche Erinnerung überhaupt „funktional“ als eine Zweckveranstaltung installiert: „ein Geschichtsbild herzustellen, das dem nationalen Konsens förderlich ist“ Das hätte einer Klärung bedurft — die blieb jedoch aus, und Habermas setzte zu seinem Gegenzug an. ein Konzept für den „öffentlichen Gebrauch der Historie“ zu umreißen. Was zeigt aber schon die Rede von einem „Gebrauch“ der Historie an? Was besagt die Versicherung, die NS-Periode werde sich nicht mehr als ein „Sperriegel querlegen“, wenn wir sie als einen „Filter betrachten, durch den die kulturelle Substanz, soweit diese mit Willen und Bewußtsein übernommen wird, hindurch muß“?

Was für „Funktionen“ der historischen Erinnerung kommen bei solchem „öffentlichen Gebrauch“ ins Spiel? Alles bei Habermas weist darauf hin. daß es moralisch-kathartische Wirkungen sein müßten. Es geht darum, wie wir einen „nationalen Lebenszusammenhang“ fortbilden können. „Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen. sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen“ — keine „Identifikation mit ungeprüften Vorbildern“! Ungeprüft bleibt hier jedoch, warum (und wem eigentlich) es heute so sehr darauf ankommen muß. aus Traditionen früherer Geschichte partout ein „nationales Selbstbewußtsein“ herauszufiltern. Und hätte eine „Identifikation“ mit „kritisch geprüften“ Vorbildern einen höheren Sinn? Alles zusammen sieht wiederum sehr nach einem „funktionalen“ Verständnis von Geschichtserinnerung als Traditionsaneignung aus — nur nicht als Religionsersatz installiert, sondern als „moralische Veranstaltung“. Daraufhin wäre ganz grundsätzlich zu fragen: Was kann überhaupt die Zuwendung zu vergangener Geschichte bringen — an Einsicht, Identität, Humanität — und wo kommt es zur Überstrapazierung des historischen Bewußtseins?

Geschichtliche Identität und historische Kommunikation „Der Umgang mit Geschichte“, schreibt Thomas Nipperdey, „hat Bedeutung für das Leben, er hat mit unserer Identität zu tun.“ Nun wäre es aber wichtig, von welcher Art diese Identitäts-Bedeutung ist. wie die Verbindungslinien vom Leben her und zum Leben hin verlaufen. Nach all diesen neuerlichen Bemühungen, dem „Umgang“ mit Geschichte einen (nur verschieden interpretierten und gewährleisteten) politisch-kulturellen „Gebrauchswert“ nachzusagen und abzugewinnen, wäre doch einmal entschieden anzuzeigen, was jeden „öffentlichen Gebrauch der Historie“ suspekt macht.

Der „identitätsbildnerische“ und belehrende Umgang mit dem Vergangenen hat eine alte Tradition. Die Institutions-Pragmatiker, am Output orientiert, haben mit der Geschichte schon immer weit mehr und sehr viel mehr Praktisches im Sinn gehabt als eine bloße symbolische Spiegelung des Vergangenen im Gegenwärtigen: etwas an volkspädagogisch nutzbarem know-how, anGefahrenerkennung und Orientierungssicherheit. Sie denken immer zuerst an die vermeintlichen Wirkungen und Folgen, die richtige (oder zweifelhafte) historische Anschauungen haben könnten. Doch auf einen mehr philosophischen Weg kommen wir eher mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen die historische Kommunikation steht, was vom gegenwärtigen Leben der Menschen in sie einfließt und sich in ihr offenbart. Das Geschichtsbewußtsein ist ein symbolischer Raum, in dem sich an der Materiatur von Vergangenem auf eine oft nur sehr subtile (also nicht grobsinnfällige) Weise zu erkennen gibt, zu welchem Stand sozialer Umgangskultur im Kleinen wie im Großen es die betreffenden Menschen in ihrer eigenen Lebens-und Bildungsgeschichte gebracht haben. Wenn es immer wieder heißt, die Menschen von heute könnten oder sollten aus der vergangenen Geschichte etwas lernen, so wird sich bei näherem Hinsehen doch erweisen, daß sie im Medium einer anderen Geschichte immer nur bekunden können, was sie in ihrer eigenen, selbst-erlebten und selbst-mitgemachten Geschichte an personalem und sozial-kommunikativem Vermögen erworben haben.

Man möchte gleich die Probe aufs Exempel machen und fragen, welche Besitzstände oder Notstände der politisch-kulturellen Identität sich im Historikerstreit offenbart haben könnten. Habermas hat mit seiner Kritik eine ganz enorme moralisch-praktische Differenz zwischen sich selbst und seinen Kontrahenten aufgerissen: Diese zielten darauf, die deutsche NS-Vergangenheit zu „entmoralisieren" und den altbösen Feind im Osten so nah. groß und gegenwärtig vor uns aufzubauen, daß dahinter jene Vergangenheit verschwindet. — Richten wir nur einen kurzen Blick auf Andreas Hillgruber. Bei ihm zeigt die historische Kommunikation, wie ich meine, in der Tat manche Verzerrung zwischen menschlicher Anteilnahme (die ja das A und O jeder Kommunikation ist) nach der einen Seite und gewissen Äußerungen, die wenig von einem tiefer eindringenden Verständnis erkennen lassen — so, wenn er ganz summarisch von „Racheorgien der Roten Armee“ spricht. Für jene Exzesse gibt es einen anderen, mehr komplexen Nenner. Das bedürfte der Diskussion.

Auf welchem Stande historischer Kommunikation aber bewegt sich Hillgrubers scharfer Kritiker Hans-Ulrich Wehler? Wenn ich die Seiten durchsehe, auf denen Wehler die Dinge zurechtrücken will, erscheint die Kommunikation wiederum auf eine andere Weise verzerrt. Es geht um die Kampfsituation an der Ostfront in den letzten Kriegsmonaten 1944/45, und Hillgruber wirbt sichtlich um Verständnis und Anteilnahme für das Schicksal der ostdeutschen Bevölkerung und selbst für die Entscheidung solcher Militärs, die sich jetzt noch der Sowjetarmee entgegenstemmten. Statt von „Anteil nehmen“ spricht Hillgruber allerdings von einem „Sich-identifizieren mit . . was ihm mit Recht als ein unangemessener und unhistorischer Begriff angekreidet worden ist. Wehler macht triftig geltend: Lage, Motive und Handlungsspielräume aller Beteiligten (mitsamt überindividuellen Strukturen) seien verstehend zu erschließen, um über eine solche „heillose Lage“ (Hillgruber) urteilen zu können

Wehler selbst führt nun den Fall auf einen Urteilsspruch hinaus, dem ich seinem Inhalt nach nicht widersprechen könnte, den ich aber gleichwohl — und weil es eben ein Urteilsspruch ist — als zu „juristisch“, administrativ und nicht historisch-kommunikativ empfinde: „Es lag im objektiven Interesse nicht nur aller Insassen der Vernichtungsund Konzentrationslager, . . . vielmehr der Deutschen insgesamt und aller von ihnen jahrelang mit Krieg überzogenen europäischen Völker, daß dieser Krieg sobald wie möglich ein Ende fand . . .:

besser ein Ende mit Schrecken als ein weiterer Schrecken ohne Ende. Diese Einsicht mag für manchen Zeitgenossen jener Jahre . . . noch immer schmerzlich sein. Aber wer sich gegen sie sträubt und sich mit dem . verzweifelten Abwehrkampf der noch immer nicht zerschlagenen deutschen Kriegs-maschine zu identifizieren empfiehlt, den klagen Abermillionen Tote an . . . Wenn schon Identifizierung, dann mit den leidenden Menschenaller Nationen, die auf ein möglichst frühes Kriegsende, auf den Frieden hofften.“ Dieser Schluß scheint sich auf dem Höchststand einer weltbürgerlichen historischen Kommunikation zu bewegen — und doch schwingt hier ein Oberton von „Triumphalismus“ mit, der noch zu sehr aus der traditionellen „Geschichtsschreibung der Sieger“ nachhallt. Eine künftige völkerverbindend geschriebene Geschichte der Weltkriegsepoche wird anders klingen und sich überhaupt jenseits jeder rechtenden Historie bewegen. Sie wird nach allen Seiten anteilnehmend schlicht aufzeigen, innerhalb welcher geschichtlichen und ethischen Schranken die einen und die anderen sich bewegt haben. (Schließlich gehört zur historischen Kommunikation auch die Art von Historiker-Kommunikation, für die Wehler ein nicht gerade schönes Beispiel gibt.)

Alles spricht dafür, daß sich die moralisch-praktischen Divergenzen zwischen den streitenden Historikern und Sozialwissenschaftlern in einer viel engeren Spannweite bewegen als jemals zuvor in der Geschichte der deutschen Gelehrtenwelt.

Vom allzu bemühten Gebrauch der Historie: Notiz über forciertes Geschichtsbewußtsein Ein Geschichtsbewußtsein, das auf den „öffentlichen Gebrauch der Historie“ abgestellt ist, ist der Natur der Sache nach ein forciertes Geschichtsbewußtsein. Das zeigt sich schon in den Formen, in denen es öffentlich auftritt: als etwas absichtsvoll Veranstaltetes, und es zeigt sich nicht minder in der Manier, wie darin Geschichte als Arrangement von „Lehrstücken“ zugerichtet und inszeniert ist. Die Geschichte der öffentlichen Darbietung von Geschichte ist ganz überwiegend eine Geschichte forcierten Geschichtsbewußtseins gewesen. Es ist sozusagen ein Geschichtsbewußtsein unter dem Pri-mat des Nutzwertes und unter dem Druck eines Mangels, der in ihm jedoch nicht behoben, sondern nur ideologisch kompensiert wird.

Geschichtskulte (wie jener der Französischen Revolution, des Bismarckreichs, der Hitlerzeit, des Sowjetstaates und der DDR) überkompensieren einen Mangel an gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Integration und Konsensualität in dem betreffenden Gemeinwesen; es gibt dafür eine ganze Reihe typischer Konfigurationen. Was sich in solchen Auf-und Umtrieben mit Geschichte „eigentlich“ abspielt, ist den beflissenen Veranstaltern stets verborgen — es ist jedenfalls etwas anderes als sie denken und möchten. Unter anderem kehrt sich dabei das Autoritätsverhältnis um: Die Heutigen wenden sich nicht lernend dem Früheren zu, sondern einige von ihnen verfügen oft recht herrisch darüber und traktieren damit die anderen.

Lebendiges Geschichtsbewußtsein hingegen ist eine ganz und gar unaufdringliche Sache, etwas selbstverständlich Mitlaufendes. Es ist eine erweiterte. die Zeitgrenze überschreitende Kulturform mitmenschlicher Anteilnahme, so weit sie auf der betreffenden Kulturstufe des Humanen, Personalen und Sozialen eben reicht — und nichts weiter. Lebendiganteilnehmendes Geschichtsbewußtsein ist eine Errungenschaft bürgerlicher Sozial-und Reflexionskultur, Ergebnis ihrer Loslösung vom „Geschichtsgebrauch“ der Adelsmonarchie. Mit dem Aufkommen von Nationalstaat, Wirtschaftsgesellschaft und modernem Imperialismus geriet das Geschichtsbewußtsein jedoch bald unter die Last neuer Dienstbarkeiten. Im Historikerstreit wirken diese Verstrickungen der Weltkriegsepoche nach. Er ist ganz offenkundig eine neuerliche Anwandlung forcierten Geschichtsbewußtseins. So macht er aufs neue die Frage akut, wie und wo in unserer politischen Kultur sich ein ziviles Geschichtsbewußtsein nun auch aus den modernen Kollektiv-zwängen lösen könnte: Wie ist ein lebendiges Geschichtsbewußtsein als eine universale Kultur erinnernder Anteilnahme möglich?

II. Geschichte in der Politik — Politik mit der Geschichte

Daß der „Historikerstreit“ im Kern ein Streit um gegenwärtige Politik im Medium des politisch-historischen Bewußtseins ist. war schon in seiner Vorgeschichte angelegt: Als ein neues Interesse für Geschichte aufkam, besetzten einige prominente Politiker (wie F. J. Strauß und A. Dregger) es sogleich mit markanten Direktiv-Parolen und gaben so zu verstehen, daß sie mit der Geschichte ein Stück Politik voranbringen wollten. Die Geschichte der Deutschen wurde unversehens im ganzen zu einem Politikum, als die neue Regierung mit großen Museumsplänen aufwartete. Ganz elementar folgte der Zeitgeist einem neuen „Trend“, und schon war der Verdacht einer „Ideologieplanung“ zur Stelle, mit der man den Trend „hegemonial“ nutzen wolle. In das Zwielicht solcher Planspiele rückte Jürgen Habermas eine Kollektion von Historiker-Äußerungen, und der Historikerstreit nahm seinen Lauf in den Geleisen der „politischen Kultur“ des Parteienkampfes. Hans-Ulrich Wehler schildert ihn wie eine militärisch-strategische Operation: Erst eine ideologische Offensive der „Wendehistoriker“, dann rücken (mit Verspätung) die Verteidiger an und beweisen auf der ganzen Linie ihre Überlegenheit; der Angriff ist abgeschlagen, das Bessere hat gesiegt, doch die Angreifer bleiben in uneinnehmbare Machtpositionen verschanzt.

Es geht nach Wehler um einen ausgesprochen hohen Einsatz, um nichts Geringeres als um die Verteidigung der Prinzipien demokratischer Liberalität, rationaler Aufgeklärtheit und selbstkritischer Weltoffenheit auf dem Felde des Geschichtsbewußtseins, wo die alten Unarten der deutschen Nationalhistorie noch sehr virulent sind. Das wäre nach der „Fischer-Kontroverse“ und anderen Episoden nicht verwunderlich — und gerade darum wäre jetzt ernstlich zu fragen: Ist das des Pudels Kern? Eine politische Grob-Interpretation, zu der Jürgen Habermas sich hinreißen ließ, ist eindeutig unzutreffend: Ernst Nolte wolle die Nazi-Verbrechen als Antwort auf (heute noch fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen verständlich machen und den Blick auf den Feind lenken, der immer noch vor unseren Toren stehe — eine Suggestion, die Noltes Sicht der Dinge genau zuwiderläuft.

Das erste wäre, daß man den Streitgegenstand sehr viel niedriger hängt, ihn im richtigen, kleineren Format sieht und ohne die Aufgeregtheit des Hannibal ante portas. Sodann wäre der Anteil der Regierung an der angelaufenen Geschichts-Betriebsamkeit genauer zu orten und zu taxieren: Dabei dürfte herauskommen, daß diese Betriebsamkeit weniger mit einer sonderlichen Schwungkraft der Wende zu tun hat als vielmehr mit ihren besonderen Schwierigkeiten, Verlegenheiten und Möglichkeitsgrenzen. Zum dritten wäre dann zu vermuten, daß die Heftigkeit der Reaktionen von Habermas bis Wehler nicht zuletzt davon herrührt, daß sich das links-reformerische Lager seit langem selber in ei-7 nem innerlich kritischen Zustand befindet und an einer Perspektivschwäche („Neue Unübersichtlichkeit“) leidet. Nur eine arg konstitutionsschwach gewordene Linke konnte von den Diskussionsvorlagen des Historikerstreits fast in Panik versetzt werden. Wenn der Historikerstreit also nicht die Größenordnung eines Kampfes um das politische Bewußtsein des Bundesbürger (Wehler) erreichen konnte, so ist er in seinem kleineren Format doch wenigstens ein aufschlußreiches Moment im „Streit der Fakultäten“ — wo er eigentlich hingehört. So wie er thematisch inszeniert war, geriet er zu einer notorischen „Stellvertreterdiskussion“ oder zu einem „Stellvertreterkrieg“ (H. Mommsen).

Historikerstreit als Stellvertreterdiskussion Aus etwas größerer Distanz läßt sich im Politikgehalt des Historikerstreits etwas von der Symptomatik einer Doppelkrise in unseren gesellschaftspolitischen Hauptlagern erkennen. Die Schwierigkeit liegt wesentlich darin, wie sich eine aufstiegsgewohnte Gesellschaft unter den Konditionen einer „Begrenzungskrise“ (K. Biedenkopf), die inzwischen zutage getreten ist, neu orientieren müßte, dabei aber recht schwer tut. Die Geschichte ist wohl darum zu einem Gegenwarts-Politikum geworden, weil man sich nun eingestehen muß: Sie hat uns wieder, wir sind dem Zug des Geschichtlichen nicht entronnen, sind nicht in dem „Verweile doch!“ eines progressiven Zustandes angelangt, wo es nur noch „Entwicklung“ gäbe. Der Historiker-streit ist symptomatisch für eine Kollision unserer politischen Klasse mit der neu andrängenden Wirklichkeit einer weitertreibenden Geschichte, die sich den eingeübten Methoden von Erfolgs-und Krisenmanagement nicht so recht fügen will.

Das ist das Triftige an Michael Stürmers Botschaft, daß uns eine neue Einstimmung in die Dynamismen von Geschichte abverlangt sei. Indessen, wie er den Geist der Geschichte, die uns erfaßt hat, mit Hilfe der Geister vergangener Geschichte zu bannen sucht, hat etwas von Geisterbeschwörung an sich. Symptomatisch dürfte endlich sein, daß der Geschichtsstreit, sofern er eben wesentlich ein Wissenschaftler-Streit ist, seinen gesellschaftlichen Ort in jenem institutionellen Großkomplex hat, der am empfindlichsten unter der neuen Lage der Dinge leidet, darunter, daß der besagte progressive Entwicklungszustand einer „modernen Industriegesellschaft“ wieder den Wechselfällen der Geschichte ausgesetzt ist. In den sechziger Jahren war es ja zu einer einzigartigen Durchdringung von Gesell-Schafts-und (Aus-) Bildungspolitik gekommen, als die Terrassenlandschaft des Bildungssystems zum Aufmarschraum einer auf sozialen Aufstieg zielenden Großmobilisation wurde. Inzwischen ist nahezu alles an Staustufen geraten. „Die Unklarheit über die Deutschen in der NS-Zeit“, bemerkt Christian Meier, ist zugleich die Unklarheit über uns selber.“ Und zwar dürfte der Unklarheit über die Gegenwart hier die Priorität zukommen. Die neue Irritation des Geschichtlichen, die sich in der Kontaktzone zwischen politischer Klasse und Wissenschaftsbetrieb fühlbar macht, käme dann daher, daß die Wortführer und Vordenker der apparativ-plebiszitären Politik (für die ja immer „alles klar“ sein und für ein „weiter so!“ sprechen muß) sich die Schwäche einer tieferen geschichtlichen Nachdenklichkeit an den Grenzen bisherigen Wachstums schwerlich leisten können. Kritische Publizisten haben es als die Anwälte der denkenden Öffentlichkeit immer wieder beklagt, wie die Wahlkampagnen der Parteien „an den großen Epochenfragen vorbei“ geführt worden sind (Robert Leicht).

Der „Wende“ war es beschieden, weiter an der Krankheit laborieren zu müssen, deren Heilung sie sein wollte. Ihr „ordnungspolitischer“ Effekt bewegt sich ganz innerhalb der Grenzen des bloßen Verteilungskampfes, der seit langem das A und O unserer Gesellschaftspolitik ist. Nun sollte zur Abwechslung einmal die Probe darauf gemacht werden. was es — nach Jahren einer überproportionalen Begünstigung von Arbeitnehmern und öffentlichem Dienst — bringen könnte, wenn sich größere Handlungsspielräume (Erwerbsmöglichkeiten) für die unternehmerisch Tätigen auftun: Sozialstaat — nun aber auch für Scharen von prospektiven Unternehmensgründern! In „geistig-moralischer“ Absicht war unter solchen Klientel-Verhältnissen nicht viel zu bestellen.

Das sozialstaatliche Gegenlager, wieder in die Oppositionsrolle zurückgedrängt, steht, was die geschichtliche Perspektivik angeht, nicht minder prekär da. Es war an die Grenzen einer Reformpolitik gelangt, die nur von den Überschüssen einer florierenden Marktwirtschaft zehrt. Peter von Oertzen hat das recht klar zu Protokoll gegeben: „Mit dem Beginn der Strukturkrise des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems ab 1974 sind die ökonomischen und in der Folge auch die gesellschaftlichen und politischen Grundlagen der Reformpolitik zusammengebrochen . . . Zum Gesamtkonzept der Wachstums-, Umverteilungs-und Wohlfahrtspolitik im traditionellen SPD-Stil führt jedoch kein Weg zurück.“

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer vielberedeten „politischen Kultur“, daß in diesem „Reizklima“ nicht der große Neubesinnungs-Diskurs an Raum gewinnt, von dem die bessere Publizistik immer wieder träumt und für den sie selber manches gute Beispiel gibt: dafür, wie sich Nachdenkliche aus allen politischen Lagern um eine nüchtern-unbefangene geschichtliche Ortsbestimmung bemühen. Statt dessen entbrennt vielmehr dieser gereizte und gespreizte Historikerstreit, der ganz offenkundig eine Eruption forcierten Geschichtsbewußtseins ist. Eine Stellvertreterdiskussion ist der Streit insofern, als durch ihn eine andere Debatte substituiert wird, zu der die politische Klasse mitsamt ihrem wissenschaftlichen Umfeld bis jetzt in geistig-praktischer Hinsicht anscheinend noch nicht hinreichend disponiert ist.

So gehört das Faktum des Geschichtsstreits zu den bedingten Reflexen von Kalamitäten, mit denen sich die politischen Hauptlager von Regierungskoalition und Opposition im Spannungsfeld Marktökonomie-Sozialstaat unter dem Druck der „Begrenzungskrise“ abzumühen haben. Mit seinen forcierten Stilisierungen und Stückwerk-Montagen ist der Historikerstreit selber ein Dokument der Begrenzungskrise, der Begrenztheit geschichtlicher Situationswahrnehmung.

Streit der Fakultäten und Begrenzungskrise im Wissenschaftsbetrieb Die anhaltende Mittelknappheit trifft einen Institutionenkomplex, der seit den sechziger Jahren auf Stellenexpansion programmiert war; kaum ein anderes Segment der sozialen Aufstiegsmobilisation ist auf einen so großen Zuwachs an selbstdefinierten Positionen (unter ermäßigten Zugangsbedingungen) abgestellt gewesen. Es war abzusehen, daß über kurz oder lang eine heftige Konkurrenz um das Wenige entbrennen und dabei politische Parteiungen bedeutsam werden würden. H. -U. Wehler macht einiges aus diesem Kleinkrieg um wissenschaftspolitische Schlüsselpositionen und aus dem Stellungskampf um die Stellen publik — Stichwort: „neokonservative Machtpolitik“. Doch was die Positionsgewinne und -Verluste der einzelnen Wissenschaftsfraktionen für den Stand der geistigen und politischen Kultur bedeuten, das läßt sich kaum allgemein. sondern nur uneinheitlich von Fall zu Fall ermessen. Auf die Formel eines Ringens zwischen Fortschritt und Reaktion ist die Affäre schwerlich zu bringen.

In diesem „Streit der Fakultäten“ läßt sich namentlich ein Kampf der Geschichte mit den „systematischen Sozialwissenschaften“ ausmachen, der in die Historiker-Fakultät selbst hineinreicht; Kurt Sontheimer, Hans und Wolfgang Mommsen haben dazu aufschlußreiche Betrachtungen angestellt Die geschichtlich nachdenkliche Öffentlichkeit wird es vor allem interessieren, was die historisch-sozialwissenschaftlichen Schulen heute zur Neuorientierung des öffentlichen Geschichtsbewußtseins beizutragen haben, zur geschichtlichen Ortsbestimmung unserer Gegenwart (mit einem langen Blick auf unsere Vorgeschichte im Nationalsozialismus). In der grellen Beleuchtung des Historikerstreits haben die Hauptbeteiligten zuerst einmal ganz vorwiegend die Schwächen und Unzulänglichkeiten ihres geschichtlichen Orientierungsvermögens offenbart (oder, so gut es ging, verdeckt). Fast möchte man sagen, daß jede Partei in der anderen auch ihren eigenen Mangel bekämpft.

So wäre als ein Fazit festzuhalten, daß die Krise des geschichtlichen Bewußtseins auch im Raum der Wissenschaft eine Parallelkrise ist, von der nicht minder auch die linksliberale Fraktion innerlich (und nicht nur nach Art einer Bedrängnis und Anfechtung von außen) miterfaßt ist. Wer gar noch höhere Erwartungen in die („linke“) „kritische Sozialwissenschaft“ gesetzt hat, wird deren historisches Unvermögen entsprechend strenger beurteilen. Man kann nur sagen: Zum Glück für die neudeutsche Linke steht nicht Hannibal ante portas — sie stünde ihm so hilflos gegenüber wie einst die alte Linke dem aufsteigenden Nationalsozialismus, den die neue Linke auch heute nicht angemessen in seiner Bedeutsamkeit als populistische Massenbewegung zu begreifen vermag.

Vielleicht stoßen wir hier auf einen tieferen Grund für die Schwierigkeit, historisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus umzugehen. Der Grund könnte in einer Befangenheit gegenüber der Massenbasis des Nationalsozialismus liegen, die ja doch notgedrungen auch die Massenbasis der nachfaschistischen Demokratie werden mußte. Wie die „Totalitarismus“ -Doktrin nach 1945 (nach der treffenden Bemerkung von Christian Meier) den Nationalsozialismus kurzerhand „auf die andere Seite“ transportieren und neben dem Kommunismus postieren konnte, so konnten überzeugte Volks-und andere Demokraten ihn als „Eliten“ -Phänomen in eine höhere soziale Schichtlage „hinauftransportieren“, zwischen Villa Hügel und Wilhelmstraße. Das Irritierende bleibt der Nationalsozialismus als Volksbewegung. Wer hier rechts-oder linkspopulistische Berührungsängste hat, wird weiterhin einen negativen Kult um das absolut Böse in der Vergangenheit treiben, statt das Problematische in der „Verwirrung der Gegenwart“ für ein historisches Bewußtsein zu erschließen

III. Moralität der Geschichte — Moralität des Erinnerns

Der Historikerstreit bekam seine äußerste Schärfe sogleich damit, daß Jürgen Habermas die historischen Streitfragen ins Moralische wendete. So gewann der Disput etwas vom Pathos einer „moralischen Kampagne“ der Einsichtigen wider die Verstockten und Rückfälligen. Die Massivität des Vorwurfs — die Kontrahenten betrieben eine „glückliche Entmoralisierung“ der deutschen NS-Vergangenheit — blockierte die durchaus nötige Diskussion über moralphilosophisch unangemessene Positionsbestimmungen (wie Hillgrubers Entgegensetzung von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ oder die Rede von einem „Sich-Identifizieren“ der Heutigen mit Handelnden und Opfern von damals); sie verhinderte auch ein tieferes Eindringen in die wirklichen ethischen Antinomien bestimmter geschichtlicher Situationen. (Ebensowenig wie A. Hillgruber kann sein unerbittlicher Kritiker H. -U. Wehler für die Einsätze von 1944/45 eine „moralisch saubere“ Verhaltenslinie nachkonstruieren.) Abgeschnitten war vorerst überhaupt jede theoretische Auseinandersetzung darüber, welche ethischen, moralischen oder auch moralistischen Positionen zum Nationalsozialismus heute in Ansatz kommen können.

Die moralischen und moralistischen Aufgebote des Historikerstreits machen es überaus dringlich, einige Grundfragen ethischer Theorie, Pragmatik und Diagnostik in ihrem diffizilen Bezug auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit aller theoretischen Strenge neu zu erörtern. Mit Martin Broszat teile ich den Argwohn, daß vieles, allzu vieles an der moralischen Erziehungs-, Trauer-und Sühnearbeit im Blick auf die Groß-Untaten der deutschen NS-Vergangenheit ein kraftloses Ritual darstellt. Es ist schwer zu ermessen, was an wirklicher ethisch-praktischer Kraft jeweils dahinter-steht. Gewiß bekundet sich die praktische Moralität auch darin, wie heute jemand mit der geschichtlichen Erinnerung an die Hitlerzeit umgeht. Doch nur sehr selten läßt es sich schon im Groben irgendwelcher historischer Thesen und Gegenthesen dingfest machen, wes Geistes Kind einer ist, der entweder die Einzigartigkeit von Auschwitz bekräftigt oder sie in Frage stellt. Im Historikerstreit gab es nicht wenig an kurzschlüssiger Moralisierung der Streitfragen. Allzu unbedenklich haben die Moralisten eine scheinhafte , Gleit-Automatik 4 von Erklären — Verstehen — Verständlich-finden — Verzeihen — Rechtfertigen in Betrieb gesetzt.

Nachdenken über die geschichtlichen Wege des politischen Ethos Welche Hauptarbeiten einer ethischen Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit kann man heute vor Augen haben? Manche sagen. daß die ethisch-praktische Auseinandersetzung selbst, das moralische Urteil über das Verbrecherisch-Widermoralische des Nationalsozialismus, schon Hauptarbeit genug sei: die ständige moralische Gewissensprüfung der Nach-Hitler-Deutschen als praktische Voraussetzung dafür, daß sie nicht rückfällig werden. Hängt aber nicht der praktische Sinn dieser Übung zuvor davon ab. wie überhaupt der Ort des Nationalsozialismus in der neuzeitlichen und modernen „Genealogie der Moral“ diagnostisch-analytisch zu bestimmen ist — weder zu weit und vage noch zu eng? Beide Mängel kommen zusammen, wenn man allzu direkt nach einem „deutschen Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war“, fragt und alles auf den Antisemitismus konzentriert. Die Anfrage ließe sich vielleicht so fassen: Was hat sich im politischen Ethos der europäischen Hauptnationen und insbesondere in dem der Deutschen ereignet, als sie sich zu Beginn unseres Jahrhunderts in eine Weltkriegs-epoche stürzten? Und wie haben sich nach dem Krieg von 1914/18 die Energien einer militant-imperialen „Selbstbehauptung“ in der deutschen Reichs-nation dermaßen aufgeladen, daß der Nationalsozialismus den Weltkrieg auf einer ungleich stärkeren Massenbasis als 1914 wiederaufnehmen und ihn zu einem schrankenlosen Raub-und Vernichtungskrieg steigern konnte? Und wie hat sich das alles zu einem vielfältig gestuften Ermöglichungszusammenhang aufgebaut, in dem ein „Staat im Staate“, der SS-Staat, seinen besonderen „Vernichtungskrieg im Vernichtungskrieg“ führen konnte?

Der Historikerstreit hat die ganze Epochen-Problematik in dem „Einzigartigen“ des Ereignisses Auschwitz konzentriert, als könnte sich an dieser stärksten moralischen Herausforderung auch die stärkste Abwehrkraft herausbilden. Darin liegt jedoch manche Fragwürdigkeit, ja sogar eine fragwürdige Art von moralischer Entlastung, so paradox das klingt. Denn gerade hier sind selbst die meisten Hitler-Deutschen nicht wirklich mit dabei-gewesen, auch nicht mit ihrer Gesinnung. So vollzieht sich die innerliche Entlastung von Auschwitz leichter als die Entlastung von den „ganz gewöhnlichen“, nicht-singulären und massenhaften Roheiten der kriegführenden Nation. Unterhalb dieses Gewalt-Gipfels erstreckte sich das breite Massiv einer ganz alltäglichen Herrenvolk-Rücksichtslosigkeit der Hitler-Deutschen (waren es drei Viertel, zwei Drittel oder nur gut die Hälfte der Nation?). Sie ist als etwas, was geschichtlich in einer modernen Nation möglich ist, für sich schon Problem genug. Der vielfach gestufte, indirekt-vermittelte Ermöglichungszusammenhang vom Nicht-Einzigartigen zum Einzigartig-Ungeheuerlichen hin gibt womöglich schwierigere Fragen zu bedenken als das äußerste Ungeheuerliche selbst, das der Auswuchs einer Sonder-Pathologie ist.

Moralische Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit Martin Broszat konstatiert es zunächst als einfach einen Tatsachenbefund, daß es in der Nachwelt von heute im Blick auf die Hitlerzeit „kein sehr großes Bedürfnis mehr nach Anklage und Verurteilung“ gebe — weil kaum noch einer von den Verantwortlichen unter den Lebenden sei und die damaligen Frontlinien heute nicht mehr bestünden. " Um so stärker geworden ist, zumal bei den Jüngeren, das Begreifenwollen dieser Vergangenheit, mit der auch sie immer wieder konfrontiert werden als mit einer besonderen, für sie aber nur noch intellektuell und geschichtlich erfahrbaren Hypothek.“ Broszat fügt sogleich hinzu, daß natürlich die moralische Verurteilung des Nationalsozialismus unveränderte Geltung behalte Hier ließe sich indessen noch weiter nachfragen, ob die Form einer „moralischen Verurteilung“ denn der geschichtlichen Größenordnung des Ereignisses wirklich angemessen ist: Ob die Begrifflichkeit ziviler Moralität und Strafrechtslehre überhaupt solche epochalen ethischen Brüche wie den Rückfall einer modernen Staatsnation in ein archaisches Krieger-Ethos zu fassen vermag

Zwei ethische Verbindungslinien sind es, die vom Kulminationspunkt des Vernichtungskrieges 1939— 1941 — 1945 in unsere Gegenwart führen: eine ganz direkte Verbindungslinie in der Erinnerung und im moralischen Bewußtsein — und eine sehr indirekte in der Wirklichkeit des gelebten politischen Ethos der Hitler-und Nach-Hitler-Deutschen. Wie sind die beiden historischen Stränge miteinander vernetzt? Hat die Antwort des Gewissens auf die moralische „Herausforderung“ von Auschwitz einen entscheidenden Anteil an der praktischen Höherbildung der politischen Moralität in unserem Volk gehabt (wie J. Habermas annimmt). und kann sie weiterhin eine solche Bedeutung haben? Und wie läßt sich überhaupt der tatsächliche Befund, die inzwischen erreichte „ethische Kondition“ der Deutschen nach Hitler, diagnostisch bestimmen?

Eine Nation ist natürlich niemals ein einheitliches moralisches Subjekt. Das waren auch die Deutschen unter Hitler nicht. Vielmehr hat eine bedrohliche Übermacht von Hitler-Deutschen und Reichs-Fanatikern die allzu schwachen Bildungskräfte einer „Zivilgesellschaft“ in unserem Lande „ausge-schaltet“ und dann in den Ausnahmezustand der kämpfenden Nation mit hineingezwungen. An der neuerlichen Freisetzung, Weiterentwicklung und Fortpflanzung der Nicht-Hitler-Deutschen hing nach 1945 alles Entscheidende (und einiges hing auch an der schwierigen Problematik von Faschismus und Antifaschismus, Kommunismus und Antikommunismus).

Es ist jetzt wieder vielfach beklagt worden, daß keine tiefe Wandlung durch innere Umkehr die einstigen Hitler-Deutschen ergriffen hat. So etwas dürfte überhaupt nicht im Bereich des Möglichen gelegen haben. Statt dessen trat etwas Profaneres ein. Veränderungen im politischen Ethos eines Gemeinwesens erwachsen in der Hauptmasse nicht aus einem Anders-Werdenden der „einen“, sondern aus ihrer Ablösung durch andere — Veränderung ist hier Wechsel in der Konstellation und in den Kräfteverhältnissen, in denen die „sozio-personale Auslese“ erfolgt. In der Konstellation liegt es beschlossen, welche Dispositive des politischen Sozialcharakters in einem Volk freigesetzt oder heraus-gereizt werden und welche anderen latent bleiben, umgelenkt oder zurückgedrängt sind. Eine der wichtigen Nacharbeiten zum Historikerstreit könnte es sein, die vielen Haupt-, Neben-und Schleichwege aufzuspüren, auf denen sich das politische Ethos der Nach-Hitler-Deutschen zu seiner jetzigen profanen Betriebsform umgebildet hat.

Seit gut vierzig Jahren erbringt die Gesellschaft der Bundesrepublik mancherlei Normalleistungen der Zivilität, die ein hohes Maß an innerem sozialen Frieden und Verträglichkeit gegenüber den Nachbarn gewährleisten. Der einstige überschäumende Imperial-Nationalismus ist zu einem zähen Wirtschafts-und Sozial-Nationalismus zurückgebildet. Das ist nicht wenig. Doch das Maß des Zureichenden wird nicht schon darin liegen, daß so etwas wie Auschwitz sich nicht wiederholen kann. Nach Auschwitz sind wir erst einmal zu stillen Teilhabern von Hiroshima geworden. Auf welche Bewährungen und Bewährungsmaße es künftig ankommen wird, wissen wir noch nicht. Sehr wahrscheinlich sind es solche einer aktiven Zivilität. die noch um einiges höher ist als diejenige, die wir bis jetzt erreicht haben.

Moralität des Erinnerns — Moralität durch Erinnern?

Die bleibt, was sich Frage auf jener anderen Verbindungslinie zwischen heute und damals abspielen kann — auf jener, die unser moralisches Bewußtsein immer wieder auf „Auschwitz“ zurückverweist. Hat wirklich die „moralische Herausforderung“ von Auschwitz bei den Deutschen die entscheidende Läuterung bewirkt, und bilden sich daran auch bei Nachgeborenen die moralischen Kräfte, die unser Volk auf einer höheren Stufe sei-11 ner öffentlich-politischen Gesittung festhalten und weitertragen?

Das Hauptvotum von Jürgen Habermas weist in eben diese Richtung. Er statuiert eine „historische Haftung für die Lebensform . . in der Auschwitz möglich war“, und er fragt weiter: „Läßt sich nicht allgemein sagen: Je weniger Gemeinsamkeit ein kollektiver Lebenszusammenhang im Inneren gewährt hat, je mehr er sich nach außen durch Usurpation und Zerstörung fremden Lebens erhalten hat, um so größer ist die Versöhnungslast, die der Trauerarbeit und der selbstkritischen Prüfung der nachfolgenden Generationen auferlegt ist?“

Aus der Sicht einer historisch-realistischen Ethik wären hier nicht nur skeptische Einwände hinsichtlich der Wirkkraft solcher Obligationen vorzubringen. Zu prüfen wäre von Grund auf, wie sich im Raum des historischen Erinnerns die (positive oder negative) moralische Qualität des jeweils Erinnerten mit der (gegenwärtigen und der zukünftigen) Moralität der Menschen vermittelt, die sich das Erinnerte vergegenwärtigen. Es ist füglich zu bezweifeln, daß aus dem Erinnern an Auschwitz bei den Nachgeborenen ein Zuwachs an moralischem Vermögen erwachsen könnte. Erst recht zweifelhaft ist. daß man dergleichen durch absichtsvoll-erzieherische Veranstaltungen bewirken könnte, gar noch bei Widerstrebenden. Zu bezweifeln ist. daß eine höhere Gesittung sich am ehesten an ihren größtmöglichen Herausforderungen ausbildet (und nicht viel eher aus der Summe der alltäglichen, kleineren Anforderungen). Über solche abschlägigen Bescheide hinaus wäre aber vor allem positiv geltend zu machen, daß sich sittliche Vermögen bei heranwachsenden Menschen weit verläßlicher als durch jede moralische Indoktrination auf unmittelbar praktische Art ausbilden und festigen und auf jeden Fall an ihren je gegenwärtigen Anlässen und Gelegenheiten zur Bewährung. Dabei geht es letztlich um die ganz allgemeinen sozialen Grundfähigkeiten des qualifizierten Selbstseins („Ichstärke“).der mitmenschlichen Kooperativität und Solidaritätsbereitschaft.

Wo solche Fähigkeiten sich ausgebildet haben, da finden sie einen durchaus wesentlichen Ausdruck in der Arbeit geschichtlichen Erinnerns. Diese gewinnt indessen nicht den Sinn, an moralischen „Herausforderungen“ unter dem Druck einer „Versöhnungslast“ eine geschuldete „Trauerarbeit“ abzuleisten. um daraus moralische Kraft zu schöpfen. Von moralischer Authentizität ist im Raum des Erinnerns und der historischen Trauer nur. was aus ganz freien Stücken in der größten humanen Selbstverständlichkeit auf das Erinnerte antwortet. Alles andere ist zwanghaftes, wenn nicht gar unredliches Ritual. Im historischen Erinnern bekundet sich nur eine Moralität, zu der das betreffende Individuum in seiner praktischen Lebens-und Beziehungsgeschichte bis dahin gediehen ist, Geschichte als Lehrveranstaltung kann nur die Gelegenheit dazu schaffen. Monumentalgeschichtliche Zentralperspektive und sozialgeschichtliche Gesamtperspektive Jene Diskussionsvorlagen, in denen es um „zweierlei Untergang“ und „zweierlei Vernichtungspolitik" ging, wurden im Historikerstreit zu den härtesten Streitsachen. Ein anderer Text. M. Broszat „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus“ aus dem Mai 1985, wäre wohl besser als Diskussionsvorlage geeignet gewesen. Broszat wollte ihn aber erklärtermaßen nicht in den Sog des Historikerstreits geraten lassen. An diesen Aufsatz hat sich dann das erste wichtige Stück einer Diskussion nach dem Streit angeschlossen. In einem der Sammelbände zum Historikerstreit hatte der israelische Historiker Saul Friedländer eine Kritik an Broszats Historisierungskonzept vorgebracht Broszat nahm die Diskussion mit dem Kritiker in der Form eines öffentlichen Briefwechsels in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ auf (Heft 2, April 1988).

Friedländer hält das Historisierungs-Unternehmen von Broszat für einen problematischen, bedenklichen Balanceakt, sofern sich dabei die Gewichte der historischen Aufmerksamkeit merklich verlagern. Indem der Nationalsozialismus mit denselben normalen historischen Methoden wie jede andere Geschichte bearbeitet wird (etwa wie die französische des 16. Jahrhunderts), kann er unversehens als eine „normale Geschichte“ wie jede andere erscheinen. Zumal wenn diese Geschichte als Sozial-und Alltagsgeschichte betrachtet wird, verschieben sich die Gewichte, wie Friedländer meint, von dem Einzigartigen und Hochpolitischen. Unnormalen und Verbrecherischen weg zu all dem halbwegs normal Erscheinenden oder scheinhaft Normalen, das sonst noch zum Alltag der Hitlerzeit gehört. Die Bedenklichkeit einer Historisierung sieht Friedländer darin, daß man sie für eine Relativierung und Banalisierung der Nazivergangenheit mißbrauchen kann, „letztlich dafür, jene Verbrechen aus dem Gedächtnis der Menschen auszulöschen“

Das genaue Gegenteil dürfte jedoch sehr viel mehr plausibel sein. In diesem Felde historischen Erinnerns gibt es eine ganz eigenartige „Dialektik“ der Gegenläufigkeit. Die Dialektik einer monumental-geschichtlichen Erinnerungspflege könnte gerade darin bestehen, daß die als negativer Mythos erin-nerte Geschichte der Hitlerzeit den Nachgeborenen zu etwas ganz Unwirklichem und unendlich Fernem wird. Sie können sie so nicht als eine Geschichte empfinden, die zu ihnen hinführt. Die Sozialgeschichte hingegen, worin der Nationalsozialismus als Volksbewegung seinen Ort hat, ist unserer Gegenwart viel eher als ein Stück Vorgeschichte zuzuordnen. Möglicherweise bleibt auch Auschwitz fester in einer verbindlichen, nicht nur rituellen Erinnerung verankert, wenn es nicht monumental isoliert in seiner „Unvergleichbarkeit“ dasteht und wenn man begreifen lernt, wie Aktivkerne einer modernen Nation im Konfliktfeld eines modernen Krieges dazu kommen können, mit zunehmender Unbedenklichkeit auf willkürlich designierte Opfer die „Furie des Verschwindens“ (Hegel) loszulassen.

Mit einer solchen „Verlagerung des Focus“ rückt die NS-Vergangenheit nicht in ein milderes Licht. Ihre Problematik vertieft und erweitert sich vielmehr. Der Nationalsozialismus als Diktatur-und Kriegsstaat ist tot. Doch der Nationalsozialismus als Volksbewegung gehört dem sozialgeschichtlichen Kraftfeld einer ungestümen und verbissenen Aufwärts-Mobilisation an. das sich schon vor ihm aufgebaut hatte und nach ihm bis in unsere bundesrepublikanische Gegenwart wirksam geblieben ist. Das Verfängliche für die historische Auffassung liegt (für Friedländer wie auch für Habermas) in jener „Doppelbödigkeit" von System-Kriminalität im ganzen und dem Anschein von Normalität in weiten Bereichen des NS-Alltags. Das ist im Plädoyer von Broszat ein wichtiger Aspekt: „Die Schwierigkeit der Historisierung der nationalsozialistischen Zeit besteht vor allem, immer noch, darin, dies zusammenzusehen und gleichzeitig auseinanderzuhalten: das Nebeneinander und die Interdependenz von Erfolgsfähigkeit und krimineller Energie. von Leistungsmobilisation und Destruktion, von Partizipation und Diktatur.“ Broszat will in seiner sozial-und alltagsgeschichtlich orientierten Betrachtung deutlich machen, welche enormen Volkskräfte in die Machtentfaltung des Nationalsozialismus eingegangen sind. Doch von einer unschuldigen Normalität zivilen Lebens „unterhalb“

der politischen System-Hierarchie kann bei ihm nicht die Rede sein. Vielmehr sagt er ganz unmißverständlich. von welcher Art die „sozialen Schubkräfte“ des Nationalsozialismus als Volksbewegung gewesen sind: „Vor allem muß eine periodenübergreifende Betrachtung des ganzen neuzeitlichen deutschen Geschichtsraums entwickelt werden, in dem sich auch der Nationalsozialismus abgespielt hat. In solcher erweiterten Perspektive wird in mancher Hinsicht der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte neu zu bestimmen sein.

Es werden schon lange vorher angelegte problematische Modernisierungstendenzen und Sozialpathologien sichtbar, die. im Nationalsozialismus legitimiert und zusammengerafft, in äußerste Gewalt umschlugen. Mit solchem Blick wird es aber auch möglich sein, manche der bislang tabuisierten historischen Nachwirkungen der NS-Zeit in der gesellschaftlichen und rechtlichen Verfassung der Bundesrepublik kritisch, aber ohne pauschale Denunziation in den Blick zu nehmen.“ Die „Normalität“ der imperialen Nation ist demnach selber eine durch und durch problematische, pathologisch durchwirkte

Eines wird auf der Linie von Broszat allerdings unausweichlich, daß nämlich „Auschwitz“ (der Gesamtkomplex einer planmäßigen Massenvernichtung von Menschen) gewiß in der moralischen Bilanz der NS-Epoche das „Zentralereignis“ bleibt. Gleichwohl kann Auschwitz nicht den „Angelpunkt des gesamten faktischen Geschehens der NS-Zeit“ (und ihres historischen Verständnisses) bilden Wo sich nun der ganze Historikerstreit um die Singularität des Ereignisses Auschwitz gedreht hat, konnte es kaum ausbleiben, daß etwas von der Glut dieses Streits auf das Historisierungsprojekt überspringen würde. Inzwischen haben Kritiker aus dem Lager der „Kritischen Theorie“ befunden, daß bei Broszat ein noch gefährlicherer Verdrängungsmechanismus am Werke sei als bei E. Nolte. Wolfgang Kraushaar meint sogar, die sozialgeschichtliche Historisierung laufe bei Broszat auf eine Normalisierung, ja auf eine „moralische Entlastung der Nazi-Politik“ und auf eine positive Würdigung der „Verdienste und Errungenschaften des Nazi-Systems“ hinaus. Broszat könne es auf seiner Historisierungslinie nicht „wagen“, von der Vernichtung der Juden zu sprechen. „Im gesamten Text kommt das Wort Auschwitz nicht vor.“ Und worin soll das Ver-dienst des Nationalsozialismus liegen? In seiner „sozialen Dynamisierungsfunktion" und in seinem „Modernisierungs“ -Effekt. Nun steht bei Broszat jedoch klipp und klar, im Nationalsozialismus seien „problematische Modernisierungstendenzen und Sozialpathologien ... in äußerste Gewaltsamkeit umgeschlagen“. Das sollte jedem kompetenten Leser genug sagen. Nur die ganz Naiven des Modernen und der sozialen Mobilität können über die Problemtiefen des Broszat-Plädoyers hinwegsehen. Das Problematische und Pathologische moderner Sozialmobilisation in der Bürger-und Kleinbürger-welt lag und liegt vor allem darin, daß sie auf einer breiten populistischen Basis imperial überschießend werden kann. Sie gewinnt ihre Schwungkraft aus der enormen industriellen Reichtumsproduktion, überflügelt jedoch mit ihren Ambitionen deren reales Maß noch um ein Beträchtliches, wird maßlos, mißgünstig und neidvoll, greift auf fremde Reichtumsquellen über. Das könnte ein gesellschaftsgeschichtlicher Nenner für das historische Begreifen des modernen Imperialismus und seiner deutschen Extremform sein. Was Jose Ortega y Gasset den „Aufstand der Massen“ genannt hat, war vor allem der mächtige Auftrieb in der Kleinbürgerwelt und in sie hinein, so sehr, daß man nach dem 19. Jahrhundert, dem des Bürgertums, das 20. Jahrhundert das des Kleinbürgertums nennen möchte.

Das Fatale und Bedrückende an alledem ist, daß hier eben nicht ein radikal und absolut Böses in die moderne Normalität eingebrochen ist. Es beginnt vielmehr mit einer „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), das nur die Kehrseite eines allzu banalen „Guten“ ist, eines allzu stürmischen, unbekümmerten undrücksichtslosen Dranges nach dem guten, ansehnlichen Leben. Aus der imperialen Bündelung und Forcierung dieses massenhaften, weite Teile des Volkes erfassenden Dranges konnte und kann auch weiterhin ein Äußerstes an Gewaltsamkeit erwachsen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 40 Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute. München 1987. S. 11.

  2. Ebd.. S. 50; Theodor W. Adorno/Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1986. S. 261. Fragment „Der Gedanke“. Der Satz lautet: „Man wird für den Gedanken zur Rechenschaft gezogen, als sei er die Praxis unmittelbar.“

  3. E. Nolte hat es seinen Kritikern einigermaßen schwer gemacht. aber sie machten es sich daraufhin um so leichter. Ein Teil ihrer Verzeichnungen geht daraufzurück, daß sie Noltes

  4. „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987. S. 63.

  5. Ebd.. S. 249.

  6. Ebd.. S. 248f.

  7. H. -U. Wehler macht die Annahme, daß aus einer wissenschaftlichen Aufschließung vergangener Geschichte zusammen mit größerer Klarheit über unsere Herkunft auch mehr Klarheit in der Orientierung über den „Weg vor uns“ kommt (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 20). Kaum anders sieht es Hagen Schulze, wenn er einräumt, die Mitteilungen der Geschichtswissenschaft könnten „politische Konsequenzen haben“, woraus die Frage nach der „politischen Verantwortung des Historikers“ erwächst: „Welche politischen Folgen ergeben sich aus den Konstruktionen und Interpretationen der Historiker, und welche Folgen darf man wollen?“ (Historikerstreit. S. 147). K. Hildebrandt gibt der Sache mit einer Aufsatz-Überschrift gar eine dramatische Wendung: „Wer dem Abgrund entrinnen will, muß ihn aufs genaueste ausloten“ (Historikerstreit. S. 281).

  8. Historikerstreit (Anm. 4), S. 217.

  9. Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“. München 1988. S. 54.

  10. Ebd.. S. 55 f.

  11. Den Raum eines „zweckfrei“ -kommunikativen Geschichtsverhältnisses umreißt der Theologe Jürgen Ebach: „Erinnerung gegen die Verwertung der Geschichte“, in: Die neue deutsche Ideologie. Einsprüche gegen die Entsorgung der Vergangenheit, hrsg. von W. Eschenhagen. Neuwied — Darmstadt 1988.

  12. (Anm. 1). S. 84.

  13. „Die Zeit“ vom 20. 3. 1987. S. 8.

  14. Die Beiträge von H. Mommsen und K. Sontheimer in: Historikerstreit (Anm. 4). W. Mommsen bespricht die Orientierungsprobleme der deutschen Geschichtswissenschaft

  15. Dieses Moment von „Stellvertretung“ hat E. Nolte schon in seinem umstrittenen Aufsatz vom Juni 1986 vermutet. Siehe Historikerstreit (Anm. 4). S. 40.

  16. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. (1988) 2. S. 342.

  17. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Moralisierung der Geschichte — Historisierung des Moralischen“ in: Universitas. (1986) 12. und die mehr ins Systematische gehende Entwicklung in meiner Studie „Ethik ohne Imperativ“. Frankfurt 1987. Anders als die Tradition, der auch M. Broszat folgt (Anm. 16. S. 351). halte ich es nicht für obligat, das Ethische unter die Begrifflichkeit von Gut und Böse zu bringen.

  18. Historikerstreit (Anm. 4). S. 251.

  19. S. Friedländer. Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus. in: D. Diner (Hrsg.). Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historiker-streit. Frankfurt 1987.

  20. Ebd.. S. 50.

  21. U. Broszat. Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, hrsg. von H. Grame und K. -D. Henke. München 1986. S. 166.

  22. Ebd.. S. 172.

  23. Detlev J. K. Peukert. Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches, in dem von D. Diner herausgegebenen Band (Anm. 19). Der Verfasser beschließt seinen erhellenden Aufsatz mit diesen suggestiven Fragen: „Wie dünn ist eigentlich das Eis der modernen Zivilisation? Wie sicher können wir sein, nicht erneut in die Barbarei einzubrechen? Können wir überhaupt sicher sein, daß solche Barbarei nicht ein untergründiger Bestandteil des Zivilisationsprozesses ist? Vor 50 Jahren wie heute? In Deutschland oder anderswo?“ (S. 61).

  24. Anm. 1. S. 353. Vgl. mein eigenes Votum in: Historiker-streit (Anm. 4). S. 126f.

  25. „Der blinde Fleck in der modernistischen Historisierungsvariante". in: Die neue deutsche Ideologie (Anm. 11). S. 34. In seinem inquisitorischen Eifer unterlaufen diesem Kritiker sogar direkte Textverfälschungen. Er schreibt Broszat zu. er wolle „kritisch, aber ohne pauschale Denunziation ... die Verdienste und Errungenschaften des Nazi-Systems . . . würdigen“. Von Verdiensten und Errungenschaften des Nazi-Systems ist jedoch überhaupt nicht die Rede, und die Devise „ohne pauschale Denunziation“ bezieht sich, wie man aus dem oben wiedergegebenen Zitat ersieht, ausdrücklich nicht auf das Nazi-System, sondern auf das Weiterwirken bestimmter sozialer Basisprozesse über die NS-Zeit hinaus in der Gesellschaft der Bundesrepublik.

Weitere Inhalte

Helmut Fleischer, Dr. phil., geb. 1927; nach Forschungstätigkeit in den Osteuropa-Instituten Freiburg/Schweiz und Berlin 1971 an der Freien Universität Berlin habilitiert; seit 1972 Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt. Veröffentlichungen u. a.: Wertphilosophie in der Sowjetunion, 1969; Marxismus und Geschichte, 1969; Marx und Engels, 1970; Sozialphilosophische Studien, 1973; Ethik ohne Imperativ, 1987.