Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kultur und Politik in den deutsch-italienischen Beziehungen | APuZ 39/1988 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 39/1988 Das Land, in dem die Widersprüche blühen. Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft in Italien Italien nach dem Faschismus. Eine Gesellschaft zwischen postnationaler Identität und europäischer Integration Kultur und Politik in den deutsch-italienischen Beziehungen

Kultur und Politik in den deutsch-italienischen Beziehungen

Luigi Vittorio Graf Ferraris

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Italien und die Bundesrepublik Deutschland unterhalten enge Wirtschaftsbeziehungen, haben gleiche politische Grundauffassungen und verfolgen auch in der Europa-. Sicherheits-und Friedenspolitik gemeinsame Ziele. An dieser positiven Entwicklung der letzten vierzig Jahre haben die Künste und insbesondere die Literatur maßgeblichen Anteil. Sie haben — anders als die zumeist doch recht oberflächlichen touristischen Kontakte — das Verständnis für die Politik. Kultur und vor allem für die Menschen des anderen Landes vertieft. Die kulturellen Beziehungen zwischen Italien und der Bundesrepublik waren und sind insofern Wegbereiter und notwendiger Hintergrund der engen Zusammenarbeit in Politik und Wirtschaft. Trotz der wesentlichen Fortschritte, die während der letzten vierzig Jahre im Verhältnis zwischen Italien und der Bundesrepublik erzielt werden konnten, schwinden die alten Vorurteile aber oft nur langsam. Es mangelt vielfach noch an einem tieferen Verständnis für die politische Kultur des anderen. Hier wird auch weiterhin eine Aufgabe des kulturellen Austausches, vor allem des Literaturaustausches liegen. Es gilt, die Gemeinsamkeiten ebenso anzuerkennen wie die Unterschiede, zumal die Stärke Europas in seiner Verschiedenheit liegt.

I.

Kultur und Politik. Flucht in die Blütezeit einer idealisierten Vergangenheit und realistische Aufarbeitung der Vergangenheit. Eleganz in der Darstellung der Begriffe und harte Nüchternheit angesichts der Realität der Macht verbinden sich im geistigen Leben Italiens miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Eine Trennungslinie zwischen den Personen und Persönlichkeiten des Geisteslebens einerseits und denen der Politik andererseits ist in Italien weder gestern noch heute klar zu ziehen.

Das ist keine notwendigerweise positiv zu bewertende Eigentümlichkeit, die allerdings den Intellektuellen in Italien immer Beweglichkeit und Einfluß verschafft hat. Sie ist deswegen nicht notwendigerweise positiv, weil die Vermischung von kulturellen .. Redereien“ und politischer Eigenwilligkeit das ganze System des Landes in eine Richtung schiebt, in der sich die Aufteilung der Aufgaben verwischt und als Konsequenz die Effizienz auf der Strecke bleibt. Und am Ende lauert die Gefahr, daß der Kultur die Rolle zuteil wird, alles mit schönen Worten und erfundenen Begriffen zu rechtfertigen und zu erklären: Gedankliche Höhenflüge überdecken den Skeptizismus, der auch Weisheit und Ausgewogenheit, aber zugleich Verzicht und Schicksals-glaube sein kann.

Kultur und Politik sind ambivalente Begriffe und — all’italiana — nicht frei von Risiken. Dies erfordert es, ohne falsche Hemmungen und Rücksichten — einmal mehr all’italiana — das Italien von heute vorzustellen, wie es ist und wie es sich selber sieht, ein Land, geschmückt mit Schönheiten, zugleich vulgär, aber immer sehr lebendig und schöpferisch; ein Land mit großen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen. doch auch mit der Kraft, neue Wege zu gehen und die Flexibilität und Anpassungskraft seiner Menschen in ein modernes industrialisiertes System einzubringen. Das geschieht gewiß nicht immer mit Erfolg, denn auch in Italien befinden wir uns in einer Übergangsphase, in einer Phase des Versuchs, der Ratlosigkeit, der Unstimmigkeit. Die Frage drängt sich auf: Haben die „Modelle“ Deutschland und Italien etwas gemeinsam? Oder ist ein solcher Ansatz zu gewagt?

II.

Es ist leicht und schwierig zugleich, über die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien oder zwischen den beiden Völkern zu schreiben: Die Verflechtungen über die Jahrhunderte hinweg sind ebenso zahlreich und dauerhaft wie die gegenseitigen Vorurteile und Mißverständnisse. Wir haben uns heute daran gewöhnt, in schönen Floskeln zu wiederholen, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien hervorragend sind. Wie jüngst die Erklärung der beiden Regierungschefs, Kohl und De Mita, in Rom am 12. Mai 1988 sehr eloquent betont hat, sind die gemeinsamen Bündnisse und die gemeinsamen Werte das Fundament dieser guten Beziehungen. Aber sind solche Statements, obwohl sie sicher aufrichtig sind und der Realität entsprechen, letztlich wirklich zutreffend und befriedigend?

Die Präsenz Italiens in Deutschland ist, wie man allgemein in öffentlichen Reden bis an die Grenze der Langeweile zu wiederholen pflegt, das Vermächtnis einer zweitausendjährigen Geschichte. Aufgrund dieser jahrhundertealten kulturellen Hinterlassenschaft sagt man stets mit großer Freundlichkeit und Zuneigung, daß Italien den Herzen der Deutschen nahe sei. Der Strom der deutschen Touristen, der jedes Jahr nach Italien zieht, scheint dies zu bestätigen. Bedeutet das deutsche Schwärmen für Italien eine Aneignung des Landes als Kultur? Sollte man nicht eher eine deutliche Grenze zwischen Kultur und Tourismus, zwischen Kultur und Schwärmerei ziehen? Wenn wir diese Frage etwas näher betrachten, entdecken wir, daß die Deutschen, die nach Italien reisen — vielleicht in der Meinung, Italien zu kennen, oder in der ehrlichen Absicht, Italien kennenzulernen — in Wirklichkeit ein mythisches Bild suchen, in dem die kulturelle Vielschichtigkeit und die politischen und sozialen Realitäten dieses Landes bestenfalls am Rande Platz haben.

Man könnte umgekehrt dasselbe vom Deutschlandbild der Italiener sagen: Hier dominieren die Effizienz, die Ordnung, die Perfektion, aber auch die Starrheit, die Gründlichkeit, die langweilige Pünktlichkeit. Am Ende läßt dieses Bild ein hintergründiges Mißtrauen durchscheinen, daß die Erinnerungen an die jüngste Geschichte vertieft und untermauert. Eine oberflächliche und banale Distanz ist vorhanden — trotz einer über zweitausend Jahre alten Verflechtung, die nirgendwo in Europa ihresgleichen findet.

III.

Werfen wir einen Blick auf die lange Tradition der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Ein solches Fresko muß unzulänglich und allzu hastig bleiben, aber es ist unverzichtbar, will man die kulturellen Keime der Distanz zwischen Italien und Deutschland aufdecken: Die Verflechtung der Geschichte und die Vermischung der Völker bedeuten nicht, daß eine gemeinsame Kultur besteht. Wiederum stoßen wir auf das schwierige Verhältnis zwischen Kultur und Politik.

Das römische Kaiserreich wurde von den germanischen „Barbaren“ zerstört. Diese historische Zäsur war unvermeidlich und nicht zu leugnen, ebensowenig wie das italienische Bedauern über das Ende der Macht Roms und Italiens. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte seinen Schwerpunkt in Italien, und die Italienpolitik war für die deutschen Kaiser des Mittelalters wichtiger als eine mögliche Deutschlandpolitik. Die Reformation jedoch brachte die Loslösung von Rom und damit eine Abspaltung und „Verdeutschung“ in Sprache und Kultur. Die Pracht der Renaissance gelangte nur mittelbar nach Deutschland. Der moderne Geist jener Epoche wurde hier nur unvollkommen rezipiert.

Später geriet Italien in Deutschland mehr und mehr in Vergessenheit, weil die Interessen der Deutschen (aber nicht der Österreicher!) anders gelagert waren: Das Deutschland der Aufklärung fand sein Vorbild und seinen dialektischen Gegensatz in Frankreich. Im 18. Jahrhundert wurde allerdings der deutsche Barock durch italienische Phantasie bereichert, und um dieselbe Zeit beginnen all diejenigen, die das Italien der Antike ins Leben zurückrufen wollten, die Reisen in den Süden und die Entdeckung des Erlebnisses des Lichts: Italien war das Vorbild der Vergangenheit, nicht der Gegenwart. Seit damals lieben die Deutschen das Italien des Gestern, nicht des Heute.

Italien und Deutschland waren zwei „verspätete Nationen“, und deshalb war es stets einfach, die historische Parallelität zwischen Preußen und Piemont, zwischen den jeweiligen Prozessen der nationalen Einigung als letztlich identische Produkte der Kultur des Nationalismus darzustellen. Tatsächlich aber waren die Wege, auf denen man das Ziel der nationalen Einheit verfolgte, gänzlich andere: Das Verhältnis zwischen Freiheit und Einheit entsprach in Preußen und Piemont jeweils ganz verschiedenen politischen (und kulturellen) Weltanschauungen. In Italien wußte man beide Faktoren in einer ausgewogeneren Weise zu verbinden, allerdings um den Preis einer Beweglichkeit bis hin zur Instabilität. Aufgrund dessen vermochte man zwar nicht dieselben positiven Ergebnisse in der Macht-und Industriepolitik hervorzubringen wie in Deutschland, vermied aber jene Extreme, die später Deutschland auf einen tragischen Sonderweg führten.

Die deutsch-italienischen Beziehungen waren bis zum Ersten Weltkrieg zwiespältig. Obwohl sogar die sogenannte Linke eine Zeitlang Bewunderung für Deutschland hegte, war das Kaiserreich in Italien nicht besonders populär, während die schwierigen Beziehungen zu Frankreich in einer intellektuellen und sentimentalen Neigung zur französischen Kultur ein Gegengewicht fanden. Mit der Entscheidung, sich 1915 zusammen mit den „Demokratien“ gegen die autoritären Kaiserreiche Deutschland und Österreich zu stellen, begann eine leidvolle Phase in den deutsch-italienischen Beziehungen. In bezug auf 1915 von einem italienischen „Verrat“ zu sprechen, ist selbstverständlich intellektuell und politisch absurd, zumal sich ja gerade Deutschland unter Bismarck so unbefangen an die jeweiligen Realitäten der Politik angepaßt hatte. Dennoch kennzeichnet der Erste Weltkrieg, der als Kampf für die „Demokratie“ gegen die autoritären Staaten dargestellt wurde, zweifellos einen eindeutigen Bruch zwischen Deutschland und Italien: Die so zahlreichen kulturellen und wissenschaftlichen Wechselwirkungen erwiesen sich als nicht genügend verwurzelt.

Die Eroberung der Staatsgewalt durch die nationalistische Bewegung der italienischen Faschisten hat nur sehr wenig mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ des Jahres 1933 zu tun. Die Bewunderung Hitlers für Mussolini wurde anfangs von diesem kaum erwidert, weil Faschismus und Nationalsozialismus — auch wenn das Italien der Nachkriegszeit für die Weimarer Republik keine allzu großen Sympathien hegte — eigentlich nur in einigen Aspekten übereinstimmten. Vielleicht war es nur Zufall, daß der Stuhl Italiens leerblieb, als der Viermächterat 1920 in Paris über die deutsche Frage entschied. Jedenfalls war für Italien die adriatische Frage (d. h. Jugoslawien und die Angliederung von Dalmatien) weit wichtiger als die Beilegung der deutschen Frage. Dies war sicherlich auch Ausdruck einer kulturellen Entfremdung gegenüber Deutschland. Gegenüber dem deutschen Revisionismus verhielt sich Italien politisch vernünftig, soz. B. als es die Locarno-Verträge als Garantiemacht unterstützte oder als es später einen übereilten Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich zum Scheitern brachte.

Der Eroberungskrieg gegen Abessinien und die Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg veränderten die Konstellation und drängten Italien — oder besser gesagt Mussolini — in eine prodeutsche Richtung. Ausdruck dieser außenpolitischen Wende waren der Stahlpakt, rassistische Maßnahmen gegen die italienischen Juden, die Übernahme der Kriegsziele Hitlers und endlich 1940 der Eintritt in den Krieg an der Seite Nazi-deutschlands, ohne daß sich allerdings die jeweiligen Interessen gedeckt hätten und das Mißtrauen gegeneinander ausgeräumt worden wäre.

Die Wende in der Außenpolitik bedeutete auch eine Wende im Kulturellen. Schon gegen die Ziele der Außenpolitik Mussolinis — wie man sie auch immer beurteilen wollte — hatte sich eine erste Opposition gebildet. Sich aber die Kultur des Nationalsozialismus zueigen zu machen, erschien unmöglich. Trotz des demagogischen Nebels der Propaganda, die immer wieder die Freundschaft zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien betonte, wuchsen antideutsche Gefühle.

Der Sturz des Faschismus im Jahre 1943 war sicher die Konsequenz der schon unausweichlichen militärischen Niederlage, aber er war auch das Ergebnis einer schrittweisen Ablehnung des Faschismus als Ideologie, als Machtpolitik und als Kultur, wie gerade die italienische Literatur jener Jahre zeigt. Wiederum wurde in Deutschland von „Verrat“ gesprochen, als ob die Interessen eines Volkes nicht Vorrang hätten vor einem Vertrag, der keine Zustimmung mehr gefunden hätte, wenn das Volk befragt worden wäre. Sich aus der Verstrickung in eine verbrecherische Politik zu lösen, war ein moralisches Gebot für Italien, ebenso wie für die mutigen und erfolglosen Männer des 20. Juli. Alle in der Opposition kämpften ohne Vorbehalte gegen Nationalsozialismus und Faschismus und für eine Kultur der Freiheit und der Menschenwürde.

Für Italien sind der Widerstand und die Befreiung vom Faschismus — die teilweise zur Entschuldigung für die zwanzig Jahre währende Unterstützung des Faschismus gerieten — die moralische Rechtfertigung für die Wiedergewinnung von Individualität, Selbstbehauptung und Kontinuität. Der Ausweg aus der Katastrophe, den Italien gewählt hatte, mußte notwendigerweise wegen der tragischen Ereignisse der Jahre 1943— 1945 antideutsche Züge annehmen. Geradezu als Reaktion auf die ungewollte Verbindung mit dem Geist des Nationalsozialismus — mit der Umkehrung des Deutschland, „das wir geliebt haben“ (Benedetto Croce) — hat Italien Deutschland nach 1945 „wiederentdeckt“, wie später auch Deutschland Italien „wiederentdeckt“ bzw. neuentdeckt hat.

Die Haltung Italiens gegenüber der jungen Bundesrepublik war offen und aufgeschlossen. Aufgrund der Wahlverwandtschaft der in beiden Ländern regierenden christlich-demokratischen Parteien ging man davon aus, daß ein neues Deutschland entstanden war. Im Antikommunismus sah man eine gemeinsame Grundlage für eine Orientierung nach Westen und vertrat die feste Überzeugung, daß die beiden besiegten Länder das Recht hätten, auch auf militärischer Ebene an der Verteidigung des Westens mitzuwirken.

Folglich drängte man auf eine immer stärkere Eingliederung Deutschlands in Europa. Mit anderen Worten: Die zwar stets präsente deutsche Frage mußte nach italienischer Auffassung in einem europäischen Zusammenhang aufgehen, in dem Deutschland eine neue Identität im supranationalen Rahmen finden konnte. Diesmal war die Parallelität der Entscheidungen in Italien und in Deutschland kein Trugbild, denn sie war der Ausdruck einer Kultur, die als Antithese zu den dreißiger Jahren zu verstehen war.

Ohne diese kulturelle Begründung hätte diese Politik keinen Erfolg haben können. Der aktive Einsatz Italiens für die Wiedereingliederung Deutschlands in die Völkergemeinschaft hatte seine Wurzeln in der antifaschistischen Bewegung des Jahres 1943. Weder damals noch später wurde die italienische Haltung von opportunistischen Überlegungen bestimmt, sondern von der Überzeugung der kulturellen Gemeinsamkeit der Schicksale. Der nationalistische Irrglaube war zerstört, und im Unterschied zu den Siegerstaaten waren auch alle Großmachtillusionen verflogen. Folglich konnte „der Wiederaufbau auf der Grundlage neuer demokratischer Verfassungen . . . nur im Rahmen einer neuen europäischen Ordnung, zu deren Gunsten auch Souveränitätsverzichte erforderlich waren, zum Abbau des Mißtrauens, zur Gleichberechtigung mit den Siegern und darüber hinaus zu einer partnerschaftlichen Gemeinschaft westlicher Demokratien führen“ (Rudolf Lill). Diese Entwicklung war überwiegend Ausdruck einer deutlichen kulturellen Besinnung.

Als die deutsche Frage zur Kernfrage der Entspannung wurde, konnte Italien einen zusätzlichen Beitrag zugunsten der deutschen Interessen leisten. So war Italien das erste Land, das eine „Ostpolitik“ betrieb — in der festen Überzeugung, daß die Veränderungen in Moskau nach 1953 und mehr noch nach 1956 konkrete politische Folgen haben mußten. Auch ist nicht ohne Bedeutung, daß gerade die Kommunistische Partei Italiens der SPD im Interesse des gesamten Westens geholfen hat, die Ostpolitik einzuleiten. Die vielschichtige und bunte politische Kultur Italiens, in der auch die Kommunisten stets einen legitimen Platz hatten und haben, verband sich in jenen Jahren mit der Kultur des sozialdemokratischen Deutschland.

IV.

Die Entscheidungen, die Italien und Deutschland aufgrund ihrer Rückbesinnung auf Demokratie und Antinationalismus getroffen und getragen haben, sind hinreichend bekannt: die feste Bindung an den Westen (insbesondere an die Vereinigten Staaten), die Initiativen der vier großen Staatsmänner Schuman, Adenauer, de Gasperi und Spaak, die schrittweise zum Wunder der Römischen Verträge von 1957 geführt haben, die Teilnahme Italiens an der Gründung der Atlantischen Allianz 1949 und der spätere Beitritt der Bundesrepublik 1955, die Soziale Marktwirtschaft als Antwort auf das Dilemma zwischen Staat und Markt und — in der Gegenwart — gemeinsame Schritte in Fragen wie Nachrüstung und Abrüstung, Entspannung und Sicherheit, Europa und Mittelmeer. Diese Entscheidungen waren nicht nur bloße politische Entscheidungen, sondern in erster Linie Resultate einer tief verwurzelten kulturellen Gemeinsamkeit.

Sicherlich wäre es reizvoll, die kulturelle Dimension, d. h. die Rolle der Belletristik, der darstellenden Kunst, des Theaters, der Musik und des Films in den Beziehungen zwischen Italien und der Bundesrepublik Deutschland im Detail zu analysieren. Diese Thematik sollte den Fachleuten Vorbehalten bleiben. Hier mögen einige Stichworte genügen.

Die Intellektuellen haben im Deutschland der Nachkriegszeit eine schwierige Rolle gespielt, da sie die neue Demokratie in der Form, in der sie in den schicksalhaften Jahren zwischen 1945 und 1955 etabliert werden konnte, nicht immer befürwortet haben. Im Grunde hätten sich auch die italienischen Intellektuellen für ihr Land eine offenere und fortschrittlichere Demokratie gewünscht, aber die Gegenkräfte und Sachzwänge waren stärker. Primär bestand die Notwendigkeit, die Kommunisten und die Bevölkerungsgruppen, die von ihnen vertreten wurden, zu integrieren; die Mittel dafür wurden in einem gemeinsamen Antifaschismus und in der Kompromißfähigkeit des Systems gefunden. In Deutschland hingegen war das Verhältnis zu den Linken oder allgemein zu den politisch radikaleren Kräften von starken Vorbehalten und Hemmungen geprägt, die verständlicherweise aus der Teilung der deutschen Nation und aus der „Besatzung“ im Osten resultierten.

Die Diskussion, die oft auf verschiedenen Ebenen über die Frage geführt wurde, wie eine postfaschistische Demokratie zu gestalten sei, hat — wenn auch zum Teil unbewußt — einen außerordentlich fruchtbaren kulturellen Austausch zwischen Italien und Deutschland bewirkt. Diese Diskussion hat eigentlich die Ansätze hervorgebracht, die die folgende Phase der deutsch-italienischen Beziehungen geprägt haben. Die Kunst in ihren vielfältigen Ausdrucksformen war der „Stützpfeiler“ dieser Ansätze.

In zunehmendem Maße wird italienische Literatur ins Deutsche und deutsche Literatur ins Italienische übersetzt. Das Interesse an der literarischen Produktion des jeweils anderen Landes ist so groß wie nie zuvor. Heute kann man sogar behaupten, daß beinahe die gesamte einigermaßen wertvoll erscheinende Belletristik in die jeweils andere Sprache übersetzt worden ist, bisweilen zwar spät und lückenhaft, aber das Gesamtbild ist doch mehr als befriedigend. Auf italienischer Seite könnte man in bezug auf die Rezeption italienischer Malerei und Bildhauerei in Deutschland eine ähnliche Genugtuung empfinden, zumal wenn man Vergleiche zum 19. und den vergange27 nen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zieht. Allerdings haben nur wenige Namen aus der darstellenden Kunst in dem anderen Land Bedeutung. An Ausnahmen (von De Chirico bis hin zum Blauen Reiter) fehlt es sicherlich nicht, aber dies ändert nichts am Gesamtbild.

Ein ähnliches, unbefriedigendes Bild ergibt sich im Hinblick auf das Theater, während es nicht überrascht, daß die Lage im musikalischen Bereich besser ist. Die Filmkunst ist zweifellos ein Kapitel für sich: Die Popularität des italienischen Realismus in Deutschland ist nichts Neues. Hingegen mag die Feststellung verwundern, daß der moderne deutsche Film in Italien vielleicht bekannter und beliebter ist als in Deutschland selbst.

V

Aber weshalb steht die Literatur an erster Stelle der heutigen gegenseitigen Entdeckungen der Kulturen? Natürlich ist dies keine plötzliche Entdeckung: Tomasi di Lampedusas „Leopard“, Cesare Pavese oder Pasolini sind dem großen Erfolg von Umberto Eco vorausgegangen, aber heute hat das Phänomen doch weit größere Dimensionen.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, einer der fruchtbarsten Phasen der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, studierten Italiener an deutschen Universitäten Rechtswissenschaften, Philosophie oder Geschichtswissenschaft, während Deutsche sich in Italien — wenn auch meist außerhalb der Universitäten — der Kunstgeschichte, der Archäologie oder der Geschichte des Altertums und des Mittelalters widmeten. Die Unterschiede in den Intentionen waren offensichtlich: In Deutschland suchte Moderne, in Italien man das das Antike.

Heute sind beide Kulturen auf der Suche nach neuen Wegen in die Zukunft. Die deutsche Literatur stellt grundsätzliche Fragen, so z. B. nach den Leiden des Individuums, dem Inhalt der Individualität oder dem Wiederaufbau einer Gesellschaft, die geistig in Trümmern lag. Die Quellen und die Inspirationen für diese Fragestellung waren die Spaltung der Nation, der Verlust eines Teils der nationalen und persönlichen Identität, die daraus resultierende Sehnsucht nach dem Verlorenen, der Verlust eines Bestandteils der nationalen Kultur durch die Vernichtung des Judentums, die aus der Tragödie der jüngsten Vergangenheit erwachsene Schuldkomplex. Dieses „Problemknäuel“ hat die italienischen Leser dazu gebracht, in neuen Kategorien über Deutschland nachzudenken: nicht eigentlich über Deutschland, sondern über das Los des Menschen, der danach strebt, durch seine Geschichte etwas zu erreichen, das für alle Gültigkeit besitzt. Die Erhebung über das Alltägliche hinaus ist das Mittel, um die Tragödie der Vergangenheit — insbesondere die der Deutschen — nicht zu überwinden, sondern zu verinnerlichen.

In Italien stellte sich die Literatur in drei unterschiedlichen Dimensionen dar: Ausgewogenheit in dem Bemühen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen; Kontinuität einer Gesellschaft, die sich dank der Vergangenheit erneuern kann; nüchterne Schilderung des heutigen Lebens eines Volkes, die in den Widersprüchen und in den — nicht immer positiven — regionalen Unterschiede Hoffnungen für die Zukunft sieht.

Vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, haben die jüngeren, offeneren und unbefangeneren Generationen im jeweils anderen Land zur gleichen Zeit das entdeckt, was ihnen fehlt. Das Bindeglied dieser spiegelbildlichen gegenseitigen Entdeckung scheint die Überzeugung zu sein, daß keiner Rezepte Zukunft besitzt. für die Gestaltung der Zwar hat wohl keine der beiden Kulturen aus dieser Erkenntnis neue große Ideen geschöpft, aber sie haben dennoch der Politik eine Stütze geboten.

Andere Kulturen besitzen als politisches „Hinterland“ ein Selbstbewußtsein, das zwar nicht nationalistisch, aber doch national ist. „Während die anderen großen Nationalkulturen Europas sich in geschlossenen Nationalstaaten entfalteten und darum auch nach außen weitaus mehr geschlossen waren oder aber imperialistisch auftraten, waren die Kulturen Italiens und Deutschlands offener und schon deshalb einander leicht zuwendbar“ (Rudolf Lill). Dies kann man für Italien und Deutschland bis zur „verspäteten Nationalstaats-bildung“, aber ebenso auch für die gegenwärtige postnationalistische Periode behaupten. Deutsche und Italiener — so unterschiedlich das Verhältnis zur eigenen Geschichte auch sein mag — stellen sich ähnliche Fragen, die in konkrete Politik einfließen. Hier liegt der Grund der gemeinsamen politischen Entscheidungen; er liegt nicht nur in der Hinnahme der beschränkten machtpolitischen Möglichkeiten, sondern auch in einem positiven Ansatz für eine neue europäische Ordnung.

VI.

Es ist im diplomatischen Leben eine übliche Gepflogenheit, Meinungsunterschiede zu verschleiern oder schlicht zu negieren, indem man feststellt, daß die Beziehungen zwischen zwei Ländern ganz und gar problemlos seien. In bezug auf Italien und Deutschland stimmt dies im ganzen gesehen sogar, was allerdings nicht bedeutet, daß es keine Mißverständnisse gäbe. In Italien neigt man heute dazu, in der Bundesrepublik ein Nachlassen des europäischen Geistes auszumachen. Der Grund hierfür liegt wohl darin, daß die Bundesrepublik in der Europapolitik mehr Wert auf konkrete Ergebnisse legt als auf hochklingende Ideale, während Italien eher auf großangelegte Reformprojekte in der Europäischen Gemeinschaft drängt als auf die pünktliche Durchsetzung von Entscheidungen in konkreten Punkten. Die italienischen Massenmedien sind schnell bereit, der Bundesrepublik anzukreiden, daß sie nicht willens ist, in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen die volle Verantwortung zu übernehmen, die sie angesichts ihrer Wirtschaftsmacht an sich übernehmen müßte. Die Zurückhaltung der Bundesrepublik bei Übernahme von Verantwortung im Rahmen von friedlichen militärischen Initiativen außerhalb Zentraleuropas wertet man als Kurzsichtigkeit. Andererseits beklagt man, daß die raschen Wechsel der italienischen Regierungen einen dauerhaften Dialog mit Italien erschwerten (wobei man allerdings vergißt, wie bemerkenswert die Kontinuität in der italienischen Politik dennoch gewesen ist).

Trotz allem liegen die Differenzen aber eher in den Meinungen als in den Taten. Letztlich sind sie nicht so gravierend, das Gesamtbild ist zweifellos positiv. Die Mißverständnisse beruhen nicht so sehr auf Unterschieden in der Politik, in der die Ziele Italiens und der Bundesrepublik im Einklang stehen: Freiheit, Frieden, Europa. Dies ist eine Triade, ohne die beide Länder nicht überleben könnten und auf der nicht zuletzt auch die Legitimität ihrer Demokratien basiert, die eigene nationale Ziele mit Erfolg nicht durchführen könnten.

Die eigentlichen Wurzeln der Mißverständnisse sind anderswo zu suchen. Es gibt noch Reste eines gegenseitigen Unverständnisses in den Beziehungen zwischen beiden Gesellschaften. Die heute schon zur Gewohnheit gewordene Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft und Kultur — Italien ist z. B.der drittwichtigste Handelspartner der Bundesrepublik — schleift die jahrhundertealten Vorurteile allmählich ab. Deutsche Jugendliche fühlen sich unter gleichaltrigen Italienern im allgemeinen sicherlich nicht fremd, da die Verflechtung der Neigungen, Sitten und Gebräuche tief geworden ist und die Feindseligkeiten der Vergangenheit keine Rolle mehr spielen. Dennoch verschwinden die Vorurteile bzw. die unreflektierten Urteile langsam und sind, wenn man von den oberflächlichen und manierierten Gepflogenheiten der Berufspolitiker absieht, immer noch sehr präsent und virulent. Vor uns liegt noch ein ziemlich weiter Weg.

Unterschiede müssen erkannt und anerkannt werden, da die Stärke Europas in seiner Verschiedenheit liegt. Es mangelt nicht an flüchtigen und oberflächlichen Kontakten, wie sie sich auf den Reisen der Touristen ergeben, sondern an einem Verständnis der anderen politischen Kultur, die die Basis des Lebens eines Volkes und ein Teil seiner gesamten Kultur ist. Die Literatur vermag hier — ebenso wie die anderen Gattungen der Künste — einen großen Einfluß auszuüben, da die Seele eines Volkes in der Kunst und seine Phantasie in der Sprache zum Ausdruck kommen. Hier liegt die große kulturvermittelnde Aufgabe der Literatur, sei es nun in der Originalsprache oder in der Übersetzung.

VII.

Wie auch die anderen Nationen Europas haben Italien und Deutschland in der Nachkriegszeit eigene, vom Willen ihrer Völker bestimmte Wege beschritten. Dies muß klar gesehen werden. Die eingeschlagenen Wege verlaufen aber parallel und in dieselbe Richtung. Auch wenn die offiziellen Beziehungen natürlich noch von vielen anderen Elementen geprägt werden, so hat doch gerade die Kultur daran maßgeblichen Anteil gehabt. Sie hat derart viel bewirkt, daß man mit etwas übertriebener Begeisterung meinen könnte, in der kurzen Zeitspanne der letzten 40 Jahre sei mehr erreicht worden als in den vorangegangenen 2000 Jahren. Das stimmt nicht ganz, aber richtig ist, daß beide Kulturen in der jeweils anderen nicht mehr nur die blasse Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit suchen, sondern die Menschen von heute erkennen. Man kann das Bild, das man sich in einem Land von einem anderen macht, auf zwei Weisen betrachten: zum einen als ein Element politischen Verhaltens, das von der Reaktion und von den Vorurteilen eines Volkes geprägt wird und mit dem die üblichen Verallgemeinerungen und Oberflächlichkeiten einhergehen; zum anderen als Instrument der Analyse der gegenseitigen kulturellen Einflüsse und Wechselwirkungen, als Instrument dessen, was in den jeweiligen Kulturen von der darstellenden Kunst, der Literatur oder dem Film des jeweils anderen Landes präsent oder bekannt ist. Im Falle Deutschlands und Italiens wäre die Kultur des einen — heute noch mehr als gestern — ohne die des anderen zweifellos nicht das, was sie ist.

Das in Italien und Deutschland so tiefe und deutliche Interesse an der Sprache, der Geschichte, der Kunst, der Musik und insbesondere der Literatur des anderen ist ein Zeichen dafür, daß man sich bemüht, ein Bild zu gewinnen, daß genauer ist als das, mit dem man bislang vertraut war. Auf deutscher Seite glaubt man noch, durch diese Vertrautheit hindurch in Italien etwas Exotisches, Fremdes, Unbegreifliches und Unverständliches zu erkennen; etwas, daß kurios ist und zugleich Sorge oder sogar Mißtrauen erweckt; etwas, dem man Zuneigung entgegenbringt, aber das man doch zurückweisen möchte. Heute aber sind die Verflechtungen in der Kultur und in der Politik, in den Wissenschaften und in der Wirtschaft zu stark gewachsen, um noch in Erstaunen und Mißtrauen verharren zu können. Wir müssen unsere Gemeinsamkeiten ebenso anerkennen wie unsere Verschiedenheiten, weil beide notwendig und zugleich attraktiv sind und weil beide sich gegenseitig bereichern. Sie zu vertuschen, wäre ebenso ein Fehler wie sie nicht zu sehen.

Stehen Kultur und Politik im Widerspruch zueinander? Wohl kaum. Mit Hilfe der Kultur kann man Politik betreiben, und mit Hilfe der Politik kann man Kulturelles schaffen, solange wie sich beides in Freiheit entwickelt. Nicht die Verflechtung von Kultur und Politik ist negativ. Negativ wären lediglich die Hemmnisse, die sich aus einem Mangel an Freiheit für beide ergäben und die sie pervertieren könnten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Luigi Vittorio Graf Ferraris. Dr. jur., geb. 1928; Staatsrat; Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Rom; 1980— 1988 Botschafter der Republik Italien in der Bundesrepublik Deutschland; Mitglied des Institute for Strategie Studies (London), der Societä Italiana per la Organizzazione Internazionale (Rom) und des Istituto Affari Esten (Rom). Veröffentlichungen u. a.: Guerriglia e politica: 1’ esempio del Venezuela 1962— 1969, Firenze 1973; Zeit-geschichte und Politik — Einklang oder Widerspruch?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 31 (1983) 3; Die Feindstaatklauseln in der Satzung der Vereinten Nationen. Ein Bericht von den Verhandlungen in Helsinki und Genf, in: Archiv des Völkerrechts. 25 (1987) 4.