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Italien nach dem Faschismus. Eine Gesellschaft zwischen postnationaler Identität und europäischer Integration | APuZ 39/1988 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 39/1988 Das Land, in dem die Widersprüche blühen. Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft in Italien Italien nach dem Faschismus. Eine Gesellschaft zwischen postnationaler Identität und europäischer Integration Kultur und Politik in den deutsch-italienischen Beziehungen

Italien nach dem Faschismus. Eine Gesellschaft zwischen postnationaler Identität und europäischer Integration

Jens Petersen

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Jahr 1943 bildete für Italien mit Kapitulation und Besetzung, mit Krieg und Bürgerkrieg auf eigenem Boden einen tiefen Einschnitt. Der 8. September 1943 ist der dunkelste Tag der Nationalgeschichte. Gleichzeitig aber entstand gegen die „teutonische Invasion“ aus dem Norden die nationale Befreiungsbewegung. die „Resistenza“.deren Bedeutung weniger auf militärischem, stärker auf politischem und moralischem Gebiet lag. Sie erwies sich als das „Rückfahrbillett“ in die Demokratie. Aus größerer historischer Distanz betrachtet, bilden die Jahre 1860— 1945 eine historische Einheit. Das liberale und das faschistische Italien waren getrieben von dem Ehrgeiz, zu den etablierten europäischen Großmächten aufzuschließen. Dahinter stand die Hoffnung, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große weltpolitische Rolle spielen zu können. Dieses „Italien auf dem Marsch“ (G. Volpe) endete in der Katastrophe von 1943/45. Das Kriegsende war gleichzeitig auch das Ende eines großen politischen Projekts. 4 Die durch Resistenza und demokratischen Wiederaufbau erleichterte geistige Umorientierung ging in schmerzhaften Schüben vor sich. Die Idee der Nation verblaßte. An die Stelle des Staates trat die Gesellschaft. Die früher oppositionellen und risorgimento-fernen Kräfte des Kommunismus und des Katholizismus übernahmen nach 1945 die Führung. Das traditionelle Mißtrauen des Italieners gegenüber dem Staat trägt dazu bei. das Nationalbewußtsein zu schwächen. Ein vitales Lokal-und Regionalbewußtsein ersetzt heute vielfach die Verbundenheit mit der nationalen Gemeinschaft. Seit Ende der siebziger Jahre machen sich erste Anzeichen eines Wandels bemerkbar. Italien tritt auch außenpolitisch wieder selbstbewußter auf. Die Schatten der faschistischen Vergangenheit reichen aber noch bis in die Gegenwart.

I.

Das markanteste Gebäude der für 1942 geplanten Weltausstellung in Rom. das „Quadratische Kolosseum“. wie es von den Römern spöttisch getauft wurde, trägt an der Ostseite in meterhohen Lettern die Inschrift: Italien „ein Volk von Helden. Dichtern. Künstlern. Heiligen. Entdeckern. Erfindern, Seefahrern. Auswanderern“. Der Text stammt von Mussolini. In prononcierter Form ist hier der historische. kulturelle und moralische Primatanspruch formuliert, dem man in Italien im 19. und 20. Jahrhundert an vielen Stellen begegnet.

Das ganze Projekt dieser Weltausstellung ist wie kaum etwas anderes geeignet, den integralen Nationalismus zu demonstrieren, der damals breite Schichten der italienischen Gesellschaft prägte. Das ehrgeizige Unternehmen sollte anläßlich der Zwanzigjahrfeiern des Regimes 1942 stattfinden. Mit einem Etat von über zwei Milliarden Lire, einem Gelände von mehr als 400 Hektar und 50 projektierten Ausstellungen und 350 Tagungen war es die vielleicht aufwendigste, sicherlich aber die ambitionierteste Initiative ihrer Art in diesem Jahrhundert. Man rechnete für diesen „Wettkampf der Kulturen“ mit mindestens 20 Millionen Besuchern. Italien wollte der Welt seinen Primatanspruch und seine Zukunft als imperiale Großmacht demonstrieren

Die „Esposizione Universale di Roma“ (EUR) kam nicht zustande. 1942 stand Italien vor der militärischen Niederlage, der Faschismus vor dem Zusammenbruch. Das Gelände blieb nach 1945 ein gespenstisches Ruinenfeld. In den fünfziger Jahren wurde die EUR. zum Teil nach den alten Plänen und unter der alten Leitung, mit der neuen Zielsetzung einer Garten-und Verwaltungsstadt fertiggebaut. Das Projekt in seiner faschistischen Version wurde nach 1945 als megaloman und als Ausdruck nationalistisch-faschistischer Machtpolitik in Acht und Bann getan.

Heute erscheint das Riesenprojekt der EUR teilweise in einem neuen Licht. Das gilt vor allem für die Architektur selbst, in der die Postmoderne mit ihrer Wiederentdeckung von Säule, Bogen, Gewölbe und Architrav einen neuen Zugang zu den Polemiken der dreißiger Jahre zwischen „Traditionalisten“ und „Rationalisten“ gewinnt. Der von der Kritik nach 1945 aufgestellte Gegensatz zwischen positiver „antifaschistischer“ rationalistischer und negativer faschistisch-traditionalistischer Architektur läßt sich nicht mehr aufrechterhalten.

Aus den Archiven der EUR kommt jetzt ein ungeschriebenes Kapitel der italienischen Kunstgeschichte mit vielen prominenten Namen zutage. Nach Ansicht von Garin hat man die „aktive und engagierte Teilnahme der großen Mehrheit der italienischen Kultur“ an dem Projekt zu konstatieren. Das gilt auch für Technik und Wissenschaft, wo fast alle, die Rang und Namen hatten, sich mit Planungen von bisweilen hoher Qualität beteiligten, die allerdings „ein starker und z. T. unerträglicher Primatskomplex“ (E. Garin) kennzeichnet

Ein weiteres Beispiel mag genügen: Der toskanische Dichter Giovanni Papini publizierte 1939 ein Loblied auf „Italia mia“, das einen einzigen Hymnus auf den Fleiß der Italiener, ihren Geist, ihren Heroismus, ihren Erfindungsreichtum, ihr Schönheitsgefühl darstellt Das durch einzigartige Naturschönheiten ausgezeichnete Italien präsentiere in einem „märchenhaften Mikrokosmos“ alle Möglichkeiten und Realisierungen dieser Erde. Die Italiener seien das erstgeborene Volk, „ohne das Europa nicht Europa wäre und ohne das die Welt unendlich viel düsterer, trauriger und barbarischer aussehen würde“. Papini sieht in den Italienern das geborene Herrschervolk. „Über zwei Jahrtausende haben die kühnen Italiener ihre Überlegenheit gezeigt und geherrscht . . . mit dem Adler oder dem Kreuz, mit dem Gold oder der Feder, mit der Macht des Glaubens und dem Glanz des Genies. aber immer als Herrscher“. „Italien besitzt seine wichtigste Aufgabe bei der Führung und Erziehung des Menschengeschlechts.“ Diese Zeilen sind deshalb von Interesse, weil sie nicht von einem extremistischen Nationalisten, sondern von einem gemäßigten, katholisch orientierten philofaschistischen Schriftsteller stammen. In den Zeugnissen Papinis wie auch in denen Mussolinis spiegelt sich etwas von dem bis in die Gegenwart reichenden Selbstverständnis der Italiener wider: Italien als Zentrum des römischen Weltreichs, als Heimat der katholischen Weltkirche, als Wiege von Humanismus und Renaissance, als große Pflanzstätte der Kunst — hier liegen die Hauptruhmestitel. Italien sieht sich zu Recht als eine der fundamentalen Komponenten der europäischen Kultur, in Geschichte und Gegenwart.

Diese Traditionen setzen sich bis in die Gegenwart fort. In Mode, Film, Kunsthandwerk, Architektur, industriellem Design und auf vielen anderen Gebieten mehr, wo Ästhetik, Kreativität, Erfindungsgabe und Anpassungsfähigkeit gefragt sind, bietet Italien wichtige Beiträge zur heutigen Weltkultur. Wie Umfragen zeigen, bilden diese Traditionsstränge entscheidende Komponenten im Selbstverständnis des heutigen Italieners. Die Naturschönheiten Italiens. Kunst. Kultur und Kreativität, Begabung zum Lebensgenuß rangieren in der Liste der Präferenzen ganz oben

Wer nach den Umrissen der nationalen Identität der Italiener fragt, wagt sich auf schwieriges Gelände. Wissenschaftlich zuverlässige Aussagen sind kaum zu machen, und dort, wo man sie — wie im Bereich der demoskopischen Umfragen — heranziehen könnte, verlassen sie kaum den Bereich des Banalen. Der im gleichen Umfeld anzutreffende geistvolle Essay dagegen bleibt in den meisten Fällen in einer funkelnden und nur auf den ersten Blick bestechenden Subjektivität „Worin besteht der Charakter eines Volkes?“ fragt B. Croce und antwortet: Er besteht „in seiner Geschichte. in seiner ganzen Geschichte, in nichts anderem als seiner Geschichte“ Die Geschichte Italiens weist Glanzzeiten, tiefe Brüche und Phasen des scheinbar unaufhaltsamen Niedergangs und der Dekadenz auf. Die politische Einigung kam spät und blieb lange Zeit gefährdet; die Niederlage im Zweiten Weltkrieg schien erneut die staatliche Eigenexistenz Italiens aufs Spiel zu setzen.

Dies spiegelt sich im Selbstverständnis der Italiener. „In der Gleichzeitigkeit von Primatdenken und Dekadenz, von objektiver Inferiorität und einem unauslöschlichen Superioritätsgefühl als Überkompensation bildet sich eines der dauerhaftesten Urteilsschemata der gesamten italienischen Geschichte heraus.“ Das Verhältnis des italienischen Intellektuellen zu sich selbst, zu seiner Umgebung, zu seiner Nation und zu dem Italien von heute ist durch diese Ambivalenz von Liebe und Haß, emphatischer Zustimmung und überheftiger Kritik gekennzeichnet. Politische Brüche, Emigrationen und Systemwechsel haben die psychologischen Voraussetzungen geschaffen für ein solches „Leiden an Italien“

II.

Das Jahr 1945, so schreibt der Historiker und Diplomat S. Romano, kennzeichnet „das Ende eines großen politischen Projekts“ und bedeutet „einen Bruch in der Kontinuität der nationalen Geschichte“ In der Tat heben sich mit größerer zeitlicher Distanz immer stärker die einheitlichen Züge der italienischen Geschichte zwischen 1860 und 1945 heraus. Die risorgimentalen Führungseliten der „Historischen Rechten“ um Cavour, Ricasoli. D’Azeglio und Rattazzi waren mit Blick auf Frankreich und England angetreten, den ökonomischen. gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Rückstand Italiens gegenüber Westeuropa aufzuholen und das Land in den Kreis der gleichberechtigten Großmächte zu führen. Das liberale Italien des Ersten Weltkrieges und noch das faschistische Italien Mussolinis standen ganz in diesen geistigen Traditionen. Im Zeichen dieses macht-und außenpolitischen Programms vollzog sich vielfach das Bündnis zwischen liberalkonservativen und nationalistischen Eliten und dem Faschismus

Der Faschismus erzielte über seine Großorganisationen von Partei, Freizeit, Gewerkschaften, Sport und Jugend die „Nationalisierung der Massen“ und schuf oder potenzierte die Mythen von Staat, Nation und dem „neuen Italiener“. Um die Größe der Nation zu erreichen, opferte der Faschismus die Freiheit und trennte so die beiden fundamentalen Werte, auf denen das Risorgimento basiert hatte. Mussolini als Inkarnation des „homo italicus" und „Genius der Nation“ fühlte sich ganz als Vollstrekker dieses Auftrages, wenn er das „Jahrhundert des Faschismus“ heraufzuführen versprach und Italien im Jahre 2000 unter den vier führenden imperialen Weltmächten angesiedelt sah

Rückschauend betrachtet, bildet die Hypertrophierung des Nationalgedankens das vielleicht wichtigste Charakteristikum der faschistischen Zeit. Innen-wie außenpolitisch fungierte der Appell an die wirklichen oder vermeintlichen nationalen Interessen als höchst wirksames Instrument der Konsens-stiftung und der politischen Integration. Über den Primat des Nationalen konnten selbst die progressiven Traditionen des Risorgimento dem Mythos des „neuen“ Italien dienstbar gemacht werden. Dieser nationalistische Appell wirkte, wie u. a. die Geschichte der KJerikofaschisten deutlich macht, tief auch in die genuin katholischen Teile der italienischen Gesellschaft hinein.

Die vom Faschismus propagierten Mythen kreisten um Staat und Nation. Dies zeigte sich in einer Verherrlichung des Machtstaates, der Kriegs-und Gewaltphilosophie, der instrumentellen Zuordnung von Individuum, Bewegung und Staat. Der Faschismus wurde als triumphaler Höhepunkt der Nationalgeschichte gesehen, die vorhergehenden Jahrhunderte wurden als Vorgeschichte interpretiert

Diese in den Konturen ungewisse, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen schwankende, aber in ihren zentralen Aussagen doch einheitliche und optimistische Selbstinterpretation der Nation brach seit den militärischen Niederlagen des Winters 1940/41 Stück für Stück zusammen. In den Schlammfeldern Albaniens und Nordgriechenlands und auf den Wüstenstraßen Libyens enthüllte sich die militärische Schwäche des faschistischen Italien und die nicht mehr überbrückbare Kluft zwischen propagandistischem Schein und harter Wirklichkeit. Der Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 und die von den Alliierten erzwungene Kapitulation am 8. September endeten in einer völligen militärischen und moralischen Katastrophe.

Der 8. September bildet noch heute, weit über den damaligen Anlaß hinaus, im Kollektivbewußtsein der Nation das Symbol für Niederlage und Zusammenbruch schlechthin, ein Tag.der in die Biographie jedes einzelnen eingeschrieben ist

III.

E. Galli della Loggia. Zeithistoriker und einer der scharfsinnigsten Interpreten des heutigen Italien, spricht von „einer Art von schweigendem Pakt“, den die breite Mehrheit des italienischen Volkes „in den Tagen des faschistischen Krieges und dann des Befreiungskrieges“ mit sich selbst einging. „Ein schweigender, aber deshalb nicht weniger haltbarer Pakt, da aufgebaut auf einem Kollektiverlebnis von Entbehrungen und Leiden, wie sie das Land bis dahin noch nie erlebt hatte. Im Kern sagte dieser Pakt, daß man nie wieder den Verlockungen des Krieges nachgeben werde und daß die Rechnung mit dem Faschismus, mit seinen Idealen und seinen Methoden für immer abgeschlossen sei.“

Der 8. September war nicht nur der dunkelste Tag in der Geschichte des Einheitsstaates. Er wurde zugleich das Datum für einen Neubeginn. An diesem Tage trafen sich in Rom die Führer der sechs antifaschistischen Parteien, um das „Komitee für die nationale Befreiung“ zu gründen. Dies war der Auftakt für die spätere Resistenza.

Italien verfügte über reiche positive Erfahrungen im auf Freiwilligkeit. Spontanität und Charisma aufbauenden Guerilla-Krieg, für die der Name Garibaldi steht. Diese Traditionen lebten mit großer Intensität und in erneuerten Formen in der „Resistenza“ wieder auf. Während mehr als 600 000 Italiener in eine harte deutsche Kriegsgefangenschaft gingen und die in Bürgerkrieg und Krieg verstrickte Nation in Resignation und Apathie zu versinken drohte, stiegen erste kleine Gruppen von bewaffneten Jugendlichen in die Berge, organisierte sich in den Städten in der Illegalität der antifaschistische Widerstand. Aus der Illegalität und dem Widerstand heraus organisierte sich das neue Parteiensystem. bildete sich eine neue Elite, fand die Nation ein neues moralisch-politisches Selbstbewußtsein „Das Wort Vaterland bekam endlich wieder einen humanen und brüderlichen Sinn.“ In den Motiven der Resistenza mischten sich drei Zielsetzungen: 1. die außenpolitische Abwehr der „teutonischen“ Invasion aus dem Norden und die Befreiung des nationalen Territoriums, 2.der innenpolitische Kampf gegen den republikanischen Faschismus, 3. die Vorbereitung der politisch-sozialen Revolution. Den kleinsten gemeinsamen Nenner einer in sich sehr heterogenen Kräftekoalition, die von den Liberalen und den Katholiken bis zu den Kommunisten reichte, bildeten die Befreiung des nationalen Territoriums und die Wiederherstellung einer handlungsfähigen, den Konsens der Nation und ihre Würde repräsentierenden Regierung. In zielbewußter Anknüpfung an die großen Traditionen des 19. Jahrhunderts sprach man vom „zweiten Risorgimento“.

Als Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins und eines antinationalistischen, aber patriotischen Zusammengehörigkeitsgefühls entstand 1946/47 die neue Verfassung, die der frühere Staatspräsident Pertini „eine Eroberung des ganzen italienischen Volkes, seiner Geschichte und seiner politischen Kräfte“ genannt hat Die Resistenza wurde zum Gründungsmythos des neuen Staates und der neuen Gesellschaft.

Die Flucht von König und Regierung in den Süden rettete 1943 die Staatskontinuität. Die Regierung Badoglio, in fast allen ihren Handlungen abhängig von der alliierten Kontrollkommission, begann den unendlich mühsamen Wiederaufbau. Die Rückgewinnung eines gewissen Konsensus scheiterte an dem tiefen institutioneilen und personellen Konflikt zwischen dem von König Viktor Emanuel III. verkörperten Ancien Regime und den neuen vom Comitato di Liberazione Nazionale repräsentierten Kräften der italienischen Gesellschaft. Der schließlich im Zeichen des Primats der nationalen Befreiung gefundene Kompromiß fand nach der Befreiung Roms mit der Bildung der Regierung Bonomi (Juni 1944) einen ersten lebenskräftigen Ausdruck. Mit den Regierungen Parri (Juni-November 1945) und De Gasperi (ab Dezember 1945) geriet die italienische Politik auf neue Geleise. Die Niederlage der Monarchie im Referendum über die künftige Staatsform am 2. Juni 1946 und die Geburt der Republik erscheinen als konsequenter Abschluß einer Entwicklung, die im Oktober 1922 mit dem Bündnis zwischen Krone und Faschismus begonnen hatte. Die Wochen zwischen dem 25. Juli und dem 8. September 1943 wurden so zum eigentlichen Bruch in der jüngsten Vergangenheit Italiens.

IV.

Auf deutscher Seite wird des öfteren die Auffassung vertreten, die faschistische Periode sei relativ rasch „historisiert“ und „bruchlos“ in die italienische Nationalgeschichte eingeordnet worden Eher das Gegenteil ist richtig. Die Jahre 1943— 45 werden auch heute noch als tiefe Zäsur empfunden. Die zentralen Ziele der Resistenza waren eine direkte Antwort auf die im allgemeinen Bewußtsein als explosiv und zerstörerisch empfundenen Mythen des Faschismus. Aus christlichen, radikaldemokratischen. marxistischen und föderalistischen Ansätzen entwickelte sich eine auf die gesamten Bewegungsgesetze der europäischen Politik übergreifende Fundamentalkritik der Staatssouveränität.der zentralistischen Staatsgewalt, der totalitären Machtbesessenheit. Nach A. Spinelli wurde der europäische Föderalismus „das wichtigste neue Ideal“, das aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges hervorgegangen ist

Wo konnte der Platz Italiens in einer restabilisierten europäischen Nachkriegsordnung sein? Das Land hatte das Glück, ganz in der westlichen Hemisphäre des militärischen Weltkonflikts zu liegen. Es entstand keine getrennte Besatzungsverwaltung. Das Land wurde nicht geteilt. Die Regierung konnte schrittweise die nationale Souveränität zurückgewinnen. Ende 1946 verließen die letzten alliierten Truppen das Land. Italien als staatliche Entität blieb — unter Verlust seiner adriatischen und afrikanischen Gegenküste und der Aufgabe seines Kolonialreichs — erhalten. Machtpolitisch trat es in der Nachkriegszeit in den Status einer in die westlichen Bündnissysteme eingegliederten Mittel-macht zurück.

Dieser Umstellungsprozeß wurde dadurch erleichtert, daß 1945 mit den Christdemokraten eine neue politische Elite die Verantwortung übernahm, die afaschistisch oder gar antifaschistisch geprägt war und sich in den Jahren des Regimes nicht oder nur wenig kompromittiert hatte.

Auch wenn das Sichabfinden mit der Statusminderung und dem Verzicht auf machtpolitische Präsenz nur in schmerzvollen Schüben vor sich ging, so wurde der Versuch von Risorgimento und Faschismus. militärisch und machtpolitisch zu den europäischen Groß-und Weltmächten aufzuschließen, doch zunehmend als Irrweg interpretiert, der die Kräfte der Nation bei weitem überfordert hatte. Für das historische Bewußtsein verloren das Risorgimento und der von ihm geschaffene Nationalstaat die zentrale Bedeutung, die beide bis dahin besessen hatten. Nicht mehr der Staat, die Außenpolitik, die politischen Eliten und die Herausbildung des Machtstaates standen nun im Mittelpunkt, sondern das „Antirisorgimento“ — die „Reichsfeinde“ des 19. Jahrhunderts, der politische und soziale Katholizismus. die Republikaner, die Sozialisten, die Arbeiterbewegung, die Unterschichten.

Der Mißbrauch der Nationalidee durch Nationalismus und Faschismus und der Schock der Niederlage hatten tiefe soziopsychologische Folgen. Die von einem intensiven Patriotismus getragene Resistenza-Bewegung empfand den Faschismus als Verrat an der Nation. Aus dieser Sicht erschien der Widerstand als zweites Risorgimento. Partisan und Patriot verschmolzen in eins.

Aber auch in dieser existentiellen Erneuerung haben Worte wie „Vaterland“ und „Nation“ in den folgenden Jahrzehnten in der Erosion des Alltags und dem Wertewechsel der säkularisierten und egalisierten Konsumgesellschaft ihren Goldklang verloren. Heute gibt es in Italien — so der liberale Historiker R. Romeo — „keine nennenswerten nationalistischen Strömungen mehr, und die nationalen Werte nehmen einen immer geringeren Platz unter den Leitwerten des gesellschaftlichen Lebens ein“ Dieses Globalurteil ist allerdings durch einen Blick auf die politisch-kulturellen Großgruppen im heutigen Italien zu differenzieren.

V.

Der Faschismus vererbte der neuen Republik zwei kostbare Geschenke: Das eine war die politische, in der Resistenza bewährte Solidarität der antifaschistischen Parteien. Das zweite war eine zum Teil bis heute dauernde Immunisierung der italienischen Gesellschaft und ihrer Führungsgruppen gegenüber allen von rechts her kommenden neokonservativen oder diktatorialen Verführungen.

Der Post-und Neofaschismus konnte sich relativ früh in dem „Movimento Sociale Italiano" (MSI) reorganisieren. In Programm, personeller Zusammensetzung und politisch-kulturellen Leitbildern knüpfte diese Partei stark an den historischen Faschismus bis 1943. besonders an die Republik von Salo an. Hier wurden und werden die alten Mythen der Nation weiter gepflegt.

Der MSI hat Anfang der siebziger Jahre die Reste der monarchischen Parteien aufgesogen, ist aber trotzdem niemals über die Randrolle einer Antisystem-Partei am äußersten rechten Flügel mit einem Wähleranteil zwischen fünf bis sechs Prozent hinausgekommen. Den stärksten Rückhalt besitzt der MSI seit langem — völlig anders als der historische Faschismus — im Süden des Landes. Parteimitgliedschaft und Wählerschaft sind stark überaltert. Der zahlenmäßige Rückgang des MSI im letzten Jahrzehnt hängt offenbar auch mit dem Generationsschub zusammen. In Krisensituationen aber bleibt, wie etwa die Ereignisse in Reggio Calabria 1971 oder in Südtirol nach 1983 gezeigt haben, der stark antikommunistische wie nationalistische, mit Anti-System-Pathos vorgetragene Appell der Neofaschisten attraktiv.

Neben diesem moderierten, stark nostalgisch geprägten Post-und Neofaschismus gibt es seit Anfang der fünfziger Jahre einen weit radikaleren, in der Anonymität von Kleingruppen und Konventikeln operierenden, vielfach von Studenten getragenen Rechtsradikalismus mit einer schwer überschaubaren Fülle von Zeitschriften und Publikationen. Nominell gehören über 95 Prozent der Italiener zur katholischen Konfession. De facto aber bilden die im politischen, sozialen und kulturellen Umfeld des Katholizismus der sogenannten katholischen Subkultur verbundenen Italiener nur eine Minderheit von 20 bis 30 Prozent. Während der Katholizismus schon wegen der Römischen Frage dem Risorgimento feindlich gegenüberstand und die Schaffung und Festigung des Nationalstaates „erlitten“ hat. kam es nach 1900 zu einer allmählichen Annäherung zwischen katholischem und liberalem System. Die Jahre nach 1945 brachten eine völlige Umkehrung der Machtverhältnisse. Die neue katholische Partei der Democrazia Cristiana erreichte mit 35 bis 40 Prozent der Wähler eine hegemoniale Position. Es gelang ihr. bedeutende Teile des liberal-konservativen Bürgertums an sich zu ziehen. Die Democrazia Cristiana steht den großen nationalen Traditionen des Risorgimento indifferent bis ablehnend gegenüber. Die Christdemokraten, die nach 1945 fast permanent das Erziehungsministerium in der Hand gehalten haben, konnten zwar „die Vergangenheit akzeptieren, aber kaum dazu beitragen, die Idee des Risorgimento zugunsten künftiger Generationen lebendig zu erhalten“ Auch an der Resistenza war der Katholizismus nur am Rande beteiligt. Selbst diese zentrale Phase der italienischen Zeitgeschichte hat der Katholizismus eher „erlitten“ als aktiv gestaltet Die laizistischen und marxistischen Gegner des Katholizismus haben der Democrazia Cristiana immer attestiert, daß es ihr an National-wie an Staatsbewußtsein fehle. Ein Kritiker nannte die DC die Partei der „Ferien von der Geschichte“. Eine der Hauptursachen für den Mangel an nationalem Identitätsgefühl in Italien wird bis heute in der jahrzehntelangen Vorherrschaft der DC gesehen.

Für die zweite hegemoniale politische Kraft auf der Linken, die Kommunisten, gilt — wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen — etwas Ähnliches. Auch ihre historischen Wurzeln reichen in die risorgimentofernen Räume der italienischen Gesellschaft. Sie sieht die Geschichte Italiens stark durch Klassenkampffronten bestimmt. Der Faschismus galt ihr als Resultat der Unterlassungen und Fehlentwicklungen des Risorgimento.

In der Resistenza gewann der Appell an die nationale Solidarität naturgemäß größeres Gewicht. Mit der Betonung der garibaldinischen Traditionen und der Einführung der Farben der italienischen Trikolore, die dem roten Banner als zweite Fahne hinterlegt wurden, versuchte der PCI bewußt an das Risorgimento anzuknüpfen. Gleichwohl blieben solche nationalen Elemente in der Gesamtprogrammatik der Kommunisten deutlich im Hintergrund. Die Kommunisten Italiens verstanden und verstehen sich als Teil der internationalistisch ausgerichteten kommunistischen Weltbewegung. Seit Beginn der achtziger Jahre mehren sich allerdings in den programmatischen Äußerungen die Bezüge auf die „grundlegenden Interessen der Nation“

VI.

Die Krise der im Ökonomischen steckenbleibenden europäischen Einigungsbewegung, die Aporien und Widersprüche des europäischen Agrarmarktes, die seit den siebziger Jahren durch Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit verstärkt hervortretenden nationalen Egoismen haben den Mangel an ideeller Spannung, an Glauben an eine gemeinsame übernationale Zukunft stärker hervortreten lassen. So nimmt es kaum Wunder, daß seit Beginn der achtziger Jahre immer häufiger von dem Wunsch, ja der Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf nationale Werte die Rede ist.

Die Erfolge der Regierung Craxi weckten eine wahre Welle von Optimismus und Zukunftshoffnungen. Die Dynamik. Risiko-und Expansionslust einer neuen Generation von italienischen Managern und Unternehmern fand weltweit Anerkennung oder gar Bewunderung und brachte Agnelli, De Benedetti u. a. auf die Titelseiten von „Time“, „Newsweek“ und „Businessweek“, wo sie als erfolgreichste Repräsentanten einer neuen aggressiven europäischen Modernisierungswelle gefeiert wurden Im Frühjahr 1987 ergab eine statistische Neubewertung des Bruttosozialproduktes unter Einbeziehung der „Schattenwirtschaft“, daß Italien in der ökonomischen Gesamtleistung England überholt hatte und Frankreich auf den Fersen war. Wenn man daran denkt, mit welcher Bewunderung die italienischen Patrioten seit fast zwei Jahrhunderten auf die ökonomischen Leistungen und politischen Institutionen Großbritanniens geschaut hatten. wird die beflügelnde Wirkung dieses „sorpasso“ (Überholen) nachvollziehbar. Hier schien quasi en passant ein Ziel erreicht, von dem Generationen von Italienern geträumt hatten. Die Zeitungen schreiben von einem „Zweiten Wirtschaftswunder“ und einer zweiten kulturellen Renaissance

Diese ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Vitalität ist allerdings begleitet von der Dauerkrise eines anscheinend von innen nicht mehr reformierbaren politischen Systems. Viele Beobachter sehen den „Herbst der Republik“ vor sich und sprechen von dem Verlust der kulturellen und politischen Identität. Die Italiener hätten das Bewußtsein ihrer selbst verloren. In einem Interview sagte kürzlich der konservative Publizist. Gründer und Direktor des „Giornale Nuovo“ Indro Montanelli: „Italien hat sich selbst vergessen. Halb will es Amerika. halb will es Rußland werden, aber niemand fragt sich, wer wir sind, und was unser Erbe ist. Leider haben wir völlig das Bewußtsein für die Nation verloren Fast noch pessimistischer ist das Fazit, das einer der prominentesten italienischen Zeithistoriker. Renzo De Felice, jüngst zog. Er konstatiert für die Gegenwart den „Verlust der historischen Wurzeln“ und den „Mangel an Nationalbewußtsein“. „Ich denke an dieses Bewußtsein als Fähigkeit zu argumentieren und nachzudenken über etwas was gewesen ist. und was sein soll? Das „Selbst-Bild“ des Italieners wird nach De Felice heute nur pragmatisch gesehen. „Die Leute . . . betrachten Italien nur als Behältnis, als Rahmen, der auf möglichst wenig störende Weise einige Spielregeln des Lebens und des Arbeitens absichern soll.“ In diesem Verlust an hi-storischem Wurzelboden sieht De Felice die größte Schwäche des heutigen Italien.

Noch ein dritter Zeitzeuge sei angeführt, der den Sozialisten nahestehende Philosoph und Politologe Norberto Bobbio. Er sagt: Italien ist keine Nation mehr. In den jüngeren Generationen gibt es nicht mehr das Nationalgefühl, das man früher Vaterlandsliebe nannte. Italien ist heute kaum mehr als ein geographischer Begriff.“ Skeptische italienische Intellektuelle sehen heute ihr Land als eine künstliche nationale Gemeinschaft, „die mehr durch die Macht der Umstände als durch Willen und Bewußtsein zusammengehalten wird“

VII.

Eine der Hauptursachen für diesen als desolat empfundenen Zustand liegt in dem schwierigen Verhältnis. das der Italiener zu seinem Staat hat. Das Nationalbewußtsein ruht auf dem Staatsbewußtsein. Vertrauen zum und aktive Teilnahme am Gemeinwesen schaffen erst jenes Klima des Engagements, der partizipierenden Gewohnheiten und der emotionalen Wärme, in dem das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit gedeihen kann. In dem Verhältnis von Individuum und Staat sieht es indes in Italien eigentümlich aus. Der Staat ist für den Italiener nicht „Freund und Helfer“, sondern vielmehr ein als feindlich oder im besten Fall als desinteressiert empfundenes Gegenüber.

Die Forschungen zur politischen Kultur der Italiener haben die historischen, strukturellen und soziopsychologischen Wurzeln dieser Mentalität freilegen können, die in den in Verhaltensstrukturen verfestigten Nachwirkungen jahrhundertelanger Zersplitterung, von Fremdherrschaft und Fremdbestimmung. von Korruption und Klientelismus liegen. Die amerikanische Soziologie hat in den fünfziger Jahren ein Bild der politischen Kultur Italiens entworfen, in dem der „amoralische Familismus“. die „Fragmentierung. Isolierung und Entfremdung“. die Politikferne und die Staatsfeindschaft überwogen Die Italiener haben sich zumeist in diesem düsteren Porträt nicht wiedererkennen wollen. Aber noch die jüngsten Arbeiten machen deutlich. daß der durch soziale Mobilität. Säkularisierung und Urbanisierung bewirkte Wandel der Mentalitätsstrukturen und der Verhaltensweisen weit langsamer erfolgt ist. als zu erwarten stand

Wie vergleichende Länderstudien zeigen, liegt Italien auch heute noch am Ende der Skala, wenn es um Information, politisches Interesse oder Partizipation geht. Es erreicht hingegen Spitzenwerte dort, wo nach politischer Apathie. Unzufriedenheit. Konflikthäufigkeit oder ideologischer Polarisierung gefragt wird. 1983 waren 77 Prozent der Italiener wenig oder gar nicht mit dem Funktionieren des Staates zufrieden. 36. 9 Prozent hatten keinerlei Vertrauen in die Regierung (England: 9. 6 Prozent; Bundesrepublik Deutschland: 6. 9 Prozent). Was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Fürsorge für die Alten, das Schul-und Bildungssystem, die Krankenversorgung, die Verbrechensbekämpfung, das Funktionieren der Post oder der öffentlichen Verkehrssysteme betrifft, so erhält der italienische Staat überall von seinen Bürgern schlechte bis sehr schlechte Noten.

Hans Magnus Enzensberger hat in einem brillanten Italien-Essay gar in dem fortschreitenden, durch Mafia und Camorra symbolisierten Zusammenwirken von Politik und Verbrechen das Charakteristikum der italienischen Situation sehen wollen und dem südlichen Nachbarn für ganz Westeuropa eine Vorreiterrolle zugesprochen Italien sei „ein Laboratorium der Postmoderne“. Der Italiener sei als „Experte der Krise“ und „Facharbeiter des Zusam-menbruchs“ weit besser auf den kommenden „Schlamassel“ vorbereitet.

Dieses mit Augenzwinkern vorgetragene Loblied auf das „Modell Italien“ mit seinem „unkalkulierbaren, produktiven, phantastischen Tumult“ hat bei den Betroffenen keinerlei Begeisterung ausgelöst. Die Staatsverdrossenheit und Delegitimierung des jetzigen politischen Systems haben im letzten Jahrzehnt dramatisch zugenommen. Über 70 Prozent der Italiener glauben heute, daß ihre politische Elite weder fachlich noch moralisch etwas tauge Über 50 Prozent sind für eine tiefgreifende Reform des politischen Systems Aus der europäischen Werte-Studie. aus der Frau Noelle-Neumann mit alarmierten Tönen die Anomalie des deutschen Beispiels herausgelesen hat, ergibt sich für die italienischen Interpreten weit eher die Besonderheit des italienischen Exempels Die Italiener sind nicht nur diejenigen, die unter den Europäern die geringste Bereitschaft zeigen, mit der Waffe in der Hand für ihr Land zu kämpfen, sie haben auch das geringste Vertrauen zum Staat und seinen Institutionen. Italien befindet sich — so Jean Stoelzel — in der Gefahrenzone, in der sich Vertrauen in Mißtrauen verwandelt und die „Überlebensfähigkeit“ gefährdet ist

Dort, wo der Staat nicht durch eine glaubwürdige politische Elite und eine Autorität ausstrahlende Regierung repräsentiert wird, fehlt der Nation eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Festigung nationaler Identität. G. Spadolini spricht in diesem Zusammenhang von einem „Absinken der politischen Moral“. „Die Frage eines politischen Modells, einer Liturgie des Staates und selbst die einer Rückeroberung unserer Geschichte trifft zusammen mit dem Problem der Ehrlichkeit und der Integrität der politischen Führungsklasse.“ Der gleichen Ansicht ist S. Romano. Unter den Ursachen für den Verlust des Nationalbewußtseins nennt er den „Niedergang des Staates als moralische Autorität“

VIII.

Lassen sich die Widersprüche dieses „schizophrenen Italien“ (G. Bocca), das gespalten scheint in eine hochvitale, kreative und zukunftsgewandte Gesellschaft und einen ineffizienten, skierotisierten und korruptionsverseuchten Staat, auflösen durch eine neue Standortbestimmung der Nation und der kollektiven Identität?

Einen neuen Bezugspunkt hat der Italiener schon seit langem in der Rückkehr zu seiner engeren Heimat, zu seiner Region, seiner Provinz und seinem Geburtsort gefunden. Diese zähe Heimatliebe hat tiefe historische Wurzeln. Die italienische Gesellschaft ist von tiefen historischen, sprachlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Zerklüftungen durchzogen. Erinnert sei nur an die kaum mehr als ein Jahrhundert zurückliegende Staatseinigung. an den Nord-Süd-Gegensatz oder an das Spannungsverhältnis zwischen den „drei Kulturen“.der katholischen, der marxistisch-kommunistischen und der liberaldemokratischen. Auch die großen staatlichen und kulturellen Traditionen solcher Gebilde wie Venedig. Mailand. Florenz. Neapel oder Palermo wirken bis in die Gegenwart weiter. Die Regionen, schreibt G. Galasso, Herausgeber einer vielbändigen, nach Regionen aufgegliederten Geschichte Italiens, „repräsentieren in Italien historische Individualitäten, die eigenen großen Kulturkreisen entsprechen“. „Es handelt sich um eigene ethische, kulturelle und verhaltens-und mentalitätsgeprägte Welten . . . Die Einigung Italiens hat ihrer historischen und kulturell-gesellschaftlichen Autonomie . . . nichts wegnehmen und nichts hinzufügen können“

Die zentrifugalen und autonomistischen Kräfte in der italienischen Gesellschaft haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, wie etwa die Wahlerfolge lokaler oder regionaler Parteien auf Sizilien und in Triest oder auch die Aufwertung der Bourbonen, die philohabsburgische Nostalgiewelle und die Sympathie für die sonderstaatlichen Traditionen zeigen. Erstmals in diesem Jahrhundert wird die risorgimentale Staatswerdung als solche in Frage gestellt. Bei Umfragen erklären 20 Prozent der Norditaliener die Einigung für ein negatives Faktum

Hier spielt das „Südproblem“ hinein, das die Geschichte Italiens nach 1945 in hohem Maße be- stimmt hat. Der italienische Staat hat in den letzten vierzig Jahren 150 bis 200 Milliarden DM in den Süden transferiert und große infrastruktureile Investitionen getätigt. Trotzdem bewegen sich seit Mitte der siebziger Jahre die beiden Italien wieder auseinander. Manche Indizien deuten darauf hin. daß hier eine Art Binnen-Rassismus wächst, der längerfristig das Gefüge des Nationalstaates bedrohen könnte. „Mehr als jedes andere Land“, so. hieß es vor einigen Jahren in einer Zeitschrift, „entzieht sich Italien jedem vereinheitlichenden Überblick. Es gibt nicht ein Italien, es gibt viele Italien. Und jedes dieser vielen Italien repräsentiert eigene kulturelle Traditionen.“

Die Verfassungsreform Anfang der siebziger Jahre hat einen Teil des Verwaltungszentralismus abgebaut und Kommunen wie Regionen ein höheres Maß an politischer, finanzieller und kultureller Selbständigkeit verliehen. Ein beträchtlicher Teil der Vitalenergien der italienischen Gesellschaft äußert sich jetzt auf diesen Ebenen. Diese Entwicklung hat „die Krise des Einheitsstaates beschleunigt und verschlimmert“, gleichzeitig aber hat sie „den Italienern das Gefühl einer historischen Kontinuität zurückgegeben, das ihnen infolge des Einschnitts von 1943 abhanden gekommen war“

S. Romano spricht in diesem Zusammenhang von einem „regionalen“ und „kommunalistischen Nationalismus“ von einem Heimatgefühl, das Identitätsbewußtsein schaffe, aber nicht die erzieherischen und ethischen Funktionen eines wirklichen Nationalgefühls ersetzen könne. Weit skeptischer urteilt R. Romeo: „Der Sizilianismus, die . Lega veneta’, der Sardismus sind Pflanzstätten der Unkultur und der Verwilderung . . . Zum Glück handelt es sich um Minderheitsphänomene. Die kleinen Vaterländer sind keine ernstzunehmende Angelegenheit“ Und G. Spadolini spricht von „einem Wiederauftauchen eines in der Tiefe versteckten. kapillaren . . . und munizipalen Italien . . .. das wir fälschlicherweise längst besiegt glaubten.“

IX.

Seit Ende der siebziger Jahre mehren sich die Anzeichen. daß sich im Kollektivbewußtsein der Nation etwas zu verändern beginnt. Die trikoloren Farben grün-weiß-rot treten häufiger ins Blickfeld. Die Werbung für italienische Produkte benutzt sie. Sie finden sich als Autoaufkleber, bei Sportveranstaltungen. bei wissenschaftlichen Tagungen. 1987 fanden sogar die Miss-Italia-Wahlen im Zeichen der Trikolore statt Selbst die Schlagersänger haben die Liebe zu Italien als Thema wiederentdeckt Bei den Parteien sind es nicht mehr nur die Liberalen und die Neofaschisten, die die trikoloren Farben als Signum und Programm benutzen. Neuerdings finden sie zunehmend Eingang auch in die Wählerwerbung von Republikanern. Sozialisten und Kommunisten. „Flagge zeigen“, hieß in der Regierung Craxi die Devise. 1986 schrieb ein Erlaß der römischen Zentralregierung vor. daß bei Sitzungen der Regional-parlamente die Nationalfahne zu hissen sei. Die Regierung Craxi ging auch daran, die nationalen Symbole (Flagge. Hymne. Nationalfeiertag, Embleme) einer gründlichen Auffrischung zu unterziehen. Das was innerhalb der sozialistischen Partei, wo man nach 1976 Hammer und Sichel gegen die rote Nelke austauschte, relativ einfach zu realisieren war. erweist sich innerhalb der vielgestaltigen italienischen Gesellschaft als nicht durchsetzbar. Der Ideenwettbewerb über den Entwurf eines neuen Staatsemblems endete mit Ratlosigkeit und Enttäuschung Eine vermutlich bedeutende Rolle bei der Neubewertung des Nationalen hatte der in der schwierigsten Phase der Nachkriegsgeschichte 1978 gewählte Staatspräsident Pertini, der durch seine catonische Einfachheit und Aufrichtigkeit binnen weniger Monate zum populärsten Staatsoberhaupt der Nachkriegszeit wurde. Pertini sprach mit der Unbefangenheit des Resistenza-Repräsentanten, der sein Engagement für ein freies, demokratisches Italien mit vielen Jahren Kerkerhaft und Verbannung (confino) bezahlt hatte, von „patria“. „nazione“ und „la nostra Italia“. Pertini vermittelte mit seinem patriotischen Engagement den Italienern einen Teil jener emotionalen Wärme, die ihnen so schmerzlich gefehlt hatte.

Die Nation stand im Vordergrund der Veranstaltungen zum 100. Todestag von Giuseppe Garibaldi 1982. Zahlreiche offizielle Großveranstaltungen. Dutzende von Tagungen und Publikationen und ungezählte lokale Aktivitäten sollten an den von der Glorie der Tapferkeit und des Sieges umstrahlten „Helden zweier Welten“, den nach Umfragen beliebtesten Italiener überhaupt, erinnern Eine Art kollektives „Wir" -Erlebnis von einer bislang unbekannten Intensität bot dann der Sieg der italienischen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1982 in Spanien.

Diese und andere „Strohhalme im Wind“ veranlaßten die neue Führung der Sozialistischen Partei um Craxi, seit Ende der siebziger Jahre eine gezielte Neubewertung des Nationalgefühls auf ihr Programm zu setzen. Hier geht es um eine innerparteiliche Wandlung: die Ablösung von den im Sozialismus starken pazifistischen, antimilitaristischen und internationalistischen Traditionen. Außerdem ging es Craxi darum, den Partito Socialista zum Vorreiter einer nationalen Trendwende zu machen, die den Italienern neues Selbstvertrauen, mehr Optimismus und Zukunftsdynamik verleihen sollte In den Reden Craxis nach 1979 und speziell nach Übernahme des Ministerpräsidentenamtes 1983 finden sich zahlreiche Passagen über die Notwendigkeit eines erneuerten Gemeinsamkeits-und Nationalbewußtseins. Auch gegenüber der neofaschistischen Rechten suchten die Sozialisten, im Zeichen der Trikolore, den Dialog

Craxi hat viel getan, um das Image Italiens nach innen wie nach außen zu verbessern Die für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen staatlichen Institutionen wurden reformiert und potenziert, um in Italien wie im Ausland eine sachgerechte qualifizierte Selbstdarstellung aller Staatsaktivitäten und ein neues Image eines „Italien, das wächst“ zu vermitteln. In den letzten Jahren haben mehrere von der Fondazione Agnelli und der Enciclopedia Italiana organisierte Wanderausstellungen das Bild dieses „neualten“ Italien nachgezeichnet. Die in den USA gezeigte Ausstellung „Italics 1925— 1985“ enthielt Materialien und Abbildungen zu den Bereichen Landschaft, Architektur, Wirtschaft, Forschung, Kino. Theater, Literatur, Bildende Kunst, Musik, Mode, Radio und Fernsehen, Volkskultur Die Botschaft, die „BellTtalia, il paese piü bello del mondo“ (das schönste Land der Erde, so der Titel einer seit 1986 bei Mondadori erscheinenden Monatszeitschrift) heute in die Welt sendet, ist weitgehend seinen Naturschönheiten, seinen kulturellen Überlieferungen und seiner Lebenskunst anvertraut. In zwei großangelegten und von Hunderttausenden von Italienern besuchten Ausstellungen über „Kunst und Kultur in den dreißiger Jahren“ in Mailand 1982 und über „Die italienische Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit“ in Rom 1984 unternahmen es die Veranstalter, langfristige Entwicklungslinien der Nationalgesellschaft jenseits des Faschismus aufzuzeigen. Unter weitgehender Aus-blendung des Politischen wurde der Betrachter durch Betonung der positiven „Leistungen“ dieser Jahrzehnte und ihres inzwischen nostalgisch wirkenden ästhetischen Dekors zu einer emotionalen Identifikation eingeladen.

Wie einer der Veranstalter schrieb, ging es darum, „als Konstante die Qualität und den Erfindungsreichtum der italienischen Produktion (lavoro) herauszustellen“, und in dem Betrachter Anteilnahme. Bewunderung und Stolz für das damals Geleistete zu erwecken Entsprechend sah man die Aspekte der Modernität, die technischen Spitzenleistungen, die Rekorde in den Vordergrund gestellt. Die Ausstellungen fanden ein überwiegend positives Öffentlichkeits-und Presse-Echo. „Niemals zuvor hat man“, schrieb M. Tito in „La Stampa“, „wie hier erkennen können, daß (Italien) in der Zwischenkriegszeit ein äußerst vitales Land war. Die Ausstellung zeigt, daß Italien endlich sich selbst begreifen will. Das Land, das mehr als alle anderen in Europa sich ohne historische Wurzeln und ohne Erinnerungen fühlt, versucht jetzt, für die Massen ein kollektives Gedächtnis zurückzugewinnen.“

Nach Ansicht von G. Accame, einem der Mitorganisatoren der Ausstellung, muß Italien „das Bewußtsein und den Stolz auf seine nationale Identität“ wiederfinden „Eine Neubewertung des Nationalgedankens wird so zum Fundament eines jeglichen ernstgemeinten Reformprogramms, das den demokratischen Institutionen neue Dynamik und Effizienz verleihen soll“

Daß die Politik Craxis einer stärkeren internationalen Präsenz und einer betonteren nationalen Selbstbehauptung innenpolitisch weitgehende Zustimmung fand, zeigten die Entsendung einer italienischen Friedenstruppe in den Libanon, wie auch die Vorgänge um die Entführung der „Achille Lauro“ und die anschließende Konfrontation mit den USA in der Nacht von Sigonella.

Der von Craxi durchgesetzte Alleingang der italienischen Politik auf dem Pariser Finanzgipfel im Februar 1987 und die mit dem Rückzug der italienischen Delegation praktizierte Politik des leeren Stuhls fanden dagegen ein überwiegend kritisches Echo. Zwar sprach die „Nazione“ von einer Demonstration des „neuen Stils“ der römischen Außenpolitik. Der „mit Würde“ und Festigkeit“ vorgetragene Protest entspreche „dem doppelten Erfordernis des Nationalstolzes und der politischen Kohärenz“. „La Stampa“ hielt den Anspruch auf Gleichberechtigung für legitim, nur könne man „den historisch-politischen Rückstand, der unsere Diplomatie zwingt, immer bergauf zu operieren, nicht durch Türenschlagen . . . aufholen“. I. Montanelli urteilte im „Giorno“ noch schärfer: „Die Geschichte der italienischen Diplomatie ist voll von solchen entrüsteten Rückzügen aus internationalen Zusammenkünften, von solchen theatralischen Gesten. Sie haben uns niemals Glück gebracht.“ Man denke nur an den von der italienischen Öffentlichkeit stürmisch bejubelten Rückzug Orlandos von der Pariser Friedenskonferenz und seine kleinmütige Rückkehr wenige Wochen später. Der damalige Budgetminister Goria, den Craxi zur Rückreise gezwungen hatte, sprach kritisch vom „Provinzialismus gewisser athletischer Selbstdarstellungen“. „Le Monde“ wertete den Zwischenfall als Symptom für einen „wiederentstehenden Kollektivstolz“. In den letzten Jahren beginne Italien, sich von „bestimmten Komplexen“ zu befreien und „seine Präsenz auf internationaler Ebene in entschlossener Weise durchzusetzen“

Die gegen den heftigen Widerstand der Kommunisten und unter größtem Zögern der Democrazia Cristiana im September 1987 getroffene Entscheidung, Minensuchboote und Kriegsschiffe in den Persischen Golf zu entsenden, ließ noch einmal alle Schatten der Vergangenheit wieder lebendig werden. Nach Ansicht des „Corriere della Sera“ signalisierte diese erste wirkliche militärische Aktion Italiens nach 1945 das Ende der Nachkriegszeit. „Dies ist der erste Ausgang aus einem vierzigjährigen Stadium der politischen, diplomatischen und militärischen Rekonvaleszenz.“

Gegenüber der faschistischen Vergangenheit herrscht auch heute noch die Distanznahme der „Nicht-wir-Identifikation“ vor. Alle Italiener — so der frühere Korrespondent von „Le Monde“. J. Nobecourt — „Politiker, Journalisten, Juristen, Ingenieure oder Großindustrielle, alle meine Gesprächspartner . . . reagierten in der gleichen Weise, wenn das Gespräch auf die (jüngste) Vergangenheit der Nation kam: mit kaltem Blut an der Grenze der Gleichgültigkeit.“

X

Hier mag in Umrissen deutlich geworden sein, welches Gewicht auch heute noch die Vergangenheit im Bewußtsein der italienischen Öffentlichkeit besitzt. Bei der Linken ist der Mythos der Oktoberrevolution bis zur Unkenntlichkeit verblaßt. Der „italienische Weg zum Sozialismus“ und die revolutionäre neue Gesellschaft üben keinerlei Zauber mehr aus. Auf der anderen Seite hat sich die von der Democrazia Cristiana propagierte Hoffnung einer Vorreiterrolle Italiens bei der Einigung Europas und das Wachsen eines neuen europäischen Nationalbewußtseins ebenso als Illusion erwiesen.

Innenpolitisch scheint das Paradigma des Antifaschismus mit seinem Rechtsstaats-und Verfassungspatriotismus am Ende Die von jahrzehntelanger Rhetorik überdeckten Ideale der Resistenza haben kaum mehr mobilisierende Wirkung. Die Historisierung der faschistischen Zeit schreitet rasch voran. Im Rückblick treten die Konturen und Kontinuitäten der Nationalgeschichte von Jahr zu Jahr stärker heraus. Zu konstatieren ist gegenwärtig ein Vakuum der Konzeptionen und Ideale.

Der seit Ende der siebzigerJahre gezielt unternommene Versuch der Sozialisten, das Projekt eines neuen Patriotismus zum Kern einer Staats-und Gesellschaftsreform zu machen, ist seines instrumenteilen Charakters wegen weitgehend gescheitert. Die durch eine Kette von Korruptionsaffären unter allen Parteien am stärksten belasteten Sozialisten schienen am Ende als wenig glaubwürdige Repräsentanten einer neuen Ethik des Gemeinwohls und der nationalen Würde. Statt nach außen richtet sich so der Blick erneut nach innen. „La questione morale“ ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Staat. Institutionen und seiner Repräsentanten. Neoliberale Euphorie und ökonomischer Optimismus können bis zu der z. B. von G. Agnelli und C. De Benedetti formulierten Auffassung reichen, die vitale und kreative italienische Gesellschaft könne am Ende auch ohne den Staat auskommen. In die gleiche Richtung zielen die Hoffnungen, die Kunst des Überlebens und des Sich-Arrangierens. die die Italiener schon aus so vielen verzweifelten Situationen gerettet hätten, würden sich auch in der Zukunft bewähren. Die Technik der Problemlösung „all’italiana", d. h. mit Improvisation, mit Durchwursteln und (faulen) Kompromissen ist — so N. Bobbio — quasi zu einer nationalen Tugend verklärt worden. Dies sei „das stärkste und augenfälligste Merkmal unserer Selbstidentifikation“. „Hier gibt es eine wahre omertä, ein mafioses Einverständnis mit unseren Fehlern.“

Th. Wieser und F. Spotts schließen ihr Italien-Porträt mit den optimistischen Sätzen: „Jenseits aller dieser verschiedenen Erklärungen, warum Italien trotz der zahlreichen Schwachstellen des Systems vorankommt, gibt es ein tieferes Motiv: den italienischen Nationalcharakter. Die Italiener haben, knapp gesagt, angesichts der immer wieder lauernden Katastrophen über die Jahrhunderte hinweg eine hohe Fähigkeit für Geduld, Beweglichkeit und Improvisation entwickelt. Sie besitzen ein viel höheres Toleranzniveau für die Unsicherheit, das Durcheinander und die Widersprüchlichkeit der Dinge als jede andere westliche Nation und bringen es mit großer Geschicklichkeit fertig, aus einem Maximum an Chaos ein Minimum an Ordnung zu zaubern. Über den so sichtbaren Schwächen und Fehlern des politischen Systems werden solche tiefer liegenden Züge leicht übersehen. Sie verleihen aber dem Land eine robuste seelische Stärke, die es ihm erlaubt, jeden Sturm zu überstehen.“

Die Italiener „ein Volk von Helden, Dichtern, Künstlern, Heiligen, Entdeckern, Erfindern“? Oder vielmehr ein Volk von Überlebenskünstlern? R. Romeo hat in seinem letzten großen Vortrag im März 1987 die Hoffnungen auf immer mehr Markt und immer weniger Staat in das Reich der Fabel verwiesen. „Ein effizienter Staat, der sich in der Lage zeigt, die Entwicklung zu steuern, bleibt ein grundlegendes Bedürfnis der italienischen Demokratie am Ausgang des Jahrhunderts.“ Staatsbewußtsein und Nationalbewußtsein gehören auch in Zukunft eng zusammen. Europa kann auf Italien nicht verzichten. Die eingangs zitierten Zeilen G. Papinis mögen in ihrer nationalistisch gefärbten Naivität heute unverständlich und abschreckend klingen. Gleichwohl enthalten sie einen wahren Kern. Vergessen wir nicht, daß J. Burckhardt Italien, „halb Drecks-, halb Götterland“, ein europäisches Erstgeburtsrecht zusprach. Dieser kulturelle Primat findet sich auch heute noch in manchem gebildeten Italiener verwurzelt. Und noch viel weniger kann Italien auf Europa verzichten. Erst die Öffnung nach Europa seit 1945 hat den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, die große ökonomische und kulturelle Entwicklung möglich gemacht, die dieses Land in wenigen Jahrzehnten stärker verändert haben als in vielen Jahrhunderten zuvor.

Fussnoten

Fußnoten

  1. E 42. Utopia e scenario del regime. 2 Bde. Venezia 1987; Italo Insolera/Luigi Di Majo. LEur e Roma dagli anni Trenta al Duemila. Bari 1986; Riccardo Mariani. E 42. Un progetto per l’„Ordine Nuovo“. Milano 1987.

  2. Eugenio Garin. La civilt italiana nell’Esposizione del 1942. in: E 42 (Anm. 1). Bd. 1. S. 8.

  3. Giovanni Papini. Italia mia. Firenze 19424.

  4. Ebd. S. 17. 27. 29. 32. 157. 176 f.

  5. Pino Buongiomo, 1987. Quanto conta l’Italia nel mondo. Penisola del tesoro, in: Panorama vom 22. März 1987.

  6. Siehe u. a. Luigi Barzini, Gli europei. Milano 1985, S. 170ff.; Luigi Barzini. Die Italiener. Frankfurt/M. 1964; Giorgio Bocca, In ehe cosa credono gli italiani?. Milano

  7. Giuliano Bollati, L’italiano. II carattere nazionale come storia e come invenzione, Torino 1983.

  8. Ebd.. S. 41.

  9. Ein solcher Primat des Negativen findet sich z. B. in den Werken von F. Cusin, Antistoria d’Italia. Torino 1948; aus jüngster Zeit vgl. z. B. Guido Ceronetti, Un viaggio in Italia, Torino 1983.

  10. Sergio Romano. Das italienische Nationalgefühl heute. Traditionsbruch und Rückgriff, in: Schweizer Monatshefte, 65 (1985). S. 859-866. S. 860.

  11. Vgl. z. B. Claudio Pavone, Le idee della Resistenza. Antifascisti e fascisti di fronte alla tradizione del Risorgimento, in: Passato e Presente, (1959) 7, S. 850— 918.

  12. Renzo De Felice. Mussolini il duce. Bd. 2: Lo stato totalitario. 1936— 1940. Torino 1987.

  13. Jens Petersen. Mussolini: Wirklichkeit und Mythos eines Diktators, in: Karl-Heinz Bohrer (Hrsg.). Mythos und Moderne. Frankfurt/M. 1983. S. 242 ff.

  14. Vgl. z. B. Domenico Bartoli. L’Italia si arrende. La tragedia dell’ 8 settembre 1943. Milano 1983.

  15. Ernesto Galli Della Loggia. Ideologie, classi e costume. in: Valerio Castronovo (Hrsg.). L'Italia contemporanea. Torino 1976. S. 379-434. S. 391.

  16. Vgl. z. B. Giorgio Amendola. Der Antifaschismus in Italien. Ein Interview. Nachwort von Jens Petersen. Stuttgart 1977.

  17. Zit. in: Alessandro Galante Garrone. Padri e figli. Torino 1986. S. 179.

  18. Alessandro Pertini. Con le stesse forze e lo spirito del’ 45 si puö rinnovare la Costituzione. in: Corriere della Sera vom 25. August 1982.

  19. Hagen Schulze, in: Rheinischer Merkur vom 8. August 1986; ähnlich auch: Hans-Joachim Vogel, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 1986.

  20. Altiero Spinelli. L'alternativa europea. in: Arturo Colombo (Hrsg.), La Resistenza e l’Europa. Firenze 1984, S. 86-102, S. 98.

  21. Rosario Romeo. Nazioni e nazionalismo dopo la seconda guerra mondiale, in: ders.. Italia mille anni. Firenze 1981. S. 199.

  22. S. Romano. (Anm. 10). S. 862.

  23. Vgl. z. B. Giorgio Galli. Storia della Democrazia Cristiana. Bari 1978. S. 37 ff.

  24. Giano Accame. Socialismo tricolore, Novara 1983, S. 133.

  25. P. Buongiorno (Anm. 5).

  26. Gli apprezzamenti dei corrispondenti stranieri nel corso di un convegno „L’Italia va bene“, dice la stampa estera, in: Corriere della Sera vom 9. September 1987; P. Buongiorno (Anm. 5).

  27. In: Tempo vom 20. Februar 1985.

  28. Corrado Pizzinelli. A colloquio con lo storico Renzo De Felice: „Cos l’Italia ignora le sue radici“. in: II Borghese. 1987. S. 409-422.

  29. Zit. in: Salvatore Valitutti. II recupero del vero patriottismo. in: Tempo vom 8. Januar 1986.

  30. Corrado Augias. Gli italiani e la storia patria: Intervista a Giovanni Spadolini: In nome dei padri. in: Panorama vom 3. Oktober 1987; vgl. auch Paolo Mieli. La riscoperta della patria. Ma l’Italia non e una nazione. in: L’Espresso vom 9. Januar 1983 (Gespräch mit R. Romeo).

  31. Jens Petersen. Konstanz und Wandel der politischen Kultur in Italien, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22. /23. November 1986.

  32. Carlo Tullio-Altan. La nostra Italia. Arretratezza socioculturale. clientelismo. trasformismo e ribellismo dall’Unitä ad oggi. Milano 1986.

  33. Hans Magnus Enzensberger. Italienische Ausschweifungen. in: ders.. Ach Europa!. Frankfurt/M. 1987. S. 51 — 117.

  34. Ebd.. S. 110. 113. 117.

  35. Giovanna Guidorossi. Gli italiani e la politica. Valori. opinioni. atteggiamenti dal dopoguerra a oggi. Milano 1984, S. 215.

  36. Ebd.. S. 194.

  37. Maria Weber. Italia: paese europeo? Una analisi della cultura politica degli italiani in prospettiva comparata, Milano 1986.

  38. Jean Stoelzel. I valori del tempo presente. Un’inchiesta europea. Torino 1984, S. 87.

  39. C. Augias (Anm. 30).

  40. S. Romano (Anm. 10). S. 864.

  41. Siehe z. B. Birgit Kraatz. „Wir lieben Pertini wie Garibaldi“. Über den neuen Patriotismus der Italiener, in: Der Spiegel. (1982) 26. S. HO.

  42. Zu den regionalen „Individualitäten“ Italiens, ihren Kulturkreisen und Mentalitäten siehe Giuseppe Galasso, Le ragioni di una storia per regioni, in: II Mattino (Napoli) vom 3. Juni 1984.

  43. Paolo Mieli. Gli italiani e il fascismo; II duce e lontano. in: L’Espresso vom 23. September 1984.

  44. Alberto Arbasino. Alcune Italie. in: Repubblica vom 28. September 1984.

  45. S. Romano (Anm. 10). S. 865.

  46. Ebd.. S. 865 f.

  47. Rosario Romeo. „O mia patria si bella e perduta“, in: Corriere della Sera vom 2. November 1985.

  48. Giovanni Spadolini. Fischi al comizio. in: La Stampa vom 26. Juni 1987.

  49. Tricolore per Miss Italia. Intervista con Riccardo Pazzaglia, in: Avanti vom 6. September 1987.

  50. Roberto Galli. Patriotismo a 45 giri: cara Italia ti canto. in: L’Espresso vom 23. August 1987.

  51. Fabio Troncarelli. Una repubblica fondata sull'alloro?, in: Epoca vom 29. November 1987.

  52. Fiamma Nierenstein. Celebrazioni. L’eroe dei due mondi. Ed ecco a voi. Bettino Garibaldi, in: Europeo vom 28. Juni 1987. S. 26- 30; B. Kraatz (Anm. 41). S. 108- 112.

  53. P. Mieli (Anm. 30).

  54. Bettino Craxi. Un passo avanti, Milano 1981; ders.. Tre anni. Milano 1983; ders.. L’Italia iiberata. Milano 1984; ders.. II progresso italiano. Milano 1985; ders.. La cultura dello sviluppo. Bari 1986.

  55. Franz Maria D’Asaro/Enrico Landolfi. Socialismo e nazione. Roma 1985.

  56. Stefano Rolando. II principe e la parola, Vorwort von Giuliano Amato. Milano 1987.

  57. Italics 1925— 1985. Sessant’anni di vita culturale in Italia. Roma. Enciclopedia Italiana. 1986 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung in Rom im Februar 1987).

  58. Gli anni Trenta. hrsg. von der Comune di Milano, Milano

  59. L’economia italiana tra le due guerre, Roma 1984.

  60. Zit. bei: Tim Mason. II fascismo „Made in Italy“. Mostra sull’economia italiana tra le due guerre, in: Italia contemporanea. (1985) 158. S. 5-32. S. 19.

  61. Zit. ebd.. S. 21.

  62. Giano Accame, Socialismo tricolore, Novara 1983,

  63. Ebd.. S. 166.

  64. Siehe Francesco Damato. Coerenza. in: „La nazione vom 23. Februar 1987; Arturo Guatelli. Realtä e finzione. in: La Stampa vom 24. Februar 1987; Indro Montanelli. Alto sgradimento. in: II Giorno vom 23. Februar 1987; Le Monde: „Una rinascita di orgoglio collettivo". in: La Stampa vom 27. Februar 1987.

  65. Zit. in: Rinascita vom 19. September 1987. S. 5.

  66. Jacques Nobecourt. Diritti d’errore. in: La Stampa vom 20. August 1987.

  67. Aufschlußreich das Sonderheft der Zeitschrift „Problemi del socialismo" (Fascismo e antifascismo negli anni della repubblica). (1986) 7.

  68. Vgl. z. B. die skeptischen Äußerungen von Norberto Bobbio in: L’Espresso vom 9. Februar 1986: „Ma in Italia vince Sordi“. Bobbio spricht von „sussulto transitorio", „forse un fuoco di paglia“.

  69. Frederic Spotts/Theodor Wieser, Italy. A difficult democracy. Cambridge 1986, S. 292 (Übersetzung des Zitats vom Verfasser).

  70. Rosario Romeo, Cultura laica e Stato democratico, Vortrag auf der Tagung „La cultura democratica nell'Italia ehe cambia“. Roma. 6. /7. März 1987. S. X (undatierte Beilage der Zeitung „La Voce Repubblicana").

Weitere Inhalte

Jens Petersen. Dr. phil.. geb. 1934; stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Veröffentlichungen u. a.: Hitler-Mussolini. Die Achse Berlin-Rom. Tübingen 1973; La difficile alleanza, Bari 1975; (Hrsg.) Bibliographische Informationen zur italienischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. (1974ff.); (Hrsg.) Storia e Critica. (1979 ff.); Zahlreiche Aufsätze zur deutschen, italienischen und mitteleuropäischen Geschichte der Neuzeit.