Die Genese der Arbeitsgesellschaft — Ein Blick zurück nach vorn
Das erste Buch Mose läßt im dritten Kapitel, 19. Vers, die irdisch-außerparadiesische Geschichte der Menschheit mit dem göttlichen Bann-fluch beginnen: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen!“ Was wissen, was ahnen wir heute noch von dieser „dunklen“ Abkunft der Arbeit? Ist die spezifisch moderne Arbeitsbesessenheit nicht gleichsam der Beweis für die erbärmliche Kraftlosigkeit göttlicher Flüche? Könnte es nicht sein, daß wir aus Not so sehr eine Tugend gemacht haben, daß wir heute — ohne Not — noch immer einer immer fragwürdiger werdenden Tugend anhängen? Längst nämlich wäre die „Pflicht zur Muße“ aktueller als das zunehmend anachronistischere „Recht auf Arbeit“, welches schon Friedrich Engels als „Ausgeburt eines bürokratischen Juristensozialismus“ brandmarkte.
Der neuzeitliche Mensch versteht sich als Arbeiter in einer bearbeitungsbedürftigen, weil unvollkommenen, durch Arbeit vollendbaren Welt. In dieser Sicht erst wird ihm jede Tätigkeit zur Arbeit. Während die Antike zwischen „Hervorbringen“ und „Vollbringen“, zwischen den notwendigen Lebensvollzügen in der Arbeit, im Erwerb und in der Herstellung auf der einen und den Freiheiten der „Praxis“ in der Philosophie, der Politik und dem Genuß des Schönen auf der anderen Seite unterschied, ist das moderne Arbeitsverständnis ein einziger Kotau vor Nützlichkeit und Produktivität. Das „Vollbringen“ des Lebens wird auf das „Hervorbringen“ in der Arbeit reduziert.
Die Vita activa — das Arbeiten, Herstellen und Handeln — war nur von der Vita contemplativa her zu erschließen. Jahrtausendelang war diese Rangfolge unbestritten. Jahrtausendelang verständigten sich Menschen über den letzten Zweck und das Bei der vorliegenden Aufsatzfassung handelt es sich um einen erweiterten und umgearbeiteten Vorab-druck einiger Gedanken und Thesen desjetzt im Carl Hanser Verlag, München, erscheinenden Buches des Verfassers: „ Wenn uns die Arbeit ausgeht. Die aktuelle Diskussion um Arbeitszeitverkürzung, Einkommen und die Grenzen des Sozialstaats“. wahre Ziel des Lebens, über das Woher und Wohin ihrer Welt auf der Grundlage dieser Hierarchie: Erst vom Mythischen und Geistig-Spirituellen her wurde die Landschaft des Lebens als Ganzes überschaubar. Alle einzelnen Lebensbereiche waren in ihrer Bedeutung und ihrem Rang von einer ganzheitlichen Sinndeutung erschlossen, die ihnen zugleich Raum und Anerkennung verbürgte — die Hausarbeit der Frauen und Sklaven nicht anders als die Feldarbeit der Bauern, die Überredungskunst des Politikers nicht anders als die Denkkunst der Philosophen. Erst im Lichte eines gedeuteten Weltbildes erschien es sinnvoll, die Götter zu ehren und der Toten einzugedenken, den Alltag zu bestehen und Feste zu feiern, mit dem kargen Boden zu ringen oder dem Feind standzuhalten.
Die Neuzeit hebt an mit der radikalen Verdiesseitigung der „condition humaine“: Arbeit, Arbeit über alles! Ausgerechnet die niederste aller Tätigkeiten innerhalb der Vita activa, die Arbeit, hat alles andere verdrängt und erfüllt nun allein das Panorama des Lebens. Der Zerfall der mythisch-religiösen Welterschließung rückte den materiellen Produktionsprozeß ins Zentrum. Nichts behielt seine alte Gültigkeit. Der Unterschied jedoch ist ungeheuer, ob die Welt vom Standpunkt der Kontemplation oder vom Standpunkt der Arbeit her erschlossen wird, ob der aktiv-arbeitsförmige Umgang mit der Welt oder das zuschauende Teilhaben an ihr den archimedischen Punkt der Welt-und Selbstinterpretation bezeichnet; ob die spezifische Kulturleistung des Menschen: die Erzeugung der Sinnhaftigkeit des Daseins, den Rang der wichtigsten „Produktion“ einnimmt, oder ob dieser Rang der Beschaffung von Brot und Wein, Haus und Herd, Waffe und Werkzeug zukommt.
Die „Entfesselung“ der Arbeit, mit der die Neuzeit beginnt, hat das Gesicht der Erde verändert wie keine andere Revolution der Geschichte. Ihren Erfolg verdankte die Arbeit gerade dem Verzicht auf alle übergeordnete Begründung des Tuns von Menschen — der Reduktion der Arbeit auf pure Arbeit. Die Sache der Zukunft wird seither konsequent als Zukunft der Sache beschreibbar, als ein Problem der schieren Quantität, der durch Arbeit ständig zu erweiternden Güterfülle.
Für nahezu sämtliche Kulturen der Vergangenheit gilt, daß die führenden Schichten vom Zwang zur Arbeit freigestellt waren. Der puritanischen Arbeitsmoral blieb es vorbehalten, aus der Not eine Tugend zu machen und damit möglicherweise die gewaltigste Revolution der Geschichte einzuleiten: die Heraufkunft des Kapitalismus als einer Gesellschaftsformation, welche sich in allen ihren Schichten der Arbeit öffnet. Zum erstenmal in der Geschichte setzten sich die Produzenten, genauer: die Organisatoren der Produktion, Kaufleute und Ingenieure, an die Spitze der Gesellschaft.
Für Max Weber hat diese prometheische Bejahung von Arbeit und Askese, jenes „vom Standpunkt der rein eudämonistischen Eigeninteressen aus so irrationale Sichhingeben an die Berufsarbeit“ seine Wurzeln im geistigen Erbe der protestantischen Ethik Sie vor allem hat unsere säkulare Existenz auf Arbeit eingeschworen und das Vergnügen, das freie Spiel, die Muße geächtet: Was immer wir außerhalb der (Erwerbs-) Arbeit tun — es bedarf der kommentierenden Rechtfertigung von der Arbeit her.
Es scheint so, als sei am Beginn der Industrialisierung die tatsächliche Bedeutung jener tiefgreifenden Veränderung den Menschen noch deutlicher bewußt gewesen. Anders nämlich ist die verblüffende Tatsache kaum zu erklären, daß uns als Epochenbezeichnung ein Begriff geläufig ist, der weder den eigentlichen Produktionsprozeß selbst, noch sein fertiges Ergebnis als signifikantestes Merkmal exponiert, sondern vielmehr die menschliche Eigenschaft, welche diesen Prozeß begleitet und möglich macht: industria, der Fleiß. Nicht allerdings den schicksalshaften Lastfleiß, den es als Not-und Brot-fleiß aus Überlebensgründen immer schon gab, sondern den neu entdeckten Lustfleiß der Akkumulation.der sich selbst Zweck ist.
Die Steigerung des Arbeitsertrags verdankt sich in erster Linie der Selbstdisziplinierung: der Bereitschaft. die eigene Arbeitskraft beständiger und rationeller einzusetzen und zu erschöpfen. Erst die systematische Übertragung dieser neuerworbenen „Eigenschaft“ der industria, des zum Prinzip gesteigerten Erwerbsfleißes, auf die Maschinen und die spezifische ratio ihres Einsatzes bringt hervor, was uns als „Industriegesellschaft“ geläufig ist: eine vollständig durch die Wissenschaft, die Technik und den vom ökonomischen Nutzenkalkül bestimmten Technikeinsatz geprägte Gesellschaft.
Die Arbeit „vernünftig“ machen — rationalisieren — heißt in diesem Sinne immer, sie ausschließlich auf Arbeit zu reduzieren. Die ganze Weite der Vernunft zieht sich in den Vernunftzwecken der Arbeit zusammen, weil sie ihr beides ist: Zweck und Mittel. Alle Bewegung, die wir Fortschritt zu nennen gewohnt sind, besteht in diesem beständigen „Hin-und Hergang“ zwischen Zweck und Mittel, zwischen der immer schärferen Reduktion auf Nur-Arbeit, dem säkularen Vernunftprozeß, und dem Einsatz rationeller Techniken und Verfahren in der Produktion. Wenn Arbeit in diesem Sinn gleichzeitig Ausgangspunkt wie Ziel bezeichnet, wenn wir sie neuzeitlich nicht mehr als statische Größe, sondern als dynamische Universalstruktur angemessen begreifen: Arbeit also als Arbeit am Fortgang der Arbeit — dann in der Tat ist das Recht auf Arbeit „das Menschenrecht schlechthin“
Es gibt eine für die Arbeitsgesellschaft höchst bezeichnende etymologische Begriffskarriere: die des lateinischen Wortes für Arbeit — „labor“: Das Labor ist zunächst der Ort, an dem Arbeit ist; sodann aber auch der Ort, an dem die Arbeit „Junge kriegt“; der Ort, an welchem die „Arbeitsarbeit“ geleistet wird, also diejenige Arbeit, die in der Konsequenz fortlaufend neue Arbeit hervorbringt. Das Labor, welches die Arbeit verewigt, wird uns zum Bild der Welt.
Die Tatsache, daß heute alle — zumal auf dem Altar öffentlicher Bekenntnisreden — der Arbeit ihre wortreichen Weihrauchopfer darbringen, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß in jedem einzelnen von uns nach wie vor der Stachel tiefempfundenen Widerwillens, ja der Rebellion gegen die Arbeit steckt. Der öffentlichen Wertschätzung der Arbeit fehlen die privaten Emotionen. Das repulsive Moment, das immer schon in der Arbeit steckte, hat sich erst unter den Bedingungen moderner Industriearbeit zu einer problematischen Größe ausgewachsen. Erst hier wurde das Verhältnis des Menschen zur Arbeit ein grundsätzlich unbefriedbares. Was kann es Entlarvenderes geben, als wenn der Arbeiter von der Nicht-Arbeit als seiner „freien Zeit“ spricht? Ist er, während er arbeitet, ein Gefangener?
Was die Arbeit heute so unerträglich macht, ist gewiß nicht mehr — wie einst — die schwer erträgliche physische Belastung; nein, was uns trotz ihrer äußerlich so viel milderen Formen die Arbeit so unversöhnlich macht, ist ihre Bornierung und Eng-führung, ist die systematische Trennung von Arbeit und Vergnügen. Eine Liebesheirat war es keine, die der Mensch mit seiner Arbeit einging, eher schon eine schnöd-berechnende Vernunftliaison. Und die Ehe, die sie heute führen, ist trotz der ungeahnt hohen Mitgift nie glücklich geworden.
Es sind keineswegs immer objektive Tätigkeitsmerkmale, die Arbeit von Nicht-Arbeit scheiden. Er verstehe nicht, meinte scheinheilig Mark Twain, wieso Tüten-Kleben Arbeit sei und Mont-Blanc-Besteigen Sport. Wir dürfen als gewiß unterstellen, daß er ganz gut verstanden hatte. Seine Absicht war. zu zeigen, daß es nicht allein das Quantum des individuell vergossenen Schweißes ist, welches eine Tätigkeit als Arbeit qualifiziert. Was wir tun. wenn wir außerhalb der Arbeit tätig sind, ist nicht selten physisch und psychisch um vieles „erschöpfender“ als das, was uns in der Arbeit abverlangt wird. Arbeit wird zur Arbeit im Kopf, nicht unter unseren Händen. Spiel und Sport sind von der Arbeit nicht durch die Tätigkeitsmerkmale grundsätzlich unterschieden, sondern durch die zugrundeliegende Zielsetzung, durch die vorausliegende „Kopfarbeit“ der Identifikation.
Die Wahrheit ist also wohl: Wir haben die Arbeit allzuhart vom „Vergnügen“, oder allgemeiner: von allem, was nicht unmittelbar zu ihr gehört, getrennt. Wir haben ihr mit dem Seziermesser des rationalen Effektkalküls alles amputiert, was sie einst affektiv so reich erscheinen ließ, so daß nichts, was geschieht, ungeplant, un-kalkuliert, unbemerkt geschieht. Die Zweckhaftigkeit wird um so drückender, je enger und präziser der Zweck gefaßt ist, der einer Tätigkeit zugrunde liegt, je definitiver sich damit „Abweichungen“ verbieten und je rigider sie sanktioniert werden. Der Prozeß der Rationalisierung hat das große Heer der arbeitenden Menschen an den Rand der Produktion abgedrängt, auf die von der Maschine übriggelassene Restarbeit beschränkt — einen kargen. armseligen, immer dürftiger werdenden Rest an den Nahtstellen einer heute überwiegend computergestützten Fertigung. Der beinahe totale Bedeutungsverlust des Menschen in und während vieler Arbeiten und die „Bornierung“ seiner kommunikativen Bedürfnisse auf den — makabererweise so geheißenen — „Dialog mit der Maschine“ sprechen eine eindeutige Sprache.
Modell Maschine
Was wir in Verkennung unserer eigenen biologischen und psychologischen Ausstattung häufig als „menschliches Versagen“ bezeichnen, ist zumeist Versagen einer nicht menschengemäßen Technik, d. h. einer Technik, die den Irrtum nicht honoriert, sondern bestraft. Die Rede vom „menschlichen Versagen“ zeigt, wie sehr wir uns selbst schon im Modell der Maschine sehen und bewerten: der Maschinen-Automat, der uns das „Maß“ vorgibt, weil er absolut kalkulierbar, fehler-und irrtumsfrei funktioniert. An dieser Meßlatte gemessen müssen menschliche Fähigkeiten immer minderwertig bleiben. Der (Irr-) Weg zum „Lückenbüßer“, zum Maschinen-und Computer-Komplementär ist vorgezeichnet.
Es kann nicht schaden, wenn wir dies einmal zu Ende denken: Das Optimum an Zuverlässigkeit bietet nur die weitere „Autonomisierung" der Technik, die progressive Abkoppelung vom „Störfaktor“ Mensch: durch Aussperrung von der Technik oder durch Anpassung an die Technik. Anstatt die Technik für den Menschen unschädlich zu machen, gehen wir in vielen Fällen genau den umgekehrten Weg: Wir machen den Menschen „unschädlich“ für die Technik. In vielen Fällen reagieren wir schon ganz „automatisch“, ohne dies noch eigens wahrzunehmen, mit freiwilliger Selbstaussperrung aus den besonders sensiblen Kernbereichen technischer Prozesse. Das „Optimum“ wäre hier unverkennbar die auf höchstem Niveau sich selbst planende, organisierende und regenerierende Technostruktur. Die einzig technikgemäße Welt ist, auf lange Sicht, die menschenlose Welt.
Gewiß wohl garantiert die menschenlose Fabrik weitgehend störungs-und irrtumsfreie Funktionsabläufe. Doch ist sie ein Modell für das Gesamtgebäude unserer Wirklichkeit? Muß wirklich erst der Mensch mit seinen hoffnungslos antiquierten physischen und psychischen, ästhetischen und affektiven Bedürfnissen verschwinden, damit die technisch determinierte Welt fehler-und irrtumsfrei funktioniert?
Neben einer Vielzahl ganz alltäglicher Eingriffe in die Lebenswelt, die alle betreffen, erfolgt die Anpassung an die Technik vor allem über die durch Ausbildung, Schulung und systematische Gewöhnung vorbereitete und vorangetriebene „Mutation“ eines Teils der Menschen zum „Techniker“ mit exakt beschreibbaren Eigenschaften, eigener Sprache und eigenen Vorlieben, einem eigenen Rollen-und Selbstverständnis, einer eigenen „Moral“ und einem Weltbild, welches sich deutlich abhebt von jenem der übrigen Gesellschaftsmitglieder.
Längst ist der Mensch in den schönen neuen Welten, die er schuf, selber das antiquierteste Requisit: Er ist dabei, ein Fremdling zu werden inmitten der eigenen Hervorbringungen, ein geduldeter Sonderling, wo nicht ein ärgerlicher Störenfried, dem die technischen Systeme das Hand-und Denkwerk legen, den sie „ausstoßen“ und, auf Zeit vorerst, „unschädlich“ machen: umschulen, in Schutzanzüge stecken, kontrollieren und dekontaminieren. Können wir uns eine Technik leisten, die sich den Menschen nicht mehr leisten kann? Den Menschen, der lustlos ist und leidenschaftlich, übermütig und übel gelaunt, der vergißt und versagt? Können wir eine großtechnische Entwicklung fördern, die immer un-verblümter den „technikgerechten Bürger“ fordert, den auto-und atomgerechten Zeitgenossen?
Großtechnische Systeme — und keineswegs nur die der militärischen Zweckbestimmung — sind ihrer Logik nach im höchsten Maße „intolerant“. Sie beschneiden lebbare Alternativen und Gegenentwürfe und zwingen uns. wandlungsunfähig in die „Versteinerung“ hineinzuwachsen. „Unsere Zivilisation nimmt die Struktur und die Eigenschaften einer Maschine an“, schrieb Paul Valery schon 1925. „Diese Maschine wird sich mit nichts Geringerem als der Weltherrschaft abfinden; sie wird keinem Menschen gestatten, zu überleben außerhalb ihrer Kontrolle und ohne in ihre Funktionen einbezogen zu sein ... Sie kann sich mit unbestimmten Lebensweisen innerhalb ihres Funktionsbereiches nicht abfinden. Ihre Präzision, die ihr Wesen ist, kann keine Vagheit oder gesellschaftliche Sprunghaftigkeit ertragen, und ungeregelte Situationen sind mit gutem Funktionieren unvereinbar.“
Die „vollkommene“ Gesellschaft, die niemals fehlt und irrt, ist nur denkbar, wenn auf das menschliche Verhalten die nämlichen Prinzipien angewandt werden, die für die physikalische Welt verbindlich sind. Mit anderen Worten: Die vollkommene Gesellschaft besäße die Attribute der Maschinenwelt. Nur diese verbürgten den hohen Grad an Gewißheit und Präzision, der all ihre Aktionen auszeichnet. Einmal gänzlich unter der Herrschaft des Verstandes, gäbe es auch keinen Grund mehr für Wandel und Fortschritt: Warum sollte der Verstand, der Aufbau und Funktionsweise der Gesellschaft plan-haft entwirft und konstruktiv begleitet, seine eigene Lösung widerrufen? Unter der einseitigen Ägide des Verstandes würde eine Gesellschaft entstehen, ähnlich den Insektenstaaten, die seit sechzig Millionen Jahren ihrer Struktur treu geblieben sind.
Weder die Gewißheiten des Instinkts noch die Gewißheiten des Verstandes lassen den Irrtum zu und gestatten Veränderung. Die Gefahr ist heute schon ablesbar, daß ein „instinktiver“ Verstandesabsolutismus die Vielfalt des Lebens mit seinen überbordenden Möglichkeiten erschöpfen und in der Schwerkraft eines einzigen Entwurfs versteinern könnte.
In vielen Bereichen der Arbeit hat der Mensch in der Maschine bereits endgültig seinen Nachfolger gefunden. Daniel Bell drückt nichts anderes aus, wenn er über die Wirkungen der Automation schreibt, als eben dies: „Automation im weitesten Sinne bedeutet im Effekt das Ende der Messung von Arbeit . . . Bei der Automation kann man die Arbeitsleistung eines einzelnen Menschen nicht messen; man muß jetzt einfach die Nutzung der Anlage messen.“
Wir haben die Maschine und ihre „Bedürfnisse“ in den Mittelpunkt allen Tuns gerückt, wir versammeln uns um sie, wir stellen nach ihrem Takt unsere Uhren. Ihre „Kapazität“ und deren „Auslastung“, sind das Ziel unserer planenden Anstrengungen.
Kultur der Effizienz: Die zweckhafte Engführung des Daseins
Kaum eine Aktivität ist denkbar, die nicht entwertet würde, wenn man sie nur als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes betrachtete. Das gilt für die Liebe und für die Party, für die Politik und für die Arbeit. Politik und Liebe etwa gehören einer Sphäre an, in der stets auch das Nicht-Zweck-hafte „mitbezweckt“ ist.
Gerade das, was die ungeheure Effizienzsteigerung bewirkt: die Konzentration auf den rational bestimmten Zweck, ist zugleich ursächlich für Verarmung und Verkümmerung unserer Tätigkeitsmotive. Der allzu kurze Zügel der eindeutigen Zweckorientierung bringt uns um die Chance, bei unseren Tätigkeiten Entdeckungen zu machen, dazuzulemen und uns auch auf ungeplante Weise zu vergnügen. Daß wir die Daseinssphären von Arbeit und Spiel, von zweckgeleitetem und zweckfreiem Tun so hermetisch trennen, „hat schwere Folgen. Der Mensch, der nach getaner Arbeit frei ist, zu tun, was er will, ist nicht derselbe wie der, der Freude in seiner Arbeit erlebt.“
Am entschiedensten haben wir das Ungeplante und den Irrtum aus der Arbeit verbannt. Den fast vollständigen Sieg über den Irrtum, den wir in der Arbeit errungen haben, verdanken wir zunächst — jenseits aller technisch vermittelten Disziplinierungen — einer mit aller Konsequenz vorangetriebenen geistigen Disziplinierung: dem Zwang, immer genauer zu bestimmen, was wir eigentlich wollen; immer exakter zu definieren, was der Zweck der produktiven Anstrengung ist, und deshalb: was zur Arbeit gehört und was nicht.
Mit der zweckhaften Engführung der Arbeit werden alle jene Fehlerquellen ausgeschaltet, die Verzögerungen, Irrtümer und Abweichungen verursachen könnten. Übrig bleibt nur der immer präziser gefaßte, immer eindeutiger bezeichnete und „gewußte“ Produktionszweck. Hauptmerkmal dieser „Vereindeutigung" ist der mechanische Arbeitsvollzug. Die Persönlichkeit des Produzenten als Hauptquelle für Fehler und Abweichungen muß neutralisiert werden, soll sie den minutiös festgelegten Produktionszweck nicht gefährden. Die Suspen dierung der Persönlichkeit ist nicht nur eine bedauerliche Begleiterscheinung arbeitsgesellschaftlicher Zwänge, sie ist die Voraussetzung für das Gelingen eines planhaften Produktionskonzeptes schlechthin. Sie hat die Arbeit zu jenen beispiellosen Höhen des Erfolgs geführt, der es den Kritikern der Arbeitsgesellschaft so schwer macht, mit ihren Bedenken Gehör zu finden. In diesem Erfolg finden wir wohl auch die Erklärung für das, was ansonsten so schwer begreiflich ist: Warum die Zumutungen der Zivilisation zu allen Zeiten so wenig Widerspruch gefunden haben.
Die Kultur der Effizienz, die Durchsetzung jener Geisteshaltung, die Europa seit dem 18. Jahrhundert zum Zentrum des technischen Fortschritts werden ließ, opponierte erfolgreich einem der ältesten Tüchtigkeitsmerkmale der menschlichen Spezies: der Fähigkeit, durch Versuch und Irrtumskorrektur zu lernen. So sehr diese Fähigkeit selbst zum technischen Fortschritt beigetragen hat, so wenig scheint der „Geist“ des technischen Fortschritts, einmal zur Herrschaft gelangt, bereit, auch künftig die Fesseln und Hemmnisse des Irrtumsweges hinzunehmen: Vielfalt und Unvollkommenheit, Verzögerung und Gemächlichkeit. Im Kult des Bewirkens wurden wir zu hocheffizienten Barbaren. Unsere Weise des Begreifens zielt einzig auf Raub: „Nehmen, ohne zu begreifen — das ist die Tat des Barbaren. Begreifen, nur um zu nehmen — das ist die Rationalisierung der Barbarei, der Geist unserer Zivilisation.“
Arbeit, Leben und Natur — Katastrophen der Vollkommenheit
Die Parzellierung des menschlichen Daseins in „Arbeit“ und „Leben“ stellt gewiß hinsichtlich der Effizienz der Arbeit einen Fortschritt dar; psychologisch aber entwertet sie die Arbeit, indem sie sie gegen die sinnhaften Tätigkeiten isoliert. Für Charles Fourier noch war die „attraction industrielle“ der Gradmesser für wirkliches Wohlergehen unter den Bedingungen der Industriearbeit, nicht allein Effizienzsteigerung und Produktivitätsfortschritt, für die sein historischer Widerpart Saint-Simon sich begeisterte. Die meisten seiner Vorschläge zur Humanisierung der Arbeit zielen auf das innere Verhältnis des Menschen zur Arbeit. Er entwarf ein Programm, welches sich vor allem der „psychologischen Proletarisierung“ widersetzte: Er betonte die Bedeutung des Produktionsumfeldes, der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen, des Wechsels im Was und Wie des Arbeitsauftrags. Mit der Reetablierung von Teilhabechancen und mit der Berücksichtigung persönlicher Belange in der Organisation der Produktion versuchte er, dem Leben die Pforten der Arbeit zu öffnen. Fourier war nicht bereit, als Preis für eine irrtumsfreie Produktionssphäre den uns heute so vertrauten Lebenszwiespalt zwischen einem entfremdeten Arbeitsdasein und einer kompensatorischen Freizeitexistenz zu akzeptieren.
Der Irrtum, den wir aus dem Bereich der Arbeitsorganisation und Arbeitstechnik so sorgsam ausgeschlossen haben, bedrängt uns, in potenzierter Form und gesteigerter Größenordnung, in vielen anderen Bereichen — bis hin zur wohl dramatischsten aller aktuellen Bedrohungen, der globalen Klimakatastrophe. Technische „Errungenschaften“ entpuppen sich bei genauerem Hinsehen allzu oft als „Verschlimmbesserungen“: Sie verlagern die Kosten und Probleme — um den Preis eines vielfachen Anstiegs der Kosten-und Problem,, masse" — auf nachgeordnete Bereiche: das Soziale, den Menschen, die Natur. Wie immer wir den Problemtransfer im Dreieck zwischen Arbeit, Leben und Natur organisieren — wir entkommen solange nicht der Dialektik von Arbeitsorganisation und Daseinsgestaltung, als wir nicht erstere bewußt zu einem Bestandteil der letzteren machen. Solange wir in unserer analytischen Betrachtungsweise nicht zusammenbringen, was in Wahrheit zusammengehört: Arbeit, Leben und Natur, solange werden wir als Erfolg und Fortschritt feiern, was in Wahrheit Selbstzerstörung ist.
Nicht allein die Häufigkeit der Erkrankung macht den Krebs zur „paradigmatischen“ Art des Krank-seins und Sterbens in unserer Epoche; es ist auch das Wie und Was des Krebsleidens, das uns ahnen läßt, es könne sich hier im Maßstab der singulären Existenz das Drama unserer Zivilisation ereignen. Vom Standpunkt der Zelle betrachtet, ist der Krebs ja ein Triumph ohnegleichen: die gelungene Programmierung der Zelle auf „Unsterblichkeit“, die endgültige Herstellung von Ordnung und Vollkommenheit; vom Standpunkt des Gesamtorganismus aber ist er eine einzige Katastrophe: Die Überlagerung und Vernichtung der Vielfalt, die Erstickung differenzierter Organfunktionen im einseitigen, unkontrollierten Zellwachstum. Der unkontrollierte Vermehrungserfolg der Zelle führt auf der Triumphstraße äußerster „Tüchtigkeit“ geradewegs in den Untergang alles am Gesamtorganismus beteiligten Lebendigen — auch der Zelle selbst. Die Vernichtung des Ganzen ist der Triumph des Teils, der für sich das balancierende Versuchs-und Irrtumsspiel beendet hat; die äußerste Steigerung partieller Ordnung bis zur „Vollkommenheit“ der Selbstvemichtung.
Nur wenig, was uns im Persönlichen schicksalhaft widerfährt, eignet sich besser als Gattungsmenetekel. Alle „Wucherungserfolge“ sollten die Alarmglocken schrillen lassen. Ganz gleich, ob von Fast-Food-Ketten die Rede ist, vom Bevölkerungswachstum, von Übertötungskapazitäten in der Hochrüstung, vom „Siegeszug“ der wissenschaftlichen Rationalität, von der unbegrenzten Steigerungsfähigkeit des Sozialprodukts, von der „Entfesselung der Produktivkräfte“, von der „industriellen Massenfertigung“ oder von der Auto-oder Kommunikationsgesellschaft: Stets, wenn ein Teil seine Funktionen unkontrolliert auf Kosten aller anderen Teilfunktionen erweitert, steht die Lebensfähigkeit des Ganzen auf dem Spiel. Im Imperialismus des Partiellen liegt der Keim des „großen“ Untergangs.
Die Erfahrungsbornierung des einzelnen und die Steigerung der kollektiven Wirksamkeit
Erfolge sind ja vor allem Wahrnehmungsphänomene: Wir können auf den Mond fliegen! Wir können Herzen verpflanzen! Wir können — mit dem Radioteleskop — bis in die Ur-Anfänge des Universums „zurückblicken“! Können wir? Die beispiellose Steigerung des sozialen bzw. „menschheitliehen“ Kompetenzniveaus ist mit einer ebenso beispiellosen Steigerung des sozialen Differenzierungsniveaus erkauft, oder, despektierlicher, mit dramatisch anwachsender Erfahrungsbornierung. Nur ein verschwindender Prozentsatz dessen, was „wir“ können, ist durch die Erfahrung eigenen Könnens, Wissens und Begreifens beglaubigt: Je mehr wir können, um so weniger — relativ gesehen — kann ich; je mehr wir wissen, um so weniger — relativ gesehen — weiß ich. Das aber bedeutet: Je weniger wir wissen, um so mehr müssen wir glauben; um so mehr ist jeder einzelne vom Wissen vieler anderer abhängig; je mehr „wir“ können, um so bedeutsamer, ja (über) lebenswichtiger wird die Erfahrung vieler anderer; denn relativ zum Anwachsen der gesellschaftlichen Wirkkompetenz schrumpfen die persönlichen Erfahrungskompetenzen. Nur ein Bruchteil dessen, was die objektiven Lebensbedingungen aller ausmacht, ist dem einzelnen durch eigene Erfahrung und Anschauung vertraut. Und eben weil das allermeiste erfahrungsmäßig nicht belegt ist, unvertraut, ist Vertrauen auf allen Ebenen und in allen Bereichen einer arbeitsteilig zusammenwirkenden Gesellschaft so unverzichtbar.
Vertrauen ist nicht nur ein ebenso alter wie soziologisch allgemeiner „Mechanismus der Reduktion von Komplexität“ (N. Luhmann); Vertrauen ist auch ein — spezifisch moderner — Mechanismus zur Kompensation von Erfahrungs-und Vertrautheits-Verlusten: Wer seinem eigenen Urteil nicht mehr trauen kann, weil er mit dem entsprechenden Sachverhalt nicht mehr vertraut ist.dem bleibt nur, sich dem Urteil des zuständigen Experten anzuvertrauen. Vertrautheitsschwund ist nur durch Vertrauen kompensierbar. Dieser Zusammenhang macht erst verständlich, weshalb der Fachmensch, der „Experte“, sich in unseren zeitlichen Breitengraden eines so hohen Ansehens erfreut. Wo immer es etwas zu entscheiden gibt, und uns die fraglos „guten Gründe“ für das So-und-nicht-anders unserer Entscheidung fehlen, ist er beratend und gutachtend zur Stelle und gleicht diesen Mangel durch seinen ebenso überlegenen wie begrenzten Sachverstand aus. Mit der progressiven Abhängigkeit von Experten kompensieren wir die progressive Unzuständigkeit im Bereich der elementaren Lebensbedingungen: vom Brotbacken über das Erkennen von Kinderkrankheiten bis zur Autoreparatur und der Abfassung der Steuererklärung. Je mündiger die Menschheit, um so sprachloser und urteilsenteigneter der einzelne. Die beispiellose Macht unserer Zivilisation ist auf der Ohnmacht ihrer Subjekte errichtet.
Man mag die vorstehenden Sätze als wohlfeile zivilisationskritische Entrüstungsrhetorik abtun; sie haben indes einen sehr genauen — und präzis benennbaren — Sinn: Die Steigerung des gesellschaftlichen Gesamtvermögens, die Vermehrung der Bestände des Wissens und Könnens, kurz, die Tatsache, daß'die moderne Gesellschaft so viel kann — und dies so viel mehr als die „alte“ —, hat ihren Grund vor allem darin, daß die einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft so viel Unterschiedliches können. Auch wenn man sich, was die Gesellschaft im Ganzen vermag, nicht einfach nur als Summierung dieser ebenso engen wie um vieles effektiveren Einzelvermögen vorstellen darf, so hat diese drastische Anhebung des gesellschaftlichen (Wirk-) Niveaus doch ihren ersten Grund in der Anhebung des (Wirk-) Niveaus vieler einzelner in vielen, immer enger spezialisierten Bereichen — sowie natürlich im sinnvollen Zusammenwirken dieser vielfältigen, höchstgesteigerten und höchstspezialisierten Einzelvermögen. Der Differenzierungsvorgang, dem wir den Fortschritt in der Steigerung des gesellschaftlichen Gesamtvermögens verdanken, wird vor allem deutlich im Vergleich: Noch am Beginn des 19. Jahrhunderts waren vermutlich mehr als drei Viertel der Gesamtbevölkerung in der „Urproduktion“, also vorwiegend in der Landwirtschaft, tätig. Das aber bedeutete: Die große Mehrheit der Menschen kannte „ihr Leben“, weil sie im Arbeitsprozeß an den für alle verbindlichen allgemeinen Lebensbedingungen unmittelbar teilhatte. Sie wußte, jedenfalls ungefähr, wie aus Körnern Brot wird und aus Milch Käse, wie aus Bäumen Dächer und Möbel entstehen, und aus Häuten Schuhe, Kleidung oder Zaumzeug. Kurzum: Die Mitglieder der alten, agrarisch-feudalen Gesellschaft verstanden von fast allem, was sie umgab, etwas, ohne indes, gemessen an modernen Wirk-Standards, etwas wirklich zu „beherrschen“. Die Mitglieder der modernen, hochgradig spezialisierten Arbeitsgesellschaft verstehen hingegen fast nichts mehr von dem, was auf vielfältige Weise für ihr Leben Bedeutung hat; das wenige aber, in dem sie sich jeweils auskennen, beherrschen sie mit professioneller Perfektion auf dem Niveau höchstmöglicher Wirksamkeit.
Das vertikale Anwachsen des gesellschaftlichen Kompetenzniveaus im Bereich der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung ist mit horizontalen Verarmungseffekten auf Seiten der einzelnen. spezialisierten Funktionsträger erkauft. Und genau dies ist das Dilemma der fortgeschrittenen Arbeitsgesellschaft: Was die Gesellschaft insgesamt voranbringt, muß noch lange nicht den einzelnen fördern oder gar glücklich machen!
Im Kern müssen wir uns wohl entscheiden, welche „Ebene der Vollkommenheit“ wir uns erwählen: die des Individuums oder die der Gesellschaft; welche „Macht“ gesteigert werden soll: die konkrete Lebenskompetenz des einzelnen oder die abstrakte, weil prinzipiell maßfremde, ja maßfeindliche Wirk-Macht des gesellschaftlichen Ganzen. Optieren wir für einen substantiellen Pluralismus mit der Chance, eine Vielzahl voneinander unabhängiger und abweichender Lebensentwürfe zu realisieren, oder entscheiden wir uns für den Schein-pluralismus eines hochgradig binnendifferenzierten Zusammenwirkens aller in einem System technisch perfektionierter Naturbeherrschung, dessen frühestes Modell uns schon Francis Bacon in seiner Vision der „Nova Atlantis“ vor Augen stellte?
Individualismus ohne Individuum
Auch dies ein Aspekt irritierender Ungleichzeitigkeit: Nie sind dem Individuum mehr verbale Rauchopfer dargebracht worden, und nie war die reale Vergesellschaftung, bis hinein in die privatesten Lebensäußerungen, zwingender. Wie aber konnte gerade der Individualismus zur Hausphilosophie einer Gesellschaft avancieren, deren Hauptbeschäftigung offensichtlich darin besteht, fortlaufend neue Mittel für die Abschaffung individueller Existenzweisen zu ersinnen? Und warum spielte andererseits die Idee des Individuums in den älteren Gesellschaftsformationen kaum eine erkennbare Rolle?
In der vormodernen Epoche des „real existierenden Individuums“ war der Individualismus kein Thema. Erst mit dem sich abzeichnenden „Verschwinden“ des Individuums am Beginn der Neuzeit, erst mit Industrialisierung und Verstädterung, mit Vermassung und technologischer Zwangskollektivierung gibt sich der Individualismus theorieoffensiv. Während wir — vormodern — vom Individuum ohne Individualismus sprechen können, gilt — modern — die Formel vom Individualismus ohne Individuum.Wieso aber blühen die Kollektivmythen von Kult und Herkunft, Volk und Land, Herrschaft und Abstammung gerade unter der Real-Ägide des Individuums? Und warum huldigen wir den ideologischen Leitbildern des Pluralismus und Individualismus gerade dann, wenn diese als soziale Real-Formationen fast verschwunden sind?
Sollten vielleicht die „herrschenden Ideen“ gar nicht so sehr die herrschende Wirklichkeit abbilden als vielmehr das erinnern, bewahren und einmahnen. was durch diese Wirklichkeit jeweils dementiert wird? Passen sie also zur herrschenden Wirklichkeit allein in dem Sinne, daß in ihnen auf-scheint, was nicht ist? Stellen sie gar der jeweiligen Real-Negation die entsprechende Ideal-Position zur Seite? Zu welchem Schluß wir, aufs Ganze der Geschichte gesehen, in diesen Fragen auch immer kommen — unzweifelhaft scheint, daß wir in einer Zeit der schwindenden Verbindlichkeit nicht so sehr der Idee, sondern der Sache des Individuums leben.
Wir haben uns heute ganz und gar aus der persönlichen Abhängigkeit vom anderen gelöst. Wir haben Unabhängigkeit zu einem autonomen Wert vereinseitigt. Doch freier und unabhängiger sind wir schwerlich geworden. Wir haben nur die Schicksalsfee getauscht. Unsere Abhängigkeit hat ein anderes Gesicht. Es ist nicht mehr der personenhafte Nächste, dem wir vertrauen müssen — es ist überhaupt niemand mehr mit Namen, Vornamen und individueller Biographie. Es ist vielmehr das personenneutrale System der Lebensmittelversorgung, der Abendnachrichten, der Rentenversicherung und der Fernzüge, von dem wir abhängen. Je mehr wir uns voneinander gelöst haben, um so abhängiger sind wir alle vom Ganzen geworden. Die ideelle und existentielle Individuation geht Hand in Hand mit der realen Vergesellschaftung. Die Unabhängigkeit. welche uns der neuzeitliche Individualismus verspricht, ist eine Fiktion, die schon an der nächsten Straßenkreuzung widerlegt wird.
Der Kompensationszusammenhang von Rationalisierung und Entmündigung
Es scheint indes, als hätten wir diesen Zusammenhang — die Reziprozität von Rationalisierung und Entmündigung — noch längst nicht wirklich verstanden. Wir beschreiben noch immer das gesellschaftliche Rationalitätsaufgebot progressiver Professionalisierung in erwartungsschwangeren Bildern und Metaphern des „Fiat lux“, geradeso, als würde mit der Heraufkunft und Durchsetzung des überlegenen Fachmenschentums endlich das strahlende Licht der Vernunft in eine bis dato dunkle Welt gebracht. Wir weigern uns beharrlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß eben das, was wir als Arznei schlucken, unsere Beschwerden verursacht; wir verschließen die Augen vor der offenkundigen Tatsache, daß es jener Prozeß immer weiter getriebener Differenzierung selbst ist. auf den wir in unserer Not vertrauen, der jedoch eine einstmals erfahrungshelle, lebenspraktisch erschlossene und verbürgte Welt bis zur Unkenntlichkeit zergliedert und zerteilt.
Der Differenzierungsprozeß gesellschaftlicher Arbeit und die Erfahrungsverluste einer zweckhaft überdeterminierten Welt haben den einzelnen. wohl unwiderruflich, den realen Bedingungen seiner Existenz so sehr entfremdet, daß ihm das eigene Dasein zur großen „Dunkelkammer“ wurde, das expansive System der alltäglichen äußeren Lebens-voraussetzungen eine gigantische „Black Box“, über die er mit dem großen Unbegriffenen der gesellschaftlichen Realität scheinvertrauten Umgang pflegt. Die Stückwerkexperten dieser rational aufwendigen Verdunkelungsveranstaltung kompensieren ex-post im Kleinen, was der von ihnen getragene Prozeß zuvor im Großen anrichtet: Sie installieren hastig, stets zu spät, oft an der falschen Stelle ihre immer viel zu schwachen Scheinwerfer.
Dieser Kompensationszusammenhang ist es, der immer wieder gründlich mißverstanden wird. Die Institutionalisierung des Fachmenschentums beschert der Menschheit ja nicht die langersehnten Flügel, welche die Natur ihr vorenthalten hatte; sie liefert lediglich die Krücken, für die in einer „eigenständigen“, Urteils-und erfahrungskompetenten Lebenswelt einst noch gar kein Bedarf war. Wir bekommen durch Fortschritt und Rationalität ja nicht bloß etwas, über das vergangene Generatio59 nen noch nicht verfügten; wir bekommen vor allem etwas, was sie gar nicht brauchten!
Auch durch gesteigerten Professionalisierungsaufwand sind ursprüngliche Sinnevidenz und Befriedigungswirkung der unmittelbar erfahrungsverbürgten Weltübereinkunft nicht wiederherzustellen. Die Arbeitswelt hochspezialisierter Tätigkeiten enthält uns jene affektiven Gratifikationen zunehmend vor. um deretwillen man vielleicht einmal, das Leben bilanzierend, sagen konnte: . . wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“ (90. Psalm, 10. Vers in der Luther-Übertragung). Die soziale Reichweite der eigenen, auf Erfahrung gegründeten Urteilskraft, welcher frühere Tätigkeiten — ihrer äußeren, romantisch gewiß nicht zu verklärenden Mühsal zum Trotz — einen Teil ihrer befriedigenden Wirkung verdanken mochten, ist kein konstitutiver Bestandteil moderner Identität. Unsere prägende Erfahrung ist vielmehr die einer geradezu beklemmenden Enge und Begrenztheit der eigenen Zuständigkeit und der damit verbundenen progressiven Urteilsenteignung: der überwältigenden Abhängigkeit von Wissen und Können, Kompetenz und Erfahrung vieler anderer. Wie sollte der Spezialist, der über ein Weniges alles und über Alles wenig auszusagen weiß, gegenüber diesem fremdgewordenen Ganzen eine eigene Identität behaupten?
Wir kompensieren daher überall fehlende Identitäten durch Images. Nichts belegt so deutlich den soziologischen Vorgang der „heimlichen“ Zivilisationsdissidenz wie der Einsatz artifizieller Trivial-mythen in der Werbung. Der Mensch existiert von allen Lebewesen in der künstlichsten aller Um-welten. Deshalb ist er auch gezwungen zu simulieren. was die zur fast vollkommenen Künstlichkeit entratene Wirklichkeit ihm genommen hat und am unerbittlichsten vorenthält: Bilder eines durch eigene Erfahrung erschlossenen und durch eigene Urteile besiedelten Lebenszusammenhangs, Bilder einer gedeuteten und deshalb als gleichermaßen sinnvoll wie wohnlich erfahrenen Welt.
In diesen Kompensationszusammenhang gehören auch Phänomene der Akzeptanz zunehmender Alltagsverwissenschaftlichung. Das Wissenschaftliche wird — als das Unbegreifliche schlechthin — zum Neomagischen. Dieser Vorgang wird beispielhaft deutlich, wo wir mit dem Unbegriffenen scheinbar vertrauten Umgang pflegen — in der neumagischen Sprachmimikry der Millirem und Nanosekunden, der Formaldehyd-und Becquerel-Formeln. Die Verstehens-Illusion eines medieninduzierten Allerweltexpertentums eröffnet, wenn schon kein Begreifen, so doch die Chance „psychischer Meisterung“ des in handhabbare Alltagsbegriffe eingegossenen Unvertrauten: der publikumsfernen Sekundärwelten. die von hermetischen Expertenkulturen aus Wissenschaft und Technik verwaltet werden. Sie hält die Stelle der animistischen Geisterbeschwörung archaischer Zeiten unter den Bedingungen der medienbegleiteten Wissenschaftsära.
Werkzeug und Geist
Längst erkennen Computer zuverlässiger, rechnen schneller, folgern logischer, prüfen gründlicher, haben ein viel besseres Gedächtnis, verknüpfen weit Auseinanderliegendes mit größter Präzision. Sie filtern und selektieren Daten und Merkmale, erkennen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Sekunden und Minuten, wozu menschliche Arbeitskraft von Wochen und Monaten nicht in der Lage wäre. In der Idee des Computers erkennen wir die „phantastische Transformation (. . .), die wir mit der Welt vorgenommen haben“ Der Computer gehört mit anderen „intelligenten“ Maschinen zu jener Phalanx neuer Geschöpfe, die angetreten sind, den Menschen nach seiner Entmachtung als überlebensstarkes Körperwesen nun auch als sinnstiftendes Geistwesen zu beerben. In der Entwicklungsperspektive neuzeitlicher Arbeit zeichnet sich als wesentliche Tendenz nicht die Vervollkommnung des Menschen, sondern die Vervollkommnung der Maschine ab.
Wir müssen uns, mit allem Mut zur Konsequenz, klarmachen, was dieses „Nach-uns-die-Maschine“ bedeutet: die „Herrschaft des Computers“ etwa bedeutet nicht, daß der Computer als Makrotyrann diktatorisch die Welt regiert — das wäre vergleichsweise harmlos, es wäre vor allem korrigierbar. Es bedeutet vielmehr, daß die Welt selbst zum Computer wird, genauer: zu einem computergerechten Teil des Computers.
Legen wir die herkömmlichen Kriterien von Intelligenz zugrunde, so gibt es, am Standard der „intelligenten Maschinen“ gemessen, eigentlich heute bereits keine „intelligenten Menschen“ mehr — so wie es, an der Leistungskraft des Hebekrahns und des Flugzeugs bemessen, längst keine „starken“ oder „schnellen“ Menschen mehr gibt. Mehr als Theorien und Prognosen belehren uns manche Bilder darüber, welche Stunde es im säkularen Wettlauf zwischen Mensch und Maschine geschlagen hat. Nehmen wir etwa die Bilder von Großmeistern, die gegen den Computer Schach spielen: Solche Bilder werden bald rar werden, ebenso rar wie die Bilder vom Anfang der Geschwindigkeitsära, auf denen Menschen sich zu Fuß oder zu Pferd mit dem Zug oder mit dem Automobil maßen. Wer beim Computerschach nicht das unfreiwillig Komische solcher Situationen mitsieht, hat nichts begriffen von der Dimension der Herausforderung, welche die „Zweite industrielle Revolution“ — die Technisierung und maschinelle Substitution der geistigen Arbeit — mit sich bringt. Es ist längst zwingend geworden, daß wir uns im Sinne einer schonungslos realistischen Humanbilanz aufs Genaueste darüber Rechenschaft geben, worin wir ersetzbar geworden sind, schon was die Maschine ebenso gut kann oder vielleicht sogar unvergleichbar besser; aber eben auch darüber, ob uns noch etwas geläufig ist, worin wir grundsätzlich unübertrefflich sind.
Vor allem hierauf sollten wir uns besinnen: Worin ist menschliche Intelligenz unüberbietbar? Wir sollten an Fähigkeiten jene herausstellen, die die Maschine nicht beherrscht, und die die menschliche Intelligenz der maschinellen überlegen machen: Intuition, Originalität, Humor. Witz, Ironie, Phantasie, Emotionen, Moral, Sensibilität, Kritikfähigkeit, Urteil und Meinung. Soviel jedenfalls läßt sich sagen: In allem, was sich zweifelsfrei messen läßt, werden wir in den Maschinen ganz unvermeidlich unsere Meister finden. Wir müssen lernen, das Spezifische der unüberbietbaren menschlichen Intelligenzleistung gerade in jenen bisher eher vernachlässigten Äußerungsformen des Intellekts zu erkennen, die sich einer quantifizierenden Betrachtung und Deutung versagen: die Reichtümer unserer Phantasie, die heuristische Deutungskraft der Abstraktion, die Fähigkeit, spielerisch weit Auseinanderliegendes scheinbar „regelwidrig“ zu einer neuen, sinnvollen Einheit zu verschmelzen. Dies alles sind — an die (vorläufig) nicht simulierbaren Attribute der menschlichen Persönlichkeit gebundene Vermögen des Gei - und Äußerungsformen stes, die eine humane Überlegenheit sui generis begründen könnten.
Spielerisch gruppiert der Mensch die verfestigte Hierarchie der relevanten Tatsachen neu und anders. Der holländische Historiker Huizinga hat in seinem „Homo ludens" eindrucksvoll gezeigt, wie sehr die kulturelle Gesamtentwicklung des Menschen im Spiel wurzelt, in der freien Selbsterfahrung, im inszenierten Versuchs-und Irrtumslernen; daß das Spiel weit mehr als die Arbeit das „formative Element“ in der menschlichen Kultur ist. Im Ritual und Spiel, in der Musik und im Tanz, in Sprache und Mythos, also in seinen künstlerisch-symbolischen Äußerungsformen wird der Mensch zum Menschen. „Kein einzelnes Merkmal, nicht einmal die Werkzeugherstellung, genügt, um den Menschen zu identifizieren. Spezifisch und einzigartig ist die Fähigkeit des Menschen, eine große Vielfalt tierischer Eigenschaften zu einer neuen kulturellen Gegebenheit zu vereinen: zur menschlichen Persönlichkeit."
Diese kulturelle „Basiserrungenschaft“, der alles weitere sich verdankt — von der Demokratie bis zum Dynamo, vom Gilgamesch-Epos bis zur Gegensprechanlage — ist heute bedroht. Wie der Vogel die Luft und der Fisch das Wasser, so braucht die menschliche Persönlichkeit, um sich zu erhalten und zu erweitern, das Medium, dem sie entstammt: das Spiel von Versuch und Irrtum. Die Geschichte der Technik hat eine lange nicht-technische Vorgeschichte, in welcher Kräfte und Mächte des menschlichen Geistes sich formierten und der Mensch das aus sich selbst machte, was ihn befähigte, etwas aus seiner Umwelt zu machen. Bevor er Felder und Felsen bearbeiten konnte, mußte er erst sich selbst „bearbeiten“; bevor er daran gehen konnte, seine Werkzeuge und technischen Gerätschaften zu vervollkommnen, mußte er erst sich selbst organisch, geistig und kulturell vervollkommnen.
Die lange Periode, während welcher der menschliche Geist sich formierte, bildet die „Inkubationszeit“ für alle kulturellen Folgeentwicklungen, auch für die Technik. Lange vor dem technischen „Durchbruch“, der sich für uns in den frühen Werkzeugfunden dokumentiert, hatte sich in Prozessen ungeheurer geistiger Aktivität ein Potential aufgebaut, welches bis heute die unverzichtbare „infrastrukturelle Vorleistung“ an Geist und Kreativität darstellt. Wir bedürfen dringend einer erweiterten Interpretation unserer Geschichte und Vorgeschichte im Sinne der Einbeziehung auch der ungeformten, unorganisierten Äußerungen des Geistigen. Wer in der Interpretation menschlicher Selbst-zeugnisse das Sichtbare für das Ganze nimmt, verfehlt nicht nur das Ganze, er mißversteht auch, was er sieht. Die Entwicklung des Geistes ist nicht einfach ein Reflex der Entwicklung der Werkzeuge. Werkzeuge sind immer geronnener Geist. Das Werkzeug folgt dem Geist, nicht der Geist dem Werkzeug.
Wie aber sieht eine Technik aus, der das geistige Fundament wegschrumpft, der die subjektiven Impulse und der Fingerzeig der Phantasie abhanden* kommen? Den sichtbaren Gefahren und Naturschäden entsprechen die weniger leicht sichtbaren psychischen und sozialen Schäden beim Menschen selbst. Die Natur-und Umweltkrisen sind nur der sichtbare Ausdruck einer Krise der sozialen Gemeinschaft und des menschlichen Selbstbewußtseins. Unser gestörtes Denken und Fühlen hat die Zerstörungen in der Umwelt und die groteske Gefahren-und Risikenballung in unseren technischen Strukturen hervorgebracht. Was durch den Geist entstanden ist, kann auch durch ihn vernichtet werden — auch durch sein allmähliches Versiegen. Eine Epoche, welche das Werkzeug in seiner erweiterten Form als Technostruktur an die Stelle der menschlichen Persönlichkeit rücken läßt, schneidet sich von den Quellen ihrer eigenen Kreativität ab.
In seinem Buch „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ formuliert Karl Popper: „Wir sind Urheber des Werkes, des Produkts, und gleichzeitig werden wir von unserem Werk geformt. Das ist eigentlich das Schöpferische am Menschen: Daß wir, indem wir schaffen, uns gleichzeitig durch unser Werk selbst umschaffen.“ Ob Popper hier wohl bewußt war, welch folgenreiche Aussage über die Problematik unserer Werke er damit zugleich traf? Wenn unsere Werke in ihrer Abfolge uns dem Punkt immer näher bringen, an welchem die Entwicklung unwiderruflich über den Menschen hinausführt, dann heißt es zu verhindern, daß wir werden, was wir werden, wenn wir einfach weitergehen: Wir müssen uns mindestens den allerbedrohlichsten dieser Werke versagen, soll das Projekt Maschine nicht am Ende über das Projekt Mensch triumphieren.
Heidegger empfiehlt uns späten in einer seiner Gelassenheit als Schriften die Heilmittel wider die „unheimliche Veränderung der Welt“ durch die Technik. Er rät zur produktiven Verweigerung, zur kritischen Distanz gerade dann, wenn die Entwicklung insgesamt durch ein hohes Maß an Unvermeidbarkeit gekennzeichnet ist: „Wir können ja’ sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich , nein‘ sagen, insofern wir ihnen verwehren, daß sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden ... Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: die Gelassenheit zu den Dingen.“
Der Affront wider die Arbeit und das. was sie aus uns macht, ist kein Spezifikum allein der abendländischen Tradition. Aus der persischen Kulturüberlieferung kennen wir das Bild der vincula manuum, der Handfesselung, als eines uralten Freiheitssymbols: Um frei zu sein, muß der Mensch erst seine unermüdlichen Hände in Fesseln legen; um Mensch zu werden, muß er erst den verinnerlichten, „naturgeschichtlichen“ Arbeitszwang bezwingen. Wenn Arbeit die Fessel ist, die ihn hindert, frei zu sein, dann gilt es, die Arbeit selbst in Fesseln zu schlagen, damit sie seiner Freiheit nicht mehr im Wege ist. So exotisch fern ist uns diese persische Tradition gar nicht. Von Augustin bis Goethe hat sie unser Denken und unseren Geist beeinflußt.
Die vincula manuum der späten Arbeitsgesellschaft sind nicht Handschellen oder Fußfesseln. Es sind die vielen — und viel zu selten genutzten — „Knöpfchen“ zum Abschalten und Nein-Sagen; und es sind vor allem die vielen Siege über die Arbeit, als welche wir die ungeheuren Fortschritte in der Arbeitsproduktivität endlich sehen und schätzen lernen sollten. Arbeitsverknappung sollte Wohltat sein, nicht Weltuntergang; statt sie nur als individuellen Schicksalsschlag zu erfahren, sollten wir sie endlich als Chance einer aktiven persönlichen wie gesellschaftlichen Lebensgestaltung erkennen. Die erste Bedingung hierfür ist wohl, daß wir den einzelnen nicht länger allein und auf sich gestellt dem säkularen Verdrängungsprozeß des Menschen durch die Maschine ausliefern, sondern daß wir kollektiv die Arbeit neu organisieren.