Die Auslandsverschuldung Lateinamerikas: Entwicklungskrise ohne Ausweg?
Hartmut Sangmeister
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Zusammenfassung
Die lateinamerikanischen Staaten sind traditionell internationale Großschuldner. Was die aktuelle Verschuldungskrise von früheren Zahlungs(bilanz) schwierigkeiten einzelner Länder unterscheidet, ist nicht nur das Volumen der involvierten Kredite, sondern auch die Struktur der Verschuldung. Bemerkenswert ist vor allem der hohe Anteil öffentlicher Schulden an den lateinamerikanischen Auslandsverpflichtungen. Wichtigste Quelle für die Außenfinanzierung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften stellten private und öffentliche Kredite dar, während ausländische Direktinvestitionen eine wesentlich geringere Rolle spielten. Schwierigkeiten mit der termingerechten Bezahlung von Tilgungsraten und Zinsen haben die Verschuldungskrise ausgelöst und verschärft, aber nicht verursacht. Wirtschaftspolitisches Fehlverhalten der Regierungen von Schuldner-wie Gläubigerländern hat zu der krisenhaften Verstärkung der Zahlungs(bilanz) probleme entscheidend beigetragen. Am Beispiel Brasiliens läßt sich zeigen, daß die Verschuldungskrise direkt mit dem lateinamerikanischen Entwicklungs„modell“ nachholender Industrialisierung verknüpft ist. Versteht man die Verschuldungskrise auch als eine Entwicklungskrise, dann wird deutlich, daß ernsthafte Lösungsversuche mehr beinhalten müssen als nur die Erhaltung der Zahlungsfähigkeit der hochverschuldeten lateinamerikanischen Länder. Mit den bislang praktizierten Umschuldungen und dem Einsatz innovativer Finanzierungsinstrumente läßt sich meist nur ein Zeitgewinn erzielen, ohne daß die strukturellen Ungleichgewichte innerhalb der lateinamerikanischen Volkswirtschaften und die asymmetrischen Austauschverhältnisse zwischen Lateinamerika und den Industrieländern abgebaut werden. Bei anhaltendem Kapitaltransfer aus Lateinamerika in die Gläubigerländer besteht die Gefahr, daß sich der interne Verteilungskampf in den lateinamerikanischen Staaten weiter verstärkt und die politische Instabilität der Region erhöht wird.
I. Der Weg in die Schuldenkrise
Im Jahre 1840 schrieb der englische Historiker Lord Thomas Babington Macaulay: „Noch zu jeder Zeit hat das Wachsen der Staatsschuld die Nation in dasselbe Geschrei von Furcht und Verzweiflung ausbrechen lassen, und noch jedesmal haben kluge Leute dazu geweissagt, daß Bankrott und Ruin vor der Tür stünden. Die Staatsschuld wuchs weiter, und Bankrott und Ruin blieben wie immer aus.“
Was vor fast 150 Jahren über das (nahezu) unbegrenzte Verschuldungspotential des Staates angemerkt wurde, gilt heutzutage umso mehr, zumindest wenn man es auf die interne öffentliche Verschuldung bezieht. Denn in elastischen Geldsystemen, wie sie inzwischen die Regel sind, könnte von einem zahlungstechnischen „Staatsbankrott“ infolge steigender Kreditaufnahme allenfalls dann die Rede sein, wenn der Fiskus den Schuldendienst gegenüber den inländischen Gläubigern der Staats-schuld — d. h. gegenüber seinen Bürgern, welche die Staatspapiere gezeichnet haben — nicht mehr erfüllen will.
Ganz anders ist freilich die Situation bei externer Verschuldung. Die Option eines Staatsbankrotts steht einem souveränen Land normalerweise nicht zur Verfügung, da völkerrechtlich staatliche Identität und Verpflichtungen auch nach einem Regierungs-oder Regimewechsel fortbestehen. Unabhängig von der Schuldendienstwilligkeit eines Staates gegenüber ausländischen Gläubigern kann bei anhaltend ungünstiger Zahlungsbilanz-Konstellation aber durchaus Zahlungsunfähigkeit des Schuldners eintreten, wenn keine Devisen mehr verfügbar sind, um die Kredite aus dem Ausland termingerecht zu verzinsen und zu tilgen.
Daß eine begrenzte Schuldendienstfähigkeit gegenüber ausländischen Kreditgebern nicht nur als theoretische Möglichkeit existiert, hat z. B. nach dem Ersten Weltkriege das Beispiel Deutschlands gezeigt. Und in den dreißiger Jahren stellten sowohl die britische als auch die französische Regierung den Schuldendienst gegenüber den USA (vorübergehend) ein mit der Begründung, daß die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung dringender seien als die* vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern. Schon damals mußten Kompromisse ausgehandelt werden, um zu längerfristig tragfähigen Problemlösungen zu gelangen. Eine solche „politische Lösung“ wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Teil der deutschen Auslandsschulden gefunden, als die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1953 ihre Forderungen von 3 Mrd. auf 1 Mrd. US-Dollar reduzierten, mit einer auf 35 Jahre verlängerten Restlaufzeit und einem festen Zinssatz von 3 %.
Die Notwendigkeit, für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Länder Modalitäten zu finden, die von Schuldnern und Gläubigern gleichermaßen akzeptiert werden konnten, wiederholte sich in gewissen zeitlichen Abständen. Mit der Gründung des „Pariser Clubs“ 1957 schufen sich die westlichen Industrieländer ein informelles Gremium, das multilaterale Verhandlungen zwischen Schuldnerland und Gläubigerländern standardisieren und erleichtern sollte. Aktueller Anlaß für die Institutionalisierung der Umschuldung öffentlicher und öffentlich verbürgter Kredite war die Notwendigkeit, eine Gleichbehandlung aller Gläubigerländer Argentiniens zu erreichen, das mit der Bedienung seiner Schulden in Verzug geraten war.
In der Folgezeit, bis Ende der siebziger Jahre, mußte der „Pariser Club“ mit durchschnittlich zwei Umschuldungsverhandlungen pro Jahr nur mäßige Aktivitäten entfalten Die historischen Erfahrungen mit der Lösung von Schuldenkrisen schienen in den siebziger Jahren ohnehin ad acta gelegt werden zu können, als es zu einer beispiellosen Expansion internationaler Finanzbeziehungen und grenzüberschreitender Kapitalverflechtungen kam. Insbesondere in den Jahren nach dem ersten Ölpreisschock sorgte das Recycling der „Petro-Dollar“, die in den Ölexportländern nicht absorbiert werden konnten, für eine rapide Ausweitung des Kreditangebots und zu problemlosen Prolongationen fälliger Kredite. Erst seit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos gegenüber seinen ausländischen Gläubigern im Jahre 1982 und den nachfolgenden Insolvenzen zahlreicher anderer Entwicklungsländer wird die „Verschuldungskrise“ als Bedrohung für die Weltwirtschaft wahrgenommen.
Am Jahresende 1982 beliefen sich die langfristigen Auslandsschulden aller Entwicklungsländer auf 547
Mrd. US-Dollar; sie hatten sich damit innerhalb von zehn Jahren verfünffacht Auf die lateinamerikanischen Staaten entfielen 1982 mit 236, 3 Mrd. US-Dollar etwa 43 % der langfristigen Verpflichtungen der „Dritten Welt“ gegenüber dem Ausland
II. Die Struktur der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung
Abbildung 8
Tabelle 2: Die Auslandsverschuldung Lateinamerikas 1980 und 1986
Quelle: Inter-American Development Bank, Economic and social progress in Latin America 1987 report, Washington, D. C., 1987, sowie eigene Berechnungen.
Tabelle 2: Die Auslandsverschuldung Lateinamerikas 1980 und 1986
Quelle: Inter-American Development Bank, Economic and social progress in Latin America 1987 report, Washington, D. C., 1987, sowie eigene Berechnungen.
Entwicklungsstrategisch und wirtschaftspolitisch läßt sich die Kreditaufnahme im Ausland durchaus ambivalent beurteilen: Einerseits bieten Auslands-kredite eine Möglichkeit, um die von der Inlandserspamis und den verfügbaren Devisen vorgegebenen Grenzen inländischer Investitionen und wirtschaftlichen Wachstums hinauszuschieben und damit den Entwicklungsprozeß zu beschleunigen; in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ist die Kreditgewährung der Geberländer ein seit langem akzeptiertes und bewährtes Instrument der Projektfinanzierung. Andererseits müssen aber die in der Vergangenheit aufgenommenen Kredite von den Nehmerländern auch bedient werden, und das heißt: knappe inländische Ressourcen zu Lasten der Inlandsverfügbarkeit in das Ausland zu transferieren. Nur sofern die Auslandskredite dazu verwendet werden, rentable Investitionen zu finanzieren, deren Erträge zumindest ausreichen, die fälligen Kapitalkosten zu decken, führt die externe Verschuldung in späteren Perioden zu keiner Einschränkung des inländischen Lebensstandards. Diesem Dilemma stehen alle Länder, die auf ausländische Finanzierungen zurückgreifen, gleichermaßen gegenüber — und sie müssen daraus die notwendigen Konsequenzen für ihre Wirtschaftspolitik ziehen.
Nun sind aber keineswegs alle Entwicklungsländer, die sich zur Beschleunigung ihres Entwicklungsprozesses externer Finanzierungen bedient haben, in eine Verschuldungskrise geraten, oder konkreter: in eine Situation, in der die vertragsgemäße Bedienung der im Ausland aufgenommenen Kredite nicht mehr möglich ist. Vielmehr ist die „Verschuldungskrise der Entwicklungsländer“ im wesentlichen eine Zahlungsbilanzkrise lateinamerikanischer Staaten. Von der kurz-und langfristigen Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer (ohne Verschuldung gegenüber dem IWF) in Höhe von 1 097 Mrd. US-Dollar am Jahresende 1986 entfie-len 35 % auf Lateinamerika Berücksichtigt man die gesamte Verschuldung der Entwicklungsländer einschließlich der Inanspruchnahme von IWF-Krediten, dann entfielen zwischen 1980 und 1986 auf die lateinamerikanischen Staaten zwischen 42 % und 45 % (vgl. Tabelle 1).
Zu den 15 Hauptschuldnerländem in der „Dritten Welt“ gehören zehn lateinamerikanische Staaten allein auf Brasilien, das Ende 1986 mit ca. 110, 6 Mrd. US-Dollar am höchsten verschuldete Entwicklungsland, entfielen 10 % der Auslandsschulden aller Entwicklungsländer und 28 % der lateinamerikanischen Außenverschuldung (vgl. Tabelle 2).
Die Staaten Lateinamerikas sind allerdings nicht erst während der letzten Jahre zu internationalen Großschuldnern geworden; auf Grund ihrer traditionell defizitären Leistungsbilanzen waren die meisten Staaten der Region auch in der Vergangenheit schon häufig auf Kapitalimporte u. a. in Form von Ausländsanleihen angewiesen, und es gab immer wieder Perioden, in denen diese Kredite umgeschuldet werden mußten, da ihre termingerechte Bedienung mangels Devisen nicht möglich war. So verzeichnet z. B. die brasilianische Finanzstatistik für die Jahre 1926 und 1927 die Aufnahme neuer Auslandskredite durch die Zentralregierung mit der lapidaren Begründung: Finanzierung fälliger Kredite Schon 1933 kam ein amerikanischer Autor zu dem Befund, daß in der Finanzgeschichte Lateinamerikas seit Beginn des 19. Jahrhunderts externe Verschuldung und Zahlungsverzug mit fastperfekter Regelmäßigkeit aufeinander folgten, ohne daß daraus Lehren gezogen worden seien
Was die aktuelle Verschuldungskrise Lateinamerikas von früheren Zahlungs(bilanz) schwierigkeiten einzelner Länder grundsätzlich unterscheidet, ist nicht nur das Volumen der Kredite, sondern auch die Struktur der Verschuldung Bemerkenswert ist vor allem der hohe Anteil öffentlicher Schulden an der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung, der von 66 % im Jahre 1980 auf 81 % im Jahre 1985 anstieg (vgl. Abb. 1). Auch auf der Gläubigerseite zeigen sich erhebliche strukturelle Verschiebungen: Waren es früher überwiegend Regierungen und internationale Institutionen, die an die lateinamerikanischen Staaten Kredite vergaben (für bestimmte Entwicklungsprojekte) oder diese Kredite verbürgten (insbesondere bei Exportgeschäften), so sind seit Mitte der siebziger Jahre Geschäftsbanken massiv in das Kreditgeschäft eingestiegen. Innerhalb weniger Jahre wurden kommerzielle Kredite zu Marktzinsen die dominierende Finanzierungsquelle Lateinamerikas im Ausland. 1981 waren private Gläubiger mit 91, 4 % an den Netto-Auszahlungen an lateinamerikanischen Kreditnehmer beteiligt
Die starke Beteiligung der privaten Bankep macht eine Verhandlungslösung der Verschuldungskrise nach „historischem Muster“ erheblich schwieriger. Regierungen können säumige Schuldnerländer mit militärischer Gewalt zur Zahlung zwingen oder, realistischer, „politische" Lösungen mit diesen aushandeln (und das heißt: die Kosten des Kompromisses in der einen oder anderen Form den Steuerzahlern des Gläubigerlandes aufbürden). Geschäftsbanken haben hingegen nur die Möglichkeit, die sie auch bei „notleidenden“ Krediten privater Gläubiger anwenden, nämlich die uneinbringlichen Forderungen zu Lasten ihrer Gewinne abzuschreiben. Von dieser Möglichkeit der Abschreibung haben die internationalen Banken bislang allerdings nur sehr zögerlich Gebrauch gemacht, selbst bei vergleichsweise kleineren Kreditbeträgen. Zum einen bedeutet die Anwendung des Abschreibungs-Instruments, daß das Banken-Management damit seine Fehleinschätzung des Schuldner-Risikos dokumentiert, zum anderen sind durch die gemeinsame Kreditgewährung an ein Land durch mehrere Banken auch viele relativ kleine Banken in die in-ternationale Kreditvergabe miteinbezogen worden. Bei diesen kleineren Kreditinstituten, die sich nur gelegentlich im internationalen Geschäft engagieren, ist häufig der Risikoausgleich durch eine entsprechend diversifizierte Schuldnerstruktur nicht oder nur unzureichend gegeben, schon der Forderungsverzicht gegenüber nur einem Schuldner kann dann zum Teil dramatische Bilanz-Konsequenzen haben. Aber auch bei den führenden Großbanken entwickelte sich eine gefährliche Konzentration ihrer Forderungen auf wenige Schuldnerländer. So machten z. B. 1983 bei der US-amerikanischen Citicorp-Bank die Ausleihen an lateinamerikanische Kreditnehmer 195 % des Eigenkapitals aus. bei der Bank of America betrug diese Relation 164 % Bei einzelnen US-amerikanischen Großbanken überstiegen die Kredite an nur ein Land 60 bis 70 % ihrer Kapitalausstattung, bei den neun größten amerikanischen Banken machten 1982 allein die Forderungen gegen Brasilien und Mexiko 90 % der Eigenkapitalsumme aus Auf Grund dieser Konzentration des Schuldner-Risikos wird es zumindest teilweise erklärlich, daß gerade die Geschäftsbanken zunächst stark daran interessiert waren, die latente Verschuldungskrise nicht akut werden zu lassen und durch Prolongationen sowie kurzfristige Umschuldungsvereinbarungen das Problem zu „managen“ — obwohl spätestens Mitte 1982 mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos das Bedrohungspotential der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung für das internationale Finanzsystem deutlich erkennbar geworden war.
Zwischen 1980 und 1986 mußten die Geschäftsbanken für die Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder fällige Amortisations-und Zinszahlungen von Jahr zu Jahr umschulden lediglich Mexiko, die Dominikanische Republik, Ecuador und Uruguay konnten „längerfristige“ Umschuldungsabkommen (multi-year restructuring agreements — MYRAS) erzielen mit Laufzeiten bis zum Jahre 1989/90 Bei diesen Umschuldungsverhandlungen ging es freilich in der Regel nicht mehr um zusätzliche Kredite oder „fresh money"; sondern überwiegend nur noch um die Abwicklung bestehender Kreditverträge durch Verlängerung von Zahlungsfristen und/oder Zwischenfinanzierungen fälliger Zinsen. Hatten die Geschäftsbanken 1983 per saldo noch 14, 9 Mrd. US-Dollar an lateinamerikanische Länder als Neukredite oder im Rahmen von Umschuldungspaketen ausgezahlt, so mußten die Schuldnerländer Lateinamerikas allein im ersten Halbjahr 1986 den Banken netto 4, 1 Mrd. US-Dollar zurückzahlen; das Volumen „freiwilliger“ langfristiger Bankkredite an Lateinamerika (d. h. Kredite, die nicht im Rahmen von Umschuldungspaketen ausgezahlt wurden) sank von 25, 2 Mrd. US-Dollar im Jahre 1981 auf lediglich 0, 1 Mrd. US-Dollar im Jahre 1985
Wie sehr sich in den letzten Jahren die internationalen Finanzierungsströme zuungunsten Lateinamerikas verändert haben, läßt sich mit Hilfe des Konzepts des Nettoressourcentransfers verdeutlichen. Mit diesem Begriff bezeichnet man die Differenz zwischen externen Nettofinanzierungsbeiträgen und Zinszahlungen sowie Gewinnüberweisungen an das Ausland Nettokreditaufnahme (= Neukredite . /. Rückzahlungen) + Saldo der Direktinvestitionen im/aus dem Ausland = externer Nettofinanzierungsbeitrag . /. Saldo der Zinszahlungen an das/von dem Ausland . /. Saldo der Gewinnübertragungen an das/von dem Ausland = Nettoressourcentransfer Bis Anfang der achtziger Jahre konnte Lateinamerika einen positiven Nettoressourcentransfer verbuchen, der sich zwischen 1979 und 1981 jährlich auf mehr als 20 Mrd. US-Dollar belief. Seitdem mit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise der Kapitalzufluß in die lateinamerikanischen Länder drastisch zurückgegangen ist, findet ein Nettoressourcentransfer von den dortigen Schuldnerländern in die westlichen Industrieländer statt, der 1984 mit 35 Mrd. US-Dollar seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, aber auch in den beiden Folgejahren jeweils noch mehr als 28 Mrd. US-Dollar betrug
III. Außenabhängigkeit und Entwicklung
Abbildung 9
Die Entwicklung der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung 1978 -1985
Quelle: Inter-American Development Bank, Economic and Social Progress in Latin America, 1907 Report BHH Oeffentlich
Die Entwicklung der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung 1978 -1985
Quelle: Inter-American Development Bank, Economic and Social Progress in Latin America, 1907 Report BHH Oeffentlich
Die nachhaltige Verringerung der Kapitalzuflüsse bedeutet für die lateinamerikanischen Länder nicht nur ein Fortbestehen ihrer Finanzierungsprobleme, sondern macht auch tiefgehende Veränderungen des bisherigen Entwicklungsstils erforderlich. Diese entwicklungspolitische Dimension der Verschuldungskrise Lateinamerikas ist vermutlich mittel-bis längerfristig sehr viel bedeutsamer (und möglicherweise folgenschwerer) als die derzeit meist noch im Vordergrund stehende Frage nach Liquidität und Kreditwürdigkeit der lateinamerikanischen Länder, ob also die Auslandskredite termingerecht bedient werden können oder nicht.
Lateinamerika hat in den vergangenen zwanzig Jahren in steigendem Maße erhebliche Auslandsfinanzierungen in Anspruch genommen, um seine Volkswirtschaften zumindest partiell zu modernisieren und in den Weltmarkt zu integrieren. Rein zahlungstechnisch gesehen wurden Leistungsbilanzdefizite durch Kapitalimporte abgedeckt, so daß es möglich war, via Importüberschüsse über Jahre hinweg mehr Güter für Konsum und Investitionen zur Verfügung zu haben, als aus eigener Produktion hätten bereitgestellt werden können — wobei im Gegenzug den ausländischen Kapitalgebern allerdings Ansprüche auf das in späteren Perioden entstehende Volkseinkommen einzuräumen waren.
Wichtigste Quelle für die Außenfinanzierung Lateinamerikas stellten private und öffentliche Kredite dar, während ausländische Direktinvestitionen eine wesentlich geringere Rolle spielten, zumindest in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder. In den Jahren 1979 bis 1983 machte die Inanspruchnahme von Krediten 87 % der Nettoauslandsfinanzierung aus, inzwischen (1986) ist dieser Anteil wieder auf 72 % gesunken, wobei zu berücksichtigen ist, daß der externe Nettofinanzierungsbeitrag des Auslands, über den Lateinamerika verfügen konnte, von 51, 6 Mrd. US-Dollar im Jahre 1981 auf nur noch 10, 5 Mrd. US-Dollar im Jahre 1985 fiel Bemerkenswerterweise wurde die externe Kreditfinanzierung als charakteristisches Merkmal der lateinamerikanischen Entwicklung erst dann in Frage gestellt, als die „Schuldenfalle“ längst zugeklappt war.
Für den beschleunigten Aufbau des Schuldenbergs in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren wie auch für die nachfolgende krisenhafte Zuspitzung der Schuldendienstschwierigkeiten der meisten lateinamerikanischen Länder lassen sich vielfältige Gründe anführen. Zu den auslösenden Faktoren der akuten Krise zählen: — Sinkende „Terms of Trade“ der lateinamerikanischen Länder, d. h. stark verschlechterte reale Austauschverhältnisse im Außenhandel und entsprechende Deviseneinbußen bei den Exporten bzw. Devisenmehrbedarf bei den Importen. Setzt man die „Terms of Trade“, d. h. das Verhältnis des Durchschnittspreisindexes der Ausfuhren zu dem Durchschnittspreisindex der Einfuhren für 1980 = 100. dann ergibt sich im Durchschnitt der lateinamerikanischen Länder für 1986 nur noch ein Wert von 77; dies bedeutet, daß 1986 für den Export-Erlös dreiundzwanzig Prozent weniger Waren importiert und bezahlt werden konnten als sechs Jahre zuvor — Steigende Zinsen auf den internationalen Kapitalmärkten, mit der Folge ebenfalls steigender Zinsbelastungen bei Neukrediten bzw. bei Krediten mit variablen Zinssätzen, die einen hohen Anteil an der lateinamerikanischen Gesamtverschuldung haben
— Die wirtschaftliche Rezession in den westlichen Industrieländern mit der Folge einer deutlich abgeschwächten Nachfrage nach lateinamerikanischen Exportgütern.
— Der zwischen 1979 und 1982 stark ansteigende Anteil kurzfristiger Kredite mit hohen Zinssätzen, die sowohl von Gläubigem als auch von Schuldnern überwiegend unter spekulativen Erwartungen (in bezug auf Wechselkursveränderungen und/oder zukünftige Inflationsraten) kontraktiert worden waren, und deren Bedienung und Verlängerung zunehmend schwieriger wurde, als die Zentralbanken und Regierungen der westlichen Industrieländer zu einer Restriktionspolitik des knappen und teuren Geldes übergingen.
Das Zusammentreffen dieser Faktoren, die sich zum Teil wechselseitig bedingten und verstärkten, führte ab 1982 zu einer drastischen Verminderung der Schuldendienstfähigkeit Lateinamerikas, wenn auch in den einzelnen Ländern zeitlich verschoben und in unterschiedlichem Ausmaße Schwierigkeiten mit der termingerechten Bezahlung von Tilgungsraten und Zinsen haben die Verschuldungskrise ausgelöst und vertieft, aber nicht verursacht. Letztendlich sind die Zahlungs(bilanz) probleme der Schuldnerländer Symptome gravierender struktureller Ungleichgewichte innerhalb der lateinamerikanischen Volkswirtschaften und asymmetrischer Austauschverhältnisse zwischen Lateinamerika und den Industrieländern.
Fragt man nach den Ursachen dieser Ungleichgewichte und Asymmetrien, dann ist vor allem wirtschaftspolitisches Fehlverhalten sowohl der Regierungen der Entwicklungsländer als auch der Industrieländer zu nennen, wobei die „Schuldzuweisung“ je nach wirtschaftstheoretischem (oder auch: ideologischem) Standpunkt unterschiedlich ausfällt Eine Auseinandersetzung darüber, wie die Verantwortung für die wirtschaftspolitischen Fehler im einzelnen zu gewichten ist, erscheint wenig fruchtbar; viel wichtiger für das Verständnis und die Bewältigung der Verschuldungskrise erscheint der Befund, daß der in Lateinamerika überwiegend favorisierte Entwicklungsstil eines „Verschuldungswachstums“ (growth cum debt) mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in das jetzige Dilemma führen mußte.
Wie immer man diesen Entwicklungsstil auch benennen mag — „Imitationskapitalismus“ (Raül Prebisch), „Reflexmodernisierung“ (Darcy Ribeiro), „peripherer Kapitalismus“ oder „abhängige Industrialisierung“ —. in jedem Falle weisen solche Etikettierungen darauf hin. daß in Lateinamerika keine autochthone Entwicklung stattgefunden hat, sondern bestenfalls eine „nachholende Industrialisierung von außen nach innen“, deren entwicklungsstrategische Grundmuster vermeintlich den westeuropäisch-nordamerikanischen Vorbildern entsprachen — wobei freilich gegenüber der historischen Modellvorlage völlig veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen bestanden sowie signifikante Unterschiede in der Konfiguration der gesellschaftlichen Machtverteilung Beides wurde von vielen lateinamerikanischen Regierungen und deren Beratern aus den Industrieländern lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen, auch wenn es an Kritik nicht fehlte, die jedoch mit der Arroganz autoritärer Technokraten als unverantwortliche Rhetorik von Demagogen oder als überflüssige Poesie praxisferner Wissenschaftler denunziert wurde
IV. Das Beispiel Brasilien: Paradigma und Sonderfall
Abbildung 10
Tabelle 3: Brasiliens Kapitalimporte 1965— 1983
Quelle: P. N., Batista Jr., International financial flows to Brazil since the late 1960s (World Bank Discussion Papers, 7), Washington, D. C., 1987.
Tabelle 3: Brasiliens Kapitalimporte 1965— 1983
Quelle: P. N., Batista Jr., International financial flows to Brazil since the late 1960s (World Bank Discussion Papers, 7), Washington, D. C., 1987.
Am Beispiel Brasiliens läßt sich die Problematik des lateinamerikanischen Entwicklungs„modells“ nachholender Industrialisierung von außen nach innen besonders deutlich aufzeigen Zwar nimmt das Land — allein schon wegen seiner Größe — eine gewisse Sonderstellung in der Region ein, aber die wirtschaftspolitischen Konzepte und Strategien, die hier übernommen und zum Teil adaptiert wurden, um die Volkswirtschaft zu „modernisieren“, waren auch für die ökonomische Entwicklung in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten bestimmend — und die Konsequenzen sind fast überall ähnlich fatal. Insofern kann die Analyse der Schuldenkrise Brasiliens, wenn sie als Reflex einer „Modellkrise“ verstanden wird, bis zu einem gewissen Grade exemplarisch für Lateinamerika sein.
Brasilien hat es während der beiden zurückliegenden Dekaden geschafft, sich von einem postkolonialen Exporteur von Agrarprodukten und Rohstoffen zu einem industriellen „Schwellenland“ zu wandeln und auch international in wichtigen Segmenten des Weltmarkts als respektabler Anbieter einer weiten Palette von Waren und Dienstleistungen präsent zu sein Zweifelsohne hat die zunehmende Integration der brasilianischen Volkswirtschaft in den weltwirtschaftlichen Verbund die Orientierung der nationalen Produktion an Welt-marktpreisen und -faktorkosten sowie an internationalen Qualitätsstandards verstärkt und damit Modernisierungsprozesse begünstigt, die beachtliche Produktivitätsfortschritte in Teilen der Industrie und des „Agrobusiness“ ermöglichten. Zudem hat Brasilien — im Unterschied zu der Mehrzahl der anderen lateinamerikanischen Länder — in ausgewählten Bereichen (vor allem des industriell-militärischen Komplexes) nationale technologische Kompetenz erworben und ausgebaut, so daß es möglich ist, die technischen Innovationen der Industrieländer relativ rasch zu imitieren und anzuwenden. In dem Prozeß einer zumindest partiellen Modernisierung der brasilianischen Volkswirtschaft waren transnationale Unternehmen (TNU) in besonderem Maße beteiligt. Die modernisierungsstrategische Rolle der TNU. die ihnen teils vom Staat zugewiesen. teils von ihnen selbst gezielt übernommen wurde, bestand und besteht auch heute noch darin. technisch fortschrittliche Herstellungsverfahren sowie Kapital aus den Industrieländern zu transferieren und sich auf die Produktion von Gütern mit hohem Verarbeitungsgrad und relativ hoher Kapitalintensität zu spezialisieren. Auf diese Weise sollen sowohl Importe substituiert als auch neue Exportpotentiale erschlossen werden. Galten zunächst vor allem konsumnahe Branchen wie z. B. die Automobilindustrie und die Elektrohausgeräteherstellung als die bevorzugten Aktionsbereiche der TNU, so wurden sie in einer zweiten Internationalisierungsphase der brasilianischen Volkswirtschaft zunehmend auch in vorgelagerten Produktionsbereichen der Grundstoff-und Investitionsgüterindustrie tätig. Wegen ihrer weltweiten Verbindungen und des Zugangs zu den internationalen Kapitalmärkten galten TNU auch als bevorzugte Partner staatlicher Konzerne und nationaler Unternehmensgruppen. die im Zuge ihrer Expansion einen immer größeren Finanzbedarf hatten.
Die Strategie importsubstituierender Industrialisierung unter massiver Beteiligung von Auslandskapital hat in Brasilien eine gewisse Tradition, wurde sie doch schon vor der Etablierung des Militärregimes im Jahre 1964 von den populistischen Regierungen der Nachkriegszeit verfolgt. Ab etwa 1975 wurde diese Strategie als Antwort auf den ersten Ölpreisschock erheblich intensiviert und auf die Grundstoff-und Investitionsgüterbereiche ausgeweitet. Allerdings vollzogen sich jetzt bei der Inanspruchnahme von Auslandskapital deutliche strukturelle Veränderungen: Zum einen nahm der Anteil ausländischer Direktinvestitionen am gesamten Kapitalimport tendenziell ab (vgl. Tabelle 3), zum anderen stieg der Anteil kommerzieller Kredite an der Auslandsverschuldung von 65 % Anfang der sechziger Jahre auf 84, 1 % im Jahre 1982 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die zunehmende Bedeutung, die der brasilianische Staat als Kreditnehmer erhielt: Zwischen 1970 und 1986 stiegen die öffentlichen und öffentlich garantierten Auslandsschulden von 4, 7 Mrd. US-Dollar auf 85. 8 Mrd. US-Dollar um mehr als das Achtzehnfache und erreichten damit einen Anteil von 80 % an der externen Gesamtverschuldung In dieser absolut und relativ steigenden Staatsverschuldung gegenüber dem Ausland spiegelt sich die Schlüsselrolle wider, die der öffentliche Sektor innerhalb des brasilianischen Entwicklungs„modells“ einnahm. Insbesondere in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde unter der Führung staatlicher Unternehmen eine Reihe ambitiöser Großprojekte gleichzeitig und finanziell weitgehend unkoordiniert in Angriff genommen, ohne daß die betriebswirtschaftliche Rentabilität dieser Investitionen hinreichend belegt gewesen wäre. Vorhaben wie das brasilianisch-deutsche Nuklearprogramm, die hydroelektrischen Großprojekte Itaipu und Tucurui, das Biotreibstoffprogramm Pröalcool, die metallurgischen Projekte Aominas und Companhia Siderurgica Nacional sowie Carajäs erforderten Devisenbeträge in Milliardenhöhe für die Einfuhr von Anlagen, Ausrüstungen und know-how; sie waren aber teilweise weniger aus ökonomischen Gründen zu rechtfertigen, sondern entstanden aus der Ideologie des Militärregimes, das sich als Garant von „Fortschritt“ und „nationaler Sicherheit“ verstand
Immerhin konnte Mitte der siebziger Jahre bei niedrigen und zeitweise sogar negativen realen Zinssätzen eine Strategie zunehmender Auslands-verschuldung auch Ökonomen höchst attraktiv erscheinen. um die Investitionen zu steigern und das inländische Wirtschaftswachstum zu fördern Spätestens mit der weltwirtschaftlichen Rezession zu Beginn der achtziger Jahre erwies sich aber die Annahme als falsch, mit exportorientierten und/oder importsubstituierenden Großprojekten der öffentlichen Hand das wirtschaftliche Wachstum dauerhaft beschleunigen und die externe Finanzierung in einem neuen, anhaltenden Wirtschaftsboom problemfrei bedienen zu können.
Einige Projekte im Bereich der Grundstoffindustrie waren wohl angesichts der weltweiten Überkapazitäten (z. B. bei Stahl) unter Rentabilitätsgesichtspunkten von vornherein fragwürdig. Bei anderen war die Fälligkeitsstruktur der Auslandskredite, die zu ihrer Finanzierung aufgenommen wurden, nicht hinreichend auf die Ausreifungszeit der Investitionen abgestimmt, oder es konnten durch den Projektoutput zu keiner Zeit in ausreichendem Umfange Devisen erbracht oder eingespart werden, um den Schuldendienst zu finanzieren. Dieses soge-nannte „Transformationsproblem“, d. h. die Umwandlung finanzieller Ressourcen aus dem Ausland in produktive Investitionen, wurde noch verschärft durch unvorhergesehene drastische Weltmarktpreisveränderungen bei wichtigen Rohstoffen und Primärenergieträgem, in deren Folge sich z. B. die Rentabilität energieintensiver Investitionen (z. B. Aluminiumproduktion) vermindert, oder später die Rentabilität energiesparender oder -substituierender Projekte (z. B. Pröalcool) beeinträchtigt wurde.
Die Konsequenz solcher Preisverzerrungen war. daß in vielen Fällen die Erträge der Investitionen nicht ausreichten, um die fälligen Kosten der Auslandsfmanzierung zu erwirtschaften. Was private Investoren in solchen Fällen meist zu tun pflegen, nämlich ein unrentables Projekt zu liquidieren, kam für die staatlichen Unternehmen aus verschiedenen Gründen nicht in Frage -Im Hinblick auch auf die Notwendigkeit, Produktion und Beschäftigung zu stabilisieren, wurden die Verbindlichkeiten derStaatsunternehmen gegenüber den ausländischen Gläubigern durch Neukredite fortlaufend refinanziert, zumal die Kreditgeber hinreichende Sicherheiten durch staatliche Garantien zu haben glaubten. Auf diese Weise wuchs die Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand beständig. Allerdings verschlechterte sich die Fälligkeits-und Zinsstruktur der öffentlichen Verschuldung, da die ausländischen Kreditgeber, und insbesondere die Geschäftsbanken, seit Anfang der achtziger Jahre bei neuen mittel-und längerfristigen Finanzierungen zunehmend zurückhaltender wurden, so daß den brasilianischen Kreditnehmern kein anderer Ausweg blieb, als auf teurere, kurzfristige Anleihen zurückzugreifen. Damit wurden die Zahlungsprobleme aber nicht gelöst, sondern nur zeitlich verschoben, und zu dem Ungleichgewicht der Zahlungsbilanz entstand ein zusätzliches internes Un-gleichgewicht: das wachsende Haushaltsdefizit des öffentlichen Sektors mit seinen hyperinflationären Auswirkungen.
Bei dieser Konstellation war es nur eine Frage der Zeit, bis die fristgemäße Bedienung der wachsenden Schuldenlast bei schrumpfenden Reservebeständen der brasilianischen Zentralbank nicht mehr möglich war und die internationale Zahlungsunfähigkeit drohte Da in dieser Situation der Zufluß neuer externer Gelder nicht mehr erwartet werden konnte (zumal auch die wiederholten Verhandlungen mit den Gläubigern über die Refinanzierung der Auslandsschulden keine längerfristig tragfähige Lösung erbracht hatten), sah sich die brasilianische Regierung veranlaßt, im Februar 1987 die Einstellung der Zinszahlungen für mittel-und langfristige Kredite ausländischer Geschäftsbanken in Höhe von 68 Mrd. US-Dollar zu verfügen; darüber hinaus wurde festgelegt. Rückzahlungen auf kurzfristige Verbindlichkeiten nicht an die ausländischen Gläubiger zu leisten, sondern bei der Banco Central do Brasil zu hinterlegen.
Brasilien hat den Aufstieg zu einem industriellen „Schwellenland“ nicht nur mit einer gewaltigen Auslandsverschuldung erkauft, die schließlich unbezahlbar geworden ist, sondern auch mit einer bedrückenden internen sozialen Schuld. Denn ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung blieb von „Modernisierung“ und Teilhabe an dem wachsenden Sozialprodukt ausgeschlossen und ist nicht einmal in der Lage, die materiellen Grundbedürfnisse entsprechend international akzeptierter Minimal-standards zu befriedigen. Die Statistik dieser Massenarmut liest sich folgendermaßen: 22 Millionen Erwerbstätige müssen sich mit Monatsiöhnen von höchstens 60 US-Dollar begnügen, wovon fast sieben Millionen sogar weniger als 30 US-Dollar im Monat verdienen; die Analphabetenquote der erwachsenen Bevölkerung beträgt über 20 % und liegt in ländlichen Gebieten des Nordostens bei 40 %; von den rund 30 Millionen Analphabeten sind etwa zwölf Millionen schulpflichtige Kinder unter 15 Jahren; noch immer gibt es Regionen in Brasilien, in denen von 1000 Neugeborenen 150 vor Erreichen des ersten Lebensjahres sterben; ca. 15 Millionen Brasilianer haben keinen angemessenen Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser; 6, 5 Millionen Wohnungen, in denen 19 Millionen. Menschen leben, sind nicht an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen
Dieses düstere Bild der Armut zeigt sich überall in Lateinamerika. Eine Fortdauer der Krise, wie auch der Versuch, sie mit Mitteln der „klassischen“ Austerity-Politik zu überwinden, wird die Massenarmut eher noch verstärken. In den fünf Jahren seit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise ist das reale Pro-Kopf-Einkommen in fast allen lateinamerikanischen Ländern unter das Niveau von 1980 gesunken, zum Teil um mehr als 20 % Schätzungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) zufolge leben derzeit mindestens 130 Millionen absolut Arme in Lateinamerika; diese Zahl wird sich bei einer Fortdauer des gegenwärtigen Trends auf mehr als 170 Millionen im Jahre 2000 erhöhen
Angesichts der vielen Millionen Menschen in Lateinamerika. die unzureichend ernährt und (deshalb) chronisch krank sind, ohne entlohnte Arbeitsmöglichkeiten. ohne die Chancen einer (Aus-) Bildung, in menschenunwürdigen Behausungen ihr Leben fristend — angesichts dieser lateinamerikanischen Realität erscheint eine Fortführung des bislang praktizierten Entwicklungsstils kaum vertretbar. Darüber können auch die beeindruckenden Sozialproduktziffern einzelner Länder der Region nicht hinwegtäuschen, auch nicht die industriellen Spitzenleistungen in mancherlei Bereichen.
Erforderlich ist nicht eine erneute Übertragung wirtschaftspolitischer „Patentrezepte“ liberal-neoklassischer Provenienz aus den Industrieländern, die dort selbst zur Bewältigung der eigenen Anpas- sungsschwierigkeiten in der Praxis kaum angewandt werden, wie die Beispiele Landwirtschaft, Kohle und Stahl etc. belegen; erforderlich sind spezifische und originelle Lösungsansätze zum Abbau der internen und externen Entwicklungshemmnisse Lateinamerikas. Bei der gegebenen Ausgangslage muß man allerdings realistischerweise davon ausgehen, daß kein Weg zu einer autonomen wirtschaftlich-technologischen Entwicklung in dieser Region kurz sein kann Realistischerweise muß darüber hinaus zur Kenntnis genommen werden, daß auch nach dem Ende der Militärregime in mehreren lateinamerikanischen Staaten keine der neuen, „demokratisierten“ Regierungen bislang den politischen Gestaltungswillen aufgebracht hat, um wirtschaftliche und soziale Reformen in Richtung auf mehr Gleichheit in Gang zu setzen, durch die also die Vorrechte der traditionellen Oligarchien und neuen Technobürokratien substantiell abgebaut würden.
V. Auswege aus der Krise oder Krise ohne Ausweg?
Abbildung 11
Die größten Schuldner der Welt
Quelle: OECD
Die größten Schuldner der Welt
Quelle: OECD
Versteht man die Verschuldungskrise Lateinamerikas als eine Entwicklungskrise, dann wird deutlich, daß jeglicher ernsthafter Lösungsversuch mehr beinhalten muß, als nur die Erhaltung der Zahlungsfähigkeit der hochverschuldeten lateinamerikanischen Länder.
Rein zahlungstechnisch ist die Verschuldungskrise lösbar — das haben die bisherigen Verhandlungen zwischen Gläubigem und Schuldnern von Jahr zu Jahr deutlich gemacht Freilich wird mit Umschuldungen und den hierbei erprobten Finanzierungsinstrumenten meist nur ein Zeitgewinn erzielt in der Hoffnung, längerfristige Lösungskonzepte zu entwickeln und die Krisenursachen abzubauen. Das eher kurzfristig orientierte Lavieren von Fall zu Fall hat allerdings zu einer gewissen Ermüdung auf Seiten der Schuldnerländer wie auch der Gläubiger bei der Auseinandersetzung mit den Folgen der übermäßigen Auslandsverschuldung geführt. Die Deutsche Bundesbank befürchtet gar, daß „das bisherige Vorgehen, das auf dem Zusammenwirken von Schuldnerländern, internationalen Finanzierungsinstituten und offiziellen wie privaten Gläubigern bei der fallweisen Behandlung der Probleme basierte, auf ernste Schwierigkeiten stößt und von einem Klima der Konfrontation abgelöst wird“ In der Tat hat es denn auch an dramatischen Gesten und deutlichen Signalen der Ungeduld nicht gefehlt. Peru hat beispielsweise schon 1985 eine Begrenzung seines Schuldendienstes auf 10 % der Exporterlöse angekündigt, und Brasilien ist im Februar 1987 mit dem einseitigen Zinsmoratorium ohne Angabe einer zeitlichen Befristung sogar noch einen Schritt weitergegangen, was vom peruanischen Präsidenten Alan Garcias sogleich als „historische Tat“ begrüßt wurde Ende November 1987 riefen acht lateinamerikanische Staatspräsidenten auf ihrer gemeinsamen Konferenz in Acapulco zu einer solidarischen „Mindeststrategie“ auf, ohne allerdings ein konkretes Konzept zur Bewältigung der fortschwelenden Schuldenkrise vorzulegen.
Wohlfeile Rhetorik („Schulden müssen mit Geld bezahlt werden, nicht aber mit dem Leiden des Volkes“, so der brasilianische Staatspräsident Sarney) kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lateinamerika von solidarischem Handeln — oder gar von der Bildung eines Schuldnerkartells — weit entfernt ist. So hat z. B. Mexiko, das mit 99 Mrd. US-Dollar Auslandsverbindlichkeiten hinter Brasilien den zweiten Platz der höchstverschuldeten Staaten der Welt einnimmt, stets verkündet, daß es seine Verpflichtungen trotz begrenzter finanzieller Mittel erfüllen werde — und ist dafür 1986 mit einem der bislang seltenen mehrjährigen Umschuldungsabkommen (MYRA) über 44 Mrd. US-Dollar zu vergleichsweise günstigen Zins-und Tilgungsbedingungen „belohnt“ worden. Auch Kuba, dessen Staatschef Fidel Castro zu den vehementesten Verfechtern eines lateinamerikanischen Schuldnerkartells und Zahlungsboykotts gehört, hat zwischen 1983 und 1986 sechs Umschuldungsabkommen mit den privaten und öffentlichen Gläubigem abgeschlossen und seine daraus fälligen Verbindlichkeiten stets pünktlich bezahlt
Um aus der Schuldenkrise keine akute Gefahr für die internationalen Finanzmärkte und die Weltwirtschaft entstehen zu lassen, wurden in den letzten Jahren einige neue Finanzierungstechniken und -Strategien entwickelt; die wichtigsten Neuerungen sind:
— Die „Baker-Initiative“ der US-amerikanischen Regierung vom September 1985. Sie sieht vor, in dem Dreijahreszeitraum 1986 bis 1988 den 15 Ländern mit den größten Schuldendienstproblemen „fresh money“ in Höhe von 40 Mrd. US-Dollar Welt durch die kombinierte Kreditvergabe von -bank, regionalen Entwicklungsbanken und Ge-schäftsbanken zuzuführen. Die Neukredite sollen unter der „Aufsicht“ des IWF so verwendet werden, daß die betreffenden Länder durch ein vom Export getragenes Wirtschaftswachstum aus ihren Schuldendienstschwierigkeiten „herauswachsen“ können
— Schaffung eines Sekundärmarktes für Bankkredite („transferable Ioan instruments"), auf dem die Erstkreditgeber ihre Engagements an andere Banken oder institutioneile Anleger ganz oder teilweise weitergeben, wobei die Forderungen je nach Einschätzung des Risikos mit Abschlägen gehandelt werden.
— Umwandlung von Krediten in Eigen-oder Beteiligungskapital („debt-equity swaps“). Dies geschieht z. B. in der Form, daß Geschäftsbanken ihre Kreditforderungen mit einem entsprechenden Abschlag an interessierte Produktions-oder Handelsunternehmen verkaufen, welche diese Forderungen zum Nennwert bei der Zentralbank des Schuldnerlandes in nationale Währung umtauschen, um damit im Lande selbst zu investieren
Die „Baker-Initiative“ konnte bislang nur recht zögerlich und unter großen Schwierigkeiten in die Praxis umgesetzt werden, da die Geschäftsbanken nicht ohne weiteres bereit sind, den ihnen zugedachten Part des „bürden sharing“ zu übernehmen, sondern eine ausgeprägte Zurückhaltung bei der Vergabe von Neukrediten an „Problemländer“ zeigen. Die Weltbank räumte den „Baker-Ländern“ im Geschäftsjahr 1985/86 Darlehen in Höhe von ca. 6 Mrd. US-Dollar ein, wovon etwa ein Drittel als Sektor-und Strukturanpassungsdarlehen gewährt wurde Im Unterschied zu den traditionellen Projektkrediten der Weltbank ist die Inanspruchnahme von Sektor-und Strukturanpassungsdarlehen an bestimmte wirtschaftspolitische Auflagen geknüpft, deren Einhaltung im wesentlichen vom IWF im Rahmen einer „Erweiterten Überwachung“ („enhanced surveillance") kontrolliert wird. Diese Bedingung wird von verschiedenen lateinamerikanischen Staaten, besonders von Brasilien, als nicht akzeptierbar angesehen, von den Geschäftsbanken aber als Conditio sine qua non mehrjähriger Umschuldungspakete verlangt. Wesentlich erfolgreicher und dynamischer als die geplanten Maßnahmen der „Baker-Initiative“ haben sich die innovativen Finanzierungstechniken der Geschäftsbanken entwickelt, vor allem die neuen Verfahren zur Umwandlung ausstehender Kreditforderungen in handelbare Wertpapiere sowie die „debt-equity swaps“. Schätzungen zufolge werden seit 1984 auf den Sekundärmärkten jährlich Forderungen von mindestens 5 Mrd. US-Dollar gehandelt, mit Abschlägen von durchschnittlich 40 bis % 45). Chile und Mexiko haben bei der Schaffung der erforderlichen gesetzlichen und technischen Rahmenbedingungen für die Konversion von Auslandsschulden eine gewisse Pionier-Rolle in Lateinamerika übernommen aber auch in Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Ecuador und Venezuela werden verschiedene Varianten solcher „Schuldenswaps“ praktiziert, wenngleich vorerst in relativ begrenztem Umfange.
Im übrigen haben die international tätigen Geschäftsbanken bemerkenswert lange damit gezögert, die Risiken ihres Kreditengagements in Lateinamerika auch öffentlich realistisch einzuschätzen und auf Vorschläge der Schuldnerländer flexibler einzugehen. So wurde z. B.der brasilianische Vorschlag vom Herbst 1987, Kreditforderungen ausländischer Banken in langfristige Anleihen des Typs „Exit-Bonds“ mit variabler Verzinsung entsprechend der Wirtschaftsentwicklung umzuwandeln, von den Gläubigerbanken und der US-Regierung ebenso kategorisch zurückgewiesen wie der Vorschlag, bei Aufhebung des Moratoriums die rückständigen Zinsen in Cruzado, der Landeswährung, zu begleichen Ähnlich ablehnend hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten bisher auch zu allen Vorschlägen des US-Kongresses geäußert, die den „Baker-Plan“ für unzureichend halten und auf ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Schuldendienst und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit eines Landes abzielen — sei es in Form einer Zinsplafondierung in Abhängigkeit von den Exporterlösen (SchumerPlan), sei es in Form eines Schuldendienst-Außenhandels-Mechanismus (Kerry-Aydos-Plan) oder gar in Form der Abschreibung ausstehender Bank-forderungen zu Lasten der Steuerzahler in den Industrieländern (Bradley-Plan) Eine Lösung der Verschuldungsprobleme Lateinamerikas allein durch die Einführung von „Strukturfaszilitäten" und neuer Finanzierungstechniken ist wohl kaum zu erwarten, da hierdurch die Verbindlichkeiten der Schuldnerländer nicht wesentlich verändert, sondern allenfalls zeitlich gestreckt und/oder etwas besser an die außenwirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden. Gewiß stellen mehrjährige Umschuldungspakete einen Fortschritt gegenüber dem Status quo mit seinem Zwang zu beständig neuen Verhandlungen zwischen Gläubigem und Schuldnern dar, aber sie beinhalten in ihrer gegenwärtig praktizierten Ausgestaltung jedoch die Fortschreibung des außenorientierten Entwicklungsstils mit einer noch engeren Einbindung der lateinamerikanischen Schuldnerländer in das marktwirtschaftliche Weltwirtschaftssystem. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit ist zu vermuten, daß sich damit die Voraussetzungen für einen eigenständigen Entwicklungsprozeß Lateinamerikas eher verschlechtern.
Nach Einschätzung der Weltbank ist der Preis einer versäumten wirtschaftspolitischen Anpassung in ihrem Sinne an die rauhe Wirklichkeit der achtziger Jahre hoch, für einige Länder heiße er langsames Wachstum, für andere zunehmende Armut Dem ist hinzuzufügen: Der Preis dafür, daß keine „politische“ Lösung des Verschuldungsproblems gefunden wird, ist womöglich noch höher. Für einige Industrieländer mag er verminderte Exporte, langsameres Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit heißen; für die meisten Länder Lateinamerikas jedoch soziale Unruhen und politische Instabilität. Bei anhaltendem Nettoressourcentransfer aus Lateinamerika in die Gläubigerländer und bei mittelfristig unzureichendem Wirtschaftswachstum sinkt der interne Verteilungsspielraum weiter, so daß der Verteilungskampf immer offener (oder auch: gewalttätiger) ausgetragen wird. In einem Klima von Armut und Gewalt ist aber kaum zu erwarten, daß sich demokratische Gesellschaften entfalten.
Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol.. Dipl. -Volkswirt, geb. 1945; mehrjährige Lehr-und Forschungstätigkeit an brasilianischen Universitäten; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für international vergleichende Wirtschafts-und Sozialstatistik der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit G. Menges), Europäische Wirtschaftskunde, Frankfurt 1977; zahlreiche Artikel zur internationalen Wirtschafts-und Sozialstatistik sowie über entwicklungspolitische Probleme mit dem Schwerpunkt Lateinamerika.
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