Am Ende der Klassengesellschaft? Sozialstruktur und Sozialstrukturforschung in der DDR
Gert-Joachim Glaeßner
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Zusammenfassung
Die Soziologen und Gesellschaftswissenschaftler in der DDR haben über Jahre hinweg die Meinung vertreten, daß sich die soziale Entwicklung in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ durch eine immer weitere Annäherung der Klassen und Schichten auszeichne. Diese „Annäherung der Klassen und Schichten“ wurde als das entscheidende Moment im gesellschaftlichen Leben und als wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber den kapitalistischen Gesellschaften mit ihren angeblich scharfen Klassenspaltungen gesehen. Die neuere Sozialstrukturforschung der DDR analysiert nunmehr seit einiger Zeit vielfältige soziale Differenzierungsprozesse in den sozialistischen Gesellschaften. In den letzten Jahren wird darüber hinaus auch über neue soziale Ungleichheiten und ihre Folgen nachgedacht. In diesem Beitrag werden die Aussagen der DDR-Soziologie über die Klassen-und Schichtenstruktur der DDR-Gesellschaft und neuere Analyseansätze vorgestellt. wichtige demographische Entwicklungstrends charakterisiert, regionale Disparitäten und ihre Konsequenzen untersucht sowie die Folgen der Erhöhung des gesellschaftlichen Qualifikationsniveaus beschrieben. Schließlich wird die Schlüsselfrage der gegenwärtigen Diskussion über die soziale Struktur der DDR-Gesellschaft erörtert: Welche Konsequenzen haben die sozialen Differenzierungsprozesse für die Gesellschaft, die vor allem durch die wissenschaftlich-technischen Veränderungen im Arbeitsprozeß induziert werden; führen sie zu neuer sozialer Ungleichheit, die das Ziel sozialer Gleichheit auf lange Zeit unerreichbar erscheinen läßt?
Seit dem Beginn der tiefgreifenden sozialen und politischen Umwälzungen im späten 18. Jahrhundert und im Zuge der Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaften hat eine Hoffnung das soziale Denken geprägt: daß es möglich sei, eine Gesellschaft zu errichten, in der größere Konflikte und soziale Ungerechtigkeit unbekannt sind. Im sozialen Denken des 19. Jahrhunderts hat die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft eine erhebliche Bedeutung gehabt. Diese Vision bestimmt nicht nur das Werk von Karl Marx, sie taucht auch in den Arbeiten von Henri Saint-Simon oder Auguste Comte auf. Die Überwindung der tiefen sozialen Spaltung, die die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet, die Beseitigung aller Formen der Ausbeutung und Unterdrückung, eine herrschaftsfreie Gesellschaft, basierend auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln — das war die Vorstellung von einer künftigen Gesellschaft, wie sie dem radikalen Flügel der Revolutionäre in Frankreich, den „utopischen“ Sozialisten, frühen Anarchisten und Libertären, den Vertretern christlicher Sozialismusvorstellungen und vor allem Marx, Engels und ihren Anhängern vorschwebte. Dies war auch das Ziel, das die kommunistischen Parteien auf ihre Fahnen geschrieben hatten und mit dem sie über Jahrzehnte ihre Herrschaft rechtfertigten.
Es hat nicht an frühen Warnungen gefehlt, die den von der sozialistischen Bewegung angezielten sozialen Vereinheitlichungsprozeß als Gefahr für die Entfaltung individueller Freiheiten erkannten und auf die Möglichkeit einer despotischen Deformation dieser Gleichheitsideale hinwiesen. Max Weber fürchtete, daß es im Zuge der politischen und sozialen Umwälzung zu einer „Diktatur der Beamten“ kommen und der Sozialismus die despotische Funktion, die jeder Bürokratie innewohnt, noch verschärfen werde. Er fürchtete das Entstehen einer Gesamtbürokratie, die alle Fragen des gesellschaftlichen Lebens nach einem einheitlichen Bild regelt und die Gesellschaft in ein „Gehäuse der Hörigkeit“ sperrt, indem an die Stelle der Konflikt-regelung und Konsensbildung durch mehrere konkurrierende Teilbürokratien die Anweisungen einer allmächtigen Zentrale treten. Statt der privatwirtschaftlichen und staatlichen Verwaltung kapitalistischer Gesellschaften wären im Sozialismus „beide Beamtenschaften ein einziger Körper mit solidarischen Interessen und gar nicht mehr zu kontrollieren“ Eigentümer-und Dispositionsfunktion wären in einer Hand konzentriert und es entstehe eine Herrschaftsstruktur, die grundsätzlich keine konkurrierenden Ziele mehr kenne.
Die soziale Struktur einer solchen Gesellschaft wäre durch das dichotomische Verhältnis von bürokratischen Lenkungsapparaten und den von ihnen reglementierten und dirigierten sozialen Gruppen gekennzeichnet. Gegen eine solche „totale Bürokratisierung“, die durch die neuen Eigentums-und politischen Verhältnisse im Sozialismus sowjetischen Typs noch verschärft werden, haben sich Reformkräfte innerhalb der sozialistischen Länder immer wieder zur Wehr gesetzt und, wie die intellektuellen Wegbereiter des „Prager Frühlings“ 1968, die „eigene Subjektivität der Geleiteten zum fundamentalen stützenden Element“ eines reformierten Sozialismus erklärt
I. Auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft? Die Annäherung der Klassen und Schichten
Die Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft wurde von der marxistisch-leninistischen Soziologie über Jahrzehnte hinweg als das sich wandelnde, durch einen Annäherungs-und Vereinheitlichungsprozeß bestimmte Verhältnis von Arbeiterklasse, Genossenschaftsbauern, Intelligenz und den anderen „befreundeten Schichten“ beschrieben. Die Klassenstruktur wurde als Kem der Sozialstruktur bezeichnet. Diese Differenzierung beruht auf der ideologischen Behauptung, die sozialistische Gesellschaft unterscheide sich von der kapitalistischen vor allem dadurch, daß in ihr das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft und in die Hände des „werktätigen Volkes“ übertragen worden sei. Diese neuen Eigentumsverhältnisse würden die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausschließen und ermöglichten neue soziale Beziehungen gegenseitiger Hilfe und Kameradschaft. Die soziale Wirklichkeit in der sozialistischen Gesellschaft sei durch das Fehlen antagonistischer Widersprüche und einen Prozeß der Annäherung der Klassen und Schichten gekennzeichnet: „Die Annäherung der Klassen und Schichten wird unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei auf der Grundlage der Weltanschauung und der Ideale der Arbeiterklasse vollzogen. Sie ist ein langwährender, vielfältiger, revolutionärer Prozeß, der zur sozial homogenen Gesellschaft führt ... Der Begriff . Annäherung der Klassen und Schichten 4 unterstellt, daß befreundete Klassen und Schichten existieren. Grundlage dieser Freundschaft ist die revolutionäre Überwindung des Klassenantagonimus und der Ausbeutung durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln.“
Die beiden zitierten Thesen, daß in entwickelten sozialistischen Gesellschaften keine antagonistischen, unversöhnlichen Widersprüche entstehen könnten, weil der GrundWiderspruch zwischen Arbeit und Kapital beseitigt und die soziale Entwicklung im „entwickelten Sozialismus“ durch einen Prozeß der Annäherung der Klassen und Schichten sowie durch eine fortschreitende soziale Homogenisierung gekennzeichnet sei, werden in jüngerer Zeit in Frage gestellt An die Stelle harmonisierender Beschreibungen treten Hinweise darauf, daß die sozialistische Gesellschaft sich in einem dynamischen Entwicklungsprozeß befindet, der keineswegs zu einer Vereinheitlichung der Gesellschaft führt
Die Sozialstrukturforschung in der DDR analysiert in den letzten Jahren vielfältige soziale Differenzierungsprozesse und neu entstehende soziale Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Sie versucht, komplexe mehrschichtige Analysemodelle zu entwickeln, die Ergebnisse der marxistisch-leninistischen Klassentheorie mit Erkenntnissen aus der westlichen Sozialstrukturforschung verbinden. Die Stellung zum Eigentum ist nicht mehr das ausschließliche Kriterium der Sozialstrukturforschung, vielmehr wird betont, daß die konkrete Untersuchung vpn Lebenslagen („Lebenschancen“) für die Erklärung bestimmter sozialer Phänomene notwendig ist. Klassen-und Schichtenanalyse werden nebeneinander gestellt, ihnen werden unterschiedliche Stärken und Schwächen attestiert wobei die marxistisch-leninistische Soziologie daran festhält, daß nur durch die Analyse der Klassen das „Wesen“ der sozialen Struktur einer Gesellschaft erfaßt werden kann Im folgenden sollen einige Ursachen für diese veränderte Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit und bedeutsame Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur analysiert werden. Die soziale Struktur einer Gesellschaft wird durch die Eigentumsordnung, die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung und die institutioneile Form von Staat und Wirtschaft gekennzeichnet.
Die soziale Wirklichkeit in der DDR kann nur mit einer Kombination verschiedener methodischerAnsätze adäquat erfaßt werden. Die Vertreter der marxistisch-leninistischen Soziologie plädieren heute dafür, die soziale Struktur nicht nur nach klassentheoretischen Gesichtspunkten, sondern auch unter Zuhilfenahme von Stratifikationsmodellen und des Konzepts der „sozialistischen Lebensweise“ zu analysieren, um die differenzierte Binnenstruktur der Gesellschaft erfassen zu können. Sozialistische Lebensweise wird definiert als „in enger Verbindung mit den sozialistischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften sowie dem sozialistischen Bewußtsein sich entwickelnde, konkret-historisch bestimmte Art und Weise der Gestaltung des gemeinschaftlichen und individuellen Lebens in allen Tätigkeitsbereichen der Menschen, in der Produktion ebenso wie in den politischen Organisationen, in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in der Arbeit und Freizeit, im Wohngebiet, in der Familie und im Freundeskreis“ Hier ergeben sich Parallelen zum westlichen Konzept der „Lebenschancen“, verstanden als „Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden“ Die Verbindung verschiedener Ansätze ermöglicht eine problemorientierte Analyse sozialer Veränderungen in der Arbeits-und Lebenswelt, die gleichzeitig die Beharrungs-und Veränderungstendenzen im politisch-administrativen System in ihren Rückwirkungen auf die Gesellschaft in den Blick nimmt.
II. Zur Klassen-und Schichtstruktur der DDR-Gesellschaft
Abbildung 2
Tabelle 2: Wohnbevölkerung im Gebiet der DDR (in Tausend)
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1986. S. 1.
Tabelle 2: Wohnbevölkerung im Gebiet der DDR (in Tausend)
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1986. S. 1.
Die Sozialstrukturforschung in der DDR hat im letzten Jahrzehnt erhebliche Wandlungen vollzogen. Sie liefert (für den westlichen Leser nur in Ausnahmefällen zugängliche) detaillierte Analysen der Binnenstruktur der DDR-Gesellschaft, ohne darauf zu verzichten, die Entwicklung der Klassen und Schichten als entscheidende Determinante sozialer Entwicklung zu begreifen. Arbeiterklasse und Genossenschaftsbauern bilden nach Auffassung der DDR-Soziologen die beiden „Grundklassen der sozialistischen Gesellschaft“, hinzu kommen die Schicht der Intelligenz und soziale Gruppen wie private Handwerker oder Einzelhändler.
Die Arbeiterklasse wird als soziale Klasse definiert, „die durch ihre körperliche und geistige Arbeit den auf dem gesamtgesellschaftlichen sozialistischen Eigentum beruhenden materiellen Reproduktionsprozeß unmittelbar vollzieht“ Dazu werden die Werktätigen in der sozialistischen Industrie und im Bauwesen, in sonstigen produzierenden und materielle Dienste leistenden Wirtschaftsbereichen (Post. Verkehr usw.), in der volkseigenen Land-und Nahrungsgüterwirtschaft und schließlich Berufstätige gezählt, die in den nichtproduzierenden Wirtschaftsbereichen materielle Dienste leisten oder Güter erzeugen (staatliche Verwaltung usw.). Zur „Klasse der Genossenschaftsbauern“ werden alle Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) gerechnet.
Die Schicht der „Intelligenz“ wird als soziale Gruppe bezeichnet, die „vorwiegend geistige, eine hohe fachliche Qualifikation erfordernde Arbeit leistet“ Obwohl einheitliche Abgrenzungskriterien fehlen, wurden zur Intelligenz zumeist alle Fach-und Hochschulabsolventen gerechnet. Einige Soziologen sehen heute einen Fach-bzw. Hochschulabschluß eher als eine Art Basisqualifikation an, auf der dann intelligenzspezifische Qualifikationen erworben werden können Die Intelligenz wird nicht als Klasse gekennzeichnet, weil sie keine einheitliche Stellung zum Eigentum an den Produktionsmitteln — dem entscheidenden Kriterium der Klassenbildung — hat, sondern durch ihre Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt ist. Eine besondere Position innerhalb der Intelligenz hat seit jeher die Gruppe der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz eingenommen. Die politisch-soziale „Revolution von oben“ in den Anfangsjahren der SBZ/DDR hatte es erforderlich gemacht, möglichst schnell eine leistungsfähige industrielle Basis aufzubauen, für die qualifizierte Techniker, Ingenieure und Naturwissenschaftler benötigt wurden. Bereits 1960 bildeten die Absol-venten entsprechender Studiengänge die zweitstärkste akademische Berufsgruppe nach den Pädagogen. Seit Mitte der siebziger Jahre hat sie sich zur mit weitem Abstand größten Gruppe innerhalb der Intelligenz entwickelt
Die Struktur und das Beziehungsgefüge zwischen diesen Klassen und Schichten wird als das „übergreifende, die Qualität der Gesamtgesellschaft prägende“ Element begriffen. In ihrem Wesen seien sie Ausdruck der „sozialökonomischen Produktionsverhältnisse“ und der „führenden Rolle der Arbeiterklasse und des politischen Bündnisses“ Die Einschätzung der Bedeutung der Eigentums-frage für die soziale Struktur der sozialistischen Gesellschaft und der Binnenstruktur der Klassen und Schichten hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich verändert. Besonders klar hat der Soziologe Manfred Lötsch für eine Modifikation der Klassenanalyse gestritten Längst habe sich in der sozialistischen Gesellschaft ein Effekt herausgebildet, der als „Verlagerung der Differenzierungsdominante von der Achse Eigentum und Klassen zur Achse Arbeitsteilung, körperliche und geistige Arbeit, geistiges Niveau der Arbeit, Qualifikation und Bildung“ definiert werden könne
Die Analyse der sozialen Struktur der DDR verfehlt ihr Ziel, wenn sie nicht die historische Genese der DDR-Gesellschaft einbezieht. Die heutige Sozialstruktur ist ganz wesentlich das Ergebnis eines immer erneut in Gang gesetzten, politisch determinierten Prozesses sozialer Umwälzungen. Auf den Klassenbegriffzu verzichten hieße nach Auffassung der DDR-Soziologie, die Sozialstruktur aus ihrem gesellschaftspolitischen und historischen Kontext herauszulösen. Dieses Argument kann nicht ohne weiteres widerlegt werden, ist doch die bewußte Veränderung der sozialen Strukturen ein wesentliches Element der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR. Man denke an — die Enteignung der Großindustrie und des Groß-grundbesitzes unmittelbar nach 1945;
— die Schaffung einer „neuen Intelligenz“ durch die bevorzugte Förderung von „Arbeiter-und Bauernkindern" vor allem in den Vorstudienanstalten, den späteren Arbeiter-und Bauern-Fakultäten;
— die verschiedenen Kollektivierungsschübe in der Landwirtschaft und im Handwerk in den fünfziger Jahren und im Jahre 1959/60;
— den starken Ausbau des Bildungssystems in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, der zu einer Verdoppelung der Berufstätigen geführt hat, die der „Intelligenz“ zugerechnet werden;
— die damit verbundene Anhebung und vorübergehende Angleichung des allgemeinen Qualifikationsniveaus, eine Tendenz, aus der auf einen langfristigen Prozeß der Homogenisierung der sozialen Struktur geschlossen wurde;
— den „industriemäßigen“ Ausbau der Landwirtschaft und die Absicht, die Lebensbedingungen von Stadt und Land einander anzunähern;
— den Versuch, Anfang der siebziger Jahre die Reste privaten Kleinunternehmertums und Handwerks in den genossenschaftlichen Sektor einzugliedern;
— die Wiederzulassung und Förderung privater Handwerker, Dienstleistungsbetriebe. Gaststätten usw.seit Mitte der siebziger Jahre.
Diese politisch in Gang gesetzte soziale Umstrukturierung, wie z. Entwicklung die freilich — B. die des Bildungssektors zeigt — nicht immer zum gewünschten Ergebnis führte, spiegelt sich in den Angaben wider, die in der DDR zur Entwicklung der Klassen und Schichten gemacht werden. Folgt man der offiziellen DDR-Statistik, ergibt sich nur ein unscharfes Abbild der Sozialstruktur, weil 90 % aller Berufstätigen unter der Kategorie „Arbeiter und Angestellte“ zusammengefaßt werden.
Soziologische Untersuchungen in der DDR unterscheiden zwar ebenfalls nicht zwischen Arbeitern und Angestellten, doch wird die Schicht der Intelligenz häufig gesondert erfaßt. Ihr Anteil wird gegenwärtig auf 15— 18 % geschätzt Die DDR-Sozio-logen vertreten heute mehrheitlich die Auffassung, daß sich die gegenwärtige Klassen-und Schichten-struktur in absehbarer Zukunft nicht ändern wird, da sie den gegenwärtigen und zu erwartenden wirtschaftlichen Bedingungen gerecht werde. „Unter Beachtung der demographischen Entwicklung und einer durch Vollbeschäftigung begrenzten Möglichkeit extensiver Entwicklung sind Veränderungen nur auf Kosten einer anderen Klasse oder Schicht möglich.“
Diese Überlegungen beruhen freilich auf höchst problematischen Prämissen: Die von der SED betriebene Politik der „Intensivierung“ der Wirtschaft hat bisher keine massive Freisetzung von Arbeitskräften zur Folge gehabt (was eine Voraussetzung für ihren Erfolg wäre) und den für einen entwickelten Industriestaat überdurchschnittlich hohen Arbeiteranteil „künstlich“ konserviert. Soll der wissenschaftlich-technische und ökonomische Anschluß an die westliche Entwicklung erreicht werden, sind größere soziale Veränderungen unvermeidbar — man denke nur an die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors und die Zurückdrängung menschlicher Arbeit im Zuge der Automatisierung der materiellen Produktion. Diese Tendenzen werden durchaus gesehen, aber ausschließlich als Veränderungen der Binnenstruktur der Klassen und Schichten, nicht aber als Anzeichen für eine tiefgreifende Umwälzung der sozialen Strukturen einer entwickelten industriellen Gesellschaft begriffen, die sich auf dem Weg in das post-industrielle Zeitalter befindet.
Die Soziologen betonen übereinstimmend, daß mit der fortschreitenden Automatisierung der Anteil der Arbeiter, die unmittelbar im Fertigungsprozeß beschäftigt sind, „tendenziell“ weiter abnehmen wird, „während die Gruppen mit technisch vorbereitenden und unterstützenden Funktionen (Rationalisierungsmittelbau, Wartung und Instandhaltung) sowie in nichtindustriellen Wirtschaftsbereichen quantitativ zunehmen“ Die Bedeutung der Angestellten („unabhängig davon, ob sie als besondere soziale Schicht oder als Teil der Arbeiterklasse verstanden werden“), werde steigen; die Genossenschaftsbauern würden nicht nur ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung stabilisieren, sondern auch ihre sozialen Besonderheiten und Eigenschaften weiter ausprägen; innerhalb der Intelligenz müsse eine Verlagerung hin zu wissenschaftlichen Berufen erfolgen; der uneffektive Einsatz vieler Hochschulkader müsse überwunden werden und den Handwerkern und „Gewerbetreibenden“, vor allem im Dienstleistungsbereich, komme eine wachsende Bedeutung zu
III. Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik
Abbildung 3
Tabelle 3: Beschäftigte nach Wirtschaftsbereichen (in Prozent)
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1986, S. 111.
Tabelle 3: Beschäftigte nach Wirtschaftsbereichen (in Prozent)
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1986, S. 111.
Die Entwicklung der Sozialstruktur in der DDR wird durch eine Reihe von demographischen Faktoren bestimmt, die in unmittelbarer Beziehung zur geographischen, historisch-politischen, ökonomischen und sozialen Konstellation nach 1945 zu sehen sind. Einige dieser Faktoren sollen im folgenden erwähnt werden: Die DDR ist mit 108 330 km 2 weniger als halb so groß wie die Bundesrepublik mit 268 690 km 2. Sie weist eine Bevölkerungsdichte von 154 Einwohnern je km 2 auf gegenüber 247 Einwohnern je km 2 in der Bundesrepublik. Für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR ist bedeutsam, daß die Bevölkerungsstruktur einige bemerkenswerte Deformationen zeigt. Sie ist durch hohe Überalterung gekennzeichnet, als Folge der beiden Weltkriege besteht ein hoher Frauenüberschuß, die Fluchtbewegungen bis 1961 haben zu einer weiteren Verzerrung beigetragen, und schließlich waren seit Anfang der sechziger Jahre sinkende Geburtenraten zu beobachten.
Der Bevölkerungsrückgang ist Mitte der siebziger Jahre nahezu gestoppt worden, seit die SED eine aktive Bevölkerungspolitik mit dem Ziel betreibt, zumindest den gegenwärtigen Stand zu erhalten, wenn sich die offiziell propagierte Zwei-bis Dreikinderfamilie schon nicht als soziales Leitbild durchsetzen läßt. Gleichwohl sind unmittelbare Folgen bevölkerungspolitisch motivierter Sozialleistungen, wie die Verlängerung des Schwangerschafts-und Wochenurlaubs, Familienkredite für junge Ehepaare oder verlängerter Urlaub für Müt. ter mit mehreren Kindern, an der Geburtenent(wicklung abzulesen.
Bedeutsam für die weitere Bevölkerungsentwicklung dürfte neben sozialen Hilfestellungen fürjunge Familien vor allem die Entwicklung des Wohnungsbaus sein. Das umfassende Wohnungsbauprogramm der SED (beschlossen auf dem VIII. Parteitag 1971), dessen Motto lautet: „Lösung der Wohnungsfrage als soziale Frage bis 1990“, hat statistisch eine Durchschnittsfamilie mit einem Kind im Blick gehabt. Es hat nicht nur die eigenen bevölkerungspolitischen Zielgrößen unterschritten, sondern auch nicht mit den veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen gerechnet.
Die Soziologin Jutta Gysi unterstreicht die daraus erwachsenden Probleme, wenn sie anmerkt: Obwohl „die vollständige, auf Ehe beruhende Familie in absehbaren Zeiträumen auch das Modell des Zusammenlebens von Partnern, Eltern und Kindern (bleibt), müssen wir uns dennoch mehr darauf einrichten, daß die Familienformen künftig an Vielfalt gewinnen. Darauf weisen demographische Prozesse unmißverständlich hin.“ Die Eheschlie-ßungsquote nimmt ab, die Zahl der Ledigen und Geschiedenen steigt. 1985 entschieden sich 33, 8 % der Mütter dazu, ein Kind zu gebären, ohne eine Ehe einzugehen. 1981 gab es nach Auskunft der Volks-, Berufs-und Wohnraumzählung 358 399 alleinerziehende Mütter Dieser Anteil dürfte seither zugenommen haben. Die Scheidungsquote steigt weiter an. 45 % der Scheidungen erfolgten 1985 nach 5 Ehejahren, 17 % nach zwanzigjähriger Ehe. Bei bestimmten sozialen Gruppen besteht die Tendenz, die Eheschließung länger hinauszuschieben, und es wächst — trotz der erheblichen Nachteile vor allem bei der Wohnungsvergabe — die Zahl der Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder
Diese sozialen und kulturellen Trends sind bisher in der offiziellen Politik kaum berücksichtigt worden. Faktisch gefördert wurden sie durch die weitgehende berufliche Unabhängigkeit der Frauen, die sich u. a. darin zeigt, daß die Mehrzahl der Ehe-scheidungen von Frauen beantragt wird. Veränderte Familienstrukturen, vor allem der erhöhte Wohnraumbedarf, der durch Scheidungen, nicht zuletzt aber auch durch gehobene Ansprüche an Größe, Lage und Ausstattung der Wohnung gestellt wird, lassen es zweifelhaft erscheinen, ob die Wohnungsfrage als „soziale Frage“ in absehbarer Zeit gelöst werden kann. Die sozialen Kriterien der Wohnraumvergabe — zwei Drittel der Neubau-wohnungen sind für Arbeiterfamilien bestimmt, ein Viertel geht an junge Familien, Familien mit drei und mehr Kindern und Jungverheiratete werden bevorzugt berücksichtigt —, die Normung und Standardisierung der Neubauwohnungen und die sozialen Folgen der in jüngerer Zeit verstärkt in Angriff genommenen Innenstadtsanierung, ferner der steigende Anteil jüngerer Bewohner, geringere Durchmischung und sinkender Anteil von Familien mit Kindern werfen weitreichende bevölkerungs-und sozialpolitische Probleme für die Zukunft auf.
IV. Regionale Ungleichgewichte und Binnenwanderung
In regionaler Hinsicht weist die Bevölkerungsstruktur der DDR erhebliche Ungleichgewichte auf. Es gibt ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Traditionell war der Norden (Mecklenburg, Vorpommern und Brandenburg) landwirtschaftlich, der Süden, insbesondere die Gegenden Halle, Leipzig und Chemnitz sowie der Berliner Raum, industriell geprägt. Die Konzentration der Industrie und bestimmter Industriezweige in einigen Ballungszentren bestimmt die Siedlungsstruktur, die Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen (Boden, Wasser), die Struktur des Verkehrswesens, die Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen, Fach-und Hochschulen usw. Die Siedlungsstruktur der DDR läßt eine deutliche Bevölkerungskonzentration in den Bezirken Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Dresden und im Raum Berlin erkennen. Die Bevölkerungsdichte in den südlichen Bezirken ist mehr als dreimal so hoch wie in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. Sie reicht von 318 Einwohnern pro km 2 im Bezirk Karl-Marx-Stadt bis 57 Einwohner pro km im Bezirk Neubrandenburg. Die Industriepolitik der SED vermochte dieses Ungleichgewicht nur bedingt zu beseitigen. Trotz aller strukturpolitischen Bemühungen sind die nördlichen, dünn besiedelten Gebiete der DDR noch immer stark agrarisch geprägt, während in den dicht besiedelten südlichen Bezirken die Industrie vorherrscht. Berlin als Hauptstadt, Dienstleistungsund Industriezentrum nimmt hier eine Sonderstellung ein.
Ein Vergleich mit den Vorkriegszahlen zeigt, daß sich das Nord-Süd-Gefälle verringert hat. Ursachen hierfür sind u. a. die umfangreichen Bevölkerungsbewegungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Flüchtlinge und Umsiedler) und eine gezielte Struktur-und Industrialisierungspolitik, die vor allem zum Wachstum der Groß-und Mittelstädte beigetragen hat. Demgegenüber verloren einige der am dichtesten besiedelten Gegenden im erzgebirgischen Industriegebiet Einwohner. Vor allem die Wanderungsgewinne der Städte und Gebiete, in denen neue Industrien errichtet worden sind und attraktive Arbeitsplätze und Wohnungen angeboten werden, zeigen, daß insbesondere ökonomische und soziale Faktoren die Binnenwanderung in der DDR beeinflußt haben.
Seit etwa 1965 wachsen die Mittel-und Großstädte. Bei einigen Großstädten wie Dresden oder Leipzig schlägt sich die seit Anfang der achtziger Jahre negative Wanderungsbilanz dieser Bezirke nieder.
Die Sorge der SED gilt der Abwanderung aus kleinen Landgemeinden in die Ballungszentren. Dieser Trend soll, wenn irgend möglich, gestoppt werden. Diese Binnenwanderung wird als gesellschaftlich nicht nötig und ökonomisch uneffektiv angesehen. Vor allemjunge Fachkräfte verlassen die ländlichen Gebiete und suchen Beschäftigung in den Städten. So verringerte sich der Anteil der Landbevölkerung von 28, 0 % im Jahre 1960 auf 23, 4 % 1985. Aus der sozialwissenschaftlichen Literatur geht hervor, daß die Land-Stadt-Migration, d. h. die „Landflucht“, erhebliche Probleme aufwirft und daß es bisher keine wirksamen Mittel gibt, sie zu stoppen Ingrid und Manfred Lötsch stellen die alte These, daß der Sozialismus Stadt und Land angleichen werde und müsse grundsätzlich in Frage. Die Entwicklung könne „nicht mehr in das Prokrustesbett der . Annäherung des Landes an die Stadt 4 gepreßt werden; in wachsendem Maße implizieren die Eigentümlichkeiten ländlicher Siedlungsstrukturen und Lebensformen Positives und zu Bewahrendes. Die Betonung der Perspektive des Dorfes ist alles andere als eine . konservative Legitimation 4 sozusagen . niedriger entwickelter 4 Lebensbedingungen.“ Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß das Dorf als eine „von der Stadt unterschiedene spezifische räumlich-soziale Existenz-form der Landbevölkerung“ ein historisch bleibendes Merkmal der ländlichen Lebensweise darstellt
Besonderes Gewicht dürfte in Zukunft darauf gelegt werden, junge Menschen, vor allem Frauen, für einen landwirtschaftlichen Beruf zu gewinnen. Soziologische Untersuchungen haben ergeben, daß die Bindung der Jugendlichen an „ihr“ Dorf und „ihre“ LPG wesentlich geringer ausgeprägt ist, als bei Älteren. Deshalb wird gefordert, „daß die Werte, Vorzüge und Triebkräfte der genossenschaftlichen Arbeit von den Jugendlichen noch stärker verinnerlicht werden, um die Betriebsverbundenheit zu einem Teil ihrer Wertestruktur zu machen“
Ein weiterer Faktor für (ungeplante) Migrationsprozesse ist die hohe Konzentration von Institutio-nen, die Arbeitsplätze für Intelligenzberufe anbieten, in den Städten, vor allem in Berlin. Innerhalb der Intelligenz sind die Hochschulabsolventen migrationsfreudiger als die von Fachschulen. Die künstlerische und die wissenschaftlich-technische Intelligenz und „Leitungskader“ wechseln häufiger Wohnort und Arbeitsstelle als andere Intelligenz-gruppen. Die geringste Migrationsneigung innerhalb der Intelligenz haben die Fach-und Hochschulkader in landwirtschaftlichen Berufen
V. Beschäftigungs-und Qualifikationsstruktur
Eines der entscheidenden Elemente des sozial-strukturellen Wandels in der DDR seit den frühen sechziger Jahren ist die Veränderung der Beschäftigungs-und Qualifikationsstruktur. Die Anzahl der Erwerbspersonen (= Erwerbstätige) hat sich seit 1970 bis Mitte der achtziger Jahre relativ gleichmäßig von 8, 7 Mio. auf 9. 4 Mio. erhöht. Diese Zunahme ist das Ergebnis einer demographischen Komponente (die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist gestiegen) und veränderten Erwerbsverhaltens.
Die Erwerbsquote (das ist der Anteil der Erwerbstätigen an der Wohnbevölkerung) der DDR ist eine der höchsten der Welt. Sie betrug 1983 56, 3 % (Bundesrepublik Deutschland: 44. 7 %). Von der erwerbsfähigen Bevölkerung waren im gleichen Jahr in der DDR 85, 5 % berufstätig (Bundesrepublik Deutschland: 67, 4 %) Bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre war das Wachstum der Erwerbsquote unter anderem auf eine zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen zurückzuführen. Während 1960 erst 64 % der Frauen im erwerbsfähigen Alter (zwischen 15 und 60 Jahren) berufstätig waren, stieg ihr Anteil 1985 auf 83, 5 %. Entsprechend erhöhte sich der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Beschäftigten: von 43 % (1960) auf 49, 3 % (1985). Frauen arbeiten vor allem im Dienstleistungsbereich: Gesundheit, Sozialwesen, Erziehung, in der Verwaltung und im Handel.
Seit Beginn der sechziger Jahre hat sich die Arbeitskräftestruktur in der DDR erheblich verändert: Im primären Sektor (Landwirtschaft und Bergbau) verringerte sich die Zahl der Beschäftigten. Im sekundären Sektor (verarbeitendes Gewerbe und Bauwirtschaft) und im tertiären Sektor (Verteilung'und Dienstleistungen) wuchs die Beschäftigtenzahl; im tertiären Sektor allerdings bedeutend langsamer als in vergleichbaren westlichen Ländern.
In den sechziger und siebziger Jahren wurde die schulische, berufliche und wissenschaftliche Ausbildung in der DDR erheblich verbessert. Über 80 % aller Erwerbstätigen der sozialistischen Wirtschaft verfügen heute über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Zahl der in der Wirtschaft tätigen Hoch-und Fachschulabsolventen hat sich seit Anfang der sechziger Jahre mehr als vervierfacht. Die verfügbaren Zahlen sagen freilich wenig darüber aus, ob und in welchem Umfang Berufstätige entsprechend ihrer Qualifikation und/oder fachlichen Ausbildung beschäftigt werden. Untersuchungen über die Tätigkeitsprofile im Verhältnis zur berufli-chen Qualifikation zeigen, daß häufig eine Beschäftigung unter dem Qualifikationsniveau anzutreffen ist. Mit diesem Problem befaßt sich die Soziologie und Bildungsforschung bereits seit über einem Jahrzehnt
VI. Soziale Differenzierung oder soziale Ungleichheit?
Bereits seit Mitte der sechziger Jahre sehen sich die Sozialwissenschaftler in der DDR vor die Notwendigkeit gestellt, vielfältige soziale Differenzierungsprozesse zu deuten, die im Zuge der Herausbildung und Festigung der neuen Gesellschaftsordnung eine immer größere Bedeutung erlangten. Trotz der über Jahrzehnte betriebenen Politik sozialer Homogenisierung, trotz der Bestrebungen, nach der Umwälzung der alten sozialen Strukturen eine Vereinheitlichung und Annäherung der Klassen und Schichten in der sozialistischen Gesellschaft zu erreichen, hatten sich bereits in diesen Jahren die Zeichen gemehrt, daß die Sozialstruktur in der DDR sich anders entwickelt, als dies in der marxistischleninistischen Theorie angenommen wurde.
Ein entscheidendes Element des sozialen Ausdifferenzierungsprozesses waren die Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in Folge der „wissenschaftlich-technischen Revolution“. Seit Beginn der sechziger Jahre hat die DDR eine zweite Phase sozialstrukturellen Wandels durchlaufen, die in ihrer Bedeutung nicht hinter der Umwälzung der alten Klassenstrukturen nach 1945 zurücksteht. Mit dem Konzept der wissenschaftlich-technischen Revolution war die Vorstellung verbunden, daß Wissenschaft und Technik das eigentlich revolutionierende Element in der weiteren Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und das Feld seien, auf dem die Systemauseinandersetzung mit dem Kapitalismus entschieden werden könne. Die SED-Führung glaubte an eine „Evolution in sozialer und kultureller Hinsicht“. Sie versprach mittels der wissenschaftlich-technischen Revolution „materiellen und ideellen Wohlstand der sich homogenisierenden Bevölkerung“
Erwartet wurde eine Annäherung der Klassen und Schichten als Folge des rapiden Tempos der Automatisierung und Rationalisierung. In ihrer Folge würden sich die Arbeitsbedingungen revolutionär verändern, körperlich schwere und monotone, einfache Arbeit werde weitgehend verschwinden und durch geistig anspruchsvolle, eine hohe Qualifikation erfordernde Arbeit ersetzt. Die Vorstellung, der Mensch werde in einem überschaubaren Zeitraum immer weiter aus dem Produktionsprozeß heraustreten, da die Automatisierung ganzer Produktionszweige die Bedienung der Maschinen durch Menschen weitgehend überflüssig mache und menschliche Tätigkeit sich immer mehr auf die Überwachung der Produktion verlagere, führten zu Überlegungen, die weitreichende Konsequenzen für die Sozialstruktur hatten: Durch eine umfassende Erhöhung des Qualifikationsniveaus aller Beschäftigten sollte eine Angleichung und Harmonisierung der Sozialstruktur auf einem höheren Niveau erreicht und zugleich der wachsende Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften befriedigt werden.
Entgegen westlichen Thesen, die als Folge derwissenschaftlich-technischen Entwicklung eine Polarisierung der Qualifikationen (Erhöhung des Anteils hochqualifizierter Berufe bei gleichzeitigem Anstieg un-und angelernter Tätigkeiten auf Kosten der Facharbeiterqualifikation) erwarten, unterstellen die Bildungsforscher und Soziologen in der DDR eine Entwicklung, in der der Facharbeiterabschluß „die grundlegende berufliche Qualifikation der Arbeiterklasse“ bleiben und die Anzahl der Fach-und Hochschulabsolventen sich im wesentlichen auf dem heutigen Stand einpendelt. Dazu bemerkt Rudi Weidig: „Schließlich sei eine Zielstellung hervorgehoben, über die kein bürgerlicher Politiker oder Theoretiker ernstlich nachdenkt, die aber für die sozialistische Gesellschaft wesentlich ist: Es gilt die reicher werdenden Möglichkeiten der modernen Technik zu nutzen, um den Anteil der Arbeitsplätze mit niedrigen Qualifikationsanforderungen Zug um Zug zu verringern und die Arbeit von immer mehr Werktätigen mit schöpferischen Elementen, die hohe berufliche Qualifikationen heraus-und abfordern, anzureichern. Dabei sind die Qualifikationsanforderungen in Abhängigkeit vom Modernisierungsgrad der Technologie und Technik sowie vom Inhalt der Arbeit natürlich differenziert.“
Das Bildungssystem der DDR „produziert“ heute eine Qualifikationsstruktur, die sich auf etwa 10 % Un-und Angelernte, 65 % Facharbeiter und 25 % Fach-und Hochschulabsolventen eingependelt hat und — nach Auffassung der Bildungsforscher und Soziologen — auch in der Fachrichtungsstruktur den zukünftigen Anforderungen gerecht wird. Diese Proportionen der Qualifikations-und Bildungsstruktur der heute die Ausbildung verlassenden Jahrgänge wird nach Meinung von Ingrid Lötsch in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ weitgehend konstant bleiben, wobei bereits heute in der Ausbildung berücksichtigt werden soll, daß sich der Anteil der Facharbeiter in Produktionsberufen im Zuge der Automatisierung erheblich verringern und im tertiären Sektor erhöhen wird. Daß dieser Automatisierungsprozeß weitreichende Konsequenzen für die soziale Struktur der DDR-Gesellschaft haben wird, beschäftigt die Soziologie in immer stärkerem Maße. Ingrid Lötsch weist darauf hin, daß schon jetzt die Arbeiter in Produktionsberufen nicht mehr die Mehrheit der Klasse bilden und mit zunehmender Automatisierung ihr Anteil zugunsten des Dienstleistungsbereichs weiter sinken wird. Das Ergebnis werde eine weitere Umschichtung und Binnendifferenzierung der Arbeiterklasse sein
Neue Differenzierungstendenzen werden auch für die Intelligenz konstatiert, wobei der Intelligenz nur noch ein Teil der Fachschulabsolventen (vor allem die Ingenieure) zugerechnet, der andere Teil aber keineswegs einfach der Arbeiterklasse zugeschlagen wird Der Anteil dieser neudefinierten Intelligenz wird für die Zukunft — je nach Berechnungsmodus — auf einen Anteil zwischen 10 % und 15 % geschätzt
Sollen sie geeignet sein, soziale Wirklichkeit zu beschreiben, setzen alle diese Berechnungen voraus, daß sich die technische Entwicklung auch ökonomisch und sozial umsetzt, d. h., daß den zukünftigen Qualifikationen eine Tätigkeitsstruktur entspricht, die es erlaubt, die erworbenen Fertigkeiten auch im Arbeitsprozeß anzuwenden. Die gegenwärtige Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß die DDR zwar über eine materiell-technische Basis im Bereich modernster Technologien und eine entsprechende Qualifikationsstruktur verfügt, daß aber dieses Potential — bedingt durch bürokratische Hemmnisse und mangelnde Flexibilität des Planungs-und Lenkungsmechanismus — weder ökonomisch noch sozial wirksam wird Die immer wieder beschworene „Verbindung zwischen wissenschaftlich-technischem und sozialem, gesellschaftlichem Fortschritt“ muß erst noch hergestellt werden.
Gert-Joachim Glaeßner, Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Versuch einer Bilanz, Opladen 1984; Auszug aus der Gesellschaft? Gemeinschaften zwischen Utopie, Reform und Reaktion, Berlin 1986; (Hrsg.) Die DDR in der Ära Honecker. Politik — Kultur — Gesellschaft, Opladen 1988; Die andere deutsche Republik. Gesellschaft und Politik in der DDR, Opladen 1988.
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