I. Einleitung
Die Demokratie als politische Herrschaftsform scheint in der Dritten Welt wieder Zukunft zu haben. Im letzten Jahrzehnt kehrte eine Reihe von Ländern entweder zur Demokratie zurück oder richtete erstmalig ein politisches System ein, in welchem die Regierung aus freien Wahlen hervorgeht Diese als Redemokratisierung (respektive Demokratisierung) bezeichnete Entwicklung hat sich vor allem auf Lateinamerika konzentriert, so daß sich dort innerhalb eines Jahrzehnts die politische Landkarte grundlegend veränderte. Seit Mitte der sechziger Jahre hatten sich in Lateinamerika allenthalben autoritäre Systeme, zumeist Militärregime, ausgebreitet. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, Mitte der siebziger Jahre, wurden südlich des Rio Grande (der Grenze zu den USA) nur noch Costa Rica und Venezuela als liberale Demokratien gezählt. Seit Mitte der achtzigerJahre verblieben alleine noch Chile und Paraguay unter Militärherrschaft. In anderen Weltregionen ist die Überwindung autoritärer Herrschaftsformen weniger häufig geglückt. Große internationale Aufmerksamkeit fanden die Demokratisierungsprozesse in Asien, auf den Philippinen und in Südkorea. In Afrika waren hingegen nur zögerliche Veränderungen zu mehr Demokratie zu beobachten
Die vorliegende Studie verdankt viel den Forschungsprojekten zur „Politischen Reform in Lateinamerika“, die der Verfasser mit Kollegen an den Instituten CED (Santiago), CEDES (Buenos Aires) und Peitho (Montevideo) durchführt; die Untersuchungen werden von der Stiftung Volkswagenwerk gefördert.
Erinnert sei jedoch daran, daß Mitte der siebziger Jahre die noch autoritär regierten OECD-Staaten Griechenland, Portugal und Spanien zur Demokratie zurückfanden.
Mit den Regimewechseln in Richtung Demokratie ist für Wissenschaft und Politik eine Reihe von Fragen verbunden, die über den Einzelfall einer gelungenen Demokratisierung hinausweisen und die politische Entwicklung der Dritten Welt insgesamt in den Blick nehmen: 1. Gibt es einen allgemeinen Trend zur Demokratie als politischer Herrschaftsform? „Will more countries become democratic?“ 2. Welches sind die Ursachen, welches die Verlaufs-muster der Demokratisierungsprozesse? Lassen sich Aussagen machen über notwendige (aber nicht hinreichende) und entscheidende Bedingungen eines Regimewechsels? Sind neue Theorien politischer Entwicklung möglich? 3. Haben die neuen Demokratien Bestand? Ist ihre Konsolidierung möglich? Kann die zyklische Entwicklung der Herrschaftsformen in vielen Ländern der Dritten Welt, die sich im häufigen Wechsel zwischen autoritären und demokratischen Systemen manifestiert unterbrochen werden? Welches sind die Bedingungen für die Konsolidierung der Demokratie in der Dritten Welt?
II. Ein neues Forschungsfeld: Transitionsforschung
Die internationale Politikwissenschaft hat sehr rasch auf die neue Entwicklung reagiert. Die „breakdown of democracies“ — und Autoritarismus — Forscher haben ihre bisherigen Fragestellungen in den Hintergrund gerückt und begonnen, die „Transition“, die Bedingungen, Faktoren und Verlaufsmuster der Demokratisierung politischer Systeme zu studieren. Inzwischen kann man von einem neuen Forschungsfeld, der „Transitionsforschung“, sprechen, die bereits eine beachtliche wissenschaftliche Produktion vorweisen kann Sie nahm ihren Anfang Mitte der siebziger Jahre mit Untersuchungen zu Griechenland, Portugal und vor allem Spanien und schloß in der Folge immer mehr Länder ein, da die politische Geschichte dem Forschungsfeld durch weitere Demokratisierungsprozesse kontinuierlich neues empirisches Material zutrug. Auch wurden noch nicht demokratisierte, im Öffnungsprozeß befindliche oder vermutete Systeme in die Länderauswahl hineingenommen. So verfügten die Forscher zum einen über eine relativ große Zahl von Fällen und damit über eine günstige Ausgangsposition für vergleichende Untersuchungen.
Zum anderen schuf die laufende Veränderung des Untersuchungsmaterials und die Berücksichtigung konträrer Fälle eine Forschungssituation, in der die Forschungsergebnisse, Generalisierungen und Hypothesen fortlaufend überprüft werden konnten Denn hier vollzog sich ein Demokratisierungsprozeß, ohne daß die bislang als Voraussetzung dafür angenommenen Bedingungen bestanden, dort blieb er blockiert, obwohl die in anderen Fällen als wesentlich erkannten Bedingungen vorlagen. In den vergleichenden Untersuchungen stellte sich rasch die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes in Form der großen Zahl zu berücksichtigender Variablen heraus, die in jedem Einzelfall einer Demokratisierung (oder ihrer Blockierung) unterschiedliche Bedeutung erlangten. Dies trifft selbst für die area Lateinamerika zu, für die Ähnlichkeit in einigen Kontextvariablen (Kolonialgeschichte, Sprache, Kultur, politische Kultur, etc.) angenommen werden kann. Auf sie bezogen, wird manchmal gemeint, daß es „künstlich und verfälschend wirkte, nationalen Besonderheiten ein unverhältnismäßiges Gewicht beizumessen“
Die vergleichende historisch-empirische Forschung, die Ähnlichkeit (Konkordanz) und Unterschiedlichkeit (Differenz) untersucht und für Kausalanalysen fruchtbar macht, entdeckte zunächst die komplexe Vielfalt historischer Ausgangssituationen, unterschiedlicher Variablen und abweichender Verlaufsmuster der Demokratisierung. Sie erfuhr das Spannungsverhältnis zwischen jedweder Verallgemeinerung und dem individuellen Fall, der damit im Ergebnis wissenschaftlich aufgewertet wurde. So stellte denn Albert O. Hirschmann in bezug auf Lateinamerika unumwunden fest: „The most conspicious characteristic of the region’s recent experience is diversity and (that) the most interesting stories to be told are about specific, often contrasting experiences of individual countries.“
Forschungssituation und -erfahrung haben bisher zu wissenschaftlichen Ergebnissen geführt, die von denen der vorangegangenen Autoritarismusforschung grundsätzlich abweichen. Die Autoritarismusforschung in Lateinamerika vertrat einen hohen Theorieanspruch, den sie freilich wissenschaftlich nicht einlösen konnte. Ihr Theorietyp war glo-bal und deterministisch: Bestimmte Notwendigkeiten wirtschaftlicher Entwicklung ziehen bestimmte politische Systemstrukturen nach sich. In Kritik an diesem Theorietyp hatte Fernando H. Cardoso schon gemeint, daß es besser sei „to recognize frankly the ambiguous character of historical situations than to proclaim nostalgia for the logic and coherence of explanations which ignore the unexpected and contradictory aspects of real political life“ Die Transitionsforschung hebt sich wohltuend vom Theorieanspruch der Autoritarismusforschung ab. Ihr Theorietyp ist eher deskriptiv, von mittlerer Reichweite und probabilistisch — auf Wahrscheinlichkeitorientiert — in Übereinstimmung also mit dem, was die vergleichende Methode zu leisten vermag. Die bereits zahlreichen Untersuchungen, teilweise beschränkt auf zwei oder drei Länder — oft unter Auswahl von Fällen, die als konkordant betrachtet werden —, nehmen sich vielfach als Übungen der in der Methodik vergleichender Analyse aus. Immerhin haben sie bereits zu einigen systematischen Einsichten hinsichtlich der Typen, Erfolgsbedingungen, beteiligten Akteure, Konfliktmuster und Hemmnisse von Demokratisierungsprozessen geführt.
III. Demokratisierung, Transition, Konsolidierung: einige konzeptionelle Vorklärungen
Ehe wir auf die bisherigen Ergebnisse eingehen, sind einige begriffliche Präzisierungen notwendig. Es geht dabei um mehr als eine bloße Verständigung darüber, mit welchem Inhalt der Autor bestimmte Wörter verwenden bzw. begriffen wissen will. Der Zweck ist vielmehr, die analytische Nützlichkeit der verwandten Begriffe mit Hilfe einer transparenten Umgangsweise zu steigern. Demokratisierung, Übergang zur Demokratie (Transition), Konsolidierung: Diese Begriffe werden im wissenschaftlichen Diskurs nicht einheitlich verwandt. Gerade die vergleichende Analyse bedarf jedoch eines in sich konsistenten „framework of analysis" — nicht, um es der Wirklichkeit überzustülpen oder gar am Ende mit ihr gleichzusetzen (Reifikation), sondern um auf der empirischen Ebene die betrachteten Fälle hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser untersuchen zu können
Unter Demokratisierung wird gemeinhin der Prozeß verstanden, der von einer autoritären Herrschaftsform zu einer pluralistischen Demokratie führt. Im Unterschied dazu bezeichnet Liberalisierung nur eine Öffnung (apertura, decompresin), die nicht unbedingt jedesmal mit dem gleichen Ergebnis endet, sondern geeignet sein kann, die frühere autoritäre Situation wiederherzustellen
Demokratisierung wird folglich — im oben skizzierten Verständnis — final, vom angestrebten Ergebnis her definiert.
In Politik und Wissenschaft konkurriert freilich mit diesem engeren Verständnis von Demokratisierung ein Sprachgebrauch, der sich neben der politischen vor allem auf soziale Demokratie bezieht. Dieser Begriff hat das situativ Gegebene (die bestehende Gesellschaftsstruktur etwa) zum Ausgangspunkt und betont das Prozeßhafte einer permanenten Veränderung auf ein noch offenes Ende hin.
Politisch äußert sich der konzeptionelle Unterschied darin, daß konservative und gemäßigte Gruppen die Demokratisierung mit der Errichtung bzw. Wiedergewinnung einer pluralistischen Demokratie als abgeschlossen betrachten. Fortschrittliche und sozialistische Gruppen dagegen sehen in diesem Zwischenergebnis allenfalls verbesserte Möglichkeiten dafür, nun die andere Komponente einer nie in Frage gestellten Konzepteinheit, die wirtschaftliche und soziale Demokratisierung verstärkt einzuklagen. Es geht hier nicht darum, eine Option zwischen den im Widerstreit stehenden Konzepten zu treffen. Vielmehr kann gezeigt werden. daß beide Konzepte analytisch nützlich sind, wenn zwischen unterschiedlichen Phasen der Demokratieentwicklung unterschieden wird.
In der Tat differenziert die Literatur auch zwischen Transition und Konsolidierung. In der Regel wird Transition deckungsgleich mit politischer Demokratisierung verstanden, wobei als Endpunkte die ersten freien Wahlen bzw. die erste frei gewählte Regierung, die Verabschiedung einer neuen Verfassung oder auch der erste Machtwechsel aufgrund von freien Wahlen gelten können. Die Konsolidierung der Demokratie bezieht sich auf die Herstellung jener politischen, wirtschaftlichen, sozialen und soziokulturellen Bedingungen, die den Bestand der Demokratie höchstwahrscheinlich machen. Zeitlich folgt die Konsolidierung auf die Phase der Transition. Für beide Phasen ist jedoch die Demokratisierung von Bedeutung, wenn auch in einem je eigenen Verständnis. Kann für die Transition die engere Begrifflichkeit bezüglich eines politischen Formwandels gelten, so rückt für die Konsolidierung der Demokratie (als eigene problematische Phase) die Demokratisierung als ein Prozeß in den Vordergrund, der notwendigerweise — wie noch gezeigt werden wird — politische wie auch wirtschaftliche und soziale Dimensionen umfaßt. Damit stoßen wir auf Probleme des Demokratiebegriffs in der Dritten Welt.
IV. Zum Begriff „Demokratie“ in der Dritten Welt
Die entscheidende Bedeutung der Begrifflichkeit für die vergleichende Analyse zeigt sich gerade beim Terminus „Demokratie“. Der Begriff wird einerseits zur Bezeichnung politischer Systeme verwandt, die besonders in der Dritten Welt in einer Vielzahl von Momenten — vor allem im Hinblick ihrer umfassenden demokratischen Qualität — sehr unterschiedlich sind; andererseits verbindet sich mit ihm in der Vorstellungswelt der europäischen Beobachter ein sehr enges (eurozentrisches) Verständnis dessen Übertragung auf Dritte-Welt-Länder in vergleichenden Analysen sehr problematisch werden kann
Nur auf den ersten Blick scheinen terminologische Probleme bezüglich der Dritten Welt angesichts der Definitions-und TheorieVielfalt, die auch für die westlichen Industrieländer anzutreffen ist als nichts Besonderes. Indes, in den Entwicklungsländern stehen Idee und Wirklichkeit der Politik häufig im Widerspruch zu einem Politikverständnis, das sich an die politische Ideengeschichte seit Aristoteles und an die westliche Verfassungspraxis anlehnt. Regionalspezifische Formeln wie „afrikanische Demokratie“ oder „lateinamerikanische Demokratie“ versuchen solche Abweichungen zu markieren, sind aber keineswegs Ausdruck von Homogenität dortiger politischer Systeme, so daß sich auch innerhalb regionaler areas kein einheitliches Verständnis herstellt. Selbst bezogen auf ein Land sind Unterschiedlichkeit und Kontroversität analytischer Begrifflichkeiten die Regel so daß stets das Demokratieverständnis und die politische Wirklichkeit gesondert erhoben werden müssen. Verwiesen werden muß zum einen auch auf die (mißbräuchliche) Verwendung des Demokratiebegriffs in autoritären politischen Diskursen und für autoritäre Praktiken zum anderen auf den bloßen Formalismus demokratischer Institutionen, der folgenlos bleibt für eine umfassende demokratische Substanz und die Demokratisierung der Gesellschaft. Diese politische Wirklichkeit stößt auf heftige Kritik: Häufig wird dann auch das Modell der westlichen Demokratie verworfen, das vermeintlich dieser Wirklichkeit entspricht oder sie zur Folge hat Eine solcherart mißverstandene, um ihre analytische Kapazität gebrachte „Demokratische Theorie“ mündet dann nicht selten in einen Politikbegriff eschatologischen Typs motiviert durch die Sehnsucht nach Überwindung der eigenen Wirklichkeit und zugleich des „imperialistischen Modells“. Im Zentrum der demokratietheoretischen Debatte steht freilich die kritische Auseinandersetzung mit dem von Robert Dahl explizierten Demokratiebegriff, dem gerade für die Dritte Welt aufgrund der dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse definitorisch ein primär soziales Begriffsverständnis gegenübergestellt wird. Die begriffliche Alternative liegt folglich — entsprechend Macpherson — zwischen Demokratie als Regelsystem zur Herbei-führung (demokratischer) politischer Entscheidungen und Demokratie als umfassender gesellschaftlicher Erscheinung
Anders als in den westlichen Industrieländern, in denen die Aufnahme sozialstaatlicher Politiken, die sich aus dem sozialen Demokratiebegriff herleiten. in ein liberal-demokratisches Demokratiekonzept möglich war, blieben die beiden Demokratiekonzepte für die Dritte Welt theoretisch und politisch in permanenter Konfrontation. Unter Verwendung des liberal-demokratischen Arguments (und notfalls diktatorial) wurde die soziale Demokratie abgewehrt, und mit dem Argument für die soziale Demokratie wurden die liberal-demokratischen Systeme bekämpft. Gerade die im historisch-politischen Prozeß auftretenden schwierigen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Demokratiekonzepten haben zur Folge gehabt, daß der Demokratie als Herrschaftsform in der Dritten Welt bislang so wenig Erfolg beschieden gewesen ist
V. Demokratisierung (Transition): Ursachen, Akteure, Ablaufmuster
Wie bereits angedeutet, hat sich die vergleichende Transitionsforschung auf die „Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Übergängen zur Demokratie, die Individualisierung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den Erfolg solcher Regimewechsel, die Bestimmung der Rolle verschiedener Akteure in diesem Prozeß und die Dingfestmachung der häufigsten Konflikte und Schwierigkeiten von Demokratisierung“ konzentriert Das normative Interesse der Forscher an „mehr Demokratie(n)“ und der unmittelbare Praxisbezug des Vergleichs haben die Tendenz gefördert, nach Modellen der Transition Ausschau zu halten. In dieser Hinsicht hat vor allem der Demokratisierungsprozeß in Spanien Interesse auf sich gezogen. Doch Modellfunktion konnte er nicht ge-winnen, da die dortigen Bedingungen einmalig waren
Im Vergleich mit Spanien zeigt sich die Verschiedenheit der Bedingungen und Abläufe anderer Demokratisierungsprozesse. Jede Transition ist anders verlaufen. In idealtypischer Zuspitzung hat Carlos Floria für Argentinien Merkmale ausfindig gemacht, die in diametralem Gegensatz zur spanischen Erfahrung stehen, nämlich eine überstürzte (statt gesuchte), hereingebrochene (statt geplante), abrupte (statt anknüpfende) und durch eine Niederlage (statt durch Überzeugungsarbeit) zustandegekommene Transition Nimmt man alle vorliegenden Erfahrungen auf, so ist Spanien im Grunde der glückliche „abweichende Fall“ Dem gegenwärtigen Stand der Transitionsforschung zufolge sind längerfristige, historische und strukturelle Erklärungsfaktoren von eher kurzfristigen, situativen und prozeßdynamischen zu unterscheiden. Die erstgenannten lassen sich bündeln in der Frage nach der politischen Tradition eines Landes und nach dem Typ seines autoritären Systems, um dessen Demokratisierung/Überwindung es sich handelt. Zunächst spielt also eine Rolle, welche Erfahrung ein Land mit unterschiedlichen politischen Systemen gemacht hat. So ist vor allem bedeutsam, ob es in der vorautoritären Phase bereits demokratische Verhältnisse gekannt hat.
Aber auch der Tatbestand kontinuierlicher autoritärer Herrschaftspraktiken ist natürlich ein bedeutender Faktor im Transitionsprozeß und mehr noch bei der Konsolidierung von Demokratie. In der Regel sind zeitlich den autoritären Regimen problematische historische Erfahrungen vorgelagert: extreme Konfliktsituationen, politische Sackgassen, bürgerkriegsähnliche Zustände. Diese historische Erinnerung kann die Wiedergewinnung der Demokratie erschweren, wird aber auch einen mäßigenden Effekt auf die politischen Eliten ausüben und deren Kompromißbereitschaft fördern. Die Demokratisierung stellt sich dann als doppelte Negation dar: der vorautoritären Politik und des autoritären Regimes. Seltener ist die Erinnerung an das vorautoritäre politische System derart positiv besetzt, daß Redemokratisierung mit Restauration, der getreuen Wiederherstellung der alten Demokratie, gleichzusetzen ist (Uruguay). Die vorautoritäre Situation bildet auch den Entstehungszusammenhang des autoritären Regimes, d. h. sie bestimmt mehr oder weniger Legitimation, Zielsetzung und Struktur des Militärregimes.
Entgegen der von Teilen der Autoritarismusforschung genährten Vorstellung, es habe sich etwa in Lateinamerika in den sechziger und siebziger Jahren ein einheitlicher Typ des „bürokratisch-autoritären Regimes“ herausgebildet, ist für die Erklärung der Transition die Unterscheidung unterschiedlicher Typen von autoritären Systemen fundamental. Da sind zum einen die sogenannten traditionellen autoritären Regime. Innerhalb dieser Gruppe sollten erstens die Caudillo-Diktaturen unterschieden werden, in denen ein Diktator (der meist aus den Reihen des Militärs stammt), gestützt auf die Streitkräfte als Machtbasis, die unumschränkte Herrschaft ausübt. Diesen Typ treffen wir vor allem in den Andenländern an (Venezuela unter Prez Jimenez, Kolumbien unter Rojas Pinilla, Peru unter Odria, Ecuador unter Velasco Ibarra). Zweitens wären die patrimonialen Diktaturen zu nennen, die (meist ebenfalls Militärs) zivile und militärische Eliten in ihr Herrschaftssystem einbeziehen, Fassadendemokratien errichten und sich mit Hilfe von Repression, Korruption und Wahlbetrug an der Macht halten. Dieser Typ ist eher in Mittelamerika und in der Karibik anzutreffen (Nicaragua unter Somoza, Dominikanische Republik unter Trujillo, Paraguay unter Stroessner). Während die Caudillo-Diktaturen sich vielfach mit Demokratien als Herrschaftsform in den genannten Ländern ablösten, ist der Übergang des patrimonialen Typs zu anderen Herrschaftsformen in der Regel gewaltsamer und revolutionär, da demokratische Erfahrungen nie gemacht und Wege der Reform nicht zugelassen wurden. Die revolutionären Prozesse werden schließlich von außen (Druck oder Intervention der USA) unter Kontrolle zu halten versucht.
Zum anderen sind da die neuen autoritären Regime, deren gemeinsames Merkmal ist, daß das Militär mit der mehr oder weniger expliziten Vorstellung die Macht übernimmt, ein politisches Vorhaben (Projekt, Programm) zu verwirklichen. Ein für die Transition wichtiger Gesichtspunkt ist hier, ob und wie sich das Regime institutionalisiert, und vor allem, ob und welche Formen der Beteiligung von Bevölkerung, gesellschaftlichen Gruppen und politischen Kräften initiiert oder geduldet werden. Die diesbezüglich grundlegende Unterscheidung ist deshalb die nach sogenannten ausschließenden oder einschließenden Regimen: Ausschließende Regime sind extrem repressiv (zumindest in ihrer Anfangs-und Konsolidierungsphase), schränken die politische Beteiligung ein und senken das Niveau gesellschaftlicher Mobilisierung und Politisierung (Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay), wohingegen umschließende Regime einige Beteiligungsformen unterbinden (z. B. Wahlen) und neue zu entwickeln versuchen (vielzitiertes Beispiel: Peru). Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen neuer Militärregime bezieht sich auch auf die verfolgte Politik: Im ersten Fall handelt es sich um eine Politik wirtschaftlichen Wachstums (meist monetaristischen Zuschnitts), im zweiten Fall um eine der strukturellen Reformen (Peru, Ecuador, Panama). In Bolivien finden wir in den siebziger Jahren so-B wohl Militärregime des caudillistischen und des neuen Typs als auch Fraktionen des Militärs, die demokratisierende Tendenzen fördern.
Neben diesen grundlegenden Unterscheidungen spielen für den Übergang zur Demokratie eine ganze Reihe weiterer individueller Besonderheiten der jeweiligen Regime eine wichtige Rolle. So beispielsweise, ob Parteien, Wahlen oder Parlamente aufrechterhalten bleiben. Auch wenn diese politischen Institutionen in Brasilien vom Regime manipuliert wurden, konnte sich die politische Opposition in der Öffnungsphase seit Präsident Geisel im bestehenden Institutionensystem artikulieren und schließlich sogar die Mehrheit gewinnen. Mit dieser Regimebedingung hängt ursächlich die friedlich und gradualistisch verlaufende Transition zusammen Auch ist die Rotation in der Präsidentschaft (Brasilien, Argentinien, Uruguay) nicht unbedeutend. Sie ist keine bloß inhaltsleere Anlehnung an demokratische Formen: Diese Wechsel sind Ausdruck von Machtveränderungen innerhalb der Militärs und der regimetragenden Gruppen (was zivile Sektoren mit einschließt), möglicherweise auch Ausdruck veränderter Beziehungen der regimetragenden Gruppen zur Gesellschaft. Eine solche Struktur des Regimes erleichtert Anpassungen an die politischen Erfordernisse, d. h. gegebenenfalls Kompromisse und Strategien der Transition.
Der konträre Fall Chile unterstützt die Argumentation: In Chile blieb die Macht vollends auf eine Person, auf General Augusto Pinochet konzentriert, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen innerhalb des politischen Systems in seiner Funktion als Präsident der Republik, zum andern innerhalb des Militärs, da Pinochet seine Funktion als Oberkommandierender der chilenischen Streitkräfte nie aufgab Hierin zeigt sich zudem, daß die Einheit bzw.der Grad der Einheit der Streitkräfte in Ausübung ihrer „politischen Mission“ ein wichtiges Regimemerkmal ist und eine große Bedeutung hinsichtlich der Dauer der Militärherrschaft besitzt. Denn die Militärs sind selbst die entscheidenden Akteure der politischen Öffnung. Die Transition kann relativ bald nach Etablierung des Militärregi-mes einsetzen, noch ehe es eigentlich zu seiner Kon-solidierung gekommen ist (Ecuador, Uruguay). Doch ist der Zeitpunkt des Beginns der Demokratisierung nicht immer leicht zu bestimmen. Für Chile beispielsweise konkurrieren drei Einschätzungen der Entwicklung seit 1983: Liberalisierung, Transition und no-transiciön
Der Regimetyp ist auch — wie bereits angedeutet — für das Ausmaß von Gewaltsamkeit bedeutsam. Die Form des Übergangs, per Vereinbarung und friedlich oder revolutionär und gewaltsam, wird in der Literatur als wesentliche Variable für die Konsolidierung der Demokratie gewertet.
Was nun die eher kurzfristigen, situativen und prozeßdynamischen Faktoren angeht, so gilt es im Prinzip zwischen drei Gruppen von Erklärungsfaktoren zu unterscheiden: externen, regimeinternen und die Opposition betreffenden. In der Praxis liegen Kombinationen von Erklärungsfaktoren aus den verschiedenen Faktorenfeldem vor.
Als extern werden militärische Niederlagen begriffen (Griechenland, Portugal, Argentinien), deren innenpolitischen Folgen das Militärregime nicht gewachsen ist. Dies zeigt insbesondere das Beispiel Argentinien. Hier wollte das Regime durch einen militärisch erzwungenen außenpolitischen Erfolg die im Inneren verlorengegangene Macht wiedergewinnen. Extern ist auch der Druck auswärtiger Mächte auf autoritäre Regime: Kontinuierlich in Form des Entzugs internationaler Anerkennung oder in Form internationaler Bloßstellung (etwa UN-Verurteilungen, Menschenrechtskampagnen), mit größerer Durchschlagskraft im Falle der amerikanischen Interventionen in der Karibik und in Mittelamerika. In der Dominikanischen Republik etwa zwangen die USA 1978 Präsident Joaquin Balaguer zur Anerkennung des Wahlsiegs der Opposition Die Demokratisierung in El Salvador 1984 wäre ohne Druck der USA weder vonstatten gegangen noch nachher aufrechterhalten worden Übergreifende Interessen und Politikorientierungen der USA (Carters Menschenrechtspolitik, Reagans counterinsurgency-Politik) vermögen autoritäre Regime zu destabilisieren und demokratische Sy-steme aus der Taufe zu heben (Guatemala, Honduras). Im Endergebnis nicht anders verhielt es sich mit dem Sturz von Präsident Ferdinand Marcos auf den Philippinen.
Als regimeinterne Variablen gelten Strukturen, Verhaltensmuster oder Konflikte, welche die Institution des Militärs betreffen — hier vor allem Konflikte zwischen Falken (duros) und Tauben (blandos) und deren Entwicklung —, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Gruppen, die das Regime stützen, und die Beziehungen zwischen den militärischen und den zivilen Komponenten des Regimes (civil-military-relations). Die Destabilisierung autoritärer Regime des neuen Typs beginnt, wenn die Koalition der sie tragenden Gruppen Risse bekommt und zerbricht, ohne daß eine neue Koalition gebildet und das Regime wieder stabilisiert werden kann. Spannungen, Fraktionierungen, Konflikte innerhalb des Militärs stehen am Beginn der politischen Öffnung
Nicht immer setzen sich die auf Öffnung drängenden Militärs durch (Argentinien). Auch wird oft versucht, neue Ressourcen für die Regimestabilisierung einzubringen (Referenden, neue Politiken). In den meisten Fällen sind Wechsel in der Machtausübung als Folge von Koalitionszerwürfnissen (Ecuador, Peru) ebenso mit der Ankündigung von Redemokratisierung verknüpft wie im Falle des Versagens neumobilisierter Ressourcen (Argentinien, Uruguay). Gründe für die Koalitionsprobleme liegen im Wandel der Wirtschafts-und Sozialstruktur als Ergebnis der Politik des autoritären Regimes (Brasilien), in den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der eingeschlagenen Reformpolitik (Ecuador, Peru), im Zurückbleiben hinter den selbst gesteckten Entwicklungszielen und der nachlassenden Überzeugung, diese unter erschwerten binnen-und außenwirtschaftlichen Bedingungen erreichen zu können (allgemeine Situation lateinamerikanischer Länder seit Beginn der achtziger Jahre), sowie in einer wachsenden Regimeopposition.
Was das Militär betrifft, kommen zwei Momente hinzu: Zum einen kalkuliert es die Kosten der Regimestabilisierung (mehr Repression) und wägt sie gegen die Kosten der Demokratisierung ab. Zum anderen bedenkt es die Folgen des Machtverbleibs für die eigene Institution (interne Machtkämpfe). Die Sicherung der Einheit der Streitkräfte ist dann möglicherweise der kleinste gemeinsame Nenner, die Demokratisierung die kostengünstigste Lösung, zumal wenn sichergestellt bleibt, daß das Militär über die Bedingungen der Demokratisierung (Amnestie) mitbestimmen und in der Demokratie eine Vetomacht einnehmen kann. So waren die Militärs erfolgreich darin, in den ersten freien Wahlen den Ausschluß von Parteien (Peru) oder Politikern (Ecuador, Uruguay) durchzusetzen; in Brasilien widersetzten sie sich der Direktwahl des Präsidenten, auf die sich die Forderungen einer wieder politisierten Bevölkerung konzentriert hatten.
Die dritte Akteursgruppe bildet die interne Opposition zum Regime. In den Militärregimen neuen Typs hat die Opposition im Übergangsprozeß nur eine nachgeordnete Rolle gespielt. Nirgends konnte sie die Rückkehr zur Demokratie erzwingen. Diese Erwartung sollte nicht mehr an sie gestellt werden. Die Militärs blieben die wichtigsten Akteure, geschwächt nur in Griechenland und Argentinien. Wiewohl neuen Formen sozialer und politischer Partizipation, neuen sozialen Bewegungen und — in den Ländern reformerischer Militärregime — auch den Gewerkschaften als Oppositionsgruppen Beachtung geschenkt werden muß, war die Demokratisierung die Stunde der politischen Eliten und — innerhalb der Opposition — der politischen Parteien. Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß es überwiegend die traditionellen, von den Militärs unterdrückten Parteien waren, mit denen Pakte zur Demokratisierung abgeschlossen wurden. Teilweise konnte die Opposition sich einbringen in Form von Verfassungsberatungen (neue Verfassungen wurden in Ecuador und Peru verabschiedet, in Brasilien tagt die verfassung-gebende Versammlung zur Zeit noch), teilweise wurde auch die vorautoritäre Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Damit wurde zugleich vermieden, daß die Militärs noch in der Phase ihrer Machtausübung auf die Verfassung Einfluß nehmen konnten. Eine Vereinbarung unter den Oppositionsparteien über ein politisches Vorhaben jenseits der Transition — z. B. ein nationales Projekt, wie in Chile stark diskutiert — kam nirgends zustande.
In den autoritären Regimen älteren Typs, also denen Mittelamerikas sowie auf den Philippinen und in Südkorea, hat die Opposition eine viel größere Bedeutung im Demokratisierungsprozeß gehabt, zum einen in Form von Nationalen Befreiungsbewegungen und deren Versuch, das autoritäre Regime zu stürzen (was 1979 in Nicaragua gelang), zum anderen in Form von impliziten Bündnissen zwischen gemäßigter Opposition und US-Regie-rung zur Ablösung der autoritären Regime zwecks Verhinderung sozialrevolutionärer Entwicklungen (El Salvador, Guatemala) und schließlich in Form breiter Massenmobilisierung gegen das autoritäre Regime (Philippinen, Südkorea). Die Demokratisierung erfolgt auch in den letztgenannten Fällen erneut unter Einwirkung des externen Faktors: der USA im Falle der Philippinen (auch hier ist die Eindämmung der Guerrilla von Bedeutung) und der Weltöffentlichkeit im Falle Südkoreas, die das Land als Ausrichter der Olympischen Spiele 1988 zu beschwichtigen sucht.
Der Fall Südkorea demonstriert jedoch zugleich anschaulich, wie sehr es der Opposition an Gemeinsamkeit und politischen Konzepten fehlen kann, um das Regime bzw. die regimetragenden Kräfte abzulösen. In Chile ist dieser Tatbestand neben der einheitlichen Führung von Staat und Militär durch Generalspräsident Pinochet der zweite Erklärungsfaktor für die bisher nicht erfolgte Transition. Erst 1988, im Zusammenhang mit dem gegen Jahresende stattfindenden Plebiszit, haben sich Risse im Lager der regimetragenden Gruppen gezeigt und Vereinbarungen unter der Opposition ergeben.
VI. Konsolidierung der Demokratie
Die Konsolidierung der Demokratie in der Dritten Welt ist offensichtlich ein schwierigeres Unterfangen als die Transition. Dieser Tatbestand kommt bereits in der — für Länder mit demokratischer Erfahrung kennzeichnenden — zyklischen Entwicklung der Herrschaftsformen zum Ausdruck. „Die Demokratie ist etwas, was sich frustriert, was aber wiederkehrt, ist etwas, was kommt und geht“, stellte Mirko Lauer für Peru fest Auch in Argentinien, Bolivien und Ecuador wurde die Demokratie bereits verschiedene Male wiedergewonnen, stabilisiert werden konnte sie bislang jedoch nicht. Worin liegen die Gründe?
Im Gegensatz zur Transition sind Probleme der Konsolidierung der Demokratie bislang noch wenig untersucht — sieht man von allgemeinen Erörterungen der Übertragbarkeit des Modells der liberalen Demokratie auf die heutigen Entwicklungsländer ab, die so alt ist wie deren politische Unabhängigkeit. 1. Allgemeine Begründungen der Konsolidierungsprobleme Auf der Ebene allgemeiner Erklärungsmuster für die Instabilität und das Scheitern der Demokratie in Lateinamerika lassen sich gegenwärtig drei Richtungen unterscheiden: eine soziokulturelle (oder kulturalistische), eine sozioökonomische und eine politisch-institutionelle.
Die soziokulturelle Richtung betont, daß der Autoritarismus in Lateinamerika ein kulturelles Phänomen sei, hauptsächlich aus der iberisch-katholischen Tradition stamme und die gesamte Gesellschaft durchziehe „Eine autoritäre Gesellschaft (erträgt) keinen demokratischen Staat. Sie könnte ihn weder stützen noch legitimieren.“ Das kulturalistische Argument wird u. a. wegen Pauschalität und Determinismus seiner Annahmen kritisiert. Es erklärt nicht die unterschiedlichen Entwicklungen lateinamerikanischer Länder. Die unterstellte deterministische Beziehung zwischen politischer Kultur und politischem System wurde in etlichen empirischen Untersuchungen widerlegt „Democratic norms and values might be a pari of a society’s cultural traditions even though its political leaders are not able to achieve and sustain a stable democratic government.“ Gerade die Zusammenbrüche der Demokratie in Ländern mit einer ausgeprägten demokratischen Kultur wie Chile und Uruguay erfordern über das kulturelle Argument hinausgreifende Erklärungen. Das sozioökonomische Erklärungsmuster macht sich Argumente aus der Debatte um die formale und substantielle Demokratie zu eigen. Die Konsolidierung der Demokratie wird in Abhängigkeit vom sozio-ökonomischen Wandel gesehen. Die Grundprämisse ist, daß die westliche Demokratie zu ihrer Lebensfähigkeit bestimmter Sozialstrukturen bedarf. Sind Wirtschaft und Gesellschaft nicht ausreichend entwickelt, so fehlen die sozialen Trägerschichten der Demokratie. Die soziale Entwicklung ist zudem die Voraussetzung dafür, daß die Masse der Bevölkerung Loyalität zur Demokratie entwickeln kann. Indem die Demokratie den einzelnen sozial integriert, kann eine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden werden: „Ich liebe die Demokratie — aber liebt die Demokratie auch mich?“ Bolivar Lamounier hat die soziale Entwicklung neben der liberal-demokratischen Dimension (Pluralismus und politische Partizipation) als die Zweite für die Konsolidierung der Demokratie entscheidende Entwicklungslinie herausgestellt
Die politisch-institutionelle Richtung bildet die eigentliche Neuerung in den Erklärungsansätzen. Sie hebt auf die politischen Institutionen, die Struktur des politischen Wettbewerbs und politische Verhaltensvariablen ab. Insbesondere wird nach der Funktionsfähigkeit und Effizienz der politischen Systeme gefragt. Dabei ist vor allem der politische Systemtyp Präsidentialismus problematisiert worden, der in Lateinamerika vorherrscht. Fred W. Riggs, Juan J. Linz u. a. haben jüngst die Überlebensfähigkeit des Präsidentialismus in der Dritten Welt in Frage gestellt. Das (über Jahrzehnte vernachlässigte) Studium politischer Institutionen und Prozesse in der Dritten Welt hat bereits einige bemerkenswerte Ergebnisse gebracht.
So wurde beispielsweise herausgefunden, daß die Probleme des Regierens in den Demokratien La-teinamerikas nicht in elitärer Verkrustung liegen, wie die kulturalistische Strömung vermutet, sondern in der allzu kurzen Verweildauer von Regierungschefs (in der Regel ist die Wiederwahl des Präsidenten ausgeschlossen) und Ministern im Amt bestehen. In Chile lösten sich in den vier letzten Wahlen vor dem Zusammenbruch der Demokratie Präsidenten unterschiedlicher politischer Orientierung ab: 1952— 58: populistisch; 1958— 64: unabhängig/rechts; 1964— 70: christdemokratisch; 1970— 73: sozialistisch. In Venezuela wechselt die Regierung zwischen sozialdemokratischer AD und christdemokratischer COPEL Nicht Mangel an politischem Alternieren, sondern dessen Permanenz wird hier zum Problem -
Waldino C. Suarez hat für alle lateinamerikanischen politischen Systeme zwischen 1940 und 1960 eine Amtsdauer der Minister von weniger als 20 Monaten festgestellt. Über 80 Prozent der Minister übten ein Ministeramt nur einmal aus, von den verbleibenden 20 Prozent kehrten zudem fast drei Viertel nur einmal wieder Bei steter Rotation ist eine kontinuierliche Regierungsarbeit — bedenkt man insbesondere die entwicklungsplanerischen Aufgaben des Staates in der Dritten Welt — kaum möglich Was den Präsidentialismus anbelangt, so wurde vor allem auf die Unterschiede in der Funktionsweise gegenüber den USA abgehoben und festgestellt, daß der Präsidentialismus in Lateinamerika nicht als System von „checks and balances", sondern als Blockade des Interessenausgleiches funktioniere — Ergebnis einer politischen Kultur, der es aufgrund des vom Institutionensystem angeregten Politikverständnisses (des alles oder nichts bei Präsidentschaftswahlen) an Kompromißfähigkeit und Konsensbildungsverfahren fehle. Als Alternative wurde der Parlamentarismus ins Spiel gebracht 2. Gegenwärtige Konsolidierungsprobleme Auf der zweiten, mehr situativen Ebene der gegenwärtigen Belastungen der neuen Demokratien und ihrer Konsolidierung begegnen wir drei Problembereichen, die sich thematisch mit den allgemeinen Erklärungsmustern decken.
Wenden wir uns zunächst den sozioökonomischen Bedingungen zu. Als erstes ist hervorzuheben, daß in den lateinamerikanischen Ländern die (Re-) Demokratisierung im Zusammenhang einer schweren Wirtschaftskrise erfolgte. Angesichts eines extremen sozialen Nachholbedarfs großer Teile der Bevölkerung mußten sich die Demokratien zunächst einmal um Aufrechterhaltung (Brasilien) öder Wiedergewinnung (Argentinien) der Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums bemühen. Ursache ihrer Bemühungen waren bisher nicht gekannte interne Ungleichgewichte (Haushaltsdefizite, Hyperinflation) und externe Engpässe (Verschuldung), die von den autoritären Regimen geerbt worden waren. Die jungen Demokratien stehen vor wirtschaftlichen und sozialen Problemen größten Ausmaßes. Das Scheitern der Wirtschaftspläne in Argentinien und Brasilien, die Stabilisierung und Wachstum miteinander verknüpfen wollten hat die Skepsis gegenüber einer gedeihlichen Entwicklung der Demokratien verstärkt. Zudem wurden unter dem Autoritarismus in den meisten Fällen die bestehenden extremen gesellschaftlichen Ungleichheiten (und die darauf basierenden Machtverhältnisse) gefestigt. Strukturelle Reformen, die die Besitzverhältnisse tangieren, sind in vielen Ländern heute weiter von der politischen Tagesordnung entfernt als in der Zeit vor den Militärregimen. Das Militär tritt als Schutzgarant der bestehenden, Ungleichheiten verstetigenden Gesellschaftsstruktur auf (Brasilien, Uruguay, Chile im Falle einer Demokratisierung). In Mittelamerika (El Salvador, Guatemala) lähmt* das Bündnis mit konservativen Militärs Willen und Kraft reformerischer Parteien zu sozialer Transformation. Nur dort, wo der Militärreformismus soziale Veränderungen hervorrief (Peru, Ecuador, Panama), scheinen gewisse begrenzte Strukturreformen möglich, doch sind die Demokratien zu schwach, so daß soziale Entwicklung eher von einem erneuerten Militärreformismus in der Regierung erwartet wird.
Dieser nicht gerade verheißungsvolle Befund im sozioökonomischen Bereich kontrastiert scharf zu weniger auffälligen Tatbeständen im Felde politischer Überzeugungen und Verhaltensweisen, die zumindest für einige Länder Anlaß zu vorsichtigem Optimismus geben. Die postautoritären Gesellschaften sind um einige Erfahrungen reicher, aus denen möglicherweise gelernt werden kann. Da ist zunächst die überwiegend gemachte Erfahrung, daß die Militärregime die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der unterentwickelten Länder ebensowenig wie ihre Vorgänger haben lösen können. Ein abweichender, sicherlich diskussionswürdiger Befund liegt allenfalls für die Schwellenländer Brasilien und Südkorea vor. In ihrer Mehrheit stehen die Demokratien folglich nicht mehr unter dem Druck einer — ehemals entwicklungstheoretisch begründeten — angeblich höheren Entwicklungsleistung von autoritären Regimen.
Zudem sind die humanen Kosten autoritärer Regime, die andauernden Menschenrechtsverletzungen, ins öffentliche Bewußtsein der betroffenen Gesellschaften geraten. Von diesen Kosten des Autoritarismus wurden alle sozialen Schichten betroffen, denn Repression, Folter und willkürliche Verhaftungen richteten sich gegen den politisch Anders-denkenden, wo immer er angetroffen wurde. In einigen Ländern hat sich so etwas wie ein kollektiver Bewußtseinswandel sowohl in der politischen Elite als auch in der Masse der Bevölkerung vollzogen. Die geradezu traumatische historische Erfahrung mit dem Autoritarismus ist besonders auffallend im argentinischen Fall. Hier gründet sich die Hoffnung auf einen Wandel auf einer veränderten politischen Kultur, charakterisiert durch eine Mäßigung im politischen Diskurs, den Abbau starrer ideologischer Extrempositionen, die Stärkung des Kompromißdenkens sowie eine Verringerung der Chancen von Anti-System-Parteien, Zulauf zu erhalten. Sieht man von Zentralamerika (Guatemala, El Salvador), den Philippinen und Peru ab, hat die Bedrohung der politischen Systeme durch revolutionäre Befreiungsbewegungen nachgelassen. Eine Reihe von Demokratien sind — zumindest gegenwärtig bzw. für die nächsten Jahre — nicht mehr von zwei Seiten bedroht, deren jeweiliger Extremismus die demokratiefeindlichen Kräfte aufschaukelte. In Chile versucht Pinochet, diesen Mechanismus in Kraft zu halten, um die Re-Demokratisierung hinauszuzögem. Die verringerte 'Systemkonkurrenz für die Demokratie, sichtbar auch im Ansehensverlust des kubanischen Modells in Lateinamerika, scheint den Demokratien einen gewissen Spielraum für Reformen einzuräumen.
Trotz der im Grunde noch drängender gewordenen, nach revolutionären Lösungen schreienden wirtschaftlichen und sozialen Probleme scheint der in den sechziger und siebziger Jahren viel gescholtene Reformismus eine späte Rechtfertigung zu erfahren und heute die einzige Marschroute für die überwiegende Zahl der betrachteten Länder zu sein. Diese Neubewertung steht in engem Zusammenhang mit der, ebenfalls aus der Erfahrung mit den autoritären Regimen herrührenden, neuen Wertschätzung der liberalen Demokratie, die vor allem bei Teilen der politischen Linken zu beobachten ist. Die Linke hatte dem Problem der Demokratie bisher kaum Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, weil sie — wie Carlos Pereyra zusammenfaßte — glaubte, daß erstens der Kampf für die Demokratie Kräfte vom Kampf für den Sozialismus abziehe, daß zweitens der Kampf und Terraingewinn innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bedeute, eine reformistische Position zu beziehen und die revolutionäre auszuschließen, und daß drittens die politischen Institutionen ein direkter Ausdruck sozialer KlassenVerhältnisse seien
Norbert Lechner hat aufzuzeigen versucht, wie das sozialistische Denken in Lateinamerika in den achtziger Jahren von der Grundmaxime „Revolution“ abrückte und die Demokratie diesen Platz einnahm Etwas von dieser Entwicklung scheint allenthalben in den Diskussionen über Demokratie in Lateinamerika vernehmbar, doch sind etliche Einschränkungen angebracht. Nach wie vor bestehen unter Demokraten erhebliche konzeptionelle Unterschiede hinsichtlich dessen, was Demokratie sei.
In Argentinien beispielsweise lebt die doppelte Demokratietradition fort, die liberale und die volksnationale (nacional populär) es gibt dort große Mißverständnisse bezüglich der Merkmale einer pluralistischen Demokratie und die Frage ist offen, auf welchen Typ von Demokratie Argentinien sich hin entwickelt
Unter lateinamerikanischen „Demokraten“ ist auch kontrovers, ob die Demokratie tatsächlich ein Wert an sich ist oder ein Mittel zur Erreichung anderer Ziele, hier vor allem der sozialen Transformation. Auch bestehen nach wie vor erhebliche Vorbehalte gegenüber der Demokratie als Institutionensystem, das — so die Kritik — dazu erdacht scheint, Reformen in langwierigen legislativen Prozessen zu verhindern Teile der politischen Linken ziehen weiterhin gewaltsame Transformationen (Befreiungsbewegungen) oder autoritäre Regime (Militärreformismus) der Demokratie vor
Empirische Untersuchungen belegen, daß die Bevölkerung der Demokratie in hohem Maße zustimmt, es aber sehr darauf ankommt, ob der Wert mit anderen Zielsetzungen konkurrieren muß. Die Zustimmung zu den Grundsätzen der Demokratie läßt nach, wenn sie im Wettbewerb steht mit anderen, pragmatischen Werten wie Beschäftigung. Geldwertstabilität oder sogar Ordnung Sicherlich, die Demokratie ist zu einem Thema der politischen Linken geworden. Der Begriff freilich ist ex negatione bestimmt — er lebt stark vom „nunca mäs“, vom „nie wieder“, dem Wunsch nach Nicht-Wiederholung der unmittelbaren Vergangenheit Dem Konzept fehlt es demnach an positiven Konnotationen, es mangelt ihm an pluralisti-schem Definitionsgehalt und der Demokratie in der Praxis an jener Leistungsfähigkeit, die den Wandel zu mehr Loyalität ihr gegenüber herbeiführen bzw. die Entstehungslegitimität (Überwindung der Diktatur) durch eine Leistungslegitimität ablösen kann 68).
Im dritten Bereich, dem politisch-institutionellen, der policy und politics umfaßt, werden gegenwärtig die am weitesten reichenden Reformüberlegungen zwecks Konsolidierung der Demokratie angestellt. Sie betreffen unterschiedliche Zusammenhänge:
1. Der erste Zusammenhang ist der von Staat und Gesellschaft. Hier ist prägend die Erfahrung von allzuviel Staat und staatlicher Kontrolle der Gesellschaft, ihrer Gruppen und Individuen, so daß die liberale Forderung nach mehr Freiheit vom Staat ein großes Echo findet Zugleich geht damit die Vorstellung einher, den Staat stärker der gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen, ihn also anzubinden an Werte und Interessen, welche die Gesellschaft in ihren Gruppierungen aufweist. Aufgewertet werden sollenjene Organisationen und Institutionen, die die Gesellschaft hervorbringt oder die sie vertreten, wie beispielsweise die politischen Parteien und die Parlamente. Insbesondere die Erfahrung der systematischen Menschenrechtsverletzungen durch Organe der öffentlichen Gewalt gibt dieser Reformdiskussion eine ethische Legitimation. 2. Einen zweiten Zusammenhang bilden allgemeine entwicklungstheoretische und entwicklungsstrategische Überlegungen. Sie setzen an Erfahrungen an, die in den letzten Jahrzehnten entwicklungspolitisch gemacht wurden. Seit den dreißiger Jahren ist in fast allen Ländern Lateinamerikas die Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß immer stärker betont und ausgebaut worden, was sich in den demokratischen politischen Systemen in immer mehr Kompetenzen für die Exekutive niedergeschlagen hat. Etliche Verfassungsreformen zeugen davon Nicht zu vergessen ist auch, daß die neuen Militärregime sich innerhalb der Doktrin der Nationalen Sicherheit entwicklungsideologisch zu rechtfertigen versucht haben. Nun hat aber der Staat die von ihm erwartete Entwicklungsleistung nicht gebracht.
Vielmehr ist sichtbar geworden, daß er gesellschaftlich nicht neutral agiert, also spezifische Interessen aufgreift und andere ausgrenzt, statt die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Er neigt vor allem dazu, die Machtinhaber zu privilegieren, die sich teilweise schamlos bereichern. Zugleich entwickelte sich immer mehr ein kritisches öffentliches Bewußtsein dafür, daß der Staat durch Korruption und Bürokratismus die sozioökonomische Entwicklung hemmt -So haben die Stimmen zugenommen, die nach der Reform des Staates verlangen, nach Dekonzentration der Macht, Dezentralisierung und Privatisierung. Selbst im Lateinamerikanischen Institut für Soziale Planung (ILPES), einer Unterorganisation der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika (CEPAL), wird diese Tendenz aufgegriffen und diplomatisch verklausuliert als „Neue Planung“ bezeichnet
3. Eine dritte Wurzel hat die politisch-institutionelle Reformdiskussion in Lateinamerika in offensichtlichen Funktionsschwächen der lateinamerikanischen politischen Systeme, speziell des lateinamerikanischen Präsidialsystems. Eine wissenschaftliche Neuorientierung lateinamerikanischer Sozialwissenschaftler ist insofern zu vermerken, als — wie oben angedeutet — verstärkt politische Strukturfragen aufgegriffen und die Strukturmerkmale und -defekte des politischen Systemtyps Präsidentialismus in seiner lateinamerikanischen Anwendungsform herausgearbeitet werden. Daraus sind konkrete Reformvorschläge hervorgegangen.
In dem oben aufgezeigten Sinn ist diese Reformdiskussion aufs engste verknüpft mit Fragen der Effizienzsteigerung der politischen Systeme in sozioökonomischer Hinsicht.
Diese Reformüberlegungen werden auch durch die Annahme genährt, die institutioneilen Arrangements (die Folgen des Präsidentialismus für Wahlsystem, Parteiensystem und Konfliktschlichtungsmuster)
könnten möglicherweise zum Zusammenbruch der Demokratien beigetragen haben In Argentinien setzte Präsident Alfonsn eine „Kommission für die Konsolidierung der Demokratie“ ein, deren Zwischenbericht erste Reformvorschlüge enthielt. Die Kritik am argentinischen Präsidentialismus mündete in den Vorschlag, ein semipräsidentielles System einzuführen. In Uruguay setzten sich Wissenschaftler, Politiker und Vertreter der Obersten Wahlbehörde zusammen und erörterten Probleme des Wahlsystems wie auch Reformvorschläge In Brasilien war die Ausgestaltung von Regierungssystem (Präsidentialismus oder Parlamentarismus) und Wahlsystem (reine Verhältniswahl oder ein dem Wahlsystem der Bundesrepublik nachgebildete Verhältniswahl) Gegenstand jahrelanger Kontroversen in der veröffentlichten Meinung und schließlich von Abstimmungen im Parlament -In Chile einigte sich die „Gruppe der 24“, ein repräsentativ zusammengesetztes Gremium der demokratischen Opposition, auf institutionelle Alternativlösungen zu der vom Militärregime etablierten Legalität Schließlich sei noch die lebhafte Reformdiskussion zu Fragen sozialer Konzertierung erwähnt
Es ist richtig, daß diese Reforminitiativen bislang keine unmittelbaren Ergebnisse gebracht haben. Eine institutioneile Reform der Demokratien, d. h. eine Reform zur vorautoritären Demokratie, hat bisher nirgends Erfolg gehabt. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der starken Tradition, die der Präsidentialismus in Lateinamerika besitzt, in politischen Konjunkturen sowie in einem umfassenderen Sinne im oft kurzsichtigen Machtkalkül der politischen Akteure zum anderen im Druck der Militärs auf den Verfassungsgeber. So etwa in Brasilien, wo zusätzlich noch das Machterhaltungsinteresse eines ansonsten politisch dahinsiechenden Präsidenten eine Rolle spielte
Dieser Befund bisheriger Vergeblichkeit der Reformbemühungen würde allerdings zu kurz greifen, würde man nicht die indirekten Wirkungen der Reformdiskussionen mitbedenken. Die Diskussion über institutionelle Reformen hat in den betrachteten Ländern mehr Bewußtsein hinsichtlich der Funktionsschwächen der bestehenden Systeme, der Verhaltensweisen politischer Akteure und deren Folgen erzeugt.
So hat denn die Reformdiskussion — zusammen mit anderen Entwicklungen — zu Reformen unterhalb des Niveaus von Veränderungen der Spielregeln angeregt. Uruguay ist ein Beispiel dafür, wie an der Oberfläche alles unverändert ist, während doch jenseits dieses Erscheinungsbildes wichtige Neuerungen erfolgt sind. Vergleicht man die Wahldaten von 1971 und 1983, so knüpfte Uruguay nahtlos an die vorautoritäre Verteilung der Wählerpräferenzen an. Doch verschoben sich die politischen Positionen der Lemas: Die Colorados rückten nach rechts, die Blancos nach links in die Nähe zum Frente Amplio Im linken Parteien-bündnis ist im Gegensatz zu 1971 die gemäßigte Linie dominierend, ihre Vertreter setzen sich auch unter der Drohung durch, gegebenenfalls aus dem Frente Amplio auszutreten. Die in viele Gruppierungen zersplitterten Colorados haben unter der Präsidentschaft von Sanguinetti Fraktionsdisziplin zu halten verstanden — eine Neuerung von großer Bedeutung, da die Funktionsfähigkeit desPräsidialsystems wesentlich von der Unterstützung des Präsidenten durch die Mehrheitspartei abhängt
Auch für das Nachbarland Argentinien lassen sich bedeutungsgleiche Veränderungen im Verhalten der politischen Akteure feststellen. Wir können hier nur hinweisen auf den Wandel innerhalb derPeronisten (Peronismo Renovador), auf das gestiegene Gewicht der politischen Parteien (im Verhältnis zu den korporatistischen Machtträgern Militär, Unternehmer, Gewerkschaften, Kirche), auf gegenseitige Respektierung der beiden großen Parteien innerhalb der bestehenden Institutionenordnung und Versuche konkordanzdemokratischer Vereinbarungen Freilich stellt die schwere Wirtschaftskrise hier wie in anderen Ländern die politische Entwicklung zu einem systemfunktionaleren Umgang der politischen Elite mit den Institutionen stark in Frage.
Trotz dieser Unwägbarkeiten läßt sich resümierend feststellen: Die Reformdiskussion hat den Institutionen im politischen Prozeß mehr Bedeutung eingebracht. Die Institutionen werden als politische Ressourcen begriffen. Zugleich hat die Reformdiskussion ein stärkeres Interesse an Politikberatung entfacht. Sie wird von den Politikern gesucht und bislang von den Politikwissenschaftlem — mit großem Gewinn für eine an praxisnahen Fragen orientierten Entwicklung des Fachs in Lateinamerika — wahrgenommen. Offensichtlich hat die Erfahrung der Verhaltensänderung der politischen Akteure und ein funktionalerer Umgang mit den Institutionen den politischen Kräften in der Frage der Reform der Institutionen eher Zurückhaltung auferlegt.
VII. Mehr Demokratie in der Dritten Welt?
Dem Titel der vorliegenden Abhandlung liegen, das ist bis hierhin sicherlich deutlich geworden, zwei Fragestellungen zugrunde, die eng miteinander verwoben sind: Die eine ist mehr quantitativ (Zahl der politischen Demokratien), die andere mehr qualitativ (demokratische Substanz der „Demokratien“) ausgerichtet. Eine wesentliche Bedingung zur Aufrechterhaltung der gegen Ende der achtziger Jahre zahlreichen nominellen Demokratien ist die Entwicklung von demokratieverträglichen und sie stützenden Sozialstrukturen. Ohne entscheidende Schritte in diese Richtung bleibt die Demokratie zweifelhaft und instabil. Auf dem Boden wirtschaftlicher Krisen und sozial ungerechter Verteilung gedeihen die kulturellen, ideologischen und politischen Argumente und Kräfte gegen die Demokratie.
Die vom Einzelfall losgelöste, vergleichende Betrachtung mag es hier an der Eindringlichkeit des Befunds missen lassen. Deshalb sei im Resümee auf einen Einzelfall eingegangen: Peru. In einer Diskussion über die Frage der Konsolidierung der Demokratie, zu der das angesehene Instituto des Estudios Peruanos eingeladen hatte fand sich nicht ein Teilnehmer bereit, die bestehende peruanische Demokratie zu verteidigen. Vier Hauptstränge von Zweifeln wurden entfaltet: 1. Die Gesellschaft und die Institutionen seien autoritär, ob nun gewählt werde oder nicht. 2. Die Demokratie sei rein formal — die rauhe Wirklichkeit seien die extrem ungleichen sozialen Verhältnisse. Parlamente, Parteien, Wahlen verschleierten nur den sozialen Grundtatbestand. 3. Priorität besitze die Veränderung der sozialen Wirklichkeit. Diese Transformation sei die Voraussetzung für wirkliche Demokratie. Die Vorstellung freilich, diese Veränderungen könnten durch die Demokratie herbeigeführt werden, sei „eine nicht sehr verbreitete Idee“ Im Gegenteil setzt die Beseitigung sozialer Ungleichheit für viele Intellektuelle voraus, „die Mechanismen der politisehen Demokratie aufzuheben, also eine autoritäre Lösung, ob sie dies nun aussprechen oder nicht“ 4. Die Mängel der bestehenden Demokratie lohnten deren Verteidigung nicht. Die „Demokratie“ müsse sich erst demokratisieren, um ihrer Verteidigung einen Sinn zu geben, die demokratischen Institutionen müßten neu gedacht werden, um wirklich Positionen zu haben, die verteidigungswert seien. Die Demokratie, so wie sie bestehe, sei angesichts des pais real, des wirklichen Peru, auch nicht verteidigungsfähig
Die in Peru sechs Jahre nach der Redemokratisierung vorgetragenen Argumente gegen die dort bestehende Demokratie bilden sicherlich spezifische Antworten auf die leitende Fragestellung. Sie sind so nicht verallgemeinerungsfähig. Doch steht der Zusammenhang zwischen „mehr Demokratie“ in Form sozialer Entwicklung und „mehr Demokratie“ im Sinne einer zahlenmäßigen Ausdehnung politisch-institutioneller Demokratien außer Frage. Der notwendigen Weiterentwicklung der Demokratie — notwendig als entscheidende Voraussetzung ihrer Stabilisierung — stehen aber strukturelle und konjunkturelle Faktoren entgegen: die bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der enge wirtschaftspolitische Handlungsspielraum. Auch die politischen Institutionen und/oder die politischen Verhaltensweisen bedürfen der Erneue-rung. Doch lassen sich Demokratien in der Dritten Welt leichter abschaffen als reformieren Dieses Dilemma gibt wenig Anlaß, für die Dritte Welt in stabilen demokratischen Zeiten zu denken.