Die Bundesrepublik Deutschland -ein unerklärtes Einwanderungsland
Dietrich Thränhardt
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Zusammenfassung
Die Wanderungsbewegungen, die in den letzten Jahrzehnten in die Bundesrepublik Deutschland geführt haben, werden zunächst in den Kontext der Migrationen aus den ärmeren Ländern der Erde in die westlichen Industriestaaten gestellt. Es folgt die Beschreibung der Phasen und Begleitumstände der großen Anwerbungen, die die Bundesrepublik bis 1973 vorgenommen hat, und eine Bilanzierung der weiteren Bevölkerungsentwicklungen einschließlich der Zahlen für die Flüchtlinge. Eine Begriffsgeschichte skizziert den ausgrenzenden Charakter der Bezeichnungen für die Einwanderer: vom Fremdarbeiter über den Gastarbeiter, ausländischen Arbeitnehmer zum Ausländer und Asylanten. Die Tatsache, daß einerseits faktisch eine Einwanderung herbeigeführt bzw. begünstigt wurde, andererseits die Bundesrepublik sich offiziell nicht als „Einwanderungsland“ verstand und die Illusion der Rückkehr aufrechterhielt, wird als „stabiler Widerspruch“ charakterisiert, der den Nährboden für fremden-feindliche Bewegungen abgab. Abschließend werden Maximen für eine künftige verantwortliche Ausländer-Politik formuliert.
I. Die bundesdeutsche Situation im europäischen Kontext
Weltweit sind in den letzten Jahrzehnten neue Wanderungsbewegungen zu beobachten. Sie haben ihren Ursprung in den ärmeren Ländern und zielen in die entwickelten liberalen Industrieländer, die ihren Reichtum in den letzten Jahrzehnten sprunghaft vermehren konnten. Die Aufnahme zunächst von Italienern und später von Griechen. Spaniern. Portugiesen. Jugoslawen, Türken und anderen Zuwanderem in der Bundesrepublik Deutschland ist Teil dieses allgemeinen Migrationsmusters. Neben wirtschaftlichen Niveauunterschieden sind dafür auch die unterschiedlichen Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung grundlegend, die durch die Wanderungen zum Teil ausgeglichen werden.
Die Einwanderungsländer kontrollieren die Wanderungsprozesse insofern, als sie über das Ausmaß der Einwanderung (oder Arbeitskräfte-Anwerbung etc.) und deren Form entscheiden. In der Zulassungspolitik der liberalen Demokratien haben sich dabei unterschiedliche Muster entwickelt. Während die klassischen Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Australien heute Einwanderer mit hohen beruflichen Qualifikationen oder einer guten Kapitalausstattung bevorzugen — mit dem Ziel, ihr Land und ihre Wirtschaft zu entwickeln, gut ausgebildetes Personal zu rekrutieren, Qualifikationslücken zu schließen und Arbeitsplätze zu schaffen —, haben sich die westeuropäischen Länder in der Zeit des Booms bis 1973/74 auf die Anwerbung von Personal am unteren Ende der Qualifikationsleiter konzentriert. Seitdem versuchen sie angesichts der Arbeitslosigkeit, von weiterer Einwanderung abzuschrecken. In Japan ist diese Politik schon immer betrieben worden, in den letzten Jahren allerdings mit immer weniger Erfolg. Auch dort wächst die Zahl der illegalen Einwanderer Die immer enger werdenden weltweiten Verkehrsverbindungen.der verstärkte Handelsaustausch, der wachsende Ferntourismus und die weltweit operierenden Medien, die die Bilder der reichen Welt in die arme Welt transportieren, bieten Zusammenhänge und Anlässe, die Wanderungsprozesse begünstigen. Sie machen es in der Praxis trotz der vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten der reichen Welt schwer, sich gegen die arme abzuschotten.
In Europa und dem Mittelmeerraum können vier Wanderungszonen unterschieden werden. Eine erste kleinere Zone bilden die beiden Länder mit dem höchsten Wohlstandsniveau: Schweden und die Schweiz. Dorthin wanderten vor allem bis 1973 nicht nur Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum, sondern auch aus den benachbarten Industrienationen ein, unter anderem aus der Bundesrepublik Deutschland Die zweite Zone bilden die übrigen entwickelten Industrieländer des westlichen Europa. In sie ist insbesondere in der Zeit bis zur Ölkrise 1973 der Hauptteil der Migration aus dem Mittelmeerraum gegangen, und zwar überwiegend aus den Ländern nördlich des Mittelmeers, die die dritte Wanderungszone bilden. Schließlich nehmen die entwickelteren Länder dieser dritten Zone (Italien, Spanien, Griechenland) ihrerseits Arbeitskräfte aus weiter südlich gelegenen Ländern auf. Innerhalb der Länder der dritten Zone sind die Entwicklungsunterschiede besonders ausgeprägt, die sich in starken Wanderungsbewegungen aus den schwach entwickelten Regionen in die Entwicklungszentren widerspiegeln, etwa aus der Osttürkei in die Räume Izmir, Ankara und insbesondere Istanbul, aus Süditalien nach Norditalien und aus Andalusien nach Madrid und Katalonien.
Daneben bestimmen noch drei weitere Faktoren das Bild der Wanderungsbewegung in Europa: — die Einwanderung aus Osteuropa, soweit bzw.seitdem die dortigen Regime diese zulassen. Diese Bewegungen sind hauptsächlich durch das Wohlstandsgefälle bedingt, daneben aber auch durch politische Bedingungen (Emigration aus Polen seit 1980, Ungarn 1956, CSSR nach 1968) und durch ethnische Gegebenheiten (Deutsche, Juden); — die Einwanderung aus ehemaligen Kolonien bzw. „überseeischen Territorien“ in die ehemaligen „Mutterländer“, die zum Teil mit ethnischen Span-nungen beim Aufbau der neuen Nationalstaaten Zusammenhängen;
— die Fluchtbewegungen aus politischen Gründen, die aus Umstürzen. Bürgerkriegen, Katastrophen etc. resultieren und sich ebenfalls in die entwickelten Länder richten, sofern dies möglich ist.
II. Ein-und Auswanderung seit 1945
Abbildung 2
Ausländer am 31. Dezember 1987 nach Altersgruppen und Aufenthaltsdauer.Quelle: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Ausländer-Daten vom 22. März 1988. 20 und mehr Jahre Insgesamt
Ausländer am 31. Dezember 1987 nach Altersgruppen und Aufenthaltsdauer.Quelle: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Ausländer-Daten vom 22. März 1988. 20 und mehr Jahre Insgesamt
Jahrhundertelang ist Deutschland eher ein Aus-als ein Einwanderungsland gewesen. Mit der Industrialisierung aber begannen Einwanderungsbewegungen, die allerdings durch Kriege und Wirtschaftskrisen immer wieder unterbrochen wurden. Arbeitskräfte wurden traditionell vor allem in Polen rekrutiert, aber auch Italien und Österreich-Ungam spielten eine gewisse Rolle Während des Zweiten Weltkrieges wurden als Ersatz für die an der Front stehenden Soldaten und zur weiteren Steigerung der Produktion Millionen von Kriegsgefangenen. Zwangs-und Vertragsarbeitern eingesetzt, von denen ein großer Teil aufgrund von systema-tisch verschlechterten Lebensbedingungen umgekommen ist.
In der Nachkriegszeit schienen die schlechte wirtschaftliche Lage und die Ungesichertheit von zwölf Millionen deutscher Flüchtlinge und Vertriebener aus den ehemaligen Ostgebieten und aus Osteuropa eine wirtschaftliche Erholung zunächst aussichtslos zu machen. Deswegen wanderten nicht nur die ehemaligen Fremdarbeiter, nun auch von den Deutschen meist „Displaced Persons“ (DPs) genannt, auch dann aus, wenn sie nicht in ihr Heimatland zurückkonnten oder wollten Vielmehr suchten auch Deutsche nach Möglichkeiten auszuwandern.
Doch nur zehn Jahre später hatte sich die wirtschaftliche Situation in bemerkenswerter Weise geändert. Die meisten deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge — insgesamt etwa 15 Millionen — und auch die etwa hunderttausend in Deutschland verbliebenen DPs waren in kurzer Zeit integriert worden, und dies in einer Zeit großer ökonomischer Schwierigkeiten. Diese Leistung steht in auffälligem Kontrast zu den Empfindungen von „Problemen“ und „Belastungen“, die sich in der Folgezeit ergaben, als die Bundesrepublik in einer Phase beispielloser wirtschaftlicher Expansion wegen des Mangels an Arbeitskräften eine weitaus kleinere Zahl von Ausländem anwarb und deren Familien den Nachzug möglich machte. 1955, als es in der Bundesrepublik immer noch über eine Million Arbeitslose gab, schloß die Bundesrepublik den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab. Die Anwerbezahlen blieben aber zunächst klein. Erst als Ende der sechziger Jahre die Vollbeschäftigung erreicht war und 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer der Zufluß von Arbeitskräften aus der DDR versiegte, wuchs die Bedeutung der Arbeitskräfte-Anwerbung. Weitere Verträge mit Spanien (1960). Griechenland (1960).der Türkei (1961). Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965), Jugoslawien (1968) und Korea (1970) folgten. In zwei großen Schüben stiegen die Anwerbezahlen zwischen 1958 und 1973 um das Zwanzigfache, von 127 000 auf 2, 6 Millionen, unterbrochen nur von einem im Zusammenhang der konjunkturellen Überhitzungskrise von 1966 erlassenen Anwerbestopp. Dies führte in der Zeit von Juni 1966 bis Januar 1968 zu einem Rückgang der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von 1 314 000 auf 903 500. Schon im Juni 1969 war aber der Stand von 1966 wieder überschritten.
Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer erreichte im September 1973 ihren Höchststand mit einer Gesamtzahl von 2 691 700, davon 2 126 900 aus Anwerbestaaten. Bis 1969 wurden vor allem Italiener angeworben; sie hatten als EG-Angehörige Priorität. Aber der Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft konnte aus dieser Quelle nicht gedeckt werden. Zudem setzten die Unternehmer-verbände durch, daß die EG-Priorität faktisch unbeachtet blieb, als der Arbeitskräftebedarf in der Zeit des wirtschaftlichen Booms rasch stieg. Die bundesdeutschen Unternehmen konnten dadurch aus einem sehr viel größeren Arbeitskräftereservoir schöpfen, das sozialrechtlich weniger abgesichert war als die EG-Angehörigen. Verbunden mit dieser Art der Rekrutierung war die „Beibehaltung. Ausweitung oder Wiedereinführung traditionell-industrieller Arbeitsformen wie Fließband-, Akkord-, Schicht-und Nachtarbeit“ also von Arbeitsformen, für die Deutsche und auch EG-Bürger kaum mehr zu finden waren. Seit 1970 wurden die Jugoslawen zur stärksten Anwerbe-Nationalität, seit 1973 die Türken.
Zu diesem Zeitpunkt wurde von der Bundesregierung der zweite Anwerbestopp angeordnet, der bis heute in Kraft geblieben ist. Im Zusammenhang mit der Ölkrise und der dadurch ausgelösten Arbeitslosigkeit kam es zur Nichtverlängerung einer großen Zahl von Arbeitsverträgen mit ausländischen Arbeitnehmern, die dadurch gezwungen waren, in ihr Heimatland zurückzukehren. Arbeitslosigkeit, von der die Ausländer seit 1974 stärker betroffen waren als die Deutschen, war der Grund für die Rückkehr weiterer Ausländer. Private Gründe traten hinzu. Insgesamt kam es zu einer beträchtlichen Reduzierung der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer (siehe den Beitrag von Regine Erichsen in diesem Heft mit den entsprechenden Statistiken).
Im Gegensatz dazu sank die Gesamtzahl der Ausländer in der Bundesrepublik in den Jahren nach dem Anwerbestopp nur geringfügig (von 4, 13 Millionen im Jahre 1974 auf 3, 95 Millionen 1976/77) und stieg anschließend wieder an. Sie erreichte 1982 einen Höchststand von 4. 67 Millionen, sank bis 1984 auf 4. 36 Millionen und wuchs bis 1987 wieder auf 4, 58 Millionen — insgesamt also eine Konsolidierung auf einem Niveau von etwa viereinhalb Millionen. Waren zunächst fast nur Arbeitskräfte (überwiegend Männer) nach Deutschland gekommen, so normalisierte sich in der Folgezeit die Struktur der ausländischen Bevölkerung schrittweise. Ehegatten zogen aus den Heimatländern nach. Kinder wurden in der Bundesrepublik geboren bzw. kamen ebenfalls nach. Heute ist dieser Prozeß weit fortgeschritten; die meisten Ausländer werden in den Statistiken nicht als „Beschäftigte“, sondern als „Familienangehörige“ geführt. Die Entwicklung läßt sich an der zahlenmäßigen Balance zwischen den Geschlechtern verfolgen. Am höchsten liegen die Anteile der Frauen bei den Griechen, Spaniern und Jugoslawen.
Auch die nationale Struktur der ausländischen Bevölkerung veränderte sich. Interessanterweise fielen die Zahlen bei denjenigen Nationalitäten am meisten, die durch ihre EG-Zugehörigkeit rechtlich gut abgesichert sind. Die Zahl der Bürger aus der Türkei und Marokko stieg hingegen. Der Anwerbestopp wirkt sich anscheinend nicht so aus, wie er intendiert war. Es kommt zu kontraproduktiven Effekten: Angesichts der Unmöglichkeit, nach einer Ausreise wieder in die Bundesrepublik zurückzugelangen, sehen sich viele Türken, Marokkaner, Tunesier u. a. veranlaßt, auch dann in der Bundesrepublik zu bleiben, wenn sie an sich in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen Daneben spielen wirtschaftliche Faktoren eine entscheidende Rolle, vor allem die Arbeitslosigkeit und das niedrigere Lebensniveau in der Heimat. Auch die hohe Geburtenrate in ausländischen Familien macht sich bemerkbar. Sie ist bei allen Ausländergruppen zurückgegangen, liegt aber noch über der der deutschen Staatsangehörigen.
Während die Zahl der Türken in der Bundesrepublik vor allem zwischen 1979 und 1982 immer wieder Gegenstand erregter Debatten war, ist eine andere Entwicklung nahezu unbemerkt geblieben. Die Zahl'der nordafrikanischen Araber aus den Magrebstaaten Marokko (54 738) und Tunesien (24 194) übersteigt seit 1987 die der Portugiesen. Weder in der Sozialbetreuung noch in der Publizistik (spezielle Rundfunk-und Fernsehsendungen) hat das bisher Konsequenzen gehabt.
Immer noch unterscheiden sich die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer allerdings hinsichtlich ihrer Altersstruktur stark von den Deutschen. Es fehlt vor allem die Gruppe, die bei den Deutschen ständig anwächst: die Alten. Angesichts der immer stärkeren Überalterung der bundesdeutschen Bevölkerung ist dies insbesondere unter wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesichtspunkten ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur strukturellen Ausgewogenheit.
Nicht überraschend ist es angesichts der geschilderten Einwanderungsgeschichte, daß sich die meisten Ausländer aus Anwerbeländern inzwischen recht lange in der Bundesrepublik aufhalten. In der offiziellen Statistik kommt das nur unzureichend zum Ausdruck, weil die in Deutschland geborenen Kinder bei den Berechnungen so behandelt werden, als seien sie an ihrem Geburtsdatum eingereist. Dies gilt selbst dann, wenn die Familie sich schon lange Zeit in Deutschland aufhält und das Kind zur „dritten Generation“ gehört.
Die Gesamtzahl der Ausländer aus Anwerbeländern ist in den eineinhalb Jahrzehnten seit dem Anwerbestopp fast exakt dieselbe geblieben (siehe Tabelle 1). Einige kleinere Auf-und Abbewegun-gen haben sich ausgeglichen. Auch die „Rückkehrförderungs" -Programme von 1983/84 haben in der langfristigen Betrachtung kaum Auswirkungen gehabt. sondern wegen der langen Vorankündigung und der Befristung lediglich eher das Datum von Rückkehrentscheidungen beeinflußt (Mitnahme-Effekte). Die materielle Bedeutung der „Rückkehrförderung“ war wie in anderen Ländern gering. Relevant ist sie eher im Kontext der Thematisierung der Ausländerpolitik in den jeweiligen politischen Systemen
Die zahlenmäßige Relevanz der Asylpolitik ist keineswegs so groß, wie es angesichts der öffentlichen Debatten der letzten Jahre scheinen könnte. Die Gesamtzahl der in der Bundesrepublik lebenden Flüchtlinge, denen seit 1953 politisches Asyl gewährt worden ist, betrug im Jahre 1986 64 800 (eine etwa gleich große Zahl anerkannter Flüchtlinge ist inzwischen aus der Bundesrepublik ausgereist oder verstorben). Die Zahl der De-Facto-Flüchtlinge, die im Januar 1988 in der Bundesrepublik lebten, betrug 290 000. Davon kamen 150 000 Personen aus osteuropäischen Ländern und 140 000 aus der Dritten Welt, darunter 30 000 aus dem Iran und 22 000 aus Sri Lanka Auch diese Zahlen fügen sich in ein Gesamtbild der Stabilität ein, das merkwürdig zu der aufgeregten öffentlichen Debatte kontrastiert. Die Gründe für diese Diskrepanz werden in den folgenden Abschnitten zu erörtern sein.
III. Nomen est omen. Eine Begriffsgeschichte
Politische Begriffe prägen Denkmuster und dienen ihnen als Kürzel. In unserem Zusammenhang wird durchgehend immer wieder Fremdheit und Anders-artigkeit hervorgehoben. Die traditionelle Bezeichnung für Arbeitskräfte aus dem Ausland war „Fremdarbeiter“. Dieser eindeutig abgrenzende Begriff ist in der Schweiz bis heute gebräuchlich, ganz im Einklang mit der dort ungebrochenen nationalen Tradition und der Diskussion um die „Überfremdung“, die auf der politischen Agenda lange Zeit ganz oben stand
In Deutschland ist der Begriff „Fremdarbeiter“ durch den Nationalsozialismus und seine Unterdrückungs-und Diskriminierungspolitik gegenüber den Zwangs-und Vertragsarbeitern diskreditiert Nach 1945 wurde er zunächst auch im Deutschen durch den Begriff „Displaced Persons“ (DPs) ersetzt, der für die ehemaligen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen galt, die nicht in ihre osteuropäischen Heimatländerzurückkehren konnten oder wollten. Als in den fünfziger Jahren die Neuanwerbung begann, suchte man nach einem neuen Begriff — der WDR veranstaltete dazu sogar einen Ideenwettbewerb — und fand den des „Gastarbeiters“. Er wurde in den sechziger und siebziger Jahren zur gängigsten Bezeichnung. Auch im benachbarten Ausland, zum Beispiel in der Schweiz und in den Niederlanden, fand er Verwendung.
Kritiker merkten schnell an, daß der Begriff „Gastarbeiter“ ein Euphemismus sei. Man läßt, so wurde eingewandt, Gäste eigentlich nicht arbeiten, vor allem nicht auf den unangenehmsten Arbeitsplätzen. Man bietet ihnen nicht die schlechtesten Wohnungen oder Baracken an, wie es zunächst vielfach üblich war, und man schließt sie nicht von Kontakten mit der Bevölkerung aus. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist aber, daß der Begriff die Zeitweiligkeit des Aufenthalts der Angeworbenen unterstrich. Erst als die „Gastarbeiter“ immer länger im Lande waren und auch ihre Familien sich niederließen, wurde der Terminus als immer ungeeigneter empfunden.
Zu Beginn der siebziger Jahre setzte sich der Begriff „ausländische Arbeitnehmer“ stärker durch, der in der administrativen Sphäre schon immer gebräuchlich gewesen war. Auch dieser Begriff betont das „ausländische“. Um auch die Familien einzubeziehen und das Miteinander zu betonen, wurde vor allem von kirchlichen Kreisen schließlich der Begriff des „ausländischen Mitbürgers“ ins Gespräch gebracht Der Begriff fand weite Verbreitung, das mit ihm intendierte humanitäre Engagement setzte sich damit aber nicht automatisch durch.
Seit etwa 1980 ist es üblich geworden, schlicht von „Ausländern“ zu sprechen. Damit sind im Kontext der „ausländerpolitischen“ Diskussion aber keines-wegs alle Ausländer gemeint, sondern nur die aus Anwerbestaaten, eventuell außerdem die nichtdeutschen Flüchtlinge. Der Begriff wird verengt, ähnlich wie das in England für das Wort „immigrants“ gilt, das nur noch auf die Gruppe der Einwanderer aus Asien und der Karibik bezogen wird. Das Trennende in dieser Bezeichnung fließt selbst in Verbrüderungsslogans wie „Deutsche und Ausländer gemeinsam“ ein. Es dürfte kaum eine ähnlich dichte Begriffsgeschichte der Ausgrenzung geben. In der deutschen Tradition ist nie von Einwanderern die Rede gewesen, wie dies in Frankreich, England oder Schweden der Fall ist. Ganz im Gegenteil: Alle Bundesregierungen haben bisher daran festgehalten, daß Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei.
Seit 1979 hat sich ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf Asylfragen gerichtet. Im Zusammenhang damit überlagerte der neugeschaffene Begriff „Asylant“ die Diskussion und ersetzte weitgehend den bis dahin geläufigen Begriff Flüchtling. Jürgen Link, der in einer sprachwissenschaftlichen Studie diese Entwicklung nachgezeichnet hat verweist auf die negativen Implikationen, die mit „Asylant“ verbunden sind. Dieser Begriff wird stets für Flüchtlingsgruppen verwendet, gegen die in der Öffentlichkeit starke Vorbehalte bestehen, während willkommene „Flüchtlinge" nach wie vor als solche bezeichnet werden.
Es findet also eine Kategorisierung mit umgangssprachlichen Mitteln statt, die nicht mit den Normen des verfassungsmäßigen Asylrechts übereinstimmt. Relevant in diesem Zusammenhang ist auch die systematische Unklarheit des Begriffs „Asylant“. Er kann sowohl anerkannte politische Flüchtlinge bezeichnen als auch noch nicht anerkannte Asylsuchende oder nicht anerkannte Asyl-bewerber. Um den Begriff „Asylant“ herum ist ein Kranz von Sekundärbegriffen entwickelt worden, die der politischen Polemik entstammen: Wirtschaftsasylant, Scheinasylant, Asylantenstrom. Asylantenflut, Asylantenspringflut — alle mit negativen Konnotationen.
IV. Ausländerpolitik als stabiler Widerspruch
Am Anfang der neuen Wanderungsbewegung nach Deutschland stand — wie in den meisten anderen europäischen Ländern — der „Mythos der Rückkehr“ Er wurde von allen Beteiligten kultiviert: — den Regierungen der Entsendeländer. Sie hielten aus Gründen der Fürsorge, des Nationalismus oder aus anderen ideologischen Motiven an ihren Staatsbürgern fest. Wanderarbeit schien eine Möglichkeit zu sein, Beschäftigung und finanzielle Transfers zu erreichen, ohne eine permanente Auswanderung in Kauf nehmen zu müssen. In allen Nationalstaaten widerspricht der Verlust von Bürgern in gewisser Weise dem Selbstverständnis, in den jungen Nationalstaaten Griechenland und Türkei war das in besonders ausgeprägter Weise der Fall. In Jugoslawien trat wie in Griechenland die Kriegserfahrung hinzu, außerdem die kommunistische Ideologie, nach der das eigene Land der kapitalistischen Bundesrepublik um eine Entwicklungsstufe voraus war. Schließlich zeigte sich in späteren Jahren ein erheblicher Vorteil der Nichtanerkennung einer Auswanderung: Die Migranten, die sich nach wie vor dem Herkunftsland zugehörig fühlten, leisteten erhebliche finanzielle Transfers, die für die Devisenbilanz einiger Herkunftsländer entscheidende Bedeutung gewannen. Dies wirkt sich insbesondere auch auf die Konsummöglichkeiten der jeweiligen Eliten und Mittelschichten aus.
— den Regierungen der Bundesrepublik wie auch vieler europäischer Nachbarländer. Auch hier stand das nationalstaatliche Selbstverständnis im Vordergrund, obwohl es in der Bundesrepublik nicht mehr so emphatisch-missionarisch geäußert wird wie in der Vergangenheit. Die nationale Kategorisierung blieb aber trotz der allgemeinen Europa-Orientierung in dieser Zeit in bezug auf die „Gastarbeiter“ herrschend. Sie wurden völlig anders behandelt als die deutschen Zuwanderer, die trotz ihrer erheblich größeren Zahl bemerkenswert schnell integriert werden konnten.
— den Einwanderern selber, die zunächst keine Auswanderung in Betracht zogen, sondern kurzfristige Perspektiven hatten. Ihnen erleichterte dies in den ersten Jahren die Bewältigung der Situation, indem sie weiterhin Maßstäbe ihrer Herkunftsländer anlegen und Schwierigkeiten leichter ertragen konnten. Ein Teil von ihnen kehrte tatsächlich zurück, die Einwanderung insgesamt aber blieb.
Die Anwerbeverträge hoben diese Perspektiven hervor. Sie gingen von einer wirtschaftlichen Entwicklung in den Herkunftsländern aus. die die Reintegration möglich machen würde. Eine derartige Entwicklung ist allenfalls im Falle Italiens eingetreten, wenn auch weniger für die Landesteile des Mezzogiorno, aus denen die Migranten stammen. Obwohl die Idee von der Zeitweiligkeit der „Gastarbeit“ zunächst allgemein akzeptiert worden war. brachte gegenteiliges Handeln aller Beteiligten nach wenigen Jahren dennoch Effekte hervor, die auf permanente Ansässigkeit hinausliefen. Sie hingen direkt mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. Die Unternehmen waren — außer wenn sie in gravierenden Krisen Massenentlassungen vomahmen — sehr daran interessiert, eingearbeitetes Personal zu halten In der Zeit des Booms ermunterten sie ferner vielfach ihre ausländischen Beschäftigten dazu. Landsleute nachzuholen. Auf diese Weise wurde der aus allen Wanderungsbewegungen bekannte Effekt der „Kettenmigration“ verstärkt: Verwandte und Bekannte aus den gleichen Dörfern oder Gegenden fanden sich in bestimmten deutschen Bereichen zusammen. Dies führte zum Effekt der Koloniebildung und zur sozialen Abstützung der individuellen Existenz.
Die enge Zusammenarbeit der Unternehmen mit den zuständigen Aufenthalts-und Arbeitsämtern sicherte die weitere Beschäftigung; Ausländer gehörten bald in großem Ausmaß zur „Stammarbeiterschaft“. Die von ausländischen Arbeitnehmern getragenen „wilden“ Streiks bei Ford in Köln und Pierburg in Neuß 1973 machten das Ausmaß der Konzentration von ausländischen Arbeitskräften in Großbetrieben auch in der Öffentlichkeit bewußt. Für die deutschen Behörden waren solche Zuspitzungen ein wesentlicher Grund, dem Familiennachzug aufgeschlossener gegenüberzustehen, da dieser dazu beitrug, explosive Konzentrationen von Arbeitern in riesigen Wohnheimen zu entschärfen.
Da die ökonomischen Disparitäten zwischen Herkunftsland und Bundesrepublik weiter bestanden, waren auch die ausländischen Arbeitskräfte daran interessiert, an ihrem Arbeitsplatz in Deutschland zu bleiben. Dies schloß nicht aus. daß sie nach wie vor an die Rückkehr dachten. Viele Umfragen zeigen, daß diese jedoch meist erst für die fernere Zukunft geplant wurde und sich dann von Jahr zu Jahr hinausschob. „Nichts dauert so lange wie das Provisorium.“ Dieses französische Sprichwort, das für die Bundesrepublik selbst so kennzeichnend ist, gilt auch für ihre Ausländerpolitik. Auch sie stand unter dem Vorbehalt der Nichtanerkennung von faits accomplis.
In ihrer Europapolitik war die Bundesrepublik mit dem Konsens aller politischen Kräfte dabei, der Einwanderung Dauer zu verleihen. Der 1957 in Rom geschlossene Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zielte nicht nur auf die freie Bewegung von Gütern, sondern auch von Arbeitskräften. Die EG nähert sich durch politische und juristische Entscheidungen schrittweise „einer umfassenden Personenfreizügigkeit“
Die Süderweiterung mit dem Einschluß Griechenlands. Portugals und Spaniens führt nach dem Ende der Übergangsfristen auch für diese Länder zur Freizügigkeit.
Die Bundesrepublik hat in dieser Hinsicht auf ein Stück ihrer Souveränität verzichtet. Sie tat das zu ihrem eigenen wirtschaftlichen und politischen Vorteil, denn die bundesdeutsche Wirtschaft profitiert vom Gemeinsamen Markt in Bezug auf den Export quantitativ mehr als die irgend eines anderen EG-Landes. Der für 1992 angestrebte freie Gütermarkt wird diese Entwicklung noch weiter vorantreiben. Auch politisch ist die Bundesrepublik angesichts ihrer exponierten Lage noch stärker aufdie Integration angewiesen als andere Länder. Die wirtschaftlichen Probleme, die die deutschen Exporterfolge für andere Länder mit sich bringen, und die dadurch dort eventuell gesteigerte Arbeitslosigkeit können sich in Zukunft wiederum durch Wanderungsbewegungen bemerkbar machen.
Mit der Türkei hat die EG einen Assoziationsvertrag abgeschlossen, der die Öffnung des Arbeitsmarktes bis 1986 vorsah. Angesichts der Arbeitslosigkeit innerhalb der EG ist dies zwar nicht umgesetzt worden. Die europäischen Gerichte haben zudem 1988 entschieden, daß der Zutritt zum europäischen Arbeitsmarkt für Türken nicht individuell einklagbar ist. Auch in dieser Hinsicht sind aber Fakten geschaffen worden, die eine radikale Revision nicht erlauben. Die wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik sind in bezug auf die Türkei bisher weniger gewichtig, aber die politisch-strategische Betroffenheit des Westens einschließlich der Bundesrepublik wäre bei Veränderungen in der Türkei, dem „Südostpfeiler der NATO“, außerordentlich groß.
Im Fall Jugoslawien gibt es zwar keine derartigen vertraglichen Bindungen. Die neutrale Stellung Jugoslawiens zwischen den Blöcken und seine augenblickliche wirtschaftliche Labilität lösen jedoch ohnehin große Besorgnis aus, so daß der Bundesrepublik an einer inneren Stabilisierung dieses Landes und guten Beziehungen zu ihm sehr gelegen sein muß. In diesem Zusammenhang haben bundesdeutsche Politiker aller Parteien auf Staatsbesuchen in Jugoslawien seit Jahren immer wieder versichert, die Bundesrepublik werde nicht gegen den Willen Jugoslawiens dessen Staatsbürger zurückschicken. Insgesamt sind in den letzten Jahrzehnten also durch die Bundesrepublik selbst außenpolitische Rahmenbedingungen geschaffen worden, die eine Revision der Einwanderungsprozesse, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben, unmöglich erscheinen lassen.
Auch die heutige Rechtssituation in der Bundesrepublik stünde einer solchen Absicht entgegen. Die Rechtsprechung in der EG, verschiedene binationale Verträge, die internationalen und europäischen Menschenrechts-und Sozialabkommen und die anwendbaren Normen des Grundgesetzes, z. B. in bezug auf den Schutz von Ehe und Familie, haben ein Netzwerk von Garantien entstehen lassen, das die Entscheidungsräume bundesdeutscher Verwaltungen stark einschränkt. Darüber hinaus hat sich auch in den Fällen, in denen Ausweisungen rechtmäßig erfolgt sind, vielfach ein öffentlicher Konsens ergeben, daß Ausweisungen nicht erfolgen sollten, wenn die Betroffenen lange Zeit in der Bundesrepublik gelebt haben. Ausjüngster Zeit gilt das etwa für den Fall einer Rentnerin türkischer Nationalität, die nach langer Arbeitstätigkeit in Deutschland wegen ihrer geringen Rente Sozialhilfe bezog und deswegen vom Tübinger Regierungspräsidenten ausgewiesen worden war Der Berliner Senat hat im April angekündigt, daß er Angehörigen der zweiten Generation, die mit ihren Eltern im Zuge der „Rückkehrförderung“ 1984 als Minderjährige in die Türkei gegangen sind. Rückkehroptionen nach Berlin gewähren wird.
Auch in der Politik zeigt sich in den letzten Jahren trotz aller Kontroversen ein Grundkonsens darüber. daß der Aufenthalt der Ausländer aus Anwerbestaaten verfestigt werden sollte. Forderungen nach einer radikalen Reduzierung der Zahl der Ausländer werden im Gegensatz zu den frühen achtziger Jahren von Politikern der im Bundestag vertretenen Parteien nicht mehrerhoben. Sie gelten in der öffentlichen Diskussion inzwischen als rechtsradikal.
Trotz dieser Tendenz zum Konsens bleibt ein Widerspruch.der bis heute nicht gelöst ist. Das geltende Ausländergesetz aus dem Jahre 1965 ist nicht für eine große stabile Minderheit konzipiert worden. Es erlaubt der Verwaltung mit seinen weit auslegbaren Biankettbegriffen (z. B. „Belange der Bundesrepublik Deutschland“) weit dehnbare Interpretationsmöglichkeiten und ist in der Auslegung nur durch die Rechtsprechung beschränkt. Schon vor zehn Jahren — im Jahr 1978 — ist auf Initiative des damaligen Bundesinnenministers Baum ein Versuch unternommen worden, für die Gruppe der „Ausländer aus Anwerbestaaten“ eine Verstetigung und Stabilisierung des Aufenthalts-rechtes zu gewährleisten.
Geändert werden konnte wegen politischer Widerstände damals nur die Allgemeine Verwaltungsverordnung zum Ausländergesetz, nicht das Gesetz selbst. Seitdem ist vorgesehen. Ausländem bei Vorliegen bestimmter Mindestbedingungen nach fünf Jahren die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und nach acht Jahren die Aufenthaltsberechtigung zu verleihen. Insbesondere die letztere Rechtsform, die vorher fast ausschließlich an Ausländer mit hohem Sozialprestige (Unternehmer, Lehrer etc.) verliehen worden war, gewährt eine stärkere Aufenthaltssicherheit und schützt z. B. bei Sozialhilfe-bezug vor der Ausweisung. Auch neun Jahre nach Einführung der neuen Grundsätze haben indes erst zehn Prozent der Ausländer die Aufenthaltsberechtigung erhalten
Die Frage der Aufenthaltssicherheit ist keine akademisch-theoretische Frage. Im Gegenteil: Erst Aufenthaltssicherheit erlaubt Lebensplanung und eine bewußte Option für eine Zukunft in Deutschland. Nicht gelöst sind auch die weiterführenden Fragen nach der Möglichkeit für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und politischer Mitwirkungsrechte. 1987 scheiterte eine Initiative der nordrhein-westfälischen Landesregierung im Bundesrat. die sich das relativ bescheidene Ziel gesetzt hatte, für die zweite Generation — die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Ausländer — die Erleichterung der Einbürgerung und für die dritte Generation einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung zu erreichen. Erst während der Diskussion um das kommunale Wahlrecht, die seit 1987 neu entbrannt ist, ist auch von Seiten der Bundesregierung wiederum auf die Einbürgerung hingewiesen worden, allerdings nicht als Rechtsanspruch, wie er in Frankreich für die dort geborenen Ausländer seit langem gilt und in Skandinavien und den Niederlanden nach einer gewissen Aufenthaltszeit angeboten wird.
In der Bundesrepublik ist zwar die Tatsache der langjährigen Anwesenheit der Ausländer als fait accompli hingenommen worden, aber es wurde keine konsistente Politik durchgesetzt, die den daraus entstehenden Problemen Rechnung trägt und Konzepte für die Zukunft entwickelt. Neben traditionellem nationalstaatlichem Denken ist dafür in erster Linie die Ideologisierung der Ausländerpolitik und ihre Instrumentalisierung für den politischen Machtkampf verantwortlich zu machen.
V. Ausländer als Thema bundesdeutscher Politik
Die Diskrepanz zwischen der Tatsache der Permanenz und der politischen Illusion der Anwesenheit auf Zeit lud dazu ein, bei Krisenerscheinungen oder bei knappen Mitteln materiell und symbolisch auf Kosten der Ausländer zu handeln. Hinzu kommen die rechtlichen Instrumente des Ausländergesetzes, die eine Verfügbarkeit der Ausländer zu garantieren scheinen, und die politische Machtlosigkeit der Ausländer. Diese Verfügbarkeit der Ausländer, die Selbstverständlichkeit der Bestimmung ihrer Interessen durch die Deutschen war generell ein Kennzeichen der Debatten. Dies findet auch in anderen Ländern Entsprechungen Die verdienstvolle Betreuung der Ausländer durch die Wohlfahrtsverbände und die Advokatenrolle, die diese bzw. die Kirchen für die Ausländer wahrnehmen, bergen gleichzeitig die Gefahr, daß die Ausländer in der Öffentlichkeit permanent auf Unmündigkeit festgelegt werden
Schon die wirtschaftliche Krise von 1966/67 — eigentlich eher eine vorübergehende Unterbrechung des Wirtschaftswachstums — war mit einer negativen Thematisierung des Themas „Ausländer“ verbunden. Entsprechend der damaligen Verteilung der Nationalitäten ging es hauptsächlich um Italiener. Wie stark deren Anwesenheit dabei zur Disposition gestellt wurde, macht eine Bemerkung des damaligen Bundeskanzlers Erhard im Vorfeld der Krise deutlich: Wenn jeder Deutsche eine Stunde in der Woche länger arbeite, brauche man die ausländischen Arbeitskräfte nicht. In der Folge wurde die Anwesenheit der Ausländer ein Hauptthema der NPD, die auf dem Hintergrund der Krisenangst ihre politische Blüte erlebte. Die Ausländerfeindlichkeit ebbte mit dem Ende der Krise ab, das „Wirtschaftswunder“ ging weiter. Eingeübt aber war trotz des Hintergrundes des Kampfes gegen Minderheiten und ihrer Vernichtung in der Nazizeit die Sündenbockrolle, in die man die „Gastarbeiter“ drängte.
Die zweite Welle der Ausländerfeindlichkeit kam nicht schon 1974 mit der nächsten Welle wirtschaftlicher Schwierigkeiten, sondern erst ab 1979. Die „Ölscheichs“ als populäres Agressionsobjekt und das starke Vertrauen zur wirtschaftspolitischen Kompetenz Helmut Schmidts dürften ursächlich gewesen sein. Im Gegensatz zu vergleichbaren Ländern nahm in der Krise 1974/75 in der Bundesrepublik das Vertrauen in die politische Führung zu
Auf Landesebene allerdings propagierte schon zu dieser Zeit der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger ein „Rotationsmodell". Nach einigen Jahren sollten die „Gastarbeiter“ zugunsten „junger, frischer“ Nachfolger nach Hause zurückkehren Die Öffentlichkeit wurde ständig mit neuen Begriffen für dieses Konzept vertraut gemacht: „Schweizer Modell“, „Rückkehrförderung“, „freiwillige Rotation“, „Entwicklungshilfe“ etc. Kern war immer, die Anwesenheit von Ausländern zur Disposition zu stellen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt verurteilte 1980 die „zynische Ausnutzung gewisser latenter Ausländer-feindlichkeit durch den Ministerpräsidenten in Stuttgart und den Ministerpräsidenten in München“
Von „latenter Ausländerfeindlichkeit“ zu sprechen, war zü dieser Zeit schon eine Untertreibung. Im zeitlichen Zusammenhang mit der „zweiten Ölpreisexplosion“ 1979 entwickelte sich 1979/80 eine Kampagne, die bis zur Jahreswende 1982/83 immer wieder beherrschendes Thema der Politik war. Im Vordergrund standen nun nicht mehr die Italiener, sondern die Türken. Es gebe kein Ausländerproblem. sondern nur ein Türkenproblem, wurde vielfach konstatiert. Seriöse Zeitungen gaben Wissenschaftlern das Wort, die in zum Teil biologistischrassistisch geprägten Betrachtungen die „Repatriierung aller Nichtzentraleuropäer“ bzw.der „asiatischen“ Gastarbeiter forderten Grundtenor war jeweils die Unmöglichkeit des Zusammenlebens mit einer Bevölkerungsgruppe aus anderen Räumen und mit anderer Kultur sowie die Überfüllung des Lebensraumes — also Themen, die dem klassischen Antisemitismus und Rassismus eng verwandt sind. Die Europäer wurden den Nichteuropäern gegenübergestellt, die Christen den Moslems etc. Italiener und Spanier waren nun „gute“ Ausländergeworden. Schaden nahm die Kampagne, als das offen rechtsradikale „Heidelberger Manifest“ den direkten Zusammenhang dieser Ideen und einiger ihrer Träger mit rechtsradikalem Gedankengut enthüllte
Die populären Zeitungen waren in ihrer Berichterstattung vielfach direkter. Gleichzeitig machte eine Welle von makabren und agressiven „Türkenwitzen“ die Runde, sie zogen die Parallele zur Vernichtung der Juden sehr direkt. In der selben Zeit erreichten auch die Gewaltanschläge auf Unterkünfte von Türken und asiatisch-afrikanischen Flüchtlingen ihren Höhepunkt
Kommunal-und Landespolitiker reagierten 1980/81. indem sie vor einer „Überflutung“ durch Ausländer warnten. Die damalige Opposition griff das Thema im Bundestag vielfältig auf und nutzte es zur Kritik an der Bundesregierung, der Untätigkeit vorgeworfen wurde. Verlangt wurde eine beträchtliche Reduzierung der ausländischen Bevölkerung und ein Ende der „Asylantenflut“ — von der Führung der CDU/CSU allerdings etwas zurückhaltender als von einigen in dieser Frage besonders engagierten Politikern wie Dregger, Spranger und Lummer Analysen des Instituts für Demoskopie zeigen, daß die Bevölkerung die „Problemlösungskompetenz“ der CDU/CSU in dieser Frage höher einschätzte als die der SPD-FDP-Regierung Höhepunkt der Entwicklung war die erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl, in der die „Ausländerpolitik“ zu einem der vier Schwerpunkte eines „Dringlichkeitsprogramms“ gehörte, gleichrangig mit der Wirtschafts-und Friedenspolitik.
Dies war aber schon der Beginn der Dethematisierung. In der ein halbes Jahr später abgegebenen zweiten Regierungserklärung war die Ausländerpolitik nur noch eine Randfrage. In der Folge spielte sie allerdings bei Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition eine Rolle. Außer dem schon erwähnten „Rückkehrförderungsprogramm“ wurden keine „ausländerpolitischen“ Maßnahmen ergriffen, den Asylbereich ausgenommen. Die aktuelle Diskussion läßt erwarten, daß sich dies auch in der laufenden Legislaturperiode nicht ändern wird Insbesondere dürfte es nicht zur Verabschiedung eines Ausländergesetzes kommen.
Nach fast vier Jahren der Latenz lebte das Thema schließlich mit einer neuen Zuspitzung im Juli 1986 wieder auf. Nun standen auch die Türken nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Aufregungen um Kopftuch, „graue Wölfe“ oder „türkische Stadtviertel“ waren sehr zurückgegangen. Es ging nur noch um die „Asylantenflut“ und vor allem um die Einreisemöglichkeit durch die Berliner Mauer. Die Emotionen wurden während des langen „Sommerlochs“ hochgepeitscht. Erneut kam es zu einer Häufung gewaltsamer Anschläge auf Flüchtlinge. Welchen Grad von Absurdität die Kampagne erreichte, zeigt die Berichterstattung von Berliner Zeitungen über die angebliche Gefährdung der Bevölkerung durch eine Windpocken-Erkrankung beiAsylbewerbern. Als die DDR schließlich die Mauer für Asylbewerber schloß, brach die Kampagne ab Das Thema sorgte aber anschließend im Wahlkampf in Bayern und in Bremen dafür, daß rechtsradikale Gruppen sich damit profilieren konnten. Die Entwicklung zeigt nicht im Ausmaß, aber in der Struktur Ähnlichkeiten mit der Durchsetzung der Front National in Frankreich.
VI. Konsequenzen
Die Entwicklungen in Frankreich, der Schweiz und in anderen Ländern zu Beginn der siebziger Jahre zeigen, daß fremdenfeindliche und rassistische Kampagnen nicht nur die Opfer, sondern auch die Demokratie und das wohlverstandene Interesse der Bevölkerungsmehrheit bedrohen können. Deutschland ist in dieser Hinsicht mehr als gewarnt und für die Zukunft keineswegs gefeit. Derartige Kampagnen stützen sich auf Bedrohungsvorstellungen, Ängste, ethnozentrische, nationalistische und rassistische Dispositionen und Vorstellungen. Vor allem aber beruhen sie auf den skizzierten Differenzen zwischen Wahrnehmung und Realitäten, den stabilen strukturellen Widersprüchen, die von Medien und Politikern aufgegriffen werden.
Wenn die Bundesrepublik diese Gefahren dauerhaft ausräumen will, wird sie sich an dem orientieren müssen, was in Schweden seit Anfang der siebziger Jahre und in den Niederlanden um 1980 mitten in der dort noch gravierenderen wirtschaftlichen Krise an konzeptionell durchdachter politischer Umorientierung vollzogen worden ist: Es muß bewußt werden, daß der größte Teil der Bevölkerung ausländischer Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik bleiben wird. Dies erfordert zunächst die Sicherung des Aufenthaltsrechtes. Auf dieser Grundlage sollte den erwachsenen Ausländern nach einer gewissen legalen Aufenthaltszeit (in Schweden zur Zeit fünf Jahre) das Regelangebot der Einbürgerung gemacht werden, ohne dies durch weitere Erfordernisse zu erschweren (außer bei Schwerkriminalität wie Mord oder Drogenhandel). Doppelstaatsangehörigkeiten müssen dabei in Kauf genommen werden, vor allem in den Fällen, in denen die Herkunftsländer ihre Staatsangehörigen nicht entlassen wollen, wie dies für die meisten deutschen Ausländer gilt. Nach französisch-amerikanischem Vorbild sollte ferner den hier geborenen und aufgewachsenen Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit angeboten werden, damit sie sich von vornherein an dieser Aussicht orientieren können. Dies schließt alle Rechte und Pflichten ein. das Wahlrecht ebenso wie die Wehrpflicht.
Nach allen historischen Erfahrungen kann angenommen werden, daß die große Mehrzahl der vor 1973 eingewanderten Ausländer und vor allem ihre Kinder und Kindeskinder nach einigen Jahren den Weg der Einbürgerung gehen werden. Dabei wird die Bundesrepublik aber nicht ungeduldig sein dürfen. Eine sich langsam kumulierende Veränderung ist zu erwarten.
Im Zuge des Zusammenwachsens Europas und der Welt werden zudem immer mehr Bürger anderer Länder hier ansässig werden, die nur auf Zeit hier leben wollen. Bekanntlich ist es schon heute nichts Ungewöhnliches, daß Angestellte großer Weltfirmen während ihrer Karriere in einer ganzen Reihe von Ländern leben. Dieser Bevölkerungsgruppe müssen ebenfalls politische Rechte gewährt werden, wie es das Europa-Parlament mehrfach gefordert hat. Dies betrifft vor allem das kommunale Wahlrecht. Dabei ist eine gesamteuropäische Regelung sicherlich anzustreben. Das langsamste Schiff kann aber in dieser Frage nicht maßgebend sein. Wie in den sechziger Jahren in Handelsfragen dient es dem wohlverstandenen Eigeninteresse und dem Ansehen der Bundesrepublik, in solchen Fragen voranzugehen. Wichtiger als alle Details, die im einzelnen hier nicht erläutert werden können, ist die grundsätzliche Entscheidung, die unerklärten Einwanderer endgültig anzunehmen und aufzunehmen. Wahlrecht und Bürgerrechte werden, wie die Erfahrungen in den Niederlanden gezeigt haben auch von der Bevölkerung als Zeichen dafür verstanden.
Dietrich Thränhardt, Dr. rer. soc., geb. 1941; seit 1980 o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster, Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg, mit Simone Wolken) Flucht und Asyl. Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland; (Hrsg, mit Wolf D. Narr) Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung — Entwicklung — Struktur, Frankfurt 19872; zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Kommunal-, Ausländer-und Bildungspolitik sowie zu komparatistischen Fragestellungen.
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