I. Sozialpolitik als Eckpfeiler des demokratischen Sozialstaates
Die Gewerkschaften begreifen Sozialpolitik als ein unverzichtbares Mittel zur solidarischen Absicherung elementarer Lebensrisiken. Für sie war und ist Sozialpolitik damit zugleich ein wichtiges Instrument, die Emanzipation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aus den wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten herbeizuführen. Die Gewerkschaften sehen es deshalb als ihre Aufgabe und Verpflichtung, den wirtschaftsdemokratischen, tariflichen und sozialpolitischen Ausbau des Sozial-staats voranzubringen. Die vorhandenen sozialpolitischen Leistungen wurden weder geschenkt noch „gewährt“, sie mußten in vielen langandauemden Auseinandersetzungen erkämpft werden. Ob es sich um das Sicherungssystem bei den klassischen sozialen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität. Alter handelt, um den Ausbau der Arbeitnehmer-und Gewerkschaftsrechte oder um die Gestaltung sozialer Dienstleistungen und Infrastruktur — Fortschritt war nur möglich in der Auseinandersetzung mit den Macht-und Herrschaftsansprüchen des privaten Kapitals und der Privilegierten.
Trotz großer sozialer und sozialpolitischer Fortschritte haben die Risiken, denen die abhängig Beschäftigten ausgesetzt sind, nichts von ihrer Bedrohlichkeit und Dynamik verloren. Arbeitslosigkeit. Krankheit, Frühinvalidität, sozialer Abstieg, Einkommensarmut gehören immer noch zur Alltagserfahrung vieler Arbeitnehmer. Nichts spricht dafür, daß die grundlegende Aufgabe einer umfassenden Sozialpolitik überflüssig würde. Ganz im Gegenteil: Wir erleben eher eine steigende Bedrohung grundlegender Interessen aufgrund der Dynamik und Struktur kapitalorientierter Produktionsprozesse.
Die Bundesrepublik ist und bleibt eine industrialisierte, hochgradig arbeitsteilige Erwerbsarbeitsgesellschaft. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung ist abhängig beschäftigt, vor allem die Frauenerwerbstätigkeit wird deutlich zunehmen. Der Weg in die Selbständigkeit steht nur wenigen Menschen offen. Bedarfsdeckung über Eigenarbeit kann von den meisten nicht praktiziert werden — ganz im Gegenteil: Die ökonomische Dynamik, die Verschiebungen im Bevölkerungsaufbau und die Veränderungen der Lebensformen führen dazu, daß in den nächsten Jahren die soziale Hilfe in und durch die Familie weiter abnehmen und der Bedarf an qualifizierten sozialen Diensten weiter steigen wird. Bei der höchst einseitigen Einkommens-und Vermögensverteilung schließlich kann es sich nur eine Minderheit leisten, auf den sozialen Sicherungsschutz zugunsten privater Vorsorgeformen zu verzichten.
Für die soziale Sicherheit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung sind Existenz und Dauerhaftigkeit von Arbeitsverhältnis. Arbeitseinkommen und humanen Arbeitsbedingungen grundlegende Voraussetzungen zur Persönlichkeitsentfaltung. Damit bleibt es zugleich unverzichtbare Aufgabe staatlicher Sozialpolitik, die Menschen vor Gefährdungen und Abhängigkeiten, die im Gefolge der ökonomischen und sozialen Entwicklung entstehen, zu schützen sowie Risiken solidarisch zu mildem. Diese doppelte Aufgabe von Sozialpolitik, nämlich des Schutzes und der Gestaltung, wird auch in der Zukunft vonnöten sein, um die Werte der Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen real werden zu lassen. Zusammen mit dem arbeitsrechtlichen und tarifvertraglichen Schutz ermöglicht erst das soziale Sicherungssystem eine individuelle Zukunftsplanung und persönliche Lebensgestaltung in Freiheit und Selbstverantwortung. Ein Leben in Existenzangst und Armut, unter Abhängigkeit von großbürgerlicher Barmherzigkeit oder staatlich-bürokratischer Fürsorge hat mit „Freiheit“ nichts gemein. Wenn es richtig ist, daß sich die Lebensstile differenzieren und der Wunsch nach Individualität zunimmt, dann bedarf es umso mehr einer sozialen Sicherung, die niemanden ausgrenzt, sondern eine Basis schafft, welche Individualität für alle erst ermöglicht. Die Gewerkschaften widersprechen entschieden jenen liberalistischen Auffassungen, wonach die Systeme der sozialen Sicherheit die individuelle Freiheit und Selbstverantwortung beschränkten und gängelten. Diese Art von Freiheit, notfalls auch „unter Brücken zu schlafen“, ist kein Leitbild der Gesellschaftsgestaltung. Die Würde der Person verlangt nach gemeinsamen Anstrengungen zur Schaffung einer solidarischen Gesellschaft, die dem einzelnen Freiheit von Not und willkürlicher Abhängigkeit und eine gerechte Teilhabe aller am wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sichert.
Die Erwerbsarbeit muß und wird zentraler Anknüpfungspunkt von Sozialpolitik bleiben. Die Menschen finden nicht nur ihre eigenständige finanB zielle Basis, sondern auch einen wesentlichen Teil ihrer Identität und Selbstverwirklichung in der Erwerbsarbeit. Sie ist aber nicht das Maß aller Dinge in der Sozialpolitik. Sozialpolitik wird zugleich die Nicht-Erwerbsarbeit, vor allem die Haus-und Erziehungsarbeit (der Frauen) berücksichtigen und in den sozialen Sicherungsschutz einbeziehen müssen. Dies ist nicht gleichbedeutend mit dem Schlagwort der „Entkoppelung von Arbeit und Einkommen“ zur Förderung einer dualen Wirtschaft. Ein solcher Vorschlag des „Ausstiegs aus der Erwerbsarbeit“ ist nicht nur resignativ, sondern auch illusionär. Eine hochentwickelte Gesellschaft kann vielleicht aus manchen risikobehafteten Produktionszweigen aussteigen, nicht aber aus der arbeitsteiligen Produktion selbst. Die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ besteht nicht darin, daß der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, sondern beruht darauf, daß in einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem Arbeitsplätze nicht dort von selbst entstehen, wo sie gebraucht werden: im Umweltschutz, im Sozial-und Gesundheitsbereich, in umweltverträglichen Energien usw.
II. Sozialpolitik vor neuen Herausforderungen und Problemen
Diese Grundprinzipien der Sozialpolitik in Erinnerung zu rufen und zu bewahren, heißt zugleich, den Grundstein zu legen für ihre Weiterentwicklung. Der Sozialstaat der Zukunft kann nicht die schlichte Fest-und Fortschreibung des Status quo bedeuten. Eine solche antireformerische Politik weist keine Perspektive und trägt nichts bei zur Bewältigung der vielfältigen Anforderungen, die auf die Sozialpolitik zukommen. Wer sich diesen Herausforderungen nicht offensiv stellt, wird weder der verbreiteten Sozialstaatskritik noch dem neokonservativen, wirtschaftsliberalen Ab-und Umbau der Sozialpolitik in Richtung einer verstärkten Privatisierung und Vermarktung entgegenwirken können. Es sind nicht zuletzt die zahlreichen negativen Erfahrungen, die viele Betroffene mit den Defiziten, Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten der historisch gewachsenen Strukturen und Institutionen der Sozialpolitik gemacht haben, die den Nährboden für marktradikale Auffassungen abgeben. Sozialpolitische Alternativen für die Zukunft müssen deshalb Utopien sichtbar werden lassen und dürfen sich nicht in Details und Technokratismus verschleißen. Es müssen allerdings stets konkrete Utopien bleiben, die die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse und Durchsetzungsbedingungen mitberücksichtigen. 1. Folgen der Massenarbeitslosigkeit Für die Sozialpolitik der nächsten Jahre, ja für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt wird die Arbeitsmarktlage die größte Herausforderung und Schwierigkeit darstellen. Alle vorliegenden Szenarien und Projektionen der Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt weisen darauf hin, daß bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschafts-und Finanzpolitik die Massenarbeitslosigkeit bis über das Jahr 2000 hinaus die wirtschaftliche und soziale Lage in der Bundesrepublik prägen wird.
Für die Sozialpolitik bedeutet dies, daß sie mit hohen — und vielleicht sogar steigenden — Risiken konfrontiert wird. Unter den Bedingungen der Konkurrenzgesellschaft wäre eine weitere, dauerhafte Ausgrenzung von immer größeren Bevölkerungsgruppen die Folge. Anhaltende Arbeitslosigkeit wird die Sozialpolitik zudem vor gravierende Finanzierungsprobleme stellen: Der Einfluß der Arbeitslosigkeit auf die Finanzlage ist deswegen gravierend, weil ein niedriger Beschäftigungsstand Ausgaben-und Einnahmenseite gleichermaßen negativ berührt. Dem steigenden Finanzbedarf auf der einen Seite steht eine durch dieselbe Ursache verschlechterte Einnahmesituation auf der anderen Seite gegenüber. Nicht der Sozialstaat, sondern die Arbeitslosigkeit mit ihren verheerenden sozialen, psychischen und finanziellen Folgewirkungen ist zu teuer. Hier liegt der Kem der aktuellen und zukünftigen Finanzierungsprobleme, sowohl was das Ausmaß der Wertschöpfung als auch die Verteilung angeht.
Ohne Zweifel stellt auch die Bevölkerungsentwicklung die Sozialpolitik, insbesondere die Alterssicherung, vor große Finanzierungsprobleme, die Strukturreformen notwendig machen. Aber entscheidend für die Finanzierbarkeit eines Alterssicherungssystems ist nicht die Zahl der Menschen in bestimmten Altersgruppen, sondern die Zahl der beschäftigten und damit steuer-und beitragszahlenden Arbeitnehmer sowie deren Einkommenslage. Die Bevölkerungsentwicklung muß stets im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang gesehen werden: Die ökonomischen Bedingungen, nämlich die Entwicklung von Wachstum, Produktivität, Beschäftigung und Einkommensverteilung, sind für die Finanzierbarkeit der Sozialpolitik maßgebend. Durch die ökonomische Entwicklung können die demographisch bedingten Finanzbelastungen wesentlich entschärft, bei ungünstigem wirtschaftlichem Verlauf, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, aber auch verschärft werden.
Anhaltende Arbeitslosigkeit vergrößert die Gefahr. daß arbeits-und sozialrechtlich abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse („Normalarbeitsverhältnisse“) immer stärker zerfasern und schließlich zerstört werden. Die Zahl ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse mit geringem und unregelmäßigen Arbeitseinkommen ist in den letzten Jahren steil angestiegen. Vor allem Frauen zählen zu den Betroffenen. Für die Lebenslage aller Arbeitnehmerfinnen) bleiben jedoch dauerhafte, arbeits-und sozialrechtlich geschützte Beschäftigungsverhältnisse mit einem ausreichenden Einkommen unverzichtbar. Das auf dem Versicherungsprinzip aufbauende soziale Sicherungssystem führt nur dann zu einem wirksamen sozialen Schutz, wenn diese Voraussetzungen garantiert sind.
Die Sozialpolitik der letzten Jahre hat zur Bewältigung der neuen Herausforderungen nichts beigetragen, sondern die Probleme nur noch verschärft. Durch den Abbau sozialer Leistungen wurden tiefe Löcher in das soziale Sicherungssystem gerissen; Millionen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und ihre Familien, Rentner, Behinderte und Kranke sind davon betroffen. Das „soziale Netz“ ist so weitmaschig geworden, daß immer mehr Menschen hindurchfallen und auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen sind. Dies ist die eine Seite der Realität, die Seite der Verlierer und der drohenden Neuen Armut. Die andere Seite, das sind Rekorde bei den Unternehmergewinnen und in der Geldvermögensbildung auf Seiten der Gewinner des Verteilungskampfs und der Rationalisierungsstrategien. Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau einerseits, die Förderung der Gewinne und der hohen Einkommen andererseits, haben die Gesellschaft gespalten. Der sozialstaatliche Grundkonsens, der die Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten noch begleitet hat. ist zerbrochen. Unsere Gesellschaft droht zu einer „Ellenbogengesellschaft“ zu werden, in der der Eigennutz der wirtschaftlich Stärkeren alles und in der die Solidarität nichts zählt.
Trotz der offenkundigen sozialen Probleme ist die Sozialpolitik weiterhin in der Defensive. Selbst die sozial-und arbeitsrechtliche Sicherung wird in der wirtschaftsliberalen Sozialstaatskritik als hemmend für die Entfaltung der wirtschaftlich-technologischen Modernisierung beschrieben. Mit den Schlagworten „Eigenverantwortung“. „Individualisierung“ und „Leistungsbereitschaft“ wird der ideologische Pfad ausgetreten, um die soziale Sicherung auf die „wahrhaft Bedürftigen“ zu konzentrieren und die Risikovorsorge und den sozialen Schutz Stück um Stück zu privatisieren. 2. Konstruktionsmängel des sozialen Sicherungssystems Die Sozialpolitik hat nicht nur mit den Problemen und Gegnern von „außen“, sondern auch mit ihren eigenen Konstruktionsmängeln zu kämpfen. Die Mängelliste ist lang und ließe sich noch um viele Punkte erweitern: — Organisatorische Strukturen, denen außer dem Prädikat „gewachsen“ kaum etwas Rationales nachgesagt werden kann;
— Dominanz des Versicherungs-und Äquivalenzprinzips unter der Annahme kontinuierlicher Erwerbsarbeit von allen mit der Folge, daß bei Arbeitslosigkeit immer mehr Menschen durch das soziale Netz fallen und auf Sozialhilfe angewiesen sind;
— unzureichende eigenständige soziale Absicherung von Frauen;
— gravierende Leistungsunterschiede zwischen den Systemen der Alterssicherung;
— steigende Aufwendungen im Gesundheitssystem ohne Verbesserung der Versorgungsqualität: Das Gesundheitswesen sichert so manchem freien Beruf und Industriezweig Einkommen oder Gewinne, die man nur als privilegiert bezeichnen kann;
— Fehlversorgung im Gesundheitssystem: Übermedikamentierung einerseits, Versorgungslükken bei psychisch Kranken und Pflegebedürftigen andererseits;
— Vernachlässigung von Prävention und Rehabilitation; — unsolidarische Finanzierungsstrukturen: Glei‘ ehe Leistungen der Krankenversicherung gibt es zu Beitragssätzen zwischen sieben und 16 v. H.;
in der Alterssicherung wird das System mit dem höchsten Leistungsstandard, die Beamtenversorgung, ohne Eigenbeträge der Betroffenen finanziert; die Arbeitsmarktpolitik muß allein durch die Beiträge der versicherten Arbeiter und Angestellten finanziert werden;
— die Zusammenarbeit der Sozialversicherungsträger bei gemeinsamen Aufgaben (z. B. Rehabilitation und Prävention) ist mühsam und bürokratisch; Innovationsansätze scheitern häufig an institutioneilen Egoismen;
— der Familienlastenausgleich ist ehe-und nicht kinderorientiert: Die Aufwendungen für das Ehegattensteuersplitting liegen doppelt so hoch wie die Aufwendungen für das Kindergeld.
III. Schwerpunkte und Grundsätze sozialpolitischer Reformen
1. Abbau der Arbeitslosigkeit Für die soziale Sicherheit der Bevölkerung wie auch die Persönlichkeitsentfaltung sind Existenz und Dauerhaftigkeit von Arbeitsverhältnis, Arbeitseinkommen und humanen Arbeitsbedingungen grundlegende Voraussetzungen. Der Schwerpunkt sozial-staatlicher Verantwortung muß daher bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liegen. Dies erfordert die Einbettung der Sozial-und Arbeitsmarkt-politik in ein beschäftigungssicherndes, auf qualitatives Wachstum und Arbeitszeitverkürzung gerichtetes Gesamtkonzept. Die beschäftigungs-und um-weltpolitischen Vorschläge des DGB erfordern eine dauerhafte Erhöhung der Investitionen, sie schaffen Arbeitsplätze und leisten einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Lebensgrundlagen und zur Verbesserung der Lebensqualität. In Verbindung mit den — von den Gewerkschaften bereits erkämpften und weiterzutreibenden — Arbeitszeit-verkürzungen sind sie geeignet, die Arbeitslosigkeit erheblich abzubauen. Durch die dauerhafte Ausweitung sozialer Dienste kann die Sozialpolitik einen eigenständigen Beitrag zur Schaffung gesellschaftlich sinnvoller und notwendiger Arbeitsplätze leisten.
Ein Abfinden mit wachsender Arbeitslosigkeit käme hingegen einer Aufgabe der Sozialstaatlichkeit und des Anspruchs auf eine menschenwürdige Gesellschaft gleich. Ein Arrangement mit Arbeitslosigkeit kann angesichts nicht genutzter beschäftigungspolitischer Handlungsmöglichkeiten nicht akzeptiert werden. Manch „radikaler“ und „attraktiver“ Entwurf, der unter dem Stichwort „Ende der Arbeitsgesellschaft“ gehandelt wird, entpuppt sich als gut formulierte Resignation. Durch einen neuen Arbeitsbegriff wird die Arbeitslosigkeit nicht aufgehoben; durch die ideologische Aufwertung der Nicht-Erwerbsarbeit werden die individuellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht überwunden. Der Ausschluß von Arbeitsmarkt und -einkommen ist weder ein emanzipatorischer Akt noch „Befreiung von falscher Arbeit“. Eine wirkliche Befreiung wäre das genaue Gegenteil von erzwungenem Ausschluß mit der Folge von Abhängigkeit, drohender Verarmung und zerstörten Lebenszusammenhängen. „Falsche Arbeit“ kann man nur innerhalb der Produktion beseitigen, etwa durch mehr Mitbestimmung und durch die Humanisierung der Arbeitswelt. Die Selbstverwirklichung der Menschen setzt voraus, daß im Reich der „Notwendigkeit“ Unterdrückung, Ausbeutung der Gesundheitsverschleiß abgebaut werden und dadurch die finanziellen und sozialen Grundlagen gesichert sind. Erst auf dieser Basis ist ein menschliches, solidarisches Leben und eine ungezwungene, freiwillige Entfaltung der Eigenarbeit möglich. Auch der Gleichberechtigung der Frauen ist mit einer rein moralischen, aber sonst folgenlosen Aufwertung von Familien-, Mütter-und ehrenamtlicher Arbeit nicht gedient. Entscheidend ist, die gesellschaftlich notwendige Nicht-Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern aufzuteilen und diese Reproduktionsarbeit zugleich bei der Gestaltung der Erwerbsarbeit zu berücksichtigen. 2. Armutsbekämpfung und Sicherung des Lebensstandards Die Sozialpolitik braucht keine Reform an Haupt und Gliedern. Notwendig ist es aber, auf der Basis bewährter Prinzipien — insbesondere des solidarischen Ausgleichs — die Sozialpolitik zu modernisieren und zu demokratisieren, ihre strukturellen Mängel zu beseitigen, die Sicherungslücken aufzufüllen und die Finanzierungsgrundlagen sicherzustellen. Das Recht auf Arbeit und das Recht auf Einkommen stehen nicht gegeneinander, sondern ergänzen sich. Die beste soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit kann den fehlenden Arbeitsplatz, die sinnvolle und qualifizierte Tätigkeit nicht ersetzen. Solange aber Arbeitslosigkeit (und Invalidität, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit usw.) besteht, muß dafür Sorge getragen werden, daß kein Mensch in psychische und finanzielle Verarmung gerät. Die Bundesrepublik zählt zu den wohlhabendsten Staaten der Welt: Die Vermeidung von Armut ist kein finanzpolitisches Problem, sondern ein Problem des politischen Wollens und der Prioritätensetzung! Soziale Sicherung heißt aber nicht nur Vermeidung von Armut, sondern auch Beibehaltung eines einmal erreichten Lebensstandards. Sozial(versicherungs) leistungen müssen immer auch ein Einkommensersatz sein, der sich dynamisch der allgemeinen Wirtschafts-und Einkommensentwicklung anpaßt.
Armut wird durch das bestehende Sozialversicherungssystem nicht vermieden. Gerade bei wachsender Arbeitslosigkeit zeigt sich, daß das primär auf die Erwerbsarbeit zentrierte Versicherungssystem mit seinen Prinzipien der Kausalität und Äquivalenz zu Defiziten, Lücken und Ungerechtigkeiten führt und die Auslesemechanismen des Marktes eher verschärft als durch Bedarfsgrundsätze ausgleicht. Die Qualität des sozialen Sicherungssystems hat zugleich durch die umfangreichen Maßnahmen des Sozialabbaus der letzten Jahre erhebliche Einbußen erlitten. Das Leistungsniveau wurde abgesenkt, der Solidarausgleich beschnitten. Der soziale Schutz insbesondere bei Arbeitslosigkeit ist mittlerweile völlig unzureichend geworden. Die Sozialhilfe ist allzu häufig für typische Lebensrisiken die letzte Auffangstation. Aber diese Funktion der Sozialhilfe zur Abdeckung massenhafter Notlagen bei typischen sozialen Tatbeständen ist weder in der Konstruktion des bundesrepublikanischen Systems sozialer Sicherung vorgesehen, noch kann sie auf Basis der gegenwärtigen rechtlichen Regelungen der Sozialhilfe wirklich erfüllt werden: Das Leistungsniveau (Regelsätze der Hilfen zum Lebensunterhalt) ist unzureichend, die Unterhaltsverpflichtung auch zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern (und umgekehrt) wird zunehmend problematisch, Leistungsvergabe und -kontrolle wirken diskriminierend, die kommunale Finanzierung ist nicht länger vertretbar. Die Finanzierung der Sozialhilfe durch die Kommunen führt dazu, daß deren finanzielle Möglichkeiten überfordert werden. Der Sozialhilfe wird dadurch zugleich jede Möglichkeit genommen, sich auf die Einzelfallhilfe in besonderen, atypischen Problemsituationen zu konzentrieren.
Die Einführung von Mindestsicherungselementen in das Sozialleistungssystem ist daher notwendig, um den Rückgriff auf die Sozialhilfe zu vermeiden. Eine ausschließliche Grundversorgung — so wie sie als „garantiertes Mindesteinkommen“ oder Grundrente diskutiert wird — stellt jedoch keine akzeptable Alternative zum gegenwärtigen Sicherungssystem dar. Denn auch dann, wenn das Sicherungsniveau hoch angesetzt ist, könnte es den Verlust des Erwerbseinkommens, von dem die Beschäftigten bei Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Unfällen und im Alter betroffen sind, nur unzureichend ausgleichen. Schlechter gestellt würden vor allem die Beschäftigten, die ein mittleres und höheres Arbeitseinkommen beziehen und nur durch die Lohnersatzfunktion der Sozialversicherung ihren Lebensstandard einigermaßen beibehalten können. Fällt der Lohnersatz durch Sozialversicherungsleistungen weg, erhöht sich ihre soziale Unsicherheit und Abhängigkeit. Es entstünde — noch mehr als heute — ein Zwang zur Erwerbsarbeit auch im Alter. bei Krankheit. Invalidität usw. All diejenigen, die es sich finanziell leisten können, wären darauf angewiesen, private Zusatzversicherungen abzuschließen. Die Einkommenshierarchie und die Differenzierung der Lebenslagen würden sich verschärfen, statt sich einzuebnen. Für die Privatversicherungen würden sich lukrative Kapitalanlage-sphären eröffnen.
Reformvorschläge einer „bedarfsorientierten Mindestsicherung“ bei Arbeitslosigkeit oder im Alter zielen demgegenüber auf eine Integration der Mindestsicherung in die jeweiligen Leistungssysteme; das leistungs-und beitragsbezogene Sicherungssystem wird ergänzt, aber nicht ersetzt. In den einzelnen Sicherungszweigen, z. B. Rentenversicherung oder Arbeitslosenversicherung, soll allen Betroffenen eine am Bedarf orientierte Mindestsicherung auch dann garantiert werden, wenn die Versicherungsleistungen unterhalb des Mindestniveaus liegen. Die Leistungen werden dann auf das Mindestniveau aufgestockt. Um allerdings eine sozial-und verteilungspolitisch unakzeptable Begünstigung derjenigen zu vermeiden, die der Mindestsicherung aufgrund ihrer ausreichenden Versorgung nicht bedürfen. werden bei der Ausgleichszahlung Einkommen und Vermögen des Versicherten und seines Ehepartners in Rechnung gestellt. Sozialhilfe braucht dann nicht mehr geltend gemacht zu werden. Zu überlegen ist, wie auf die Ersatzansprüche durch Unterhaltspflicht zwischen Eltern und Kindern verzichtet werden kann. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung ist also keine Versicherungsleistung, sondern sie ist eine Ausgleichsleistung, die im Auftrag des Bundes durchgeführt und aus Steuermitteln, nicht aus Beitragsmitteln, finanziert wird. In den Gewerkschaften wird noch über Einzelheiten dieses Konzepts einer bedarfsbezogenen Grundsicherung, insbesondere über den in Frage kommenden Personenkreis, diskutiert. In seinem sozialpolitischen Programm, dessen Entwurf Mitte 1988 vorliegt, wird der DGB dazu Vorschläge unterbreiten. Allerdings ist es unabdingbar, Leistungsniveau und -kriterien einer bedarfsorientierten Mindestsicherung mit denen der Sozialhilfe in Übereinstimmung zu bringen, um eine Mindestsicherung erster und zweiter Klasse zu vermeiden. Dies erfordert vor allem die Anhebung der Bedarfs-sätze (Regelsätze), die Begrenzung der Unterhalts-pflicht, die Anhebung der Einkommens-und Vermögensfreigrenzen und die Abschaffung diskriminierender Regelungen bei der Hilfe zur Arbeit.
Dem Prozeß der Ausgrenzung aus dem Versicherungssystem und der vermehrten Abhängigkeit von Sozialhilfe muß nach gewerkschaftlicher Auffassung gleichermaßen auch durch einen Ausbau des Versicherungsschutzes und durch eine Verstärkung des Solidarausgleichs begegnet werden. Elemente in diesem Konzept sind vor allem — eine Ausweitung des versicherten Personenkreises: Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen, Versicherungspflicht auch der „geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“;
— eine Erweiterung und nicht Einengung der Anspruchsvoraussetzungen, z. B. Verkürzung der Wartezeiten, voller Versicherungsschutz bei Invalidität; — die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld; — der Ausbau der Anrechnung von beitragslosen Zeiten in der Rentenversicherung: Kindererziehung, Pflege, alle Zeiten registrierter Arbeitslosigkeit; — die Weiterführung der Regelung „Rente nach Mindesteinkommen“;
— eine Anhebung des Leistungssatzes von Arbeitslosengeld und -hilfe. 3. Demokratisierung und Selbsthilfe Sozialpolitik gilt nach wie vor als Domäne von Experten und Verwaltungen. Was in anderen Politikbereichen vielfach selbstverständlich ist — die unmittelbare Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen —, hat in die Sozialpolitik bisher kaum Eingang gefunden. Die soziale Selbstverwaltung als institutionalisierter Mittler zu den Interessen der Sozialbürger hat bisher diese Rolle nur unzulänglich wahrnehmen können. Entstehung und Verbreitung von Selbsthilfegruppen verweisen eindringlich auf das demokratische Defizit der Sozialpolitik. Heute wissen wir genau, daß Solidarität — weil sie gefährdet ist — nicht selbstverständlich ist, sondern daß darum gekämpft und dafür geworben werden muß. Dies geht aber nicht über die Köpfe der Menschen hinweg; sie müssen vielmehr einbezogen werden in die konkreten sozialpolitischen Diskussionsund Entscheidungsprozesse. Die Verknüpfung traditioneller Sicherungssysteme mit Selbsthilfeinitiativen ist ein Weg; ein weiterer Schritt ist die Aktivierung und Umorientierung der sozialen Selbstverwaltung zu einer stärkeren Demokratisierung von Sozialpolitik. Aber: Die Widerstände sind groß, weil die gewachsenen Strukturen nicht unbedingt demokratiefreundlich, sondern eher auf staatlichkorporatistische Willensbildungsprozesse zugeschnitten sind. Dies ist aber auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten, weil der Wunsch nach verantwortlicher Mitbestimmung immer mehr das Selbstbewußtsein der Bürger prägt.
Selbsthilfeaktivitäten sind zu fördern und (nicht zuletzt finanziell) zu unterstützen. Selbsthilfe der Betroffenen kann ihren vollen Sinn nur im Rahmen einer Demokratisierungskonzeption erhalten. Durch Ergänzung (nicht Ersetzung) der professionellen Beschäftigten kann Selbsthilfe einen kontrollierenden und befruchtenden Einfluß haben. Selbsthilfe kann — wenn nicht als individueller Rückzug oder vorindustrielle Scheinidylle begriffen — zur Emanzipation der Betroffenen beitragen und sie zur solidarischen Bewältigung sozialer Probleme befähigen. Selbstentfaltung, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung — diese Begriffe der Selbsthilfedebatte sind, umfassend verstanden, Ansprüche auf Teilhabe an allen gesellschaftlichen und ökonomischen Entscheidungen und Prozessen!
Selbsthilfeaktivitäten werden sich im wesentlichen auf die Pflege, Betreuung und Beratung von Menschen konzentrieren. Staatliche, institutionalisierte Sozialpolitik kann nicht alle menschlichen Probleme und Nöte auffangen. Die professionellen sozialen Dienstleistungen geraten bei psycho-sozialen Problemlagen an häufig eng gesteckte Grenzen. Hier bedarf es der aktiven Selbsthilfe und Mithilfe in solidarischen Bezügen. Positiv verstandene Selbsthilfe lebt davon, daß sie freiwillig praktiziert wird. Für diese Freiwilligkeit müssen aber auch die Bedingungen geschaffen werden: Nur wenn eine grundlegende sozialstaatliche Infrastruktur vorhanden ist, sind auch Voraussetzungen dafür gegeben, daß sich solidarische Selbst-und Nachbarschaftshilfen entfalten können. Selbsthilfe lebt auch davon, daß sie nicht überstrapaziert wird. Es wäre absurd, Einkommensleistungen, die auf das Umlageverfahren in großen Solidargemeinschaften angewiesen sind, durch Selbsthilfe zu regeln. Niemand, der Solidarität braucht, darf auf Selbsthilfe verwiesen werden, zu der er nicht in der Lage ist! 4. Solidarische Finanzierung Sozialpolitik, wirtschaftliche Entwicklung und Finanzpolitik sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Sozialpolitische Leistungen beruhen auf der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Insofern steht Sozialpolitik nicht außerhalb der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik stelltjedoch keine Einbahnstraße dar. Eine einseitige Charakterisierung des Sozialstaates als „parasitärer Kostgänger“, so wie dies in der neokonservativen Ideologie vertreten wird, vernachlässigt, daß sozialstaatliche Leistungen zugleich eine unverzichtbare Voraussetzung für eine entwickelte Gesellschaft und Wirtschaft darstellen. Sozialausgaben sind Kosten-und Nachfragefaktor zugleich. Sie sichern einen bedeutenden Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Und sie haben auch unmittelbare Beschäftigungswirkungen.denn die sozialen Dienstleistungen stellen ein wichtiges Beschäftigungsfeld dar.
Die Finanzierung der Sozialausgaben steht im Zentrum des Verteilungskonfliktes. In den Verteilungsauseinandersetzungen entscheidet sich, welchen Anteil an der Wertschöpfung die Bezieher von Arbeits-und Kapitaleinkommen erhalten (Löhne und Gewinne) und welcher Anteil davon durch Korrektur der Markteinkommen zur Finanzierung der Sozialausgaben abgeschöpft wird. Die Entscheidung, wer die Belastungen durch die Abzüge trägt, d. h. welche Einkommen welcher Gesellschaftsgruppen betroffen sind, wird durch die Art der Steuer-bzw. Beitragserhebung geprägt. Die Diskussion über die zukünftige Finanzierung der Sozialpolitik wird sich also auf die Ausgestaltung des Beitrags-und Steuersystems konzentrieren müssen. Entgegen der gängigen Rhetorik von der „Unfinanzierbarkeit“ der Sozialpolitik muß festgehalten werden, daß — in den letzten Jahren die Sozialleistungsquote gesunken ist — und dies trotz steigender Arbeitslosigkeit; — die Bundesrepublik mit ihrer Sozialleistungsund Abgabenquote im internationalen Maßstab nur im Mittelfeld liegt;
— die preisbereinigten Lohnstückkosten in den letzten Jahren ebenfalls gesunken sind und die Personalnebenkosten insofern zu keiner unerträglichen Belastung der Unternehmen geführt haben;
— der Staat im zunehmenden Maße Finanzlasten auf die Versicherung und damit die Beitragszahler umgeschichtet hat;
— die geplante Steuerreform nicht nur zu unsozialen Verteilungswirkungen führt und insofern nicht vertretbar ist, sondern’zugleich auch den finanziellen Handlungsspielraum der Gebiets-körperschaften so einengt, daß die Finanzierung von Sozialleistungen aufs äußerste gefährdet wird.
Die Gewerkschaften wissen, daß einer steigenden Beitragsbelastung der Arbeiter und Angestellten angesichts nur verhalten anwachsender Bruttoeinkommen enge Grenzen gesetzt sind. Um so mehr Wert muß deshalb darauf gelegt werden, durch präventive Strategien die sozialen Probleme und Schäden zu verhindern, um so mehr müssen die Reserven der Leistungssysteme ausgeschöpft werden. Das setzt voraus. Abschied zu nehmen von einer lediglich die Schäden nachträglich ausgleichenden Sozialpolitik. Mit einer Sozialpolitik als „RoteKreuz-Station“ hinter den Fronten einer ungehemmten. „deregulierten“ und „flexibilisierten“ Marktwirtschaft können die Herausforderungen der nächsten Jahre nicht bewältigt werden. Sozialpolitik als eine derartige Restgröße der Wirtschaftspolitik, die von den „Brosamen“ der wirtschaftlichen Modernisierungsstrategie leben soll, wird mit wachsenden sozialen Problemen und Nöten konfrontiert. Politisch muß sich dann die Sozialpolitik rechtfertigen für die hohen und wachsenden Ausgaben, während die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die erst die Risiken wie Arbeitslosigkeit, Dequalifikation, Invalidität oder arbeitsund umweltbedingte Krankheiten hervorrufen, ausgeklammert bleiben. Hier eine Umkehr einzuleiten heißt, auch die Produktion nach sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Kriterien zu gestalten, um Schäden von vornherein zu verhindern. Einzelwirtschaftliche Gewinnmaximierung ist mit gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtsmaximierung nicht identisch!
Der solidarische Ausgleich ist das Kemelement sozialer Sicherung. Er wurzelt im traditionellen Selbstverständnis und in den Erfahrungen der Gewerkschaftsbewegung, daß gegenseitige Hilfe und gemeinsame Kämpfe die grundlegende Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensverhältnisse und die gesellschaftliche Emanzipation der Arbeitnehmer darstellen. Solidarität ist kein Widerspruch zu Eigenverantwortung, wohl aber zu rücksichtslosem Eigennutz. Sie ist auch heute und für die Zukunft eine unverzichtbare moralische Leitlinie der Gesellschaftsgestaltung und des unmittelbaren Umgangs miteinander. Solidarität zu üben, ist manchmal nicht einfach, aber in Not zu sein ohne solidarische Hilfe, bringt Verzweifelung. Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften stehen für die solidarische Verantwortung, gegen die Ausgrenzung und Privatisierung von Risiken. Das Solidarprinzip muß allerdings auch für die Finanzierung der Sozialpolitik grundlegend sein. Die Wirkung des solidarischen Ausgleichs in der sozialen Sicherung ist jedoch heute dadurch beschränkt, daß sich ein Teil der Bevölkerung dieser gesellschaftlichen Verpflichtung entziehen kann. Es bestehen ungerechtfertigte Leistungs-und Finanzierungsunterschiede. Der DGB setzt sich daher ein — für eine Erweiterung des versicherungspflichtigen Personenkreises, z. B. durch die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung und die Beseitigung der Versicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung; — für eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung;
— für einen kassenartenübergreifenden Finanz-ausgleich in der Krankenversicherung;
— für einen Arbeitsmarktbeitrag aller Erwerbstätigen; — für einen höheren Anteil des Staates an der Finanzierung der Sozialversicherung: Allgemeine gesellschaftspolitische Aufgaben dürfen nicht aus Beitragsmitteln, sondern müssen aus Steuermitteln finanziert werden;
— für einen Abbau ungerechtfertigter Unterschiede bei der Finanzierung der unterschiedlichen Alterssicherungssysteme und — für einen ergänzenden Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitgeber.
IV. Reform der Alterssicherung
1. Defizite und Probleme der Alterssicherung In fortgeschrittenen Industriegesellschaften gewinnt die dritte Lebensphase, das Alter, zunehmend an Bedeutung. Infolge der gestiegenen Lebenserwartung erreichen immer mehr Menschen ein höheres Alter. Entfaltungsspielräume und die Möglichkeit zur selbständigen Lebensführung älterer Menschen werden ganz maßgeblich durch ihre Einkommenslage geprägt. Ein ausreichendes, der wirtschaftlichen Entwicklung dynamisch angepaßtes Alterseinkommen ist die grundlegende Voraussetzung, um unabhängig und in einem angemessenen Wohnraum zu leben, soziale Kontakte anzuB knüpfen und aufrechtzuerhalten und die Altersfreizeit aktiv zu gestalten. Für die Lebenslage der älteren Generation ist damit die Leistungsfähigkeit der sozialen Alterssicherung von entscheidender Bedeutung.
Nach gewerkschaftlicher Auffassung soll allen Arbeitnehmern nach einem erfüllten Arbeitsleben die Aufrechterhaltung des erreichten Lebensstandards ermöglicht werden. Die Leistungen der Alterssicherung haben Lohnersatzfunktion. Dies erfordert, daß das verfügbare Einkommen im Alter nach einem erfüllten Arbeitsleben etwa 90 v. H.des verfügbaren Einkommens eines vergleichbaren Erwerbstätigen betragen muß. Dieses Sicherungsniveau wird in der Regel gegenwärtig nur von den Alterssicherungssystemen erreicht, die neben einer Regelversorgung noch über eine zusätzliche Altersversorgung verfügen oder deren System beide Funktionen erfüllt, wie es bei der Beamtenversorgung der Fall ist. Die öffentlich-rechtlichen Alterssicherungssysteme der abhängig Beschäftigten (Arbeiterrentenversicherung, Angestelltenversicherung, knappschaftliche Rentenversicherung. Beamtenversorgung) und die diese Systeme ergänzenden privat-rechtlichen Formen der betrieblichen Altersversorgung einschließlich der Zusatzversorgung der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst sind sehr unterschiedlich ausgestaltet. Zwischen Leistungsvoraussetzungen, Leistungsniveaus und Finanzierungsmodalitäten bestehen erhebliche Unterschiede.
Die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung allein reichen nicht aus, um das Ziel der Lebensstandardsicherung zu gewährleisten; nach 45 (40) Versicherungsjahren wird gegenwärtig ein Nettorentenniveau von 71, 6 v. H. (63, 5 v. H.) realisiert. Die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung. die die gesetzlichen Renten aufstocken, sind sehr unterschiedlich und uneinheitlich gestaltet. Viele Arbeitnehmer — insbesondere Frauen und Beschäftigte in Klein-und Mittelbetrieben — erhalten nur unzureichende oder überhaupt keine Betriebsrenten. Die freiwillige betriebliche Altersversorgung vergrößert die Unterschiede in den Alterseinkommen, anstatt sie auszugleichen.
Die gesetzliche Rentenversicherung verfehlt insbesondere dann ihr Sicherungsziel, wenn sie nicht imstande ist, Armut im Alter zu verhindern. Von Altersarmut sind vor allem Frauen betroffen. Und es sind vor allem ältere Frauen, die die ihnen zustehenden Sozialhilfeansprüche aus Unkenntnis, Angst oder Scham nicht wahrnehmen („verschämte Armut“). Die Konstruktionsprinzipien der Rentenversicherung führen dazu, daß sich die Benachteiligung der Frauen im Berufsleben im Alter wiederholt und verschärft: Da Frauen wegen der Kindererziehung oder auch infolge der oft jahrelangen Pflege von hilfebedürftigen Familienangehörigen ihre Berufstätigkeit unterbrechen oder aufgeben müssen oder nur im „geringfügigen“ Umfang erwerbstätig sein können, weist ihr Versicherungsverlauf in aller Regel erhebliche Lücken auf. Für die niedrigen Frauenrenten sind darüber hinaus die niedrigen Frauenlöhne verantwortlich, die unverändert die Erwerbslage der Mehrzahl der Frauen charakterisieren.
Ohne Maßnahmen zur Lösung der Altersarmut hat die anstehende Strukturreform der Rentenversicherung ihren Namen nicht verdient. Die Gewerkschaften plädieren für einen systematischen Ausbau des Versicherungsschutzes: Erweiterte Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung, Anrechnung von Zeiten der Pflege, volle Anrechnung aller Zeiten der registrierten Arbeitslosigkeit, Weiterführung der Rente nach Mindesteinkommen lauten die Stichworte. Wenn die Altersrente Lohn für Lebens-leistung sein soll, dann darf sich die Leistung nicht nur am Erwerbseinkommen und seiner Höhe bemessen! Zur umgehenden Beseitigung der verschämten Altersarmut ist es darüber hinaus erforderlich, Mindestsicherungs-und Bedarfskriterien bei der Alterssicherung zu berücksichtigen.
Durch den Geburtenrückgang einerseits, den Anstieg der Lebenserwartung andererseits werden sich in den nächsten Jahrzehnten, vor allem ab dem Jahr 2010, erhebliche Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung ergeben. Zahl und Anteil der älteren Menschen werden deutlich ansteigen. Diese demographische Entwicklung wird die Rentenversicherung vor finanzielle Belastungen stellen, da eine wachsende Zahl von Rentnern finanziert werden muß. Probleme ergeben sich aber nicht nur für die Rentenversicherung, sondern für alle Alterssicherungssysteme gleichermaßen. Auch die steuer-finanzierten Systeme wie z. B. die Beamtenversorgung, die in die allgemeinen öffentlichen Haushalte integriert sind, werden dadurch belastet, daß einer wachsenden Zahl von Pensionären eine sinkende Zahl von Steuerzahlern gegenübersteht.
Die demographisch bedingten Finanzierungsprobleme sind lösbar; zu einer Dramatisierung der Situation besteht kein Anlaß. Wie bereits skizziert, ist für die Finanzierbarkeit der Alterssicherung neben der demographischen Komponente vor allem die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ausschlaggebend. Berücksichtigt werden müssen auch die demographisch bedingten Finanzierungsentlastungen. die in anderen Bereichen des Sozialleistungssystems entstehen. Eine Bewältigung der demographischen Belastungen läßt sich um so eher erreichen. je mehr sich die Politik auf den Abbau der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus und die Anhebung der Arbeitnehmereinkommen konzentriert. Eine aktive Beschäftigungsund Arbeitsmarktpolitik ist die Voraussetzung für die langfristige Finanzierbarkeit der Alterssicherung. Da die Verschiebungen im Bevölkerungsaufbau alle Alterssicherungssysteme gleichermaßen betreffen, dürfen sich die Anpassungsmaßnahmen nicht allein auf die gesetzliche Rentenversicherung beschränken, sondern müssen analog für die anderen öffentlich-rechtlichen Systeme gelten. Wenn zudem die Finanzbelastungen ausgewogen vom Bund, den Beitragszahlern und den Rentnern getragen werden, dann ist die Rentenversicherung in der Lage, die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen, ohne daß es zu Abstrichen am Rentenniveau oder zur Aufgabe grundlegender Prinzipien kommen muß. Es geht bei den anstehenden Strukturreformen nicht um eine totale Änderung der Strukturen der sozialen Rentenversicherung, sondern um eine langfristig und systematisch angelegte Anpassung der Rentenversicherung an sich wandelnde soziale und demographische Verhältnisse. Anpassung und Weiterentwicklung — das heißt vor allem, den Solidarausgleich zu stärken und das Vertrauen der Versicherten und Rentner in die Stabilität der Alterssicherung zu festigen. 2. Rentenanpassung, Finanzierung, Harmonisierung Damit die älteren Menschen gleichberechtigt an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können, muß ihre Rente automatisch der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer angepaßt werden. Der DGB spricht sich entschieden gegen eine Absenkung des Rentenniveaus aus. Vielmehr kann und muß auch unter schwierigen demographischen Verhältnissen alles dafür getan werden, daß sich die verfügbaren Renten in Zukunft im Gleichklang mit den verfügbaren Arbeitnehmereinkommen entwikkeln. Durch eine Rentenformel, die diesen Grundsatz berücksichtigt, kann das derzeitige Nettorentenniveau stabilisiert und gesichert werden. In der neuen Rentenformel müssen die Veränderungen der Steuerabzüge und Beitragssätze zur Rentenversicherung in angemessener Weise berücksichtigt werden. Eine Besteuerung der Renten über das gegenwärtige Maß hinaus ist deshalb nicht akzeptabel und würde zu einer doppelten Belastung der Rentner führen.
Solange das Versorgungsniveau der Rentenversicherung nicht ausreicht, um den erreichten Lebensstandard im Alter zu sichern, nehmen die Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung eine Ergänzungsfunktion wahr. Den Tarifvertragsparteien ist die Möglichkeit zu eröffnen, die Altersversorgung der Arbeitnehmer durch Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung aufzustokken.
Wenn die Rentenversicherung auch unter schwierigen demographischen Bedingungen Bestand haben soll, müssen auch auf der Finanzierungsseite Reformen vollzogen werden: Es ist unumgänglich, daß der Bund in Zukunft seinen Finanzierungsverpflichtungen voll nachkommt. Bei den Zuschüssen des Bundes geht es nicht nur um die Erstattung von Fremdleistungen, sondern vor allem um die Anerkennung des Tatbestandes, daß die Rentenversicherung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllt. Zugleich ist die demographische Entwicklung gesamtgesellschaftlicher Natur. Die Gewerkschaften fordern deshalb, den Bundeszuschuß zur Arbeiterrenten-und Angestelltenversicherung schrittweise wieder auf mindestens 25 v. H. anzuheben. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Bundesanteil von 1975 bis heute von 29, 8 v. H. auf 17, 6 v. H. gesunken ist, der Bund sich also seinen Finanzverpflichtungen weitgehend entledigt hat. Um ein Wiederabsinken des Bundesanteils zu vermeiden, muß dieser nicht nur an die Ausgabenentwicklung der Rentenversicherung, sondern — wichtiger noch — an die Entwicklung der Beitragssätze angebunden werden.
Um die Finanzlage der Rentenversicherung von der Arbeitsmarktentwicklung unabhängiger zu machen, muß die Bundesanstalt für Arbeit für ihre Leistungsempfänger wieder volle Beiträge an die Rentenversicherung zahlen. Ausfallzeiten müssen — abgesehen von den Ausbildungsausfallzeiten — soweit wie möglich zu Beitragszeiten werden, wobei der Bund die Beitragszahlung übernehmen muß.
Wenn die Finanzbelastungen der Rentenversicherung steigen, dann müssen auch die Unternehmen einen besonderen Finanzierungsbeitrag leisten. Durch einen Wertschöpfungsbeitrag kann die finanzielle Leistungsfähigkeit der Unternehmen für die Rentenversicherung nutzbar gemacht werden. Dieser Wertschöpfungsbeitrag mißt sich an der tatsächlichen einzelwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen und zieht damit vor allem die Unternehmen zur Finanzierung heran, die kapitalintensiv produzieren bzw. hohe Gewinne erwirtschaften und vermehrt rationalisieren. Der Wertschöpfungsbeitrag ist als zusätzliche Leistung der Unternehmen auszugestalten. Er tritt als drittes Standbein neben die unverändert lohnbezogenen Arbeitnehmer-und Arbeitgeberbeiträge sowie den Bundesanteil und fließt der Rentenversicherung unmittelbar zu.
Die Probleme, die sich aus der demographischen und ökonomischen Entwicklung ergeben, verstärken die Notwendigkeit zur Harmonisierung der Alterssicherungssysteme. Dabei geht es nicht um eine Vereinheitlichung, sondern um eine fortschreitende Anpassung verschiedener Elemente. Die Harmonisierung muß sich dabei auf die Leistungen wie auf die Mittelaufbringung erstrecken. Sie darf sich aber nicht an den schlechten Regelungen des jeweils anderen Systems orientieren und nicht als Instrument zu Kürzungen der Erwerbs-und Alters-einkommen mißbraucht werden. Bei der Mittelaufbringung muß die Harmonisierung zu einer Eigen-beteiligung der Beamten an der Finanzierung ihrer Alterssicherung (durch Beiträge entsprechend der Höhe der Arbeitnehmerbeiträge in der Rentenversicherung) führen. Die Einführung dieser Eigenbeteiligung muß dabei mit einer entsprechenden vorherigen (allerdings nicht pensionsberechtigten) Aufstockung der Bruttobezüge verbunden werden, um Einkommensminderungen zu vermeiden. Spätere Änderungen des Beitragssatzes in der Rentenversicherung wirken sich dann aber bei den Beamten ebenso aus wie bei den Arbeitern und Angestellten. Eine gleichgerichtete Entwicklung der Nettoeinkommen wird dadurch sichergestellt. 3. Gestaltung der Altersgrenzen Zur Lösung der demographisch bedingten Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung wird verschiedentlich die Forderung vorgetragen, die Altersgrenze anzuheben, um damit den Trend zur immer frühzeitigeren Verrentung und zur Verlängerung der Rentenbezugsdauer umzukehren. Eine solche finanzpolitische Betrachtung der gesetzlichen Altersgrenzen grenzt die Problemstellung des Berufsaustrittsalters jedoch unzulässig ein. Die Frage, wann und wie das Arbeitsleben beendet und die neue Lebensphase des Ruhestandes begonnen wird, muß unter verschiedenen Aspekten gesehen werden. Im Zentrum haben dabei die Arbeits-und Lebensbedingungen der älteren Arbeitnehmer selbst zu stehen. Das gegenwärtige System der flexiblen Altersgrenzen in der Rentenversicherung bietet den älteren Arbeitnehmern die Chance, den Übertrittszeitpunkt vom Arbeitsleben in den Ruhestand in einer gewissen Bandbreite selbst zu bestimmen. Eine gesetzliche Heraufsetzung der Altersgrenzen würde diesen Freiheitsspielraum verringern. Derartige gesetzliche Zwangsmaßnahmen gehen aber auch an den eigentlichen Bestimmungsgrößen des durchschnittlichen Rentenzugangsalters vorbei. Statt sich einseitig auf gesetzgeberische Maßnahmen zu konzentrieren, sollte eine verantwortliche Sozialpolitik vielmehr die Voraussetzungen dafür schaffen, daß jeder Arbeitnehmer in freier Entscheidung die Wahl treffen kann, auch länger zu arbeiten. Die derzeitigen Altersgrenzen sind nach oben hin flexibel; die Bereitschaft, länger zu arbeiten, hängt im entscheidenden Maße vom Arbeitsplatzangebot der Unternehmen ab. Es waren und sind der Abbau von Arbeitsplätzen und die anhaltende Arbeitslosigkeit, die den deutlichen Rückgang des durchschnittlichen Rentenzugangsalters in den letzten Jahren verursacht haben. Solange die Arbeitslosigkeit nicht abgebaut wird — und es deutet wenig darauf hin, daß dies noch vor der Jahrtausendwende gelingt —, wird eine Heraufsetzung der Altersgrenze lediglich zu einer weiteren Verschärfung der’Arbeitsmarktlage führen. Wenn allerdings eine aktive Beschäftigungsund Arbeitsmarktpolitik betrieben wird und sich die Unternehmen um ältere Arbeitnehmer bemühen müssen, spricht alles dafür, daß das durchschnittliche Rentenzugangsalter wieder ansteigt.
Sollen für eine Verlängerung der Erwerbsphase die Voraussetzungen geschaffen werden, stellt sich zugleich die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, daß die Beschäftigten auch gesundheitlich in der Lage sind, länger zu arbeiten. Viele Arbeitnehmer sind heute wegen ihres verschlechterten Gesundheitszustandes gezwungen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen oder Erwerbs-bzw. Berufsunfähigkeitsrenten zu beantragen. Der Schlüssel für eine Anhebung des Rentenzugangsalters liegt in den Betrieben. Die Bereitschaft der Unternehmen muß geweckt werden, auch für ältere Arbeitnehmer eignungs-und leistungsadäquate, attraktive Arbeitsplätze einzurichten. Bereits von Beginn des Berufslebens an müssen solche humanen Arbeitsbedingungen geschaffen werden, so daß auch bis ins höhere Alter hinein Erwerbstätigkeit möglich wird.
Die Möglichkeit, im Ruhestand aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, steht und fällt mit der Gewährleistung einer ausreichenden Rente. Rentenkürzungen durch versicherungsmathematische Abschläge widersprechen dem Sicherungsauftrag der sozialen Rentenversicherung. Sie gefährden die Einkommenslage all derer, die vor Beginn der Regelaltersgrenze ihre Erwerbstätigkeit aufgeben wollen oder müssen. Abschläge bei den Renten können nur von denjenigen hingenommen werden, die über hohe Rentenanwartschaften verfügen. Die meisten Arbeitnehmer wären gezwungen, weiter zu arbeiten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, mit einer Rente leben zu müssen, die kaum das Existenzminimum abdeckt.
Die Ansätze zu einem schrittweisen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sind weiterzuentwickeln, etwa durch Verbindung von Teilzeitarbeit und betrieblichem Lohnausgleich. Dadurch kann ein abrupter Übergang in den Ruhestand vermieden und eine allmähliche Gewöhnung an die sich ändernden Lebensbedingungen erreicht werden.
V. Reform des Gesundheitswesens
1. Vorrang für Prävention und gesundheitspolitische Gesamtverantwortung Gesundheitspolitik und Krankenversicherungspolitik sind in den letzten Jahren zu einer reinen Kostendämpfungspolitik degradiert worden, die die zentralen Strukturprobleme und Mängel des Gesundheitswesens unberücksichtigt gelassen und damit verschärft hat. So ist unübersehbar, daß angesichts der Verbreitung chronisch-degenerativer Krankheiten die kurative Medizin an enge Grenzen gerät, da sie gesundheitliche Beeinträchtigungen nur lindem oder begrenzen, aber kaum vollständig heilen kann. Eine zielgerichtete Beeinflussung der Ursachen und Entstehungszusammenhänge wird deshalb mehr denn je zur Voraussetzung der Gesundheitspolitik. Eine Trendwende bei den wichtigsten Volkskrankheiten wird davon abhängen, ob es gelingt, Gesundheitspolitik dahingehend zu erweitern, daß sie sich nicht nur auf den bereits Erkrankten richtet, sondern auch auf die krankmachenden Arbeits-, Umwelt-und Lebensverhältnisse der Bevölkerung.
Dabei kommt sowohl unter dem Aspekt der Arbeit als auch unter dem des Konsums und der Umwelt der Produktionssphäre die entscheidende Schlüsselfunktion zu. Weder durch den Einsatz neuer Technologien noch durch die Verbreitung neuer Produktionskonzepte ist eine Garantie dafür gegeben, daß sich die arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken vermindern. Nicht nur das „Restrisiko“ ist nach Tschernobyl zu hoch; das alltägliche Gesundheitsrisiko in den Betrieben und in der Umwelt selbst darf nicht länger fraglos akzeptiert werden. Arbeit und Umwelt stehen also auch aus sozialpolitischer Sicht in einer engen Verbindung, die durch eine Verknüpfung von Arbeitsschutz und Umweltpolitik politisch durchsetzungsfähiger gemacht werden könnte. Die Schaffung humaner Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Ausweitung des Arbeitsschutzes, die Verbesserung des betrieblichen Gesundheitsschutzes und die Einflußnahme auf die Umweltpolitik werden insofern zu immer bedeutsameren Aufgaben einer präventiv orientierten Sozial-und Gesundheitspolitik.
Eine umfassende Präventionsstrategie beinhaltet aber auch die Mobilisierung der Bürger und die Stärkung sozialer Netzwerke (sozialer Beziehungen), denen eine bislang unterschätzte Bedeutung für die Gesundheitsförderung und die Krankheitsbewältigung zukommt. Solidarische Gesundheitspolitik betrachtet den einzelnen nicht nur als Objekt gesellschaftlicher Prozesse, sondern auch als aktiv Handelnden, der durch Mobilisierung seiner Fähigkeiten allein oder gemeinsam mit anderen drohende Schädigungen verhindern oder in den Folgen abmildem kann.
Gesundheitspolitik leidet aber nicht nur daran, daß Präventionsstrategien völlig unzureichend entwikkelt sind. Die Probleme des Gesundheitswesens liegen auch in der defizitären Struktur der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Diese Strukturen sind kostentreibend und widersprechen zugleich den eigentlichen Bedarfslagen und Anforderungen. Sie stehen „quer“ zu den Problemen der chronischen und psychischen Erkrankungen, zu den neuen Belastungsstrukturen, zu den vermehrten Anforderungen an pflegerische und soziale Betreuung und zu dem Gebot einer bürger-und patientennahen Versorgung. Die gegenwärtigen Prioritäten der Gesundheitsversorgung richten sich nicht nach gesellschaftlichen Bedarfskriterien. Sie haben sich durch die Markt-und Verhandlungsmacht der Leistungsanbieter ergeben.
Das Gesundheitswesen ist ein abschreckendes Beispiel für einen zwar kollektiv finanzierten, aber durch private Leistungsanbieter ausgenutzten „Selbstbedienungsladen“, der niedrige Qualität mit den höchsten Kosten verbindet. Prinzipiell könnten strukturelle und inhaltlicher Reformen des Gesundheitswesens ohne Kostensteigerungen begonnen werden. Entscheidend ist, daß das Wirtschaftlichkeitspostulat nicht gegen, sondern durch Qualitätsverbesserung in der Gesundheitssicherung und Krankenversorgung gestärkt wird. Die soziale Krankenversicherung könnte zudem Mittel durch Umverteilung bereitstellen. Eine solche Strukturreform darf die kurzfristig orientierte, erfolglos gebliebene Politik der „Kostendämpfung“ nicht weiter fortführen, sondern muß Ziele und Prioritäten des Gesundheitswesens neu bestimmen. Eine Neuorientierung der Gesundheitspolitik erfordert eine stärkere Gesamtverantwortung staatlicher Instanzen. insbesondere der Parlamente. Diese übergreifende Verantwortung sollte vor allem wahrgenommen werden durch eine regelmäßige und systematische Gesundheitsberichterstattung, durch eine politisch verbindliche Ziel-und Aufgabenplanung sowie eine Prioritätensetzung, die über die Einzelinteressen hinausreicht. Auf der Basis der Gesundheitsberichterstattung sollten zu diesem Zweck mittelfristige Gesundheitsbudgets, die die erwünschte Entwicklung auch in quantitativen Größen angeben, erstellt werden. Für die Akteure des Gesundheitswesens — insbesondere die Sozialversicherungen und die Leistungsanbieter — sollen diese Daten eine politisch verbindliche Orientierung geben. 2. Reform der Leistungs-und Organisationsstruktur des Gesundheitswesens Die Leistungs-und Organisationsstruktur des Gesundheitswesens muß durch eine Integration der Einrichtungen den Erfordernissen einer humanen Patientenversorgung angepaßt werden. Dazu gehört insbesondere die Verzahnung von ambulanter und stationärer Diagnostik und Therapie. Darüber hinaus muß sichergestellt werden, daß die gesamte medizinische und gesundheitsbezogene soziale Versorgung durch funktionelle und soweit möglich durch organisatorische Beziehungen miteinander verflochten ist.
Die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der medizinisch-sozialen Versorgung sollte durch Maßnahmen der Qualitätssicherung nach einheitlichen Prinzipien gewährleistet werden. Diagnostik und Therapie in der ambulanten Versorgung sollen auf dem Vorrang primär-ärztlicher (insbesondere allgemeinärztlicher) Dienste aufbauen. Diese sollten sich soweit wie möglich auf fächerverbindende Gruppenpraxen stützen, in denen auch Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Psychotherapeuten und die Berufe der aktivierenden Therapie tätig sind. Das Vergütungssystem ist entsprechend, z. B. durch die Verknüpfung von Pauschal-mit Leistungskomplexelementen, zu reformieren. Die Position und die Qualität der allgemeinärztlichen Versorgung sollen insbesondere durch eine Reform der Ausbildung, durch eine gesetzliche Weiterbildungspflicht und durch Maßnahmen der Bedarfsplanung gestärkt werden.
Die stationäre Versorgung muß unter eindeutiger Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Leistungsstufen bedarfsgerecht gegliedert werden. Teilstationäre Einrichtungen müssen verstärkt geschaffen, vorstationäre Diagnostik und Nachsorge müssen ermöglicht werden. Der Kommerzialisierung und Privatisierung von Krankenhausleistungen muß entgegengewirkt werden. Die Länder müssen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zu einer ausreichenden Investitionsfinanzierung nachkommen. Die Reform der psychiatrischen Versorgung ist nach den Erkenntnissen der Psychiatrie-Enquete und des Modellprogramms unverzüglich voranzutreiben. Dabei ist eine gemeindenahe Versorgung im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich mit einem flächendeckenden Angebot an erforderlichen Einrichtungen und Diensten sicherzustellen. Ziel ist die weitgehende Integration des psychisch Kranken in das gesellschaftliche Leben. Zur Finanzierung der erforderlichen Maßnahmen müssen Sozialversicherungsträger und öffentliche Hand Zusammenwirken. Anzustreben sind dabei Formen einer regionalen Fondsfinanzierung.
Die Versorgung Pflegebedürftiger bedarf der dringenden Verbesserung. Dazu ist ein differenziertes, bedarfsgerechtes Behandlungs-und Pflegeangebot sicherzustellen. Vorrangig ist ein Netz ambulanter pflegerischer und sozialer Dienste sowie der Ausbau teilstationärer und komplementärer Einrichtungen. Die finanzielle Absicherung bei Pflegebedürftigkeit bedarf der dringenden Neuregelung. Insbesondere muß erreicht werden, daß aus allgemeinen Steuermitteln ein einkommensunabhängiges Pflegegeld, gestuft nach dem Schweregrad, bei häuslicher Pflege und bei stationärer Unterbringung die Pflegekosten bezahlt werden. Ziel muß es insbesondere sein, Sozialhilfeabhängigkeit bei Pflegebedürftigkeit weitgehend zu beseitigen.
Ein weiteres Ziel der Neuorientierung ist die Herstellung von Bürgernähe, Patientenorientierung und Mitbestimmung der Betroffenen. Dazu ist es erforderlich, daß insbesondere auf der örtlichen Ebene die sozialen und gesundheitlichen Versorgungssysteme integriert werden, daß Selbsthilfe-gruppen gestützt und mit dem Versorgungssystem stärker verzahnt werden. Die Mitbestimmung der Bürger bei Planung und Vollzug sollte institutionalisiert werden. Durch Gesundheitsbeauftragte der Parlamente oder ein stärkeres Engagement der sozialen Selbstverwaltung müssen die Belange der Bevölkerung in gesundheitlichen Fragen stärker aufgegriffen und vertreten werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Strukturreform im Gesundheitswesen wird all diesen Anforderungen nicht gerecht. Wiederum geht es vornehmlich um Ausgabendämpfung bei den Krankenkassen, die nahezu ausschließlich die Versicherten und Patienten zusätzlich belastet. Anstelle einer Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven beim Leistungsangebot werden durch Leistungsausgrenzung, Selbstbeteiligung und Kostenerstattungsprinzip lediglich die Kosten auf die Versicherten und Patienten verlagert. Die Leistungsanbieter bleiben von Eingriffen verschont.
Ein Gesamtkonzept, das sich an einem umfassenden, auch präventiven Gesundheitskonzept ausrichtet und dem Anspruch einer Strukturreform entsprechen würde, fehlt völlig. Der Einstieg in die finanzielle Absicherung der Pflegebedürftigkeit bleibt unzureichend. Diese „Reform“ müssen die Versicherten und Patienten gleich dreifach bezahlen: Zum ersten durch die Ausgrenzung und Privatisierung von Leistungen, zum zweiten durch tendenziell steigende Beiträge, da die wiederum festgeschriebenen Fehlentwicklungen im Leistungsangebot über kurz oder lang die Ausgaben der Krankenkassen wieder in die Höhe treiben werden, und zum dritten dadurch, daß sie künftig für eine gesellschaftliche Aufgabe (die Absicherung Pflegebedürftiger), die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden müßte, bezahlen müssen.