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Der Mythos der „kritischen Generation“ Ein Rückblick | APuZ 20/1988 | bpb.de

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APuZ 20/1988 Artikel 1 1968: Ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren Der Mythos der „kritischen Generation“ Ein Rückblick 1968 — Die Antwort der CDU: Programmpartei Rebellion ist gerechtfertigt

Der Mythos der „kritischen Generation“ Ein Rückblick

Hermann Lübbe

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Zusammenfassung

Die Studentenbewegung, so heißt es. habe das Verdienst, die überfällige Hochschulreform erzwungen zu haben. In Wirklichkeit ist die Hochschulreform zehn Jahre früher als die Studentenbewegung in Gang gekommen und von dieser gestört und geschädigt worden. — Die Studentenbewegung, so heißt es weiter, habe sich der Verdrängung des Nationalsozialismus aus dem Bewußtsein der ersten deutschen Nachkriegs-generation widersetzt und wirksam verlangt, daß man sich dem schlimmen Teil deutscher Vergangenheit endlich politisch und moralisch zu stellen habe. In Wirklichkeit hat die Studentenbewegung — statt dessen — die frühstalinistische Faschismus-Theorie wiederbelebt, derzufolge der Faschismus die terroristische Form der Selbstverteidigung des Kapitalismus sein soll. Der politische Zweck dieser Theorie-Renaissance war gerade nicht moralische Vergangenheitsbewältigung, sondern vielmehr der Versuch, die Bundesrepublik durch den Nachweis des „faschistoiden“ Charakters ihrer „kapitalistischen“ Gesellschaftsordnung zu delegitimieren. — Die Studentenbewegung, so heißt es schließlich, habe den Prozeß der Demokratisierung in Deutschland gefördert. In Wirklichkeit hat sie dazu beigetragen, daß in Teilen der deutschen akademischen Intelligenz der Sinn für die rechtlichen und verfahrensmäßigen Bedingungen liberaler Demokratie durch Favorisierung von politromantischen Idealen identitärer Demokratie geschwächt wurde. Was erklärt die deutsche Neigung zum verklärenden Lobpreis der 68er Bewegung? Sie erklärt sich aus Schwächen des deutschen politischen Selbstgefühls. Väter, die es im nachhinein gern früher besser gemacht hätten, neigen stets zu Illusionen über ihre Söhne und Töchter.

Väter mit schwachem Selbstgefühl neigen dazu, sich Illusionen über ihre Söhne zu machen. Das ist es, was in Deutschland bis heute verklärende Mythen über die Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verbreitet sein läßt. Es lohnt sich, publizistischen Tendenzen der Verfestigung dieser Mythen zum maßgebenden historischen Urteil über die fragliche Episode entgegenzutreten.

Der erste dieser Mythen erzählt uns, erst die Studentenbewegung habe in unübersehbarer Weise auf Fälligkeiten der Hochschulreform aufmerksam gemacht und die entsprechenden administrativen und gesetzgeberischen Maßnahmen politisch erzwungen. Die historische Wahrheit ist: Nicht unter dem Druck verkrusteter Zustände hat sich die studentische Protestbewegung entfaltet, vielmehr inmitten einer sehr dynamischen Hochschulreformpolitik, die in ihren wirksamen Anfängen mindestens zehn Jahre älter war als diese Protestbewegung.

Die Fakten, die diese Behauptung belegen, sind den inzwischen ins Pensionärsalter eingerückten Aktivisten der Hochschulreform um die Wende der fünfziger zu den sechziger Jahren noch in Erinnerung. Im übrigen sind sie längst historiographisch aufgearbeitet. Man braucht sie nur zur Kenntnis zu nehmen. Exemplarisch verweise ich auf die Gründung des deutschen Wissenschaftsrats 1957. Die Reformempfehlungen dieses Rats verstaubten nicht in den Archiven. Die Zahl der Dozenten-und Assistentenstellen wuchs seit 1960 sprunghaft an. Sie wuchs sogar rascher als die Zahl der Studenten. Der Quotient beider Zahlen schrumpfte und die Ausbildungssituation verbesserte sich entsprechend. Gründungsausschüsse neuer Universitäten konstituierten sich — in Bochum und Dortmund, in Konstanz, in Regensburg und in Bielefeld. In Bo

I.

chum vergingen zwischen der Verabschiedung des Gründungsplans und der Eröffnung des Lehrbetriebs weniger als drei Jahre. Nur die Ahnungslosigkeit könnte im Rückblick finden, es hätte mehr und dieses rascher getan werden müssen.

Kapazitätserweiterungen, gewiß, waren damals nicht das einzige, was man von der Hochschulreform zu erwarten gehabt hatte. Aber auch insoweit bedurfte es der Provokation durch die Studenten-bewegung nicht, um naheliegende Reformen akademischer Organisations-und Selbstverwaltungsstrukturen einzuleiten. Versuche, die Schwächen traditioneller Honoratiorenselbstverwaltung durch Professionalisierung zu stärken, wurden in Hessen bereits Anfang der sechziger Jahre eingeleitet. Fakultäten. die sich zu Übergrößen entwickelt hatten, wurden geteilt. Durch konzentrierte finanzielle und organisatorische Begünstigungen sollte die Hochschulforschung gefördert werden und durch die Reform von Laufbahnstrukturen der Forschernachwuchs. Es wäre unbillig zu erwarten, daß diese Maßnahmen in jedem Einzelfall ausgereicht oder sich als dauerhaft zweckmäßig erwiesen hätten. Die These ist lediglich die, daß es des Anstoßes der zweiten deutschen, nämlich akademischen Jugend-bewegung nicht bedurfte, um die Hochschulreform-politik überhaupt erst in Gang zu bringen. Um es zu wiederholen: Sie war längst, und zwar überaus dynamisch und wirksam, in Gang gekommen, als die Protestbewegung sich schließlich erhob. Diese Protestbewegung hat die Hochschulreformpolitik sekundär überlagert und dabei zugleich zum Schaden der deutschen Hochschulen verbogen. Von besonders gravierenden Schädigungen, die die deutschen Universitäten durch den skizzierten Überlagerungseffekt erlitten haben, wird später noch die Rede sein.

II.

Ein zweiter Mythos zur Verklärung der Studenten-bewegung erzählt uns, sie sei eine Antwort auf die Unbereitschaft der Vätergeneration gewesen, sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Eine Oppositionsbewegung gegen die nachkriegsdeutsche Verdrängungspraxis — darum würde es sich somit gehandelt haben. Wahr ist. daß die Faschismus-Theorie in den ideologiepolitischen Prozessen der späten sechziger Jahre eine zentrale Rolle spielte. Wie die faschistischen Diktaturen historisch zu begreifen seien und unter welchen gesellschaftsformationellen Bedingungen ihre Wiederkehr definitiv ausgeschlossen sein würde — das sind allerdings zentrale Fragen damaliger studentischer Theorie-und Textproduktion gewesen.

Nichtsdestoweniger kann gar keine Rede davon sein, daß moralische Empörung über verdrängungsbeflissene Schweigsamkeit der Väter die unbestreitbare Renaissance der Faschismustheorien im Kontext der Studentenbewegung bewirkt hätte. Das aktuelle Phänomen individuell gezielter biographischer Vergangenheitsaufdeckung in anklagender Absicht spielte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der deutschen Öffentlichkeit, von seinem gehörigen Ort in juridischen Prozessen abgesehen, kaum eine Rolle, und auch die studentische Professorenkritik hatte ihr Hauptobjekt keineswegs in den braunen Biographieanteilen der damals noch zahlreich amtierenden Alt-Nazis unter den Dozenten. Man darf nicht vergessen: Das Ende des „Dritten Reiches“ lag gerade erst zwanzig Jahre zurück, und in der akademischen Öffentlichkeit einschließlich ihres studentischen Anteils pflegte man doch zu wissen, wer unter den älteren Professoren der nationalsozialistischen Bewegung verbunden gewesen war und wer, auf der anderen Seite, zur inneren Opposition, ja zum Widerstand gehört und ein Emigrantenschicksal hinter sich hatte. Es wäre somit gegenstandslos gewesen, die vom nationalsozialistischen Aufbruch geprägten Verlautbarungen des Rektors Martin Heidegger in individuell adressierter anklagender Absicht hervorziehen zu wollen, und so in den weniger prominenten Fällen desgleichen. Man kannte das doch, die wachen und interessierten Studenten zumal, und die Aufarbeitung der Details und ihre angemessene politische Einschätzung überließ man der historischen Forschung.

Kurz: Endlich einmal über das zu reden, was zuvor vermeintlich beschwiegen gewesen wäre — das war schlechterdings nicht der dominante Impuls der Studentenbewegung. Um einen Aufstand jugendlicher Moralisten angesichts der Verdrängungsbeflissenheit ihrer Väter handelte es sich nicht. Worum handelte es sich? Das ausgeprägte faschismustheoretische Interesse der damaligen Jahre erfüllte vor allem die ideologiepolitische Funktion einer Delegitimierung des gesellschaftspolitischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die damals in der Studentenbewegung kultivierte Faschismus-theorie war ja keineswegs ein Resultat mühseliger historischer Forschung. Das Interesse an ihr war nicht das Interesse, zur Kenntnis zu nehmen, wie es wirklich gewesen war, und aufzudecken, was ohne historische Spezialstudien der Öffentlichkeit hätte unbekannt bleiben müssen. Die Absicht war. nachzuweisen. daß die Wurzeln des Faschismus im Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht ausgerottet, vielmehr konserviert und lebendig geblieben seien. Um diesen Nachweis zu führen. bedurfte es gar nicht des Rekurses auf die moralische oder ideologische Binnenbefindlichkeit irgendwelcher individueller Alt-oder auch Neofaschisten. Es genügte herauszustellen, daß mit dem sogenannten Dritten Reich nicht zugleich auch der Kapitalismus untergegangen war, und ohne Kapitalismus kein Faschismus. Faschismus — was war das denn? Es war die terroristische Form der Selbstverteidigung des kapitalistischen Systems im Horizont seines drohenden Untergangs. So hatte es. im Zeitalter des Frühstalinismus. Dimitroff gelehrt, und die tätige Aneignung dieser Lehre war die Quintessenz des Antifaschismus der Studentenbewegung. „Wer vom Kapitalismus nicht reden will. sollte auch vom Faschismus schweigen“ — dieser verblüffende Satz Max Horkheimers ist ein Schlüsselsatz fürs Verständnis der Renaissance der Faschismustheorie im Zusammenhang der Studentenbewegung, und nicht zufällig begegnet er uns im Schrifttum der damaligen Jahre immer wieder in mottohafter Zitation.

Um es zu wiederholen: Der Anti-Faschismus der Studentenbewegung war nicht eine moralisch-kritische Aneignung vermeintlich verdrängter Väter-Vergangenheit; er war ein Medium ideologiepolitischer Delegitimierung des Systems der Bundesrepublik durch Erhebung des fortdauernden Kapitalismus zum wichtigsten Faktor in den Voraussetzungen des Faschismus. Aus der Perspektive dieses Ideologen« war man damals auch gar nicht sonder-B lieh interessiert, den politischen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland Verdrängungsbeflissenheit nachzuweisen. Das hätte für die antifaschistischen Fälligkeiten, wie sie im Horizont jener Faschismus-Theorie definiert waren, nicht das mindeste hergegeben. Daß die Gründer-Väter der Bundesrepublik auf ihre bürgerliche oder auch sozialdemokratische Weise in Opposition zum Nationalsozialismus gestanden hatten und standen, lag doch auf der Hand. Die Verfassung der zweiten deutschen Demokratie war ersichtlich eine Verfassung bürgerlich-liberaler und sozial-staatlicher, aber eben nicht sozialistischer Prägung. Nicht wenige Landesverfassungen, wie zum Beispiel die bayerische, vollzogen die Absetzung vom Nationalsozialismus bis in ihre Präambel hinein ausdrücklich, und mit rezenten Antisemitismen gar hätte niemand sich hervortun können, ohne sich unmöglich zu machen.

Aber was hätte das alles und weiteres mehr aus der Perspektive der damals im jungakademischen Intellektuellenmilieu revitalisierten, frühstalinistischen Faschismus-Theorie bedeuten können? Der Erz-makel seiner kapitalistischen Prägung war doch vom deutschen Gesellschaftssystem auch im Akt der Gründung der Bundesrepublik unabgewaschen geblieben, und das genügte, ihm eine auch nach dem Untergang des Nationalsozialismus verbliebene faschistoide Prädisposition zuzusprechen. „Hilfloser Antifaschismus“ — so lautete daher der einschlägige Kommentar zur bemühten Art deutscher Universitäten, die bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in eigenen Vorlesungsreihen

III.

Ein dritter Mythos erzählt uns, erst durch wirksame Einforderungen der Studentenbewegung sei es auch an den deutschen Hochschulen möglich geworden, Gelegenheiten zum Studium marxistischer Traditionen einzurichten. Das klingt plausibel: Marxistische Orientierungen hatten ja in der Früh-geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Tat keine erhebliche, jedenfalls eine sich fortschreitend abschwächende Rolle gespielt. Die Kommunisten verschwanden mangels Wählerzustimmung rasch aus den Parlamenten, wurden schließlich sogar, wie ihr rechts-radikales Pendant, durch Verfassungsgerichtsurteil verboten, und was in der großen theoretischen Tradition der Sozialdemokratie noch an Elementen kautskyanisch geprägter marxistischer Orthodoxie verblieben war, wurde im Godesihre Verwicklungen in den Nationalsozialismus auf-zuarbeiten begonnen hatten. Selbst Widerständler, ja Opfer nationalsozialistischen Terrors mußten sich daher, soweit sie ihren Widerstand nicht in marxistischer Orientierung geleistet hatten, gefallen lassen, „objektiv“ den faschistischen Wirkungszusammenhängen zugerechnet zu werden. So geschah es zum Beispiel, wie man sich erinnert, den Geschwistern Scholl und ihren Freunden. Akademische Feiern zu ihrem Gedenken wurden gestört, und uneingeschränkte Zustimmung fand nicht die schlichte Tapferkeit im Widerstand gegen das manifeste gemeine Unrecht, vielmehr einzig erwiesene Orthodoxie in den ideologischen Prämissen des Widerstands.

Man erkennt: Der hier kritisierte Mythos, die Studentenbewegung repräsentiere in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die erste Generation, die zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit vorbehaltlos bereit gewesen sei. ist kein folgenloser Mythos. Er vollzieht auf seine Weise die Delegitimierung der Gründungs-und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland durch Unterstellung unzureichender Ernsthaftigkeit im Willen zur Abkehr vom nationalsozialistischen Unrechtssystem mit. Er anerkennt überdies den Antifaschismus der Studentenbewegung, der in seinem linken Kem nichts anderes als ein wiederbelebtes ideologisches Konstrukt totalitären, nämlich frühstalinistischen Ursprungs war. als Ausdruck eines endlich gewonnenen, zustimmungspflichtigen und anerkennungsbedürftigen Verhältnisses junger Deutscher zum Nationalsozialismus. berger Programm von 1959 zu einem Element historischen Andenkens herabgestuft. Dem entsprach, daß auch in den akademischen Räumen das Interesse an der Aufarbeitung marxistischer Theorie nicht von ausgeprägter Art war.

Nichtsdestoweniger ist es Geschichtsklitterung, daß in den fünfziger Jahren den Studenten Gelegenheiten zu Marxismus-Studien, womöglich systematisch und politisch gezielt, vorenthalten gewesen wären. Als Dementi dieser historisch schlicht unzutreffenden These zitiere ich exemplarisch einige Fakten aus eigenen frühen Studien-und Dozentenjahren. In Freiburg im Breisgau war Wilhelm Szilasi mein Doktor-Vater, wie man damals sagte, gewesen. Dieser war immerhin seinerzeit Sekretär bei Georg Lukäcz gewesen, als dieser im Revolutionsregime Bela Kuns als Kultusminister amtierte. So hatten wir also, sogar in der Sonderbeglaubigung auto-biographischer Vermittlungen, als Freiburger Studenten reichlich Gelegenheit, kommunistische Bewegtheiten einschließlich ihrer sie inspirierenden theoretischen Quellen zu studieren. So geschah es, sozusagen als Komplementärprogramm zum Studium der Philosophie Martin Heideggers, in Freiburg im Breisgau bereits um die Wende der vierziger zu den fünfziger Jahren. Dabei war allein an diesem Ort Wilhelm Szilasi keineswegs der einzige Vermittler von Kenntnissen des Marxismus aus seinen Quellen. Robert Heiss zum Beispiel hielt damals seine sehr wirksam gewordenen Vorlesungen, die uns über die Herkunft der marxistischen Theorie aus der Philosophie des sogenannten Deutschen Idealismus unterrichteten. Heidegger höchstselbst widersprach solchen Studieninteressen gar nicht, erhob sie sogar noch in einen höheren philosophischen Rang, indem er den real herrschenden Marxismus zu einem Teil der „Seinsgeschichte" erklärte. In Frankfurter Assistentenjahren bald darauf blieben im Studium bei Adorno auch dann, wenn man seine Ästhetik und Musik-Theorie für den interessanteren Teil seines Werks hielt, gesellschaftstheoretische Analysen marxistischer Inspiration eindrucksvoll, und bei Horkheimer nicht minder seine Transformation des Marxismus in ein Medium großbürgerlich-intellektueller Selbstkritik.

Wer dann in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre am politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland Anteil nahm, konnte ohnehin nicht umhin, sich für die Auseinandersetzungen mit den marxistischen Traditionen zu interessieren, die der Beschlußfassung des neuen Programms durch die SPD 1959 in Bad Godesberg vorausgingen. Bis in die Volkshochschulen und Akademien hinein war damals die Auseinandersetzung mit dem Marxismus ein aktuelles Thema — in den Hochschulen sowieso, und als junger Dozent bot ich dann selber Übungen und Vorlesungen an. die vom frühen Marx bis zum späten Lenin und von Karl Kautsky bis zu Benedict Kautsky zum Studiüm der Klassiker und ihrer Kritiker einluden. Keine akademische Oberbehörde schritt ein, ja man ermunterte solche Lehrangebote. Wieso denn auch nicht? Schließlich wurde inzwischen mehr als ein Viertel der Menschheit im Namen des Marxismus regiert und mußte daran glauben. Was immer man über die deutsche Nachkriegsuniversität sagen mag — jener Borniertheit, die nötig gewesen wäre, das Studium einer Doktrin von manifester weltgeschichtlicher Bedeutung zu inhibieren, war sie denn doch nicht fähig, und die administrativen, gar rechtlichen Mittel dazu hätten ihr ohnehin nicht zur Verfügung gestanden.

Zusammengefaßt heißt das: Zu den akademischen Voraussetzungen der Studentenbewegung gehört gerade nicht der unterdrückte, in den Giftschrank gefährlicher Lehren verbannte Marx, vielmehr der allbekannte Marx. Soeben noch, sagen wir im November 1966, hatten die eigenen Studenten eine Seminararbeit über Lenins „Staat und Revolution“ geschrieben, und nunmehr, nur ein Jahr später, tagten sie in Vollversammlungen unter Lenin-Bildern und faßten Resolutionen, die als sinnvoll einzig unter der Voraussetzung gelten konnten, daß Lenin mit seinem Traktat von 1917 recht gehabt hatte, ja im wesentlichen unverändert auf die eigene Lage anwendbar war.

Das also war der Zusammenhang: Man forderte nicht etwa vermeintlich vorenthaltene Gelegenheiten zum Studium wichtiger Leute ein, sondern man nahm deren Theorien, die die wacheren Studenten längst kannten, verblüffenderweise plötzlich ernst und verlangte die Transformation des akademischen Katheders zur politischen Tribüne. Nicht ausgreifende theoretische Interessen, nicht Wirklichkeitshunger und nicht gesteigerte Rezeptionslust prägten die intellektuelle Anmutungsqualität der Studentenbewegung, sondern ideologische Suche nach dem Punkt, aus dem sich die Welt kurieren läßt. Einheit von Theorie und Praxis — das war die Parole, und als der krude Kem dieser Parole enthüllte sich alsbald jene intellektuelle Selbstprivilegierung, die es einem — nachdem man die richtige Theorie endlich gefunden hat — verstattet, an der Nichtübereinstimmung mit ihr den politischen Feind zu erkennen. Nicht um die Mehrung pluralistischer Liberalität auch in den akademischen Räumen war es zu tun. vielmehr um die Eroberung jener Majoritäten, die es möglich machen. Minderheiten nach den Regeln der Volksfrontlogik zu behandeln.

Das klingt reichlich dramatisch, und wahr ist. daß außerakademisch das politische Leben in der Bundesrepublik Deutschland von solchen Erscheinungen kaum berührt worden ist. Aber innerakademisch haben sie doch ganze Fachbereiche nachweislich bestimmt, und einige bedeutungslose Relikte dessen sind für das geschulte Auge des politischen Paläontologen auch heute noch identifizierbar.

IV.

Ein vierter Mythos erzählt uns, die Studentenbewegung habe als Beitrag zur nötigen Emendation der demokratischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland gewirkt. Wahr ist. daß man im Kontext der Studentenbewegung plötzlich sich Fähigkeiten entwickeln sah. über die sich politische Partizipationschancen verbessern. Rhetorische Talente traten hervor, auf die man angewiesen ist, um sich in den Emotionsstürmen von Vollversammlungen behaupten zu können. Geschäftsordnungsroutiniers nutzten zweckrational die Skrupelhaftigkeit von Subjekten residualen Respekts vor juristischen Formen meisterhaft aus. Die Bereitschaft zum selbstlosen politischen und sozialen Engagement war ausgeprägt. Um es in der Sprache der ersten deutschen Jugendbewegung zu sagen: Die Anmutungsqualität der zweiten, akademischen deutschen Jugendbewegung war „idealistisch“.

Unübersehbar ist überdies das demokratietheoretische Vokabular in der Selbstverständigung der Studentenbewegung. Aber man darf doch nicht vergessen: Zur Geschichte der Demokratie gehören nicht nur die Ideale liberaler Demokratie, vielmehr die Ideale identitärer, nämlich totalitärer Demokratie desgleichen, und im Rückblick scheint mir die Studentenbewegung von den Grundsätzen identitärer Demokratie ungleich stärker geprägt gewesen zu sein als von Vorstellungen liberaler demokratischer Ordnung. Man kann dasselbe auch so ausdrücken: Nicht die Verbesserung der Verfahrensformen von Parlament, Regierung und Rechtssystem standen auf der Tagesordnung, vielmehr die Evokation und Inanspruchnahme des irresistiblen Volkswillens, wie er sich in der unwidersprechlichen Hundertprozentmajorität spontaner und daher formal ungebundener Vollversammlungen und Volksversammlungen bekundet.

Kurz: Ich habe die akademische Jugendbewegung nicht zuletzt als eine antiparlamentarische Bewegung wahrgenommen. Als signifikanten Beleg zitiere ich einen in der Frühzeit der Studentenbewegung einflußreichen, prominenten Theoretiker, der 1969 fand, „die Einrichtungen einer verwirklichten Demokratie“ würden sein „wie verschwebende Netze, aus zerbrechlichster Intersubjektivität gewoben“. Wohlgemerkt: Von den Einrichtungen einer künftigen, erst wahrhaft verwirklichten Demokratie ist hier die Rede. Vom Kitsch-Aspekt jener Formulierung einmal abgesehen — man fasse aus ihrer Perspektive die Wirklichkeit des britischen Parlaments ins Auge, oder auch die Verfahrenspraxis kantonaler Landesgemeinden in der Schweiz. Es ist evident: Unmeßbare Abstände trennen diese alten Demokratien und ihre Verfahrenspraktiken von diesem neudeutschen Demokratie-Ideal. Genauer gesagt: Die Orientierung an diesem Ideal müßte, anstatt die bestehenden Einrichtungen real existierender Demokratien zu verbessern, auf diese zerrüttend wirken. Enthusiasmiert von diesem Ideal scheuten selbst bekannte deutsche Professoren sich damals nicht, beim Blick auf die Grenzen zum Beispiel die erwähnte Schweiz „ein ganz undemokratisches Land“ zu nennen.

Politisches Schwärmertum eher denn Engagement bei mehrheitsfähigen pragmatischen politischen Zwecken prägte damals die jugendbewegte akademische Sphäre. Bis in Kleinigkeiten hinein ließe sich nachweisen, daß der Sinn für die Erfordernisse des politischen Lebens im System liberaler Demokratie damals nicht erstarkte, vielmehr schwächer wurde. Worum handelte es sich denn sonst, wenn man das Recht des politischen Mandats für zwangskörperschaftlich verfaßte Studentenschaften, statt für verfassungswidrig, für erlaubt, ja für demokratisch geboten hielt? Wie mußte man orientiert sein, um die sogenannte Drittelparität, die in Wahrheit eine pseudodemokratische, überdies ständeromantische und verfassungswidrige Posse war, für ein Erfordernis aus Demokratisierungsgeboten halten zu können?

Alle Feinde der Weimarer Republik haben bekanntlich diese mit dem Vorwurf zu delegitimieren versucht, sie sei das System einer „bloß formalen“ Demokratie. Im Kontext der akademischen Studentenbewegung wurde dieser Formalismus-Vorwurf plötzlich wieder lebendig. In der Realität bedeutete das Selbstergreifung des Rechts zum Verfahrens-und Regelverstoß. Die Selbstermächtigung zur Gewalt suchte und fand ihre sie ermöglichende radikaldemokratische Theorie. Es ist ja gewiß unbestreitbar, daß in dramatischen Ausnahme-lagen auch die Demokratie zu Mitteln der Selbstverteidigung greifen muß, die in Normallagen gewährleisteter Integrität der demokratischen Verfahrensordnungen niemandem zur Verfügung stehen. Aber die Bundesrepublik — sagen wir, der Jahre zwischen 1967 und 1972 — für ein System gehalten zu haben, das in formaldemokratischer Selbstbindung der Politik sich nicht mehr entwik21 kein lasse: das bezeugte weniger demokratische Sensibilität als mangelnde politische Urteilskraft.

In Teilen der Studentenbewegung schwand der Sinn dahin, daß im Normalfall gerade die Demokratie ihren Bestand in der Integrität ihrer Verfahrensordnungen hat. Die ungenierte, demonstrative Verletzung der Verfahrensnormen wurde alsbald aber geradezu zum Signum der Studentenbewegung. Das begann mit gelinder Aggression gegen die Regeln bürgerlicher und akademischer Gesittung, die nicht einfach vertraute akademische Rüpelhaftigkeit, vielmehr politisch gezielte Schikane war. Alltagsterrorismen in der Absicht, Subjekte mit schwachen Nerven in Irritation zu versetzen, wurden phantasievoll ausgedacht und praktiziert — von der Einschüchterung ganzer Familien durch die Telephonandrohung von Säureattentaten gegen hübsche Töchter bis zur effektiven Aufhebung der Freiheit der Lehre durch Aktionen der Dauerstörung mißliebiger Dozenten.

Ich erinnere an diese Vorgänge nicht, weil ich ihr politisches Gewicht im Rückblick immer noch für erheblich einschätzte oder damals dafür gehalten hätte. Es ist wahr: Den Zustand der Republik hat all das nur wenig berührt. Aber die akademischen Institutionen hat es berührt, und daß man außerhalb der Hochschulen, wo ich mich seinerzeit aufhielt, von diesen Aktivitäten kaum berührt und betroffen war. sollte auch im Rückblick nicht dazu verführen, sie nicht für widerspruchsbedürftig zu halten. Es will mir noch im nachhinein als Vorgang der Selbsttäuschung vorkommen, daß man eine Generation zur „kritischen Generation“ zu ernennen vermochte, die abermals, enthusiasmiert durch eine große Lehre, aufbrach, sich in Zwölferreihen im Geschwindmarsch unter roten Fahnen und Führer-bildern durch die Hauptstraßen von Universitätsstädten bewegte, die Augen gläubig irgendwelchen theoriegeborenen Idealen zugewandt. Ältere Deutsche, die erst wenige Jahre zuvor aus der von den Nazis erzwungenen Emigration zurückgekehrt waren. sind im Anblick dieser Bewegtheit in Tränen ausgebrochen — nicht, weil sie die 68er Generation für Neo-Nazis gehalten hätten, sondern weil das Behaviour unverkennbar neototalitär war. Man hatte es. insoweit, nicht mit einer „kritischen Generation“ zu tun. Eher trifft die gegenteilige Kennzeichnung den Nagel auf den Kopf.

Die Reihe analoger Mythen ließe sich über die skizzierten vier Mythen hinaus erheblich verlängern. Es erübrigt sich, das hier zu tun. Es bleibt lediglich noch hinzuzufügen, daß ich mit meinem Widerspruch gegen die genannten Mythen nicht den Anspruch verbunden habe, ein umfassendes Erinnerungsbild der Studentenbewegung gegeben zu haben. Es kam mir lediglich darauf an, die zitierten Mythen als Mythen zu kennzeichnen, und ich habe mich entsprechend auf Erinnerungen beschränkt, die dazu geeignet sein mögen.

Wenn die fraglichen Mythen denn nichts als Mythen sind — was war es dann, was sie die öffentliche historische und politische Meinung über die Studentenbewegung bis heute so wirksam hat prägen lassen? Zur Beantwortung dieser Frage wiederhole ich meine Eingangsthese: Es ist die Schwäche des deutschen demokratischen Selbstgefühls, die die Älteren, komplementär zu ihrer wohlbegründeten Bereitschaft zur Selbstkritik, dazu verführt, das neue und bessere, nämlich demokratische Deutschland in den Köpfen und Herzen der jeweils Jüngeren unausrottbar verwurzelt zu sehen, und das eben selbst dort noch, wo der unbefangenere Blick — nächst demokratisch indifferenten Rüpelszenen — neue ideologische Aggressivitäten, heilsgläubige Fanatismen. Rechts-und Verfahrensmißachtung, Kleinterror, allerlei Selbstermächtigung zur Gewalt, Maschinenpistolenromantik, Fahnenseligkeit. politische Ikonenverehrung und Spruchbandglauben sich betätigen sah.

V.

Nach den vier Mythen, über die wir uns in deutscher herkunftsschwächebedingter Geneigtheit, in der Jugend den politisch gereifteren Teil unserer Bürgerschaft zu erblicken, die zweite deutsche, nämlich akademische Jugendbewegung als zustimmungsfähigen. ja zustimmungspflichtigen Teil unserer jüngeren Vergangenheit zurechtzulegen pflegen, habe ich nun noch ankündigungsgemäß auf einige Schadensfolgen zu verweisen, die diese Jugendbewegung, indem der politische Widerspruch gegen sie zu schwach blieb, ausgelöst hat. Im Vergleich mit den wirtschaftlichen und ökologischen, sicherheitsund menschenrechtspraktischen Problemen, die heute auf der nationalen und internationalen Politik lasten, handelt es sich dabei gewiß um Schäden von äußerst geringer Größenordnung. Aber in einem bilanzierenden Rückblick auf die Studentenbewegung darf man sie nicht unerwähnt lassen. Das gebietet auch der Respekt vor denjenigen, die bis heute unter diesen Folgeschäden zu leiden haben.

An erster Stelle möchte ich Folgeschäden eines überzogenen Reformtempos erwähnen, zu dem sich die verantwortlichen politischen und administrativen Instanzen unter dem Druck studentischer Forderungen damals haben verführen lassen. Bei der deutschen Beflissenheit, im Zug der Zeit nur ja möglichst weit vorn zu sitzen, muß man damit rechnen, daß gefragt wird, ob es denn überhaupt ein überzogenes Tempo in der Erfüllung berechtigter Reformforderungen geben könne. In Wahrheit liegen die Dinge so — jeder Betriebswirt oder Organisationssoziologe, auch jeder in Wirtschaft und Verwaltung Erfahrene weiß das —, daß das maximale Tempo der Annäherung an grundsätzlich erstrebenswerte Ziele mit dem optimalen Tempo höchst selten identisch ist. Es traf ja zu, daß. im internationalen Vergleich, das deutsche Hochschulsystem nicht zuletzt auch in personeller Hinsicht entwicklungsbedürftig war. Das leugnete bereits in den fünfziger Jahren niemand; in den frühen sechziger Jahren hat man. wie ich dargestellt habe, daraus die Konsequenzen gezogen, und es bedurfte des Anstoßes der Studentenbewegung nicht, um diese vernünftigen Reformen in Gang zu setzen. Indem man aber, wie geschildert, sich diese Bewegung als eine von grundsätzlich berechtigten Reformforderungen getragene Bewegung zurechtlegte, glaubte man zu ihrer Beruhigung durch ein forciertes Reformtempo beitragen zu sollen: Exekutieren wir die Hochschulreform, und zwar möglichst in allen Teilen, jetzt — dann werden die Demonstranten von den Straßen verschwinden, ja uns Beifall spenden, und zwar am ehesten derjenigen Partei, die im Reformgeschwindigkeitswettlauf die Nase vorn hat.

Das war die Erwartung, von der damals in nicht wenigen Ländern Regierungen, Landtagsfraktionen und Koalitionen sich leiten ließen — zum Beispiel auch in der massenhaften Neubesetzung neu-geschaffener akademischer Dienstposten. Dabei hätte jeder gestandene Verwaltungsmann, Personalabteilungschefs zumal, sagen können — und mancher hat es gesagt —, daß man in Hochschulen wie in Verwaltungen beim Stellenzuwachs wie bei der Stellenbesetzung temporal auf einen ausgewogenen Aufbau der Alterspyramide der Beschäftigten achten muß. Just dieser Grundsatz wurde bei der Massenernennung und Massenbeförderung zumeistjüngerer Wissenschaftler sträflich vernachlässigt — mit der bis heute nachwirkenden, überaus mißlichen Konsequenz, daß nach dem unvermeidlicherweise eingetretenen Stopp der Stellenvermehrung dem nunmehr antretenden Wissenschaftler-nachwuchs wie nie zuvor in der deutschen Hochschulgeschichte die Karrierechancen verdorben sind. Bedienung der Protestgeneration auf Kosten späterer Generationen — darum handelte es sich. Im Widerspruch gegen alle bewährten Grundsätze des Verwaltungshandelns, in offener Verletzung von Ansprüchen der Gerechtigkeit, deren gegenwärtige Beachtung man den nachrückenden Generationen schuldig gewesen wäre, bestimmte die Beflissenheit in der Erfüllung lästiger, weil in lautstarken Protesten erhobener Forderungen das Handeln der Verantwortlichen. Es war, um es kraß zu sagen, ein unverantwortliches Handeln aus Feigheit, und die Erhebung der lästigen Protestler in den moralischen Rang einer „kritischen Generation“ diente dieser Feigheit als Feigenblatt. Die Schäden, die das deutsche Wissenschaftssystem durch die skizzierten personalpolitischen Folgen des überzogenen Tempos seiner Entwicklung erlitten hat, werden. wie man leicht erkennt, noch lange nachwirken. Die Lasten haben vor allem die gegenwärtigen jüngeren Wissenschaftler zu tragen, und Notmaßnahmen von der Art des verdienstvollen Fiebinger-Programms reichen evidenterweise als Kompensation der fraglichen Schäden, die das deutsche Hochschulsystem erlitten hat, nicht aus.

Geschädigt wurden die deutschen Universitäten auch durch einen entpragmatisierten Selbstverwaltungsstil, in den sich die Bewegtheit der Studenten-bewegung, Teile der Professorenschaft schließlich ergreifend, alsbald umsetzte. In der inzwischen eingetretenen Ernüchterung mag man zur angemessenen Reaktion des Kopfschüttelns auf die Tatsache wieder fähig sein, daß in den siebziger Jahren manche Universitäten einen halben Arbeitstag pro Woche, einige Universitäten sogar einen ganzen, exklusiv für Gremiensitzungen reservierten und Vorlesungen und Übungen an diesem Tag ausfallen ließen. Selbstverständlich war dabei nicht etwa der Samstag Gremientag. vielmehr in Anpassung an die Usancen des tarifvertraglich geregelten Arbeitslebens wirklich ein gewöhnlicher Arbeitstag, an welchem man zu studieren und zu forschen gehabt hätte. Es gewänne Züge der Lächerlichkeit und es wäre zugleich eine verblüffende Ausdeutung der Verfahrenskonsequenzen von Demokratisierungsprozessen, wenn man vermeinte, es sei doch eine schlichte und gerechtfertigte Konsequenz der Selbstverwaltungsrechte von Körperschaften, wenn sie ein Fünftel ihrer Gesamtbetriebszeit, statt unmittelbar ihren Studien-und forschungspraktischen Zwecken, der Selbstdarstellung ihrer Autonomie widmen.

Selbstverwaltung als Palaver — das ist der harte Kern dieser Unglaublichkeit, in der man vermeinte, in der Gesamtheit aller Universitätsmitglieder einen ganzen Tag für diskursive Erörterungen und Beschlußfassungen darüber nötig zu haben, wie an vier übrigen Betriebstagen in Orientierung am Betriebszweck zu arbeiten sei. Dabei hat dieser Selbstverwaltungsexzess damals nicht nur intern die Hochschulen geschädigt. Er hat in nicht wenigen Fällen auch in der Außenwirkung ihr Ansehen lädiert. Die steuerzahlende Bürgerschaft war doch wohl anzunehmen berechtigt, daß die Hochschulen. wie andere mit Selbstverwaltungsrechten ausgestattete Körperschaften auch, sich in ihrer Selbst-verwaltungspraxis im wesentlichen um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern würden.

Statt dessen sah sich nun die Öffentlichkeit mit Resolutionen von Fakultäten konfrontiert, die sich wider die Repression baskischer Arbeiter durch das Franco-Regime richteten oder, zum ideologischen Ausgleich, auch wider die Niederknüppelung Danziger Werftarbeiter auf Veranlassung der regierenden polnischen Kommunisten. Nicht, daß Bekundung der Solidarität mit Unterdrückten in anderen Ländern und Systemen nicht ihre Nötigkeit und auch Zweckmäßigkeit hätte. Aber der Mangel an Urteilskraft, auf die man angewiesen gewesen wäre, um erkennen zu können, auf wen wessen Protestresolutionstelegramme Eindruck zu machen geeignet sind — dieser Mangel war in den allermeisten Fällen das auffällige Kennzeichen solchen gesinnungstüchtigen Polit-Aktivismus. Gelegentlich wurde damals sogar der Anspruch erhoben, die Universitäten hätten sich zur Komplettierung der drei Staatsgewalten in eine vierte, nämlich in die Gewalt der Kritik zu verwandeln. Nicht, daß Auskünfte über das. was der Fall ist, wie wir sie von der Wissenschaft erwarten, zumal im Kontrast zu verbreiteten Vorurteilen, nicht auch ihre kritische Bedeutung hätten. Aber die Idee, die damals sogar in gedruckter Gestalt aufschien, die Universität könne sich als jene Instanz kritischer Vernunft etablieren, deren praktischem Urteil das öffentliche Leben einschließlich der Politik zu unterwerfen wäre, mußte das Ansehen der Hochschulen durch die Hypertrophie dieses Anspruchs schädigen.

Tatsächlich ist damals die Distanz zwischen dem akademischen und dem sonstigen öffentlichen Leben, die in Deutschland ohnehin schon über nötige Maße hinaus groß gewesen war, noch in unguter Weise vergrößert worden. Auch heute noch wird der außeruniversitär tätige Besucher unserer Hochschulen in diesen immer wieder einmal mit Szenen konfrontiert, die eine subkulturelle Anmutungsqualität haben. Auch heute noch gibt es im Studentenmilieu Nester randgruppenhafter Befindlichkeiten, die der Kultur emotionaler Distanz gegenüber dem Rest des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens dienen. Entsprechend schwer fällt hier der Absprung vom akademischen ins berufliche Leben. Die Studienzeiten werden hier grotesk überdehnt und der Bürgersinn der Daueraufenthalter in den erfahrungsverdünnten akademischen Räumen zeigt Entwicklungsschäden.

Als weitere Schadensfolge der Studentenbewegung möchte ich abschließend gewisse Devianzen vom Mittelweg liberaler Demokratie erwähnen. Der Antiparlamentarismus des zitierten professoralen Ideals, „die Einrichtungen einer verwirklichten Demokratie“ „wie verschwebende Netze“ „aus zerbrechlichster Intersubjektität" zu weben, ist in seiner vollendeten Wirklichkeitsfremdheit leider nicht eine akademische Skurrilität geblieben. Das traditionsreiche deutsche Unverständnis des liberalen Sinns parlamentarisch-demokratischer Institutionen sitzt tief, und aus diesem Unverständnis nährt sich ein residualer Antiliberalismus jugendbewegter Herkunft bis heute. Der schwärmerische Polit-Ekel vor der liberal-demokratischen Zumutung, institutionell Mehrheit vor jener Wahrheit, als deren Repräsentanten man sich selber weiß, gelten lassen zu sollen, der von diesem Ekel erfüllte Formalismus-Vorwurf an die Adresse der verfahrensrechtlich sich bindenden politischen, administrativen und juridischen Entscheidungsinstanzen, der verbreitete Mangel an Institutionentreue somit und die Neigung zur Bewunderung aktiver Verfahrensverächter als Zeitgenossen und Bürger höherer moralischer Sensibilität — das alles sind Spätfolgen jenes politromantischen Aufbruchs, als den sich mir insoweit die Studentenbewegung im Rückblick darstellen will.

Sogar die doch zunächst einmal ganz unverfängliche. ja zustimmungspflichtige politische Demokratisierungs-Forderung hat von da her einen bis heute nachwirkenden Stich ins Romantisch-Totalitäre erhalten. „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ — das ließe sich ja unter Bürgern mit gefestigtem Sinn für die institutionellen Bedingungen der Freiheit durchaus hören. Den Stich ins Totalitäre, den diese Forderung nicht zuletzt durch die Studenten-bewegung und die sie prägenden Ideologien erhalten hat, schmeckt man, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Fortschritte in der verfassungspolitischen Sicherung unserer Bürger-und Menschenrechte seit der Aufklärung doch nicht zuletzt Fortschritte in der Ausweitung derjenigen Lebensbereiche gewesen sind, die wir gerade nicht zur Disposition von Mehrheitsentscheiden gestellt wissen möchten und die man daher auch in genau diesem Sinne nicht demokratisieren kann.

Eine demokratische Bewegung — das war die Studentenbewegung gewiß. Aber Demokratiekonzepte des identitären, das heißt in der realen Auswirkung totalitären Typus spielten nachweislich in ihr eine ideologiepolitisch nicht unerhebliche Rolle. Im Rückblick darauf mißtraue ich den Versuchen, die just in dieser Bewegung einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung der Demokratie in Deutschland erkennen wollen. Die Episode der zweiten deutschen, nämlich akademischen Jugendbewegung hat mein Vertrauen in die Stärke der zweiten deutschen Demokratie gerade deswegen gestärkt, weil diese Demokratie, im ganzen, sich als so überaus resistent gegen die Verführungen durch die politromantischen Ideale dieser Jugendbewegung erwiesen hat.

Fussnoten

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Hermann Lübbe, Dr. phil., geb. 1926; 1956— 1963 Tätigkeit als Dozent und Professor an den Universitäten Erlangen, Hamburg, Köln und Münster; 1963— 1969 Ordentlicher Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; 1966— 1969 Staatssekretär im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen; 1969/70 Staatssekretär beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen; 1969— 1973 Ordentlicher Professor für Sozialphilosophie an der Universität ßielefeld; seit 1971 Ordentlicher Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich; 1975— 1978 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland; Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften; Mitglied des Deutschen P. E. N. Veröffentlichungen u. a.: Theorie und Entscheidung. Studium zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971; Hochschulreform und Gegenaufklärung, Freiburg 1972; Politische Philosophie in Deutschland, Basel-München 19742; Unsere stille Kulturrevolution, München 1976; Wissenschaftspolitik. Planung, Politisierung, Relevanz, Zürich 1977; Endstation Terror. Rückblick auf lange Märsche, Stuttgart 1978; Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischen Denkens, Düsseldorf 1980; Zwischen Trend und Tradition. Überfordert uns die Gegenwart?, Zürich 1981; Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz-Wien—Köln 1983; Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987; Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, Graz—Wien—Köln 1987.