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Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren | APuZ 18/1988 | bpb.de

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APuZ 18/1988 Artikel 1 Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren Konventionelle Abrüstung in Europa Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte Der europäische Pfeiler der westlichen Allianz

Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren

Christoph Bertram

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Vergleich zu den sechziger Jahren ist der Frieden sicherer geworden; anders als in den sechziger Jahren bestehen aber heute Unsicherheiten und Diskrepanzen über die künftigen Wege der Sicherheitspolitik. Trotz politischer Wandlungen im Ostblock und der jüngsten Abrüstungserfolge wird sich die Sicherheitspolitik auch in den neunziger Jahren der Gefährdung Europas durch die sowjetische Supermacht zu stellen haben: Angesichts der Krisen und Wandlungsprozesse in den osteuropäischen Regimen ist immer noch die Gefahr gegeben, daß Europa und die Welt in einen Krieg „hineinschlittern". Die Dritte Welt wird in den neunziger Jahren ein wichtiges Feld einer aktiven westeuropäischen Sicherheitspolitik sein müssen. Westeuropa wird aufgrund seines politischen und wirtschaftlichen Gewichts und aufgrund der sinkenden Bereitschaft der USA zu militärischen Interventionen in Dritte-Welt-Krisen hineingezogen werden. Angesichts dieser Perspektiven bleibt die atomare Abschreckung ohne Alternative. Zugleich ist weiterhin auf Entspannung und Zusammenarbeit mit dem Osten hinzuarbeiten. Zudem müssen erhöhte Anstrengungen unternommen werden, um den Zusammenhalt des Westens zu gewährleisten. Westeuropa wird dazu gegenüber den USA selbständiger werden, seine Verteidigungsbereitschaft finanziell und personell glaubwürdig bekräftigen und die öffentliche Meinung für einen nüchternen Konsens in der Sicherheitspolitik zurückgewinnen müssen.

In die Zukunft zu schauen, heißt vor allem: den Flug der Spekulation zu bremsen. Aus der Rückschau wissen wir, wie langsam die Geschichte sich bewegt. Aber wenn es an die Vorausschau geht, dann plötzlich sollen die Veränderungen mit Sieben-Meilen-Stiefeln daherkommen. Alle Erfahrung zeigt: Sie tun es nicht, im Gegenteil, sie lassen in der Regel sehr lange auf sich warten. Das Beharrungsvermögen der Geschichte ist größer als menschliche Ungeduld.

Das gilt für die Sicherheitspolitik nicht weniger und vielleicht sogar mehr als für andere Bereiche der Politik. Denn der Wunsch nach Sicherheit ist -wenigstens für die Länder auf der nördlichen Halbkugel der Welt — ein konservativer Antrieb: erhalten, was man hat, nichts unnötig aufs Spiel setzen, keine Experimente. Die Tatsache, daß diese Sicherheit auf der gegenseitigen Angst vor der Atombombe gegründet ist — dieser großen „Ver-langsamerin der Geschichte“ in dem schönen Bild von Raymon Aron — ist ein zusätzliches Element der Beständigkeit: Seit der Krieg im atomaren Zeitalter als Mittel des Wandels ausgeschlossen ist, müssen politische Friktionen, Gegensätze und Konflikte durch Ausgleich überwunden oder wenigstens erträglich gemacht werden. Und das braucht eben seine Zeit.

Deswegen ist Ausgangspunkt jeden Nachdenkens über die sicherheitspolitischen Perspektiven Westeuropas in den neunziger Jahren die Kontinuität, nicht der abrupte Wechsel. Und dennoch kann es sich darauf nicht beschränken. Denn es geht ja um Perspektiven — nicht nur um die jeweiligen Realitäten, sondern auch darum, wie sie zu bewerten, ob sie zu akzeptieren oder zu überwinden sind. Und in der Tat wird die heutige Diskussion in Westeuropa, vor allem aber in der Bundesrepublik von letzterem zumindest so geprägt wie von den „objektiven“ Umständen unserer Sicherheit.

Vor zwanzig Jahren setzte sich in London am Institut für Strategische Studien eine Gruppe von Europäern zusammen, um über die sicherheitspolitische Zukunft Europas nachzudenken. Das Ergebnis ihrer Bemühungen war ein kleines Buch, das in der Bundesrepublik unter dem Titel erschien „Europas Zukunft — Europas Alternativen“. Keine Prophezeiung des Kommenden wurde hier gewagt, sondern eine Prüfung alternativer Modelle, wie denn die Zukunft aussehen könnte und welche Auswirkungen dies haben werde.

Wer heute nachliest, was die Autoren damals dachten, wird vor allem von zweierlei beeindruckt: Wie wenig das, was damals Zukunft war, an Überraschungen gebracht hat, und wie wenig Westeuropa, trotz vieler Aufrufe und Aufbrüche, seither der eigenen Handlungsfähigkeit nähergerückt ist. Wir sind heute von dem Modell eines „Unabhängigen Europa“ so weit entfernt wie damals; das einzige Modell, das auch heute die beste Basis zur Voraussage bietet, ist das „Evolutionäre Europa“.

Und dennoch fällt im Vergleich zu damals, dem Ende der sechziger Jahre, eins ins Auge: Die Erwartungen an die Zukunft waren, im großen Ganzen, zuversichtlicher und stärkten so den Mut zum politischen Handeln. Zugleich schien der Konsens im Westen — in Europa, aber auch über den Atlantik hinweg — fester, der Rückhalt der Sicherheitspolitik in der öffentlichen Meinung des demokratischen Westens gesicherter als heute. Die Zukunft erschien pragmatisch-konstruktiv, eine Herausforderung an praktische Politik.

Heute dagegen fällt ein anderes ins Auge: das Nebeneinander von visionären Slogans und zaghaftem Festhalten am Vertrauten. Die Realität unserer sicherheitspolitischen Bedingungen hat sich kaum gewandelt. Und dennoch — oder vielleicht gerade deshalb — regt sich Sehnsucht nach fundamentalen Veränderungen: nach einem Abschied von Atomwaffen, einem Europa zwischen den Blöcken, einer Alternative zur herkömmlichen Verteidigung. Zugleich aber sind die Konstanten des sicherheitspolitischen Problems Westeuropas unvermindert sichtbar: die Fortdauer der militärischen Bedrohung, der Mangel an Männern und Geld für die Streitkräfte, die schwelenden Krisenherde in der Dritten Welt, die Differenzen zwischen den Verbündeten, besonders zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Was die gegenwärtige Stimmungslage Westeuropas auszeichnet, ist nicht das Gefühl, es müsse sich etwas ändern — das gab es auch schon vor zwanzig Jahren —, sondern eine Diskrepanz zwischen gängigen Visionen und praktischen Problemlösungen, die zur Untätigkeit anhalten könnte.

Deshalb ist es für die Vorausschau unerläßlich, die Kristallkugel sauber zu halten. Der erste Teil dieses Beitrages gilt der Frage: Was bleibt in den neunziger Jahren? Der zweite Abschnitt untersucht, welche heute zu erkennenden Veränderungen die Sicherheitspolitik der nächsten Jahre entscheidend beeinflussen werden. Die abschließende Frage lautet: Was ist zu tun?

II.

Was bleibt? Je nach der Einstellung des Betrachters beruhigend viel, enttäuschend viel: die Gefährdung durch die Sowjetunion; die atomare Abschreckung; der atlantische Verbund.

Es bleibt die Gefährdung durch die sowjetische Supermacht in Europa. Dabei ist der Begriff „Gefährdung“ sehr bewußt gewählt. Die „Bedrohung“ mag sich ändern: Die Absichten und Pläne sowjetischer Führer, so wie im „worst case“ -Denken gefangene westliche Analysen sie interpretieren, sind natürlich Wandlungen unterworfen. Und wahrscheinlich wäre es schon längst richtig gewesen, den Begriff der Bedrohung durch den der Gefährdung abzulösen.

Denn in dem ersteren verbirgt sich eine Vorstellung, die heute schon fragwürdig erscheint und es in den nächsten Jahren noch mehr zu werden verspricht: das Szenario eines absichtlichen, vorsichtig geplanten und entschlossen durchgeführten Großangriffes der Sowjetunion auf Westeuropa. Dieses Szenario ist jedoch von allen denkbaren Gefährdungen Westeuropas das unwahrscheinlichste. Einmal wäre ein solcher Angriff, solange der Angreifer nicht mit Gewißheit den eskalierenden Einsatz von Atomwaffen ausschließen kann, ein Akt des Selbstmordes. Zum anderen hat die Sowjetunion ohnehin alle Hände voll zu tun, mit ihren eigenen Problemen und denen ihrer Bundesgenossen fertig zu werden.

Das Besondere an der Politik Michail Gorbatschows liegt ja gerade hier: Die sowjetische Führung hat endlich erkannt, daß die Sowjetunion ihre Rolle in der Welt und in Europa nur halten kann, wenn sie sich der Probleme im Innern des letzten Reiches der Geschichte mit Vorrang annimmt. Die Innenpolitik hat für die Sowjetunion Priorität vor der Außenpolitik. Und das heißt auch, was im und mit dem Westen geschieht, ist für die Sowjetunion auf absehbare Zeit weniger wichtig als das Geschick der Reformbemühungen zuhause. Von „Bedrohung“ zu sprechen, ist heute noch altmodischer und abwegiger als es vor Jahren schon war.

Aber damit ist die Gefährdung Westeuropas durch die Sowjetunion nicht aus der Welt. Sie liegt in zweierlei begründet: in der fortbestehenden militärischen Diskrepanz zwischen der Supermacht Sowjetunion und allen anderen europäischen Staaten sowie in der inherenten Instabilität des osteuropäischen Teils des Sowjetimperiums.

Der Schatten sowjetischer Militärmacht wird weiterhin über Westeuropa fallen. Gewiß, Abrüstungsvereinbarungen, auch der finanzielle Druck werden in Ost und West die Zahl der Truppen und die Arsenale der Rüstungen vermindern. Aber daß die Weltmacht Sowjetunion je bereit sein könnte, ihre militärischen Optionen auf das Maß einer europäischen Mittelmacht zurückzustutzen, ist undenkbar: Das militärische Ost-West-Gefälle wird andauern. Nun ist es durchaus denkbar, daß ein Zuwachs an politischem Vertrauen die politische Auswirkung dieses Gefälles zu normalen Zeiten neutralisiert. Aber in Krisenzeiten kann es um so stärker ins Gewicht fallen. Dazu bedarf es nicht der Unterstellung sonderlich aggressiver sowjetischer Absichten. Die Realität des militärischen Machtunterschiedes hat ihre Eigendynamik.

Diese Eigendynamik würde sich zumal in der immer noch wahrscheinlichsten europäischen Krise auswirken: Wenn die Instabilitäten Osteuropas offen aufbrechen sollten. Die Geschichte lehrt, daß es für den Krieg keines politischen Angriffsplanes bedarf; man kann auch in den Konflikt „hineinschlittem“. Wie in der Vergangenheit innere Umstürze und Revolutionen oft der Auslöser für militärische Weiterungen waren, so liegt hier auch für Europa in den nächsten Jahrzehnten die wahrscheinlichste Gefahr. Die Ursache dafür ist nach wie vor in der Art sowjetischer Machtausübung in Osteuropa begründet, die demokratische Willensbildung, Meinungsfreiheit und staatliche Souveränität verbietet. Dies kann kein Zustand von Dauer sein, und darin liegt die entscheidende Ungewißheit europäischer Sicherheit. Wenn die Sowjetunion es nicht versteht, den freiheitlichen und nationalen Impulsen in Osteuropa zu genügen, dann kann Europa und die Welt in einen neuen Konflikt hineinrutschen. Diese Gefahr kann nur der unterschätzen, der die osteuropäischen Aufstände von 1953 bis 1968 und die Gratwanderung Polens in den Jahren 1980/81 verdrängt hat.

Es gibt Anzeichen, daß die Sowjets sich dieser Gefahr bewußt sind. Sie haben aus Erfahrung gelernt. Das erklärt, warum die Rote Armee trotz manchen Säbelrasselns 1981 nicht in Polen einmarschierte; ebenso, warum die Moskauer Zentrale die „eigenen Wege“ der osteuropäischen Regime duldet, solange die Führungsrolle der Partei unangetastet bleibt. Und wenn Michail Gorbatschow mit seiner Politik Erfolg hat. die Sowjetunion wirtschaftlich und geistig zu modernisieren, dürfte dies auch dem Zusammenhalt des Warschauer Paktes zugute kommen.

Dennoch ist eine grundsätzliche Beseitigung der potentiellen Gefahr osteuropäischer Instabilitäten nicht in Sicht. Die Systembarrieren werden auch von der neuen Moskauer Führung nicht abgebaut werden. So ermutigend die neuerliche Betonung des Prinzips gemeinsamer Sicherheit in Moskauer Erklärungen ist, so unbefriedigend muß auf die Dauer ein Sicherheitskonzept bleiben, das die gesellschaftlichen und ideologischen Aspekte des Friedens ausspart. Zudem: Gerade Zeiten der Modernisierung können, wie Erfahrungen in Entwicklungsländern zeigen, zu politischen Explosionen führen, die jenen Aufmarsch der Panzer. Kanonen und Soldaten in Bewegung setzen könnten, vor dem Europa sich seit vierzig Jahren fürchtet.

So bleibt denn die Gefährdung Westeuropas bestehen. Auch das andere zentrale Element westeuropäischer Sicherheit, die atomare Abschreckung wird fortdauern. Weder kann die Bombe gänzlich abgeschafft werden, noch läge der Verzicht auf atomare Abschreckung im Sicherheitsinteresse Europas — auch im 21. Jahrhundert nicht.

Die Vorstellung einer nuklear-freien Welt — wie sie etwa in dem Vorschlag des sowjetischen Partei-chefs Gorbatschow vom 15. Januar 1986 auf das Jahr 2000 projiziert wird — ist ein Trugbild. Die Technik der Bombe ist bekannt, die Trägerwaffen sind vorhanden, die Doktrinen sind entwickelt. Der atomare Geist kann nicht mehr in die Flasche zurückgezwungen werden, auch nicht durch noch so großherzige (und deshalb irreale) Abrüstung. Und eine nuklear-freie Zone, die alle außer den Kernwaffenstaaten umfaßte? Sie würde an der Existenz und an der abschreckenden Wirkung atomarer Waffen nichts ändern, allenfalls Illusionen nähren, es könne ein Teil der Welt aus dem nuklearen Zeitalter aussteigen.

Ein Abschied von der atomaren Abschreckung wäre aber auch nicht im Interesse all jener, die — in Ost und West — weiterhin einen militärischen Konflikt in Europa verhindern wollen. Denn Atomwaffen dienen nicht nur (und am wenigsten) dem Ausgleich für Schwächen in der konventionellen Verteidigung, sie sind vor allem eine Entmutigung des militärischen Angriffs überhaupt. Selbst wenn NATO und Warschauer Pakt einander in konventioneller Verteidigungskraft in keiner Weise nach-stünden, wäre dieses Gleichgewicht ohne Atomwaffen doch unvergleichbar labiler als der heutige Zustand, der konventionelle Ungleichgewichte und atomare Abschreckung miteinander verbindet. Denn atomare Abschreckung bewirkt, was konventionelle Abschreckung nie leisten kann: Der Angreifer muß sich ausrechnen, daß ein Sieg unmöglich ist. Hat er lediglich die konventionelle Abwehr des Verteidigers zu überwinden, dann hat ein Sieg Chancen — sogar, wie die Geschichte zeigt, bei zahlenmäßiger Unterlegenheit des Angreifers. Konventionelle Abschreckung kann daher die atomare Abschreckung nicht ersetzen.

Das alles heißt gewiß nicht, Westeuropa müsse mit Bausch und Bogen sämtliche Entwicklungen nuklearer Rüstung und nuklearer Einsatzdoktrinen unterstützen; es gibt stabile und weniger stabile Strukturen der Abschreckung, und nur an den ersteren kann uns gelegen sein. Aber es bedeutet doch, daß die atomare Allergie, die einen großen Teil der öffentlichen Meinung erfaßt hat, keine Richtschnur für die Sicherheitspolitik der nächsten Jahrzehnte sein kann.

Und schließlich wird auch der atlantische Rahmen westeuropäischer Sicherheit bestehen bleiben. Zwar wird es innerhalb dieses Rahmens vielfältige Verschiebungen geben. Davon wird noch weiter unten zu sprechen sein. Aber der atlantische Zuschnitt westlicher Verteidigung entspricht zu sehr den Interessen Westeuropas und der Vereinigten Staaten, als daß sein Verfall in diesem Jahrhundert wahrscheinlich wäre. Das hegt einmal an der Binsenwahrheit, daß nach wie vor die Staaten Westeuropas den militärischen Machtvorsprung der Sowjetunion nur mit amerikanischer Unterstützung politisch erträglich halten können. Es liegt zum anderen an der atomaren Verknüpfung der atlantischen Sicherheit: Solange die Vereinigten Staaten bereit sind, ihr Überleben irgendwie — gewiß nicht automatisch, wie manche in Europa fordern, aber doch im Risikoverbünd — an Europa zu knüpfen, wird keine westeuropäische Regierung die Allianz aufkündigen. Die NATO-Mitgliedschaft wird in jedem der Partnerländer immer noch von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, auch wenn dies mit allen möglichen Einschränkungen verbunden sein mag. Und immer wieder hat dieses nun nachgerade vierzigjährige Bündnis es verstanden, seinen Mitgliedern ein Gefühl gemeinsamer Sicherheit zu vermitteln, aufdas sie auch in Zukunft kaum werden verzichten wollen. Der Rahmen wird bleiben — auch wenn es nötig sein wird, ihn anders als bisher auszufüllen.

III.

In den zentralen Bedingungen westeuropäischer Sicherheit gilt die Kontinuität: die Gefährdung durch das sowjetische Übergewicht, verbunden mit systemarer Instabilität in Osteuropa wird bleiben; eine Alternative zur atomaren Abschreckung ist nicht in Sicht; und das atlantische Bündnis wird auch noch seinen fünfzigsten Geburtstag feiern können. Die Bausteine dessen, was die sicherheitspolitischen Realitäten Westeuropas seit Ende des zweiten Weltkrieges ausmacht, verschieben sich nur sehr langsam. Was sind dann die Veränderungen? Sie lassen sich auf einen Punkt bringen: Die sicherheitspolitische Aufgabe wird diffuser.

Einmal wird die Gefährdung unklarer. Es ist eines, der Sowjetunion bestimmte militärische Invasionspläne zuzumuten und sich dagegen zu wappnen. Es ist ein ganz anderes, das politische Gewicht sowjetischer Militärmacht als mögliche Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit zu empfinden und dementsprechend einzugrenzen zu versuchen — zumal Wandlungen in der Außenpolitik der Sowjetunion die Chancen für kooperative Ansätze in den nächsten Jahren noch verstärken können. Zudem werden andere Gefährdungen, die nicht nur oder sogar gar nicht im Ost-West-Gegensatz begründet und häufig mit militärischen Mitteln nicht erfaßbar sind, zunehmen: Konflikte in der Dritten Welt werden die Sicherheit Westeuropas in stärkerem Maße als bisher berühren und möglicherweise direkt in Mitleidenschaft ziehen.

Bisher ist diese Gefahr gering geblieben. Im Vergleich zur Dritten Welt ist Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Insel der Krieglosigkeit gewesen — wahrscheinlich auch, weil die gegenseitige atomare Abschreckung die Weltmächte dazu anhielt, Krisen und Konfrontationen andernorts nicht auf Europa durchschlagen zu lassen. Die Kriege im Nahen Osten, der lange Konflikt in Vietnam, der nun in sein siebentes Jahr tretende Golfkrieg und der fortschwelende Afghanistan-Konflikt haben die Sicherheit zwischen Ost und West entweder gar nicht oder nur marginal beeinträchtigt, auch wenn sie die politische Atmosphäre belastet haben. Eine Ausnahme von dieser Regel waren nur die seltenen Fälle, in denen durch nukleare Aktionen einer Supermacht die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes mit der anderen wuchs: 1962 in Kuba, 1973 im Nahen Osten.

Wird das in den neunziger Jahren anders sein? Von den beiden Weltmächten ist kaum zu erwarten, daß sie sich leichtfertig in militärische Abenteuer jenseits der Peripherie ihrer Einflußsphären einlassen; die Lektionen, die Amerika in den sechziger und siebziger Jahren in Südostasien und die der Sowjetunion in den siebziger und achtziger Jahren in Afrika und Südwest-Asien zuteil wurden, werden nicht so bald vergessen sein. Beide haben erfahren, daß militärische Macht zwar unerläßlich ist, daß sie dennoch nur unter besonderen Umständen und mit oft erheblichem Risiko in politische Einflußmehrung umgesetzt werden kann. Für Westeuropa bedeutet das Zusammenfallen von fortdauernden Konflikten und wachsender Weltmachtabstinenz in der Dritten Welt ein politisches Dilemma: Soll es versuchen, politischen (und nicht nur wirtschaftlichen) Einfluß jenseits der eigenen Grenzen auszuüben, auf die Gefahr hin, zwar wenig zu bewirken, aber doch in ferne Krisen verwickelt zu werden? Oder soll Westeuropa sich, so gut es geht, von der „unordentlichen“ Dritten Welt abschotten, auf die Gefahr hin, politischer Glaubwürdigkeit nach innen wie nach außen verlustig zu gehen?

Das Dilemma wird nicht durch den — gewiß richtigen — Hinweis aufgelöst, daß die „Dritte Welt“ keine Einheit, sondern eine Vielfalt darstellt und deshalb differenziert und relativiert werden muß; es kommt wie immer auf den Einzelfall an. Dennoch scheint es möglich, zwei generelle Trends für die Zukunft auszumachen.

Der erste ist, daß die Vereinigten Staaten ihr Drängen nach erhöhtem westeuropäischen Engagement „out of area“, das schon in den vergangenen Jahren spürbar war, in Zukunft noch verstärken werden, zumal ihre eigene Bereitschaft und Fähigkeit zu militärischer Intervention in Drittwelt-Krisen abnehmen wird. Bisher konnten die Westeuropäer auch deshalb häufig so tun, als sei militärische Machtanwendung in solchen Situationen durchweg ohne Nutzen, weil sie damit rechnen konnten, Amerika werde notfalls schon handeln. Was aber, wenn dies nicht mehr die Regel sein sollte — im Nahen Osten etwa oder am Golf?

Der zweite generelle Trend: Westeuropa wird schon wegen seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts in Konflikte in der Dritten Welt hineingezogen. Mit 66 Staaten ist die Europäische Gemeinschaft durch Assoziierungsabkommen formell verbunden. Mit vielen sind Mitgliedsländer der Gemeinschaft durch die koloniale Geschichte verknüpft. Beides schafft besondere Einwirkungsmöglichkeiten, aber auch besondere Ansprüche. Natürlich kann Westeuropa sich beidem entziehen, indem es sich einfach für nicht betroffen erklärt und der Welt Moralpredigten hält. Das wäre eine bequeme, aber keine attraktive Option — wie die Debatte um Sanktionen gegen Südafrika zeigt. Europäische Entrüstung ohne europäisches Handeln würde draußen als Verzicht auf politische Mitwirkung ausgelegt, drinnen — von den Bürgern der Gemeinschaft — als Eingeständnis politischer Impotenz gewertet. In dem Maße, in dem die Staaten Westeuropas sich als politisch handlungsfähige Union verstehen, wird die Bereitschaft zu einem auch sicherheitspolitisch relevanten Engagement in der Dritten Welt zunehmen müssen.

Als Folge dieser Entwicklung, in der die sicherheitspolitische Gefährdung weniger akut, die sicherheitspolitischen Abwehrmaßnahmen weniger präzis sind, wird die Sicherheitspolitik schwieriger werden. Denn es ist immer einfacher, auf eine präsente, den Bürgern bewußte Gefahr eine sicherheitspolitische Antwort zu geben: Da richtet sich das notwendige Maß der Verteidigung nach der Stärke des Gegners, da gilt das „worst case“ -Denken als nützliche Richtschnur, da wirken das Bündnis als unerläßlich und Verteidigungsausgaben als selbstverständliche Opfer. Wenn diese Klarheit fehlt, ist es schwieriger, Politik zu begründen, in der politischen Kontroverse durchzufechten und auf Dauer durchzuhalten.

Nun ist in der Geschichte der Bedrohungen und Ängste die präzise Gefahr in der Regel die Ausnahme gewesen. Staaten haben sich dennoch militärisch gewappnet, als allgemeine Rückversicherung gegen eine ungewisse Zukunft. Vieles spricht dafür, daß dies auch für die westlichen Länder in den neunziger Jahren gelten wird. Sie werden ihre Verteidigung nicht aufgeben, auch wenn Kürzungen wahrscheinlich sind. Und sie werden das Atlantische Bündnis nicht aufkündigen.

Die entscheidende Gefahr der „neuen Unklarheiten“ in der Sicherheitspolitik liegt nicht in einseitiger Abrüstung oder Neutralisierung. Sie liegt vielmehr in dem zusätzlichen und entscheidenden Anstoß, den sie der wachsenden Entfremdung zwischen den beiden Seiten des Atlantik geben könnte. Hier liegt die strategisch wichtigste Folge der neuen sicherheitspolitischen Entwicklung.

Es ist ja nur natürlich, daß sich im Westen Interessenunterschiede zurückmelden, die von der Sorge vor der gemeinsamen Gefahr lange in den Hintergrund gedrängt waren. Dies scheint auch das Schicksal des Atlantischen Bündnisses zu bestimmen. Für das Bewußtsein seiner Mitglieder wird insbesondere ein Umstand in Zukunft sehr viel prägender werden, nämlich der Unterschied der Geographie.

Die geographische Lage eines Landes ist gemeinhin der bestimmende Faktor seiner Strategie. Aber in den vierzig Jahren des westlichen Bündnisses wurde er in seiner Relevanz neutralisiert, weil Amerikaner wie Europäer überzeugt waren, daß ihre Sicherheit in erster Linie durch sowjetische Agressionsabsichten in Europa gefährdet sei. Selbst als Ende der fünfziger Jahre die Reichweite moderner Raketen es Amerika erlaubte, die Sowjetunion von eigenem Boden mit atomarer Vergeltung zu bedrohen, hielt das Bewußtsein gemeinsamer, präziser Gefährdung die beiden Teile des Bündnisses weiterhin so verklammert, als gäbe es zwischen ihnen den weiten Atlantik nicht.

Aber mit der neuen, diffuseren Sicherheitslage kommt die Geographie wieder zu ihrem strategischen Recht. Für die Europäer heißt das: Auch in der Ära ost-westlicher Entspannung unter Michail Gorbatschow bleibt die Sorge vor der sowjetischen Übermacht in Europa bestehen. Für die Amerikaner jedoch heißt dies: Die Sicherheit Nordamerikas ist weniger als bisher vom Kräfteverhältnis in Europa geprägt. Für Amerika bedeutet die Entspannung mit der Sowjetunion, daß Amerika sein militärisches Hauptaugenmerk nicht länger auf Europa richten muß.

Verwunderlich ist diese Entwicklung gewiß nicht. Im Gegenteil: Die Langlebigkeit des Atlantischen Bündnisses ist die eigentliche Überraschung, nicht das Aufkommen von Zweifeln an der Identität der Sicherheit zwischen Amerika und Westeuropa. Jetzt zeigt sich auch, wie selbstgefällig viele Europäer argumentiert haben, wenn sie — gerade während der Reagan-Jahre — so taten, als sei Europa ein natürlicher Befürworter, Amerika ein unverbesserlicher Gegner der Entspannung. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Die Entspannung kann den Europäern die Sorge um ihre Sicherheit nicht abnehmen; sowjetisch-amerikanisches Einvernehmen kann dagegen amerikanische Sicherheitsbe7 dürfnisse weitgehend befriedigen. In dem Maße, in dem die sowjetische Diplomatie unter Gorbatschow vor allem auf die Zusammenarbeit mit Washington setzte und amerikanischen Vorstellungen in der Rüstungskontrolle entgegenkam, schwand in Amerika das Gefühl unvermeidbarer, geschichtsgewollter Rivalität mit der Sowjetunion. Und alte, voratlantische Vorstellungen, daß Amerika seine Sicherheit nicht in Bündnissen mit Europa suchen, sondern auf sich allein gestellt sein sollte, erhalten neues Gewicht.

Diese Entwicklung wird durch wirtschaftliche und finanzielle Sachzwänge noch verstärkt. Wer immer im nächsten Jahr in Washington die Nachfolge Ronald Reagans antritt, wird seine politische Energie vor allem der Aufgabe widmen müssen, die Hypotheken der Reagan-Jahre abzutragen — das hohe Haushaltsdefizit und die massive Auslandsverschuldung. Zwangsläufig werden daher auch die wirtschaftlichen Spannungen und Irritationen mit den Bündnispartnern in Femost und Europa wachsen. Amerika hat heute weniger Angst vor der militärischen Bedrohung durch den sowjetischen Rivalen als vor der Wirtschaftsbedrohung seiner Partner. Die ohnehin vielen Amerikanern liebgewordene Vorstellung, die Europäer täten nicht genug für die eigene Verteidigung und nutzten nur die amerikanische Großzügigkeit aus, wird an politischer Schärfe gewinnen und zu den transatlantischen Irritationen beitragen.

Die neue Phase sicherheitspolitischer Beruhigung ist, geschichtlich gesehen, ein beachtlicher Fortschritt. Auch wenn die Gefährdung zwischen Ost und West nicht verschwunden ist, so werden doch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit eröffnet, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren. Aber diese Entwicklung hat ihren Preis. Im Westen wird der Atlantik breiter. Europa und Amerika driften, wenn nichts geschieht, langsam aber stetig auseinander.

IV.

Was also ist zu tun? Worin liegen die wichtigsten Aufgaben westeuropäischer Sicherheitspolitik in den neunziger Jahren? Sie liegen — auch insofern hat die Geschichte sich nicht beschleunigt — unverändert dort, wo der Harmel-Bericht der NATO sie vor fast genau zwanzig Jahren ausmachte: im Erhalten von Abschreckung und Entspannung, Zusammenhalt im Westen und Zusammenarbeit mit dem Osten. Allerdings scheint heute die Zusammenarbeit mit dem Osten weniger gefährdet als der Zusammenhalt im Westen. In der Entspannung haben sich Formen des ständigen Dialogs, Praktiken des begrenzten Miteinanders und Übungen pragmatischer Beziehungen herausgebildet, die ihre Belastbarkeit gerade in den Jahren des langen Machtwechsels in Moskau und der Entspannungsskepsis in Washington erwiesen haben. Seither haben gerade Washington und Moskau die Möglichkeiten der Zusammenarbeit erkannt und ausgeweitet. Im Bündnis jedoch ist der Konsens brüchig geworden.

Gewiß, problemlos kann und wird das Ost-West-Verhältnis nie werden, gerade weil es neben der militärischen Gefährdung auch die Entspannung mit ihren oft destabilisierenden Auswirkungen erfaßt. Trotz des Abklingens der Abenteuerlust der Großen in der Dritten Welt ist nach wie vor nicht auszuschließen, daß die Supermächte in künftige Krisen hineingezogen werden, und trotz der wirtschaftlichen Probleme der ersten und der zweiten Welt wird das Wettrüsten nicht beendet, allenfalls verlangsamt werden. Die Aufgabe, die Rüstung unter Kontrolle zu bringen, wird sich weiter und drängend stellen, weniger wegen quantitativer Aufrüstung als wegen qualitativer Veränderungen, die die immer noch beachtliche Stabilität der Abschreckung aushöhlen könnten.

Entspannung und Rüstungskontrolle bleiben eine wesentliche Aufgabe westlicher und westeuropäischer Sicherheitspolitik. Aber den Vorrang muß haben, was in der Geschichte des Bündnisses immer wieder als selbstverständlich empfunden worden ist, aber heute nicht mehr für alle selbstverständlich ist: der Zusammenhalt des Westens, der Verbund zwischen Amerika und Europa. Dies bleibt die entscheidende Bedingung dafür, daß Westeuropa sich sicher fühlen kann. Und ohne den Zusammenhalt im Westen würde die Abschreckung zum hohlen Bluff und die Entspannung zum Appeasement verkommen.

Drei Dinge gilt es für Westeuropa zu tun, um den atlantischen Zusammenhalt wieder zu festigen:

Erstens: Westeuropa muß den Weg aus der Situation des Abhängigen in die Rolle des Partners Amerikas finden. So paradox es klingt: Die transatlantische Misere kann nicht überwunden werden durch Liebedienerei gegenüber dem mächtigen Verbündeten, sondern nur durch selbstbewußte Mitgestaltung im gemeinsamen Bündnis. Konfliktvermei-B düng durch eilfertige Zustimmung zu amerikanischen Plänen würde den Regierungen Westeuropas den Rückhalt im eigenen Land, aber auch die Glaubwürdigkeit in Washington nehmen; Vasallen-treue bekommt dem Bündnis nicht. Nach innen -für die eigenen Bürger — gibt das Bündnis nur Sinn, wenn die Regierungen sagen: „Wir wollen“, nicht wenn sie sagen: „Die Amerikaner wollen“. Und auf Rücksichtnahme in Washington kann Westeuropa nur zählen, wenn es weiß, was es will, und bereit ist, sein Gewicht in die gemeinsame Verantwortung einzubringen.

Die Aufgabe ist zugleich leichter und schwerer, als manche Sonntagsreden über die Selbstbehauptung Europas vermuten lassen. Sie ist leichter, weil die Vereinigten Staaten von der Struktur ihres Regierungssystems her beeinflußbar sind: Eine entschlossene, von den westeuropäischen Regierungen gemeinsam vertretene Position hätte im amerikanischen Entscheidungsprozeß Gewicht nicht als Vorhaltung von außen, sondern als Kristallisationspunkt für die interne Willensbildung. Alastair Buchan, einer der besten Amerika-Kenner Großbritanniens, hat das Regierungssystem der Vereinigten Staaten einem Bündnissystem gleichgestellt: Nicht nur der Präsident hat zu entscheiden, die führenden Ministerien, die beiden Häuser des Kongresses, die Lobbies und die Medien wirken mit. Die Chance zur Einflußnahme, die diese Struktur bietet, nehmen amerikanische Interessengruppen mit Selbstverständlichkeit und Geschick wahr; die Politiker Westeuropas dagegen, die allzu oft das amerikanische Regierungssystem als Spiegelbild ihres eigenen mißverstehen, haben immer noch nicht gelernt, es ihnen gleichzutun.

Aber das läßt sich lernen. Viel schwieriger dagegen ist die andere, entscheidende Komponente westeuropäischer Mitgestaltung im Bündnis: das Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung für das Ganze.

Das große Übergewicht der Vereinigten Staaten in der westlichen Allianz — an militärischer Stärke, wirtschaftlichen Ressourcen, Ideen und politischem Durchsetzungswillen — hat die meisten westeuropäischen Regierungen dazu verleitet, Bündnispolitik auf folgende Weise zu betreiben: Amerika wird kritisiert, das eigene nationale Interesse wird übergeordnet („Was das Bündnis tun sollte, ist nicht unsere Sache“), und wenn der amerikanische Druck zu stark wird, gibt man ihm eben nach. Damit jedoch ist in Washington kein Staat zu machen. Beispiel Libyen 1986: Die Verbündeten der Vereinigten Staaten mochten sich nicht zu gemeinsamen Schritten gegen die mutmaßlichen Terroristenhelfer in Tripolis verstehen; erst als Amerikas Navy im April 1986 zuschlug, bequemten die Westeuropäer sich zu Sanktionen — obgleich sie durch entschlosseneres Handeln zuvor das Bombardement möglicherweise überflüssig gemacht hätten. Beispiel SDI: Obwohl keinem der Verbündeten der Vereinigten Staaten die Star-Wars-Pläne Reagans behagten — sie waren vor der Ankündigung einer angeblich grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Abschreckungsdoktrinder NATO nicht einmal befragt worden —, konnte Westeuropa sich nicht zu einer gemeinsamen Position aufraffen. Auf die zumeist heftige amerikanische Debatte über Sinn und Zweck strategischer Verteidigung haben die Europäer deshalb auch keinen Einfluß nehmen können; die Mehrzahl der westeuropäischen Regierungen wollte dem Präsidenten nicht widersprechen und bemühte sich statt dessen um möglichst viele Pentagon-Aufträge für das SDI-Programm!

Damit läßt sich weder der Hauptverbündete Europas beeindrucken noch Westeuropa zu gemeinsamem Handeln anspornen. Die erste (und oft letzte) Reaktion westeuropäischer Regierungen ist die des Rentiers, der von der Allianz profitiert, auch seinen Obulus entrichtet, aber die Geschäfte gern anderen überläßt.

Von dieser Mentalität muß Westeuropa endlich Abschied nehmen, wenn das Bündnis mit neuem Elan gefüllt werden soll. Die entscheidende Frage allerdings ist, ob es das auch will. Denn so gern die verschiedenen Regierungen von der besonderen Verantwortung Europas reden, so wenig scheinen sie sich zur Zeit unter Druck zu fühlen, die Worte mit Taten auszufüllen. Die Kosten des Nichtstuns scheinen in Bonn und London, Rom und Paris gering. Die Regierungen sind im großen Ganzen mit der internationalen Lage nicht unzufrieden, sie spüren „keinen Handlungsbedarf“, vor allem wenn dies ihnen eine Abkehr von liebgewonnener Bequemlichkeit abverlangt. Sie müssen sich dann allerdings nicht wundem, wenn das Allianzgebäude langsam verfällt — und sie dies nicht, wie so oft in der Vergangenheit, nur Versäumnissen der Politik Amerikas anlasten können.

Zweitens gilt es, die Bereitschaft Westeuropas zu angemessener Verteidigung auch in den Jahren finanzieller und personeller Engpässe glaubwürdig zu bekräftigen. Denn was immer die Rüstungskontrolle an Kürzungen für Waffen und Truppen zwischen Ost und West bereithält — und dies wird im Zweifel bescheidener ausfallen, als mancher heute glauben mag —, die Beschränkungen durch Geburtenrückgang und Geldmangel werden noch weit tiefer in die Arsenale einschneiden. Das deutlichste Beispiel ist die Bundeswehr, die ab Mitte der neun-9 ziger Jahre mit der Hälfte ihres jetzigen Aufkommens an Wehrpflichtigen und — angesichts der dann allenthalben, auch bei Industrie und Verwaltung angespannten Personallage — mit sehr viel weniger Längerdienenden als heute rechnen muß. Aber die Streitkräfte anderer Verbündeter und mancher mutmaßlicher Gegner sind nicht viel besser dran. Die Finanzschranken sind überall errichtet — in Europa wie in den Vereinigten Staaten, und eine Neuauflage amerikanischer Rückzugs-wünsche aus Europa scheint für die neunziger Jahre wahrscheinlich.

Wie soll der Westen — und Westeuropa — dieser Herausforderung begegnen? Am sinnvollsten wären gemeinsame Erwägungen im Bündnis, wie durch neue Strukturen der Zusammenarbeit die zu erwartenden Defizite in ihrer Wirkung aufgefangen werden könnten. Die Bereitschaft zu derartigen Lösungen fehlt bisher noch. Statt dessen wartet jedes Land ab, daß ein anderes als erstes mitteilt, die Allianzverpflichtungen nicht mehr voll einhalten zu können — nur um dann das gleiche Recht für sich zu begehren. Dies ist auch der entscheidende Grund, warum die Bundesregierung bisher so getan hat, als ob sich trotz des zu erwartenden Einbruchs in die Personalressourcen der Gesamtumfang der Bundeswehr in den neunziger Jahren nur geringfügig ändern werde.

Das ist taktisch verständlich. Als Grundlage für eine verläßliche Bündnisstrategie ist es jedoch untauglich. Wenn die Westeuropäer den Test ihrer Glaubwürdigkeit bestehen wollen, müssen sie rasch mit dem Bau von potemkinschen Dörfern aufhören. Für die Bundeswehr heißt das, die strukturellen Konsequenzen des Bevölkerungsschwundes deutlich zu machen, um mit den Partnern Lösungen für die gemeinsamen Probleme zu finden. Wundermedizinen — wie etwa technische Durchbrüche — sind nicht zu erwarten. Die „alternativen Strategien“, die in den jüngsten Jahren gerade in der Bundesrepublik propagiert worden sind, sind in der Regel in militärische Reformvorstellungen verkleidete Alternativen zur Bündnisintegration — und daher kaum brauchbar, wenn es gilt, diese Integration zu wahren.

Ein gemeinsames Vorgehen in der Frage der konventionellen Truppenpräsenz könnte auch die Vorstufe zu einer gründlicheren Überprüfung der NATO-Strukturen insgesamt sein. Langfristig bleibt zu wünschen, daß die europäische Mitverantwortung für die Sicherheit Westeuropas auch nach außen deutlicher hervortritt. Eine Intensivierung bilateraler westeuropäischer Arrangements — zwischen Bonn und Paris etwa in der konventionellen. zwischen Paris und London in der atomaren Rüstung — hat gewiß praktischen und symbolischen Wert. Aber zugleich haftet derartigen Absprachen doch der Geruch der Verlegenheitslösungen an. Eine umfassendere Form der NATO, die die europäische Mitwirkung auch in den Institutionen der Allianz unübersehbar macht — etwa die Einsetzung eines europäischen Oberbefehlshabers mit einem für atomare Planung zuständigen amerikanischen Stellvertreter — sollte nichtjenseits des europäischen Ehrgeizes liegen.

Drittens kommt es darauf an, die öffentliche Meinung in Westeuropa wieder für einen nüchternen Konsens in der Sicherheitspolitik zurückzugewinnen. Die Nachrüstungsdebatte hat Bürger und Politiker gleichermaßen verunsichert. So hat sich trotz des formellen Abschlusses der Nachrüstungsentscheidung die Unsicherheit nicht verflüchtigt. Der Konsens ist allenfalls an der Oberfläche wiederhergestellt, soweit es um den Abbau atomarer Fähigkeit geht; die Grenze, von der ab die atomare Abrüstung für Europa nachteilig werden könnte, wird nirgendwo aufgezeigt. Manche Politiker mögen sie zwar erkennen, aber sie wollen den Bürgern nur ungern den sauren reinen Wein einschenken. Was tut’s, so könnten sie meinen, wo doch ein Ausstieg aus der atomaren Abschreckung ohnehin unrealistisch ist.

Das ist keine verläßliche Basis, um den Veränderungen der nächsten Jahre mit europäischem Selbstvertrauen und Lösungsbewußtsein zu begegnen — nicht wohlklingenden Initiativen aus dem Osten (die es gewiß ernsthaft zu prüfen gilt) und nicht Reduzierungs-oder atomaren Neuerungswünschen aus den Vereinigten Staaten. Der neue Konsens kann nur auf der ehrlichen Überzeugung aufgebaut werden, daß konventionelle Verteidigung auch weiterhin trotz der hohen Kosten notwendig ist und ihre Ergänzung durch stabile atomare Abschreckung für die Sicherheit Westeuropas erforderlich bleibt. Erst wenn diese Grundlage steht, kann Westeuropa auf die Ausgestaltung der Modalitäten entscheidenden Einfluß nehmen. Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber unmöglich ist sie nicht: Immerhin haben die Bundesrepublik und Belgien in jüngster Zeit die Verlängerung des Wehrdienstes beschlossen und damit gezeigt, daß die öffentliche Meinung auch für Opfer gewonnen werden kann, solange das Einfordem glaubwürdig ist.

Auf Westeuropa kommt eine Phase der Verantwortung zu — im Bündnis, im Ost-West-Verhältnis, in der Dritten Welt. Die Versuchung wird groß sein, sich dieser Verantwortung zu entziehen; die Gründe dafür wären nicht einmal weit hergeholt: daß Westeuropa noch lange nicht gemeinsam handlungsfähig ist. daß die Möglichkeiten jedes einzelnen Landes beschränkt sind, daß die öffentliche Meinung noch nicht darauf vorbereitet sei. Aber wenn Westeuropa in den neunziger Jahren seine Sicherheit wahren und mitgestalten will, dann gibt es wohl keine andere Wahl, als sich der Verantwortung nüchtern, aber auch zuversichtlich zu stellen.

Fussnoten

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