I.
Neben dem Staate Israel sind heute die Vereinigten Staaten von Amerika das wesentliche Zentrum für die Juden in der Welt. Diese neue Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg hängt mit der fast völligen Ausrottung des osteuropäischen Judentums zusammen. Die großen Zentren in Polen und im Baltikum fielen der Vernichtung anheim. Die Juden in der Sowjetunion haben keine direkte Verbindung mit den Juden der Welt; ihre religiöse und kulturelle Aktivität ist stark eingeschränkt. Daher steht heute neben dem Staat Israel das amerikanische Judentum im Mittelpunkt.
Die genaue Zahl der amerikanischen Juden ist schwer feststellbar, da eine Registrierung im Sinne jüdischer Gemeinden, etwa wie in der Bundesrepublik Deutschland, nicht existiert. Man schätzt die Zahl der Juden in den USA auf 5, 8 Millionen. Die Juden sind in das Leben der amerikanischen pluralistischen Gesellschaft integriert, aber diese Integration erfolgt nicht ohne Probleme. Die an sich erwünschte Integration kann in einen Konflikt mit dem Überleben als einerjüdischen Gruppe geraten. Diese Frage stellt sich gerade in diesen Jahrzehnten, in denen nicht nur eine zweite Generation amerikanischerJuden herangewachsen ist, sondern eine dritte oder vierte. Hier stellt sich dann das Problem nach den jüdischen Inhalten. Die Zugehörigkeit zu jüdischen Gemeinden ist oft nur lose. Es bleibt vor allem eine emotionale Bindung an eine wie auch immer geartete jüdische Tradition und an den Staat Israel. Dieser hat für nicht wenige amerikanische Juden eine Art von Ersatzreligion angenommen; daher sind amerikanische Juden in vielfacher Beziehung mit dem Geschehen im Staate Israel verbunden. In den Zusammenhang der Integration gehört auch das Problem der Mischehe, wobei jedoch häufig Übertritte besonders der nichtjüdischen Frauen zum Judentum stattfinden. Genaue Zahlen für die Gegenwart liegen nicht vor. Um das Jahr 1970 heirateten 41 Prozent jüdischer Männer nicht als Jüdinnen geborene Frauen, wobei 30 Prozent dieser Frauen zum Judentum übertraten. Im ganzen ergab die Zahl der glaubensverschiedenen Ehen daher nur 22, 5 Prozent.
Stärker als in anderen Ländern ist das jüdische Vereinsleben in den USA entwickelt. Heute werden nicht weniger als 2 100 jüdische Organisationen in Amerika gezählt. Das mag keine typische jüdische Eigenschaft sein, denn schon Alexis de Toqueville beschrieb 1831 die amerikanische Nation als ein Volk, das für zahlreiche Zielsetzungen ständig neue Gesellschaften gründet. Das gilt in besonderem Maße für die Juden. Das Organisationsleben ist derartig üppig, daß eine Konferenz der Präsidenten der großen jüdischen Organisationen notwendig war, die als ein konsultatives Gremium die jüdische Bevölkerung bei der amerikanischen Regierung vertritt. Die älteste und größte jüdische Organisation Amerikas ist der B’nai B’rith (Söhne des Bundes). 1843 in Amerika von deutschen Juden gegründet, ist diese Organisation heute auf zahlreichen Gebieten tätig, vor allem hinsichtlich der Beziehungen zur christlichen Umwelt (Anti-Defamation League/ADL), der Erwachsenenbildung sowie der Betreuung der jüdischen Studenten auf dem Campus der Universitäten (Hillel-Foundation). Der B’nai B’rith tritt für die Interessen der jüdischen Gemeinschaft in der ganzen Welt ein. Er hat seine Zentren in Washington und New York und ist gemeinsam mit seiner Frauen-und Jugendorganisation die mitgliederstärkste jüdische Gemeinschaft in der Welt. Im Unterschied zu anderen Organisationen handelt es sich hier um eine Mitglieder-und nicht um eine Dachorganisation.
Eine angesehene Stellung nimmt auch das 1906 gegründete American Jewish Committee ein, das vor allem vom oberen jüdischen Mittelstand unterstützt wird, für die Rechte der Juden in Amerika und anderwärts eintritt, und wie die ADL des B’nai B’rith sich auch den christlich-jüdischen Beziehungen widmet. Der American Jewish Congress tritt für die Beseitigung rassischer und religiöser Vorurteile ein. Der ebenfalls in New York beheimatete World Jewish Congress ist eine Dachorganisation, die jüdische Gemeinschaften in der Welt sowie nationale Organisationen in den USA vertritt. In den politischen Zielsetzungen unterscheiden sich diese Organisationen kaum voneinander, wohl aber in der soziologischen Zusammensetzung ihrer Mitglieder. Alle diese Gremien haben ein positives Verhältnis zu Israel, das durch vielfältige Bande, Besuche und Kontakte, auch mit der israelischen Regierung, zum Ausdruck kommt. Man wird daher durchaus von einerjüdischen Lobby reden können, so wie auch andere Volksgruppen ihre „Lobbies" haben.
Als Interessenvertreter gegenüber dem Staat Israel besteht das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC). Wenn zweifellos hier auch Einflüsse vorhanden sind, so sollten diese jedoch nicht überschätzt werden. Da, wo die amerikanische Regierung meint, spezifische Interessen vertreten zu müssen, erfolgt dies auch trotz vehementen Protestes jüdischer Organisationen (z. B.der Verkauf der Awacs an Saudi-Arabien 1981 sowie Waffenlieferungen an arabische Staaten im allgemeinen).
Ein weiteres Betätigungsfeld des amerikanischen Judentums ist sein Einsatz für die Familienzusammenführung der heute noch rund 2, 1 Millionen sowjetischen Juden. Seit der Mitte der siebziger Jahre konnten 250 000 Juden die UdSSR verlassen. In den letzten Jahren ist ein starker Rückgang dieser Auswanderungstendenz erfolgt; er liegt derzeit bei 10 000 jüdischen Menschen pro Jahr. Ohne den beständigen Druck der amerikanischen Judenheit wäre die Auswanderung nicht möglich gewesen. Angesichts der politischen Situation im Staate Israel wandern jedoch nur etwa ein Drittel der sowjetischen Juden nach Israel aus.
Neben der sozialen und politischen Strukturierung gliedert sich das amerikanische Judentum vor allem in drei große religiöse Richtungen, die einen erheblichen Einfluß auf das jüdische Leben in Amerika ausüben. Es ist zum einen die Orthodoxie in ihren verschiedenen Schattierungen, die ihr geistiges Zentrum in der Yeshiva-University in New York besitzt. Diese Bewegung ist in keiner Weise einheitlich. betont aber die religiöse jüdische Tradition. Eine modernere Richtung nimmt zum anderen das konservative Judentum ein.dessen Zentrum das Jewish Theological Seminary in New York ist. Es bildet, wie auch die Yeshiva-University, Rabbiner aus. Die dritte große Richtung stellt schließlich das Reformjudentum dar, das ebenfalls in sich selbst nicht einheitlich ist, aber am weitesten von der jüdischen Tradition abweicht und die größte Flexibilität aufweist. Seine Rabbinerausbildung findet am Hebrew Union College — Jewish Institute of Religion in Cincinnati und New York statt.
Diese großen Richtungen (20 Prozent Orthodoxe, 40 Prozent Konservative und 40 Prozent Reformer) haben neben den genannten wissenschaftlichen Institutionen machtvolle Rabbiner-und Laiengremien, welche die jeweilige Politik der betreffenden Organisationen bestimmen. Die drei Richtungen versuchen ein Minimum an Gemeinsamkeit aufzuweisen; dies erfolgt im Synagogue Council of America, einer Art von Dachorganisation. Die Zusammenarbeit der einzelnen Gemeinschaften erfolgt nur auf politischem und sozialem Gebiet, nicht auf religiösem. Hier haben sich in den letzten Jahren die Spannungen eher noch verschärft, zumal sowohl die Reformbewegung als auch die Konservativen durch die Zulassung von Frauen zum Rabbinerstudium sich von der jüdischen Tradition, wie sie die Orthodoxie versteht, entfernt haben. Eine etwa sich verstärkende Einheit zwischen den einzelnen Richtungen ist daher nicht sichtbar.
Die Frage, inwieweit das wie auch immer geartete religiöse Judentum wieder eine zentralere Rolle in Amerika spielt, ist heute nicht beantwortbar. Das hängt vor allem mit dem Problem zusammen, wie nun die dritte und vierte Generation amerikanischer Juden sich in Zukunft selbst versteht. Es ist schwer einzuschätzen, in welcher Weise diese Juden an das jüdische Verständnis ihrer Großväter anknüpfen können, zumal in den letzten Jahren manche neuen Entwicklungen im amerikanischen Judentum zu verzeichnen sind. Es ist nicht nur die emotionale Hinwendung zum Staate Israel, die einen Teil der jüdischen Identität mitbestimmt, sondern auch die erst erstaunlich späte Realisierung der Tatsache der Shoa (Holocaust). Die mitentscheidenden Fragen wurden erst in den letzten zehn Jahren gestellt: Warum haben die USA nicht mehr für die verfolgten Juden getan? Warum wurde Dresden zerstört, nicht aber die Zufahrtswege nach Auschwitz? Welche Werte sind dem Judentum durch den Untergang der Juden in Zentral-und Osteuropa verloren gegangen? Diese und andere Fragen haben zu einer bisher nicht gekannten Belebung judaistischer Studien an amerikanischen Universitäten geführt, und es zeichnet sich das Suchen nach neuen jüdischen Identitäten, Zugehörigkeiten und auch nach dem Emstnehmen religiöser Praxis ab.
Niemand vermag vorauszusehen, in welcher Weise sich das Denken und Fühlen der dritten und vierten Generation entwickelt. Eines ist aber bisher mit Sicherheit durchgehalten worden: die stabile Bezie17 hung zum Staate Israel, unabhängig von der jeweiligen Regierung und ihrer Politik, selbst wenn diese im Widerspruch zu den Wünschen der amerikanischen Regierung steht. Erstaunlicherweise ist bisher eine Kritik an der Politik Israels in den USA durch jüdische Organisationen in öffentlichen Erklärungen weitgehend ausgeblieben. Das zeugt nicht von einem Desinteresse, wohl aber von einer starken Solidarität und dem Bewußtsein der Nicht-einmischung in die politische Szene des demokratischen Staates Israel. Gerade auch in Krisenzeiten der verschiedensten Art hat sich dieses Band mit der amerikanischen Diaspora eher verstärkt. Es bleibt in jedem Fall das konstante Merkmal jüdischer Identität amerikanischer Juden. In diesem Zusammenhang ist es charakteristisch, daß antizionistische Gruppierungen in den USA keinerlei Erfolg beschieden war. Sie haben bestenfalls sektiererischen Charakter und fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht.
Die moralische und materielle Unterstützung durch die amerikanischen Juden ist bisher durch keine einzige Krise erschüttert worden, und es sieht auch nicht so aus, als ob sich hier etwas ändern wird. Dazu hat sehr entscheidend auch beigetragen, daß die politischen und religiösen Institutionen des amerikanischen Judentums ihre Stützpunkte im Staate Israel besitzen und junge konservative und Reform-Studenten der rabbinischen Hochschulen ein Pflichtjahr in Israel zu absolvieren haben. Der Staat Israel hat daher in den amerikanischen Juden seine wirkungsvollsten Bundesgenossen. Angesichts dieser Tatsache mag sich für einen Europäer die Frage nach einer „doppelten Loyalität“ für die amerikanischen Juden stellen. Das ist für diese jedoch keinerlei Problem, da gerade amerikanische Bürger vielerlei Loyalitäten haben — sei es gegenüber ihren kirchlichen Gemeinschaften, ihren Landsmannschaften oder sonstigen politischen oder sozialen Institutionen. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen (etwa den Institutionen der katholischen Kirche) ist in den USA stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Gerade weil sich in den USA die stärkste Judenheit der Welt befindet, bestehen zwischen den Konfessionen auch ausgeprägtere Beziehungen. Das gilt auch für die katholisch-jüdischen Beziehungen. Die großen jüdischen Organisationen haben sich zu einem International Jewish Committee on Interreligious Consultations (IJCIC) zusammengeschlossen, um möglichst mit einer Stimme gegenüber den christlichen Konfessionen zu sprechen. Eines der Anliegen gerade von IJCIC ist es, die bisher ausgebliebene Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan zu erreichen. Viele Juden sehen in einer solchen Anerkennung einen Beweis für die Ernsthaftigkeit der Wende in den katholisch-jüdischen Beziehungen.
Die Gestaltung des Verhältnisses zu den protestantischen Gruppierungen ist deshalb komplizierter, weil diese in zahlreiche Denominationen zersplittert sind. Es besteht aber kein Zweifel, daß der amerikanische Pluralismus auch hier dafür gesorgt hat, daß die Beziehungen zu den protestantischen Gruppen sich in den letzten Jahren verbessert haben. Das gilt besonders auch für den Lutherischen Weltbund.
Die Verteilung der Juden in den amerikanischen Staaten ist unterschiedlich. Die größte Zahl befindet sich im Staate New York, wo bei einer Bevölkerung von rund 17, 7 Millionen etwa zwei Millionen Juden leben, also über zehn Prozent. Dem folgt New Jersey mit 5, 6 Prozent, Florida mit 4, 7 Prozent, Massachusetts mit 4, 7 Prozent, Maryland mit 4, 6 Prozent. Am geringsten ist die Zahl der Juden in Arkansas, Idaho, Mississippi, Montana mit 0, 1 Prozent.
Voraussagen über die Zukunft des amerikanischen Judentums lassen sich nicht machen. Sicher ist jedoch. daß sich in absehbarer Zukunft die Strukturen in der amerikanischen Judenheit nicht ändern werden, sich somit die Frage stellt, welche neuen Inhalte die jüdische Identität erhält jenseits der emotionalen Bindung an den Staat Israel, des Eintretens für die Juden in der UdSSR sowie an das Erinnern der Shoa. Gewiß wird eine Antwort auf diese Frage auch dadurch bestimmt werden, ob weitere Fortschritte bei der Überwindung der Vorurteile erfolgen, oder ob ein Kampf gegen antisemitische Bestrebungen zu einem inneren Energieverlust führt. Dies scheint derzeit nicht der Fall zu sein, und so ist zu hoffen, daß allmählich eine geistige Regeneration stattfindet. Das jedoch wird um so eher erfolgen können, wenn die amerikanische Judenheit nicht in erster Linie um die Sicherheit und das Überleben des Staates Israel besorgt sein muß.
II.
Das französische Judentum ist — anders als etwa das schweizerische oder deutsche — relativ lose organisiert. Die jüdische Bevölkerung Frankreichs wird heute auf rund 550 000 Menschen geschätzt. Die Unklarheit über die wirkliche Zahl rührt aus der Tatsache her. daß. ähnlich wie in Amerika, die erklärte Zugehörigkeit zu einer Gemeinde freiwillig ist. Auf der anderen Seite gibt es durchaus gemeindeübergreifende Institutionen wie das Consistoire, die das religiöse Leben organisieren. Die politische Dachorganisation der Juden ist der CRIF (Conseil Representatif des Institutions Juive de France). Wie der Name sagt, handelt es sich um eine Organisation, in der zahlreiche jüdische Gremien Frankreichs vertreten sind.
Rund 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung Frankreichs ist nordafrikanischer Herkunft. Das Consistoire wird jüdisch-orthodox geführt. Die religiös-liberale Bewegung ist zwar aktiv, aber zahlenmäßig gering, gleichwohl sind die Hälfte der Ehen von Juden Mischehen. Die stärkste Bindung innerhalb des französischen Judentums erfolgt durch die Hinwendung zum Staate Israel. Der Gründungstag dieses Staates im April ist Anlaß zu großen jüdischen Manifestationen im Lande. Der Einsatz für den Staat Israel bildet also auch hier einen wesentlichen Inhalt für die jüdische Identität. Diese Tatsache gilt noch mehr für die Provinz als für Paris selbst, weil in der Metropole darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten existieren, um jüdische Bildung zu erwerben. Das gilt besonders etwa für das Raschi-Zentrum in Paris oder für die verschiedensten Institutionen der Pariser Universitäten, an denen vor allem auch das moderne Hebräisch unterrichtet wird. Für das kulturelle Leben Frankreichs, gerade auch außerhalb von Paris, hat der B’nai B'rith seine besonderen Aufgaben für die Erwachsenenbildung wie auch für eine ausgedehnte Jugendbewegung.
Die rassistische Haltung der rechtsextremen nationalen Front von Jean-Marie Le Pen hat ebenfalls zu einer Stärkung des jüdischen Bewußtseins geführt, wenn auch auf dem Hintergrund der Abwehr des Antisemitismus. Stärker jedoch bildet die Beziehung zum Staat Israel und die ständige Aufmerksamkeit, die die israelische Politik in der Welt erregt, Anlaß zur jüdischen Aktivität.
Es hat sich in der Geschichte gezeigt — und diese Tatsache gilt auch heute noch —, daß Frankreich eine ungemein starke Assimilationskraft auf die Juden ausübt und schon in der zweiten Generation eine starke Integration erfolgt, oft einhergehend mit dem Schwinden religiöser Bindungen, doch ohne Negation der jüdischen Vergangenheit. Ein recht charakteristisches Beispiel bildet der Erzbischof von Paris, Jean-Marie Lustiger, der, obwohl als junger Mensch getauft, sich weiterhin seiner jüdischen Abstammung bewußt ist.
Es waren vor allem Terrorakte auf eine Synagoge und ein jüdisches Restaurant, die zu einer trauma-tischen Besinnung der französischen Juden geführt haben, und diese hat in Richtung auf eine weitere Verstärkung der Bande mit dem Staate Israel geführt. Diese Tatsache schließt eine Kritik an der Politik der jeweiligen israelischen Regierung nicht aus. Eine solche Haltung unterscheidet die französischen Juden eher von den amerikanischen, wo Kritik an Israel in der jüdischen Öffentlichkeit zurückhaltender geübt wird.
Die Zukunft der französischen Juden mit ihrem starken Trend zur Assimilation und zur Mischehe ist ungewiß. Es ist wahrscheinlich vor allem Israel, das jüdische Bindungen aufrechterhält. Wie in den USA haben sich im übrigen auch in Frankreich Juden in den politischen Parteien engagiert, stärker bei den Sozialisten als anderwärts. Sie haben dabei in verschiedenen Perioden angesehene Positionen im Staat eingenommen. Obwohl das französische Judentum zahlenmäßig wahrscheinlich stärker ist als das ehemals deutsche vor 1933, hat sich jedoch ein ähnlich stark ausgeprägtes geistiges und kulturelles Leben nicht entwickeln können. Diese Tatsache hängt mit der jüdischen Bevölkerungsstruktur zusammen: 80 000 französische Juden wurden während der Shoa ermordet. Ein Teil des alten, bodenständigen Judentums (die sogenannten Israelites) hat sich assimiliert und ist im Verschwinden begriffen. Die seit 1945 in das Land eingeströmten nordafrikanischen Juden haben einstweilen noch andere Werte und andere Traditionen nach Frankreich mitgebracht, als nur die jüdische Kultur und Wissenschaft. Die zweite beziehungsweise dritte Generation dieser umfangreichen Bevölkerungsgruppe könnte aber dem französischen Judentum ein neues Gesicht geben, das aber derzeit noch keine deutlichen Umrisse besitzt.
III.
Das Judentum in Großbritannien wird heute auf 330 000 Menschen geschätzt, wobei die jüdischen Zentren London, Manchester, Leeds und Glasgow sind. Eher noch stärker als in Frankreich findet eine bedeutende Assimilation und eine Abkehr vom religiösen Judentum statt. Von jüdischen Männern, die zwischen 1950 und 1960 geboren wurden, heirateten nur die Hälfte in einer Synagoge. Die religiöse Richtung wird in England durch die Orthodoxie bestimmt, die in scharfen Auseinandersetzungen mit den zahlenmäßig geringeren progressiven Gruppen steht, welche aber eher an Einfluß gewinnen, recht dynamisch sind, und daher die Auseinandersetzung mit der Orthodoxie herausfordem. Die Beziehungen des englischen Judentums zum Staate Israel sind stark und die jüdische Identität wird daher auch dadurch konstituiert, daß sie politische Kontroversen auszufechten hat. Im Unterschied zu den meisten Sozialisten in Frankreich weisen einige Kreise in der Labour Partei antiisraelische Tendenzen auf. Die proarabischen Sympathien in der englischen Öffentlichkeit beziehungsweise antizionistische Aktivitäten motivieren hingegen die Juden für Israel.
Das englische Judentum ist vor allem durch die Dachorganisation des Board of Deputies vertreten. Er ist heute in Europa wahrscheinlich die bestorganisierte jüdische Vertretung und auch von der nicht-jüdischen Umwelt anerkannt. Diese Tatsache mag damit Zusammenhängen, daß der Board zugleich die älteste jüdische Dachorganisation der Welt ist, die nunmehr seit 226 Jahren besteht. Wie in Frankreich ist der Einsatz der englischen Juden für die Juden in der Sowjetunion beträchtlich, und es gelingt ihnen auch, die Parlamentsabgeordneten für diese Frage zu interessieren.
Dem jüdischen Erziehungswesen wird in England besonderes Gewicht beigemessen. Das gilt besonders fürjüdische Schulen, von denen es 55 im Lande gibt. Zwei Rabbinerausbildungsstätten sorgen für rabbinischen Nachwuchs. Das Jews College mit seinen 55 Studenten vertritt die orthodoxe Richtung, das Leo Baeck College mit seinen 24 Studenten bildet liberale und Reform-Rabbiner aus. Ein Interesse an der Wissenschaft des Judentums ist zunehmend vorhanden, was auch aus einer ausgedehnten, geistig hochstehenden Buchproduktion hervorgeht. Die von der Regierung anerkannte Stellung der Juden kam im Jahre 1988 dadurch zum Ausdruck, daß der Oberrabbiner von England in das House of Lords gewählt wurde. Er ist der erste Rabbiner, dem eine solche Anerkennung zuteil wurde.
Wie auch in Frankreich ist es nicht möglich, die Zukunft des englischen Judentums vorauszusagen, zumal die Integration fortschreitet. Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Nur 78 000 männliche Juden gehörten einer Synagogengemeinde an, davon 70, 5 Prozent der Orthodoxie, 4, 4 Prozent der rechtsextremen Orthodoxie, 2, 7 Prozent der sephardischen Gemeinde, 15, 2 Prozent der Reform-und 7, 2 Prozent den liberalen Synagogen. Ob eine Belebung des Judentums außer dem Einsatz für Israel und für die sowjetischen Juden in absehbarer Zeit erfolgt, ist ungewiß.
IV
Wir haben uns bisher mit der amerikanischen und den beiden großen europäischen Judenheiten befaßt. Grundsätzlich unterscheidet sich die Situation in anderen europäischen Ländern, in Kanada sowie in Latein-Amerika von den hier geschilderten Verhältnissen nicht sehr — abgesehen vielleicht von den quantitativen Unterschieden. Anders jedoch ist die Lage der Juden in der Sowjetunion. Sie werden dort als eine Nationalität anerkannt, deren Zahl rund zwei Millionen betragen mag. Davon leben 700 000 in der russischen Republik und 630 000 in der Ukraine. 40 Prozent der Juden leben in einer Mischehe. Man schätzt die Zahl derer, die das Land verlassen wollen, auf rund 300 000. Diejenigen Juden, denen man die Auswanderung verweigert und die dennoch darauf pochen, bezeichnet man als . Refuseniks’. Sie sind starken Pressionen ausgesetzt und werden unter den verschiedensten Vorwänden zu Gefängnis-und Lagerstrafen verurteilt.
Eine überregionale Organisation ist den Juden verboten. Es gibt in der gesamten Sowjetunion nur rund 60 Synagogen mit etwa zehn Rabbinern. Eine jüdische Erziehung ist nur im privaten Leben mögB lieh. Die wenigen jiddischen Zeitungen wie „Sovetish Haimland" oder der „Birobidschaner Schtern" sind nur in kleiner Auflage verbreitet. Jüdisches Theater wird gelegentlich, vor allem in Moskau, gespielt. Ein offener Antisemitismus ist selten, er erfolgt zumeist in der Form eines virulenten Antizionismus. Dieser kommt in allen sowjetischen Massenmedien vehement zum Ausdruck. Eine berufliche Diskriminierung der Juden findet durchaus statt. Im politischen Leben der UdSSR spielen Juden keinerlei Rolle. Der internationale Druck auf die Sowjetunion hat in den letzten Jahren die fast schon eingestellte Emigration wieder etwas belebt.
Die Zukunftsaussichten für die Juden in der Sowjetunion sind angesichts der neuen sowjetischen Politik noch unklar. Irgendwelche Fortschritte für die Ausübungjüdischer Kultur und anderer Menschenrechte sind bisher leider noch nicht sichtbar geworden. Kleine Gruppen sowjetischer Juden lernen Hebräisch, versuchen sich über das jüdische Geschehen in der Welt auf dem Laufenden zu halten, und kommen in privaten Zirkeln zusammen, was aber noch keine Zukunft des sowjetischen Judentums gewährleistet. Manches wird auch davon abhängen, ob die sowjetische Regierung wieder die 1967 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Israel aufnimmt und eine gegenüber Israel ausgewogenere Politik vertritt. In den letzten 20 Jahren und schon vorher war die sowjetische Politik völlig einseitig proarabisch, teilweise in Verbindung mit bösartigen Angriffen und irreführenden Behauptungen über den Staat Israel. Es wäre zu hoffen, daß sich diese Haltung ändert und die Sowjetunion eine entspanntere Haltung gegenüber Israel einnähme. Ein solches Vorgehen könnte auch positive Folgen für die sowjetischen Juden haben.
V.
An einigen Ländern wurde die derzeitige Situation der Juden skizziert; andere jüdische Gemeinschaften sind nicht behandelt worden, weil ihre Problematik sich von der in den übrigen westlichen Ländern nur unwesentlich unterscheidet. Wir erwähnen in diesem Zusammenhang Kanada mit einem Bevölkerungsanteil von 310 000 Juden; in Argentinien leben 228 000 Juden, in Brasilien 100 000, in Südafrika 118 000, in Belgien 32 000, in Holland 26 000 und in der Schweiz 19 000 Juden. Alle diese Gemeinschaften sind in nur leicht unterschiedlicher Form strukturiert. Teilweise gibt es übergreifende Dachorganisationen (wie in der Schweiz, Belgien und Südafrika), teilweise besteht eine strukturelle Form wie in den USA. Die Beziehung der Juden dieser Länder zu Israel unterscheidet sich nirgends von der in den großen amerikanischen sowie westlichen Zentren. Überall gehört die Stellung zum Staate Israel zum Inhalt jüdischer Identität, selbst wenn man weit davon entfernt ist, jemals dorthin auszuwandem und man integrierter Bürger des Staates ist, in dem man lebt.
So zeigt sich in unserer Skizze, daß die Situation eines heutigen Juden sich viel weniger, als es auf den ersten Blick scheinen mag, in den einzelnen Staaten voneinander unterscheidet. Natürlich hat ein amerikanischer Jude andere Wertvorstellungen und gesellschaftliche Voraussetzungen als etwa ein europäischer, aber das gilt für Juden und Nichtjuden in völlig gleicher Weise. Die Integration der Juden in Amerika und Europa ist in den letzten Jahrzehnten erheblich fortgeschritten. Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Juden gibt es kaum hinsichtlich rein jüdischer Inhalte, sondern aufgrund verschiedener Kulturen, in denen sie aufgewachsen waren oder in denen sie heute leben. Um so wichtiger ist daher gerade für alle Juden die Existenz des Staates Israel, weil er für das jüdische Bewußtsein eine Integrationskraft besitzt, die die Religion zumindestens teilweise verloren hat, und selbst das Erinnern an die Shoa wirkt kaum in übergreifender Weise gemeinschaftsbildend oder identitätsbestimmend. In den 40 Jahren der Existenz des Staates Israel ist ein völlig neues Element in die Geschichte und das Bewußtsein der modernen Juden getreten: Dieser Staat dient auch für andernorts integrierte Juden als wichtiges Mittel, jüdische Existenz lebendig zu erhalten.
Diese Tatsache mag in mancher Beziehung erstaunlich sein, wenn man bedenkt, daß die geistige Ausstrahlungskraft Israels angesichts seiner Bedrohung und mannigfacher wirtschaftlicher und sozialer Probleme für viele enttäuschend ist. Man hatte gewiß zu optimistisch gemeint, durch die israelische Geistigkeit würde auch die Diaspora neu belebt werden. Das ist nur hinsichtlich der hebräischen Sprache geschehen, nicht aber hinsichtlich einer Renaissance allgemeiner jüdischer Geistigkeit, die in die Breite ausstrahlt. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die israelischen Universitäten neue Zentren jüdischer Wissenschaft darstellen, die in Zentral-und Osteuropa untergegangen sind; von dieser neuen Gelehrsamkeit wird aber die Diaspora relativ wenig berührt.
Die Frage stellt sich daher, was denn, nun eigentlich trotz allem diese zentrale Funktion Israels ausmacht. Wahrscheinlich ist es die Tatsache, daß der Staat Israel es bewirkt hat, daß Juden nach Jahren tiefster Demütigung wieder Menschen aufrechten Ganges sein können. Dazu mag kommen, daß im Bewußten oder Unbewußten eines jeden Juden die Gewißheit besteht, daß er in der Stunde der Not oder Gefahr immer einen Ort findet, wo er willkommen ist und das Gefühl besitzt, nicht in der Fremde zu sein. 40 Jahre Israel lassen daher keinen Juden unberührt, wo immer er auch leben mag, gerade auch dann, wenn Israel in Not ist und seine Hilflosigkeit gegenüber äußerem Geschehen dokumentiert.
Juden in der Welt fühlen in solchen Situationen, daß Israel ihrer noch mehr bedarf und sie ihre Solidarität mit diesem Lande erst recht beweisen müssen.