L Das alte und neue Israel: Die Entstehung des Staates und der Versuch einer historischen Einordnung
Zwei Versuche mit der jüdischen Staatlichkeit schlugen fehl, der dritte läuft seit genau vierzig Jahren. Trotz der Unterschiede zwischen dem modernen Staatswesen Israel und den antiken jüdischen Gemeinwesen gibt es auffallende Ähnlichkeiten; sie betreffen zum Beispiel ihre Entstehung sowie das Spannungsverhältnis zwischen Zion und der jüdischen Diaspora. Eroberung als Geburtsfehler Die Errichtung aller drei jüdischen Gemeinwesen erfolgte fast unmittelbar auf Katastrophen in der leidensreichen Geschichte des jüdischen Volkes. Die erste jüdische Gemeinschaft entstand im dreizehnten vorchristlichen Jahrhundert nach der Knechtschaft in Ägypten; der zweiten war die Zerstörung des Ersten Tempels im Jahre 586 vor Christus und das Babylonische Exil vorangegangen; der dritte jüdische Staat, das heutige Israel, entstand nach dem Holocaust, der auf Hebräisch bezeichnenderweise „Schoah“, auf deutsch „Katastrophe“ heißt.
Alle drei jüdischen Gemeinwesen entstanden in Phasen einer grundlegenden politischen Un-und Umordnung der gesamten vorderorientalischen Region. Dabei entstanden neue politische, doch keine gesellschaftlich-ethnischen Leerräume. Mit anderen Worten: Die Eroberer wechselten, die ansässigen Völker blieben und wurden von den nach-und einrückenden jüdischen Siedlern vertrieben; einige gingen mehr oder weniger freiwillig. Bis auf die Propagandisten sind sich heute eigentlich israelische und palästinensische Historiker oder Politiker darüber einig, daß 1947/48 ein Drittel der palästinensischen Flüchtlinge aus dem heutigen Israel freiwillig die Kampfgebiete räumte, ein weiteres Drittel vertrieben und der Rest von Israelis und siegesgewissen militanten palästinensischen Nationalisten „psychologisch überzeugt“ wurde, das Land zu verlassen 1).
Den jüdischen Siedlern blieb — aus ihrer Sicht — keine andere Wahl, sie sollten, religiös interpretiert. das Gelobte Land erobern; sie mußten es sich, unreligiös interpretiert, aneignen, weil sie nach erlittenem Leid glaubten, woanders als Gastvolk nicht mehr weiterleben zu können. Die vorangegangene Tragödie des jüdischen Volkes wurde auf diese Weise das Schicksal der einheimischen Völker; nach dem Holocaust das Los der Palästinenser
Weder die Katastrophen noch die innere Spannung zwischen Erlösung und Eroberung, Erlösung durch Eroberung, gewollter Befreiung und ungewollter Unterdrückung sind in der jüdischen Geschichte „einzigartig“. Sie sind in der Gegenwart wirksame und wahrgenommene Vergangenheit, sie bestimmen die geschichtspolitische Diskussion über die Entstehung und den moralischen Geburtsfehler des Staates, in Israel selbst und im Ausland
Anders als für das alte waren für das neue Israel Kultur und Religion des bzw.der alteingesessenen, eroberten Völker weder Verlockung noch Versuchung. Die andere Seite blieb dem modernen Israel fremd und bedrohlich, und diese Bedrohung schweißte die jüdischen Bürger des jungen Staates, die aus den verschiedensten Weltteilen und Zivilisationen kamen, zu einer neuen Gemeinschaft zusammen. Das neuisraelische Wir-Gefühl wird deshalb auch durch die äußere Bedrohung und die beachtlichen Aufbauleistungen geprägt, die sowohl trotz als auch wegen dieser Bedrohung erbracht wurden.
Die ständige Bedrohung wirkte integrierend, motivierend und mobilisierend. Wie in den altisraelischen Zeiten Ezras und Nehemias vor rund 2 500 Jahren „arbeiteten sie mit der einen Hand, und die andere hielt die Waffe“. Dieser Satz aus dem Alten Testament (Nehemia 11) wird im neuen Israel immer wieder zitiert. Diese Worte schlagen bewußt eine gedanklich-gefühlsgeladene Brücke zwischen dem neuen und alten Israel, schaffen ein Bewußtsein jüdisch-historischer Kontinuität in Zion und stiften Legitimität.
Anders als vor rund 2 500 Jahren empfindet man heute die Welt der nichtjüdischen Nachbarn nur als äußere Gefahr einer möglichen Vernichtung, nicht als innere Versuchung.
Für geschichtsbewußte Juden hat der neue jüdische Staat einen historisch-geographischen Geburtsfehler: der Staat Israel entstand nicht im einstigen biblischen Kernland, Judäa und Samaria, sondern er hat sein Zentrum in der Küstenebene, wo einst die Philister gelebt und in Galiläa, wo Jesus gewirkt hatte. Die Eroberungen des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 machten aus Israel auch geographisch einen jüdischen, demographisch jedoch einen jüdisch-arabischen Staat. Der historisch-geographische Geburtsfehler wurde getilgt, der moralische gleichzeitig verschärft — obwohl Israel auch 1967 schuldlos schuldig wurde und aus der Verteidigung angriff: eine im klassischen Sinne tragische Situation.
Der 1967 erreichte Höhepunkt der Rückkehr nach Zion wurde damit Wendepunkt in der Geschichte des jüdischen Staates — moralisch und demographisch. Moralisch, weil man die Rolle des Besatzers übernehmen mußte, die über kurz oder lang immer häßlich ist; demographisch, weil die arabische Minderheit im jüdischen Staat erheblich größer wurde. Langfristig stellte sich die Frage nach ihrer politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Integration. Damals merkten es wenige, heute ist es das Hauptproblem Israels. Als Araber stehen die Palästinenser in den besetzten Gebieten einem zionistisch-jüdischen Staat bestenfalls gleichgültig gegenüber. Je mehr die Gebiete auch ohne formelle Eingliederung ein Teil Israels werden, stellt sich die Frage nach der rechtlichen und politischen Gleichheit ihrer arabischen Einwohner. Verweigert man ihnen die Gleichheit, so verzichtet man auf die Demokratie; gewährt man sie ihnen, so verzichtet man auf den Zionismus, das heißt auf den jüdischen Staat. Zionismus oder Demokratie — das ist seit 1967 die Alternative, vor die Israel durch seinen historisch-geographischen Triumph gestellt ist. Dieser Triumph erweist sich zunehmend als Pyrrhus-Sieg.
Das Wir-Gefühl, also die Identität und Identifizierung, beruht beim neuen, 1948 gegründeten Israel — ähnlich wie im alten, biblischen Israel — keineswegs nur auf der jüdischen Religion, sondern auch auf der Leidensgeschichte des Volkes. Das vorangegangene Leid bindet und verbindet die jüdischen Bürger Israels, heute ebenso wie damals. Je blasser die Erinnerung an das vorangegangene Schicksal wird, desto poröser wird das israelische Wir-Gefühl, und nicht zuletzt deswegen wird in Israel die Erinnerung an den Holocaust aufrechterhalten.
Waren einst die Erfahrungen mit dem pharaonischen Ägypten oder mit dem Volk der Amalekiter das historisch-ideologisch-gesellschaftliche Bindemittel. die weltlich-politische Identitätsstiftung, so ist es heute der Holocaust und damit Deutschland. Hierzulande hält man diesen Gebrauch des Holocaust oft für Antigermanismus, übersieht jedoch dadurch die politische Mechanik der innerisraelischen Identitäts-und Identifikationsstifung 4).
Die Israelis orientalischer Herkunft — und das sind inzwischen mehr als die Hälfte der jüdischen Bürger — waren im Gegensatz zu ihren aus Europa stammenden Landsleuten vom Holocaust nicht betroffen. Die die orientalischen Juden prägende Verfolgung vollzog sich in den nordafrikanischen und westasiatischen Gastgesellschaften in dem Maße, wie der Konflikt zwischen Zionisten und Palästinensern auf die gesamte arabische Welt Übergriff und dort besonders in den vierziger Jahren zu Judenverfolgungen führte Weil der zionistisch-arabische Gegensatz nach Israels Staatsgründung eher zu-als abnahm, blieb bei den orientalischen Juden Israels nicht nur das alte Feindbild erhalten, son-dem auch die Intensität des Willens zur Abgrenzung gegenüber der einstigen Heimat, sei es die eigene oder die der Eltern und Großeltern
Die aus Europa und Amerika stammenden, die sogenannten „aschkenasischen" Israelis, betrachten ihre einstige Heimat nicht oder nicht mehr feindselig; ja, sie wird durchaus als alt-neue Alternative zur Existenz im jüdischen Staat gesehen. Das gilt inzwischen auch in bezug auf (West-) Deutschland. weniger auf die Sowjetunion. Diese Tatsache erklärt zumindest teilweise die im Vergleich zu den euro-amerikanischen Israelis ausgeprägtere Bereitschaft der Juden afro-asiatischer Herkunft, auch in schwierigeren Zeiten eher im Lande zu bleiben und nicht auszuwandern, obwohl diese im allgemeinen wirtschaftlich schlechter gestellt sind als jene.
Das Verhältnis zur Diaspora stellt sich daher für die orientalischen Israelis ganz anders dar als für ihre aschkenasischen Landsleute. Nach Europa und Amerika können aschkenasische Israelis jederzeit zurück; in den Irak, Jemen oder nach Syrien, sogar in das inzwischen wieder wesentlich tolerantere Marokko und Tunesien empfiehlt es sich weniger, zumal die islamische Radikalisierung in der gesamten Region des Vorderen Orients nicht zur jüdisch-arabischen Entspannung beiträgt. Die Alternative zum Leben in Israel wäre für die orientalischen Juden die Lebensgefahr in der alten Heimat der arabischen Staaten
Die brennende Landschaft der Diaspora verstärkte den Wunsch der Juden auf baldige, konkrete Erlösung. Die säkularisierten Juden — und das waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr und bald die meisten — wollten sich nicht durch die Hoffnung auf den Messias vertrösten lassen. Der Zionismus und dann Israel verhießen Befreiung und Erlösung; sie wurden für die verweltlichten Juden Ersatz für den Messianismus der religiösen Glaubensbrüder. Der „Rückzug auf Zion“ war folglich von säkularisierten „Obertönen des Messianis-mus begleitet“ Wegen seiner eher politisch-weltlichen als religiösen Natur muß man ihn als Pseudo-Messianismus bezeichnen, was keineswegs bedeutet, daß man ihn deswegen verurteilt. Sogar neoorthodoxe Kreise des modernen Judentums haben angesichts der Judennot Zionismus und Israel als „Beginn der Erlösung“ betrachtet Auch auf die wohlwollenden Teile der nichtjüdischen Welt (die es trotz allem immer und überall gab) strahlte der israelische Pseudo-Messianismus aus.
Jeder Messianismus und Pseudo-Messianismus erweckt hohe, kaum erfüllbare Erwartungen. Die Enttäuschung von Juden und Nichtjuden über Israel war daher von Anfang an vorprogrammiert. Selbst die größten Erfolge Israels konnten nie die gehegten Erwartungen erfüllen. Das mag eine Erklärung für die israelische Selbstbespiegelung und Selbstkritik sowie für die häufige und manchmal ätzende Kritik des Auslands sein, über die man sich in Israel oft beklagt. Die Rügen aus dem Ausland sind auch — doch keineswegs nur — auf die pseudomessianischen und durchaus wohlwollenden Erwartungen der Außenwelt zurückzuführen. Israel wird aufgrund der so hohen Erwartungen auch von der nichtjüdischen Welt mit hohen, höchsten und daher unrealistischen Maßstäben gemessen. Die Wurzel dieser Israel-Kritik schmeichelt dem jüdischen Staat; dieses potentielle Wohlwollen wurde nicht immer von Israel genutzt — weil es verkannt wurde. 2. Anmerkungen zum Verhältnis Israel — Diaspora Wir wollen uns in diesem Abschnitt mehr mit der israelischen als mit der diasporajüdischen Seite beschäftigen, da sich Emst-Ludwig Ehrlich in diesem Heft vornehmlich mit der außerisraelisch-jüdischen Welt auseinandersetzt.
Der zionistischen Ideologie entsprechend versteht sich Israel als die Verkörperung des „Allgemeinen Willens“ des jüdischen Volkes Jean-Jacques Rousseau zufolge ist der Allgemeine Wille keineswegs dem „Willen aller“ beziehungsweise dem Willen der Mehrheit gleichzusetzen. Der Allgemeine Wille irrt nicht und weiß stets, was richtig ist. Mit diesem Selbstverständnis lösten Israel und der Zio-nismus das Dilemma, daß die Mehrheit der Juden nicht nach Zion kam.
Bis zum Holocaust blieb der zionistische Anspruch, den Allgemeinen Willen des Jüdischen Volkes zu verkörpern, innerjüdisch heftig umstritten. Die Grundannahme des Zionismus, daß es in der Diaspora überall und immer einen lebensgefährlichen Antisemitismus gäbe, war bis zum Holocaust ebensowenig mehrheitsfähig wie die daraus abgeleitete Folgerung — die Forderung nach einem jüdischen Staat, der diese Gefahr beseitigen sollte.
Der Holocaust schien die zionistische Sichtweise zu bestätigen. Auch seitdem kam die Mehrheit der Juden nicht nach Israel, doch der gesamtjüdischideologische Führungsanspruch des zionistischen Staates wurde kaum noch ernsthaft bestritten. Selbst viele Nichtjuden setzen inzwischen Israel und Juden gleich. Man achte in der Berichterstattung über den Nahen Osten einmal darauf, wie oft von „den Juden“ gesprochen wird, wenn Israel gemeint ist.
Trotzdem blieb die Mehrheit der Juden auch nach dem Holocaust in der Diaspora; anders als vorher hatte sie dabei ein schlechtes Gewissen. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde es aufgrund der gesamtjüdischen Israelbegeisterung noch schlechter, aber seit 1977 beruhigte es sich deutlich, und derzeit kann man sogar von einer Re-Emanzipation der Diaspora sprechen. Begonnen hatte sie mit der Friedensinitiative des ägyptischen Präsidenten Sadat. Verglichen mit ihm galt auch bei den Diasporajuden Israels Ministerpräsident Begin oft als der halsstarrige Prinzipienreiter. Die aggressive Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten sowie der 1982 von Israel geführte Libanonkrieg gegen die PLO entfachten Wellen innerisraelischer Kritik, die seitdem immer mehr auf die Diaspora Übergriffen. In den großen Diasporagemeinden der USA, Großbritanniens und Frankreichs ist Israelkritik nicht mehr tabu. Die Diaspora hat sich von Israel nicht ganz entfernt, aber doch etwas distanziert
Bis 1977 galt Israel als „letzter Rettungsanker“ vor dem Antisemitismus. Heute ist bei kritischen Diasporajuden zu hören, daß Israels zunehmend militante Palästinenser-Politik in der Welt neuen Antisemitismus entfache. Sie gefährde die Diasporajuden, die mit Israel gleichgesetzt würden, weil sie sich lange mit Israel identifiziert hatten. Die Fixierung der Diaspora auf Israel hätte sich als Bumerang erwiesen.
Heute leben in Israel 27 Prozent aller Juden. Zwar nimmt der Anteil Israels am Weltjudentum zu, und die Diaspora wird kleiner, aber das gewaltige Un-gleichgewicht dürfte sich auf absehbare Zeit nicht verändern. Die jüdische Welt bleibt bipolar, und dieser Zustand erinnert ebenfalls an das alte Israel in der Zeit des Zweiten Tempels, äls neben dem jüdischen Gemeinwesen in Zion das bedeutende babylonische und ägyptische Judentum bestand. Damals wie heute zog es die Mehrheit der Juden vor, in der Diaspora zu leben und sich mit Israel eher durch Geld und gute Worte als durch Einwanderung zu solidarisieren
Die zionistischen Gründungsväter gingen zunächst ebenso wie später viele Israelis gegenüber der Diaspora bewußt auf Distanz. Das neue jüdische Gemeinwesen in Zion sollte in allem anders als die Diaspora sein, ein „neuer jüdischer Mensch“ sollte geschaffen, eine „neue jüdische Gesellschaft“ errichtet werden. Mit der Diaspora verband man Schwäche. Wehrlosigkeit und Verfolgung. Jetzt demonstrierte man Stärke und Wehrhaftigkeit, nicht zuletzt in den neuen hebräisch-israelischen Vor-oder in den hebraisierten Familiennamen. Je selbstbewußter israelisch und distanzierter zur Diaspora, desto israelistisch-kraftstrotzender die Namen — und damit die durch sie ausgedrückte Identität Im Laufe der Jahre erkannten jedoch Israels Politiker und Gesellschaft, daß die Diaspora, besonders in den USA. die zuverlässigste und unverzichtbare ausländische Stütze des jüdischen Staates sei
Zwischen Israel und der Diaspora hat sich in den vergangenen vierzig Jahren eine Schere aufgetan: Israel hat sich der Diaspora genähert, während diese sich von Israel entfernte. Die Schere wird — unabhängig von der Politik Israels und der Kritik am jüdischen Staat — mit Sicherheit noch größer werden, weil die Diaspora vornehmlich euro-amerikanisch ist, Israels Gesellschaft, innerjüdisch gesehen, zunehmend orientalisch und insgesamt jü-disch-arabisch wird — mit oder ohne die besetzten Gebiete. Israels Zukunft dürfte sich aus diesen Gründen eher noch schwieriger gestalten als die Vergangenheit.
II. Die Entwicklung des Staates Israel: Versuch einer Bilanz
1. Dynamische Geographie Eindeutige Grenzen hatte Israel nie. Weder die biblischen, „von Gott verheißenen“, noch die historischen Grenzen Israels bestanden jemals lange oder standen unumstößlich fest Auch die territorialen Ansprüche der zionistischen Bewegung sowie des Staates Israel wechselten. Als Israel 1948 gegründet wurde, war es ein Kleinststaat. Den meisten israelischen Parteien und Politikern fiel es schwer, sich mit diesem beengten Gebiet zu begnügen. Größere Gebiete fielen Israel zu, weil die arabische Welt sich zunächst auch mit diesem jüdischen Ministaat nicht abfinden wollte.
Das territorialpolitische Bekenntnis der zionistischen Maximalisten lautete: „Der Jordan hat zwei Ufer!“. Diese geographische Binsenweisheit beinhaltete politisch nicht nur den Anspruch auf das West-, sondern auch auf das transjordanische Ost-ufer des Flusses. Die israelischen Maximalisten haben ihr Ziel nicht erreicht Sie teilen das Schicksal der arabischen Maximalisten, die Israel von der Landkarte tilgen wollten.
Ohne die Frage nach der Kriegsschuld klären zu wollen, stellen wir fest, daß Israels Territorium schon nach dem ersten arabisch-israelischen Waffengang der Jahre 1948/49 größer als im Mai 1948 war. Mit diesen Grenzen hatte sich die überwältigende Mehrheit in Israel abgefunden. Die Wende kam im Juni 1967; der Sechs-Tage-Krieg mischte die Karten neu. Das geschah unerwartet, wobei Ägypten, Jordanien und Syrien unfreiwillig das Anliegen der wenigen noch verbliebenen territorialpolitischen Revisionisten Israels förderten. Fortan bekamen diese Aufwind. Durch den 1982 geführten Krieg gegen die PLO im Libanon hatte Israel ungefähr die Gebiete unter Kontrolle, die im Jahre 1919 von der Zionistischen Weltorganisation gefordert worden waren Das Beharren der meisten arabischen Akteure auf der Wiederherstellung der jeweils vorangegangenen Grenzen ohne eine vorherige öffentliche, unzweideutige Anerkennung des israelischen Existenzrechtes bestärkte die „Falken“ in Israel und führte dazu, daß der jüdische Staat immer mehr arabisches Land kontrollierte.
Der einzige arabische Staat, der zuvor an Israel verlorenes Gebiet zurückerhielt, war Ägypten. Das geschah im April 1982, nachdem es die Lebensberechtigung Israels anerkannt hatte. Im November 1977 hatte es Ägyptens Präsident Sadat vor dem israelischen Parlament, der Knesset, ausgesprochen. Im September 1978 vereinbarte er mit Jerusalem das Abkommen von Camp David. Es hätte trotz aller Kritik der Beginn vom Ende der israelischen Besatzung Westjordaniens und des Gazastreifens werden können. Im März 1979 hatte Ägypten mit Israel einen Friedensvertrag unterzeichnet.
Die territorialpolitische Kompromißbereitschaft der israelischen Öffentlichkeit war, gemessen an Umfragedaten, seit 1967 nicht sonderlich hoch und in bezug auf die verschiedenen Gebiete unterschiedlich stark ausgeprägt Den höchsten Stellenwert genießt traditionell das Westjordanland — eine Tatsache, die territorialpolitische Zugeständnisse Israels erschwert, doch nicht verhindert. Auch klammerten sich die Israelis lange und stark an Scharm el-Scheich am Südzipfel der Sinai-Wüste, das im April 1982 trotzdem an Ägypten zurückgegeben wurde.
Ob aber das von Juden wesentlich dichter besiedelte Westjordanland ohne Bürgerkrieg aufgege-ben werden könnte, ist zweifelhaft. Die knapp 70 000jüdischen Siedler wählen seit Jahren die politischen Parteien Israels, die sich gegen Gebietskompromisse stemmen. Sie würden die Legitimität und damit auch die Autorität einer Regierung bezweifeln und bekämpfen, die sich zu einem derartigen Schritt entschlösse 2. Außenpolitik Auch im außenpolitischen Bereich bahnte sich durch die Ereignisse des Jahres 1967 für Israel ein grundlegender Wandel an; sichtbar wurde er 1974. Angefangen hatte es ganz anders, für Israel wesentlich erfreulicher: Bei der Abstimmung der UNO-Vollversammlung über die Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina standen im November 1947 zwei Drittel der damals unabhängigen Staaten auf der Seite der Gründungsväter Israels. Bis 1967 hatte sich die Zahl der unabhängigen Staaten besonders in der Dritten Welt vervielfacht. Sie schätzten durchaus die israelische Hilfsbereitschaft, die zahlreiche erfolgreiche Entwicklungsprojekte dokumentieren, doch diese neuen Staaten sympathisierten stets mit dem Unabhängigkeitsbestreben der Palästinenser. Daß Israel seit 1967 noch mehr palästinensische Menschen und Gebiete kontrollierte. mißfiel ihnen grundsätzlich.
Abstimmungsniederlagen hatte Israel in der UNO schon seit 1949 oft hinzunehmen. Ab 1967 wurden sie massiver, prinzipieller und feindseliger. Unübersehbar wurde Israels weltweite Isolierung im November 1974, als PLO-Chef Arafat vor der UNO-Vollversammlung sprach. Das gleiche politische Forum, dessen überwältigende Mehrheit 1947 noch Israel unterstützt hatte, bejubelte 1974 Israels Todfeind. Nicht nur die beiden Schlußziffern der Jahreszahlen, sondern Israels außenpolitische Umwelt hatte sich geändert; 1947 war diese Umwelt nicht heil, aber intakt, 1974 war sie weitgehend zerstört. Wir erörtern hier nicht die Frage der vermeintlichen Schuld, wir beschreiben die Entwicklung.
Das jüdisch-zionistische Gemeinwesen war bereits vor der Staatsgründung ein Fremdkörper im fast ausschließlich arabisch-islamischen Nahen Osten. Die Regionalpolitik Israels blieb deshalb militärisch bestimmt. Die kursangebenden, illusionslosen Politiker Israels errichteten um ihren Staat eine „Ei-seme Wand“ (in Anlehnung an den Propheten Sacharja 2, 9: „eine feurige Mauer rings um sie her“) von der ursprünglich Wladimir Jabotinsky gesprochen hatte. Zwar war der bürgerliche Jabotinsky der Erzrivale der eher sozialistischen Gründungsväter Israels, doch seine Doktrin wurde zweifellos übernommen: Weil die Araber Palästina ebenso liebten wie die Juden, würden sie ihre Heimat nicht kampflos aufgeben. Die Juden müßten um ihren künftigen Staat eine „Eiserne Wand“ errichten. Die Araber würden immer wieder gegen diese Wand anrennen, doch schließlich einsehen, daß es sinnvoller sei, sich mit dem jüdischen Staat abzufinden, meinte Jabotinsky. Auch derjenige, der Jabotinskys Überlegungen vielleicht moralisch-politisch verwirft, wird nicht bestreiten können, daß dieser sowohl das israelische Vorgehen als auch das arabische Verhalten zutreffend vorhergesehen hatte.
Nach der staatlichen Unabhängigkeit versuchte Israel einen blockfreien Kurs zu steuern. Das geboten weltjüdische Rücksichten wie zionistische Hoffnungen. Sowohl in den USA als auch in der UdSSR lebten seit jeher Millionen von Juden. Ihre Existenz sollte nicht durch Spannungen mit Israel gefährdet werden. Außerdem hofften die zionistischen Staats-väter, daß gerade aus diesen großen Diasporagemeinden zahlreiche Glaubensgenossen nach Israel einwandern würden.
In der Zeit des Kalten Krieges und der beiden Blöcke konnte Israel, wie auch andere Möchtegern-Neutrale, realistischerweise keinen blockfreien Kurs steuern. Nach Ausbruch des Korea-Krieges entschied sich Jerusalem zugunsten des Westens, also der USA Die Vorentscheidung war bereits im Winter 1948/49 gefallen, als die Kremlführung ihren prozionistischen Kurs aus nationalitätenpolitischen, gesamtsowjetischen Gründen beendete. Damit entfiel für Israel gleichzeitig die Hoffnung auf eine Masseneinwanderung russischer Juden -Im Februar 1953, kurz vor Stalins Tod, brach Moskau die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, um sie schon kurz darauf, im Juli 1953, wieder aufzunehmen. Für den Sechs-Tage-Krieg 1967 machte die Sowjetunion Israel allein verantwortlich und brach die diplomatischen Bezie-hungen erneut ab; die übrigen Staaten des War-schauer Paktes — außer Rumänien — folgten diesem Schritt. Die Beziehungen wurden bis heute nicht wieder aufgenommen. Seit Mitte der achtziger Jahre erkannte Moskau allerdings den 1967 begangenen Fehler: Man verfügte nur über Kontakte zu einer der beiden Seiten im arabisch-israelischen Konflikt. Die USA hingegen wurden von beiden Seiten als Gesprächspartner akzeptiert; nicht immer ohne Grollen, doch immerhin anerkannt.
Oft ist zu hören, Israel sei schon aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit inzwischen der 51. Staat der USA. Wer dies behauptet, übersieht wichtige Tatsachen: In dem, was Israel als „Lebensfragen“ bezeichnet, gelang es den USA nicht, Jerusalem auf Washingtons Kurs zu bringen oder zu zwingen. Wenn es schließlich ab und zu trotzdem gelang, hatten die Amerikaner einen hohen Preis zu zahlen: 1973/74, als sie Israels totalen militärischen Sieg im Jom-Kippur-Krieg aus vernünftigen politischen Gründen verhinderten, und 1978/79, als zwischen Israel und Ägypten mit amerikanischer Nachhilfe das Abkommen von Camp David (17. 9. 1978) sowie der Friedensvertrag (26. 3. 1979) ausgehandelt wurden. Der Preis zeigte sich sowohl in erheblichen palästinenserpolitischen Rücksichtnahmen gegenüber Israel als auch in Milliarden US-Dollar Israel ist eine brüllende Maus, die den amerikanischen Löwen durchaus erschrecken kann.
Daß ihr dies gelingt, liegt keineswegs nur an Einfluß und Macht der legendenumwobenen Israel-Lobby, sondern vor allem an der Tatsache, daß die nicht-jüdische Öffentlichkeit und politische Klasse der USA davon überzeugt ist, in Israel einen wichtigen und zuverlässigen weltpolitischen Verbündeten zu haben. Zudem „mochte“ die amerikanische Öffentlichkeit traditionell Israel weit mehr als sämtliche arabischen Staaten
Erst während der siebziger Jahre setzte sich diese Einschätzung durch. Einige Beispiele mögen den Wandel bezeugen: Bis in die frühen sechziger Jahre hinein weigerte sich Washington, den Israelis Waffen zu liefern. Nachdem Frankreich 1967/68 ein Waffenembargo über Israel verhängt hatte, sprangen die USA helfend ein. In den frühen fünfziger Jahren kümmerte sich die US-Administration zum Beispiel mehr um die deutsche Wiederaufrüstung als um deutsche Wiedergutmachung an die Juden und Israel. Daß sich Bonn trotzdem dazu aufraffte, geschah freiwillig, ohne amerikanischen Druck. 1957 wäre ein israelischer Rückzug aus der während des Suez-Feldzuges (Oktober/November 1956) eroberten Sinai-Halbinsel ohne massive Nachhilfe von Eisenhower und Dulles nicht erreichbar gewesen, und noch die ersten Nahostideen der Nixon-Administration — wie etwa der Rogers-Plan — beinhalteten so weitreichende territorialpolitische Zugeständnisse Israels, daß Jerusalem sich von den USA im Stich gelassen fühlte. Der Jom-Kippur-Krieg sowie der Ölschock 1973/74 brachten die Wende. Seitdem unterstützt Amerika sowohl militärisch als auch politisch und wirtschaftlich Israel massiv, manche würden sagen: einseitig
In Israel weiß man allerdings sehr wohl, wie die politische und wirtschaftliche Unterstützung sowie die Versorgung mit amerikanischen Militärgütern zu interpretieren ist: Sie dokumentiert einerseits das globale und strategische Interesse der USA am jüdischen Staat; sie signalisiert andererseits die Tatsache, daß sich Israel im Ernstfall selber helfen müßte und an ein direktes amerikanisches Eingreifen kaum zu denken wäre. Höchstens ein Drittel der US-Bürger unterstützt seit Mitte der siebziger Jahre eine derartige Aktion — selbst „wenn Israel von den Arabern besiegt würde“ So gesehen, gehört die massive Hilfe an Israel auch zum Preis, den die USA zahlen müssen, um ohne einen Großeinsatz eigener Soldaten amerikanische Interessen im Nahen Osten wahrnehmen zu können. Zudem gibt Israel Informationen über erbeutete und im militärischen Kampf erprobte sowjetische Waffen nicht zum Nulltarif weiter.
Die Außenbeziehungen Israels zu anderen Staaten sind zwar — je nach Interessenlage und Betroffenheit — beachtenswert, sie sind jedoch deutlich nachrangig. Das gilt auch in bezug auf das deutsch-israelische Verhältnis. Hauptadressat israelischer Außenpolitik war und blieb Washington. 3. Innenpolitik und Gesellschaft Daß Israel trotz der ständigen, jahrzehntelangen Bedrohungen und der militärischen Maßnahmen dagegen eine funktionierende Demokratie blieb, ist — gemessen an der nahöstlichen Umwelt — eine große Leistung. Läßt man sich vom selbst erhobenen Anspruch des Zionismus leiten, also vom Pseudo-Messianismus der verweltlichten National-juden, ist diese Errungenschaft gleichwohl eine Selbstverständlichkeit.
Zwei herausragende Bewährungsproben hat diese Demokratie bestanden: Sie fing den Wandel der jüdischen Gesellschaft von einer aschkenasischen in eine aschkenasisch-orientalische institutionell, gesellschaftlich und auch kulturell auf. Diese Entwicklung verlief für alle Beteiligten nicht unproblematisch, doch insgesamt gelang der Wandel, und am 17. Mai 1977 führte er zum Wahlsieg von Menachem Begins Likud-Block. Ein regelrechter Machtwechsel wurde damit vollzogen, und das bedeutete die zweite große, bestandene Bewährungsprobe.
Die weitgehend von aschkenasischen Israelis gebildete und gestützte sozialdemokratische Arbeitspartei wurde vom populistisch-nationalistischen Likud abgelöst, den vor allem die bis dahin zu kurz gekommenen und daher protestierenden orientalischen Juden gewählt hatten. Mit ihrem Wahlzettel hatten sie die Arbeitspartei damals — wie auch 1981 und 1984 — auf diese Weise gestraft -
Als Israel gegründet wurde, waren die orientalischen Juden eine winzige Minderheit; heute stellen sie die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des Landes. Gewiß, es gab und gibt zum Teil sogar beträchtliche Spannungen zwischen den beiden, auch in sich sehr vielfältigen und vielschichtigen jüdischen Bevölkerungsblöcken. Nach wie vor besteht in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft eine orientalisch-aschkenasische Lücke zugunsten der euro-amerikanischen Israelis. Immer noch prägen Europa und Amerika die Kultur„szene“ Israels, können sich Literatur, Theater, Musikprogramme oder die Zeitungen Tel-Avivs mit den großen westlichen Kulturmetropolen messen. Das Kulturleben Israels ist alles andere als jüdisch-orientalisch. Trotzdem ist die kulturelle und folkloristische Eigenständigkeit der jüdischen Einwanderer aus den nichteuropäischen Regionen im Laufe der Jahre stärker gefördert worden. Die ursprünglich bevorzugte Schmelztiegel-Ideologie wurde weitgehend aufgegeben, Vielfalt der manchmal krampfhaften Vereinheitlichung vorgezogen.
Auch in diesen köstlichen Wein könnte man Wasser gießen. Mühelos ließen sich unzählige Daten oder Beispiele nennen, die bewiesen, wie groß die orientalisch-aschkenasische Lücke nach wie vor ist. Für manche dünkelhaften euro-amerikanischen Israelis sind die orientalischen Juden bestenfalls das „Zweite Israel“ oder „Die Schwarzen“, denen man am liebsten aus der Distanz glaubensbrüderlich verbunden geblieben wäre. Einige dieser orientalischen Israelis sehen wiederum in den Aschkenasim eigentlich „Aschkenazim“. Kurzum: Vorurteile, Abneigung und Distanz bestehen auf beiden Seiten.
Trotz dieser ausgeprägten Unterschiede ist die innerjüdische Integrationsleistung der vergangenen vierzig Jahre höchst eindrucksvoll, ließen sich noch leichter Zahlen, Meinungserhebungen, Daten und Fakten vorlegen, die zeigten, wie sehr sich materiell und ideell die Situation der orientalischen Juden verbessert, ja, angeglichen hat. Vielen Aschkenasim fiel es gewiß schwer, sich an ein „orientalisiertes“ oder auch nur teilweise „orientalisiertes" Israel zu gewöhnen. Verglichen mit vielen Westeuropäern, auch Westdeutschen, haben sie sich jedoch an die „Ausländer“ im Inland bestens gewöhnt. Anders als in Westeuropa wurde aus dem „orientalisehen“ Mitbewohner des Staates ein weitgehend integrierter und akzeptierter Mitbürger.
Die für den künftigen Charakter des Staates wahrscheinlich entscheidende Bewährungsprobe steht allerdings noch bevor: die politische und gesellschaftliche Integration der arabisch-palästinensischen Israelis Wer die Situation der Araber/Palästinenser in Israel im Jahre 1948 mit der heutigen vergleicht, wird — aufgrund seiner politischen Überzeugungen vielleicht grollend — einräumen müssen, daß sich ihre Lebensqualität wie ihre Zahl außerordentlich verändert hat Damals waren sie knapp 150 000, heute sind es fast 800 000.
In den Jahren 1948 bis 1958 waren die israelischen Araber vom Schock der Jahre 1947 bis 1949 politisch wie gelähmt. Die gesamtarabische Begeisterung über den damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser schwappte 1957/58 auch zu ihnen über, wurde aber von den israelischen Behörden kontrolliert und damit neutralisiert. Das palästinensische und arabische, letztlich das politische Wiedererwachen der israelischen Araber begann nach dem Juni-Krieg 1967 — also paradoxerweise mit israelischer Hilfe: Sie konnten sich nun wieder mit Palästinensern im Gaza-Streifen sowie im Westjordanland treffen und aussprechen. Außerdem erlaubte Israel auf Initiative des damaligen Verteidigungsministers Mosche Dajan den fast ungehinderten Verkehr von Menschen und Waren nach Jordanien. Man nannte dies die „Politik der offenen Brücken“, und von Jordanien aus war der Weg in alle und von allen arabischen Staaten offen. Die Politik der offenen Brücken schlug Brücken zur gesamtpalästinensischen und gesamtarabischen Politik. Sie wirkte auf den jüdischen Staat negativ zurück, wo sich die „israelischen Araber“ nun wieder zunehmend als „Palästinenser“ fühlten. Das Aufsehen, das die PLO — wodurch auch immer — weltweit auf sich zog, förderte die Re-Palästinensierung der israelischen Araber, wo außerdem eine neue politische Generation herangewachsen war. Diese hatte die Spielregeln der Demokratie in Israel kennengelemt und war entschlossen, sie zu ihren eigenen Gunsten anzuwenden. Psychologischen Auftrieb erhielten sie 1973 durch den Jom-Kippur-Krieg und den damals erfolgreichen Einsatz der arabischen Ölwaffe. Erstmals schien damals derjüdische Staat verwundbar. Im März 1976 wurde am „Tag des Bodens“ das selbstbewußtere Vorgehen der israelischen Araber sichtbar, auch wenn es gewaltsam eingedämmt wurde. Die seit 1979 (Revolution im Iran) ausstrahlende Radikalisierung des Islam und die seit Ende der siebziger Jahre an Heftigkeit zunehmende Auseinandersetzung zwischen Israel und der Palästinensischen Nationalbewegung in den besetzten Gebieten sowie im Libanon mobilisierte auch die israelischen Araber. Der „Aufstand der Palästinenser“ in den besetzten Gebieten dokumentierte zur Jahreswende 1987/88 die immer heftigere Palästinensierung der israelischen Araber. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.
Aus zwei Gründen konnte die über jeden objektiven Zweifel erhabene Verbesserung ihrer ideellen und materiellen Lebensbedingungen die israelischen Araber subjektiv nicht befriedigen: Erstens vergleichen sie verständlicherweise ihre heutige Situation weniger mit jener, die vor vierzig Jahren unter drückender jordanisch-ägyptischer Vorherrschaft bestand; sie blicken vielmehr auf ihre jüdischen Landsleute und registrieren dabei die nach wie vor vorhandene, sehr große jüdisch-arabische Lücke. Zweitens leben sie als Nichtjuden im jüdischen Staat, wodurch — sogar bei größterjüdischer Toleranz — ihre Fremdheit grundsätzlich vorgegeben ist Zwei Völker beanspruchen dieses eine Land als ihr Land (Martin Buber). Es ist geschichtlich jüdisches und arabisches Land, wobei nur diejenigen ernsthaft darüber streiten können, wem es länger und mehr gehört, und die der jeweils anderen Seite ihre Rechte grundsätzlich streitig machen wollen. Auch die Araber sind also in Israel zuhause; trotzdem sind sie Fremde. Sie sind Miteigentümer des Hauses, ohne es zu besitzen, und bleiben aufdie Duldung durch die Juden angewiesen. Ihre Rechte und demokratischen Freiheiten, zu denen die gleichberechtigte Ausübung des Wahlrechtes gehört, übertreffen zweifellos die in den meisten arabischen Staaten bestehenden politischen Entfaltungsmöglichkeiten. Aber diese Rechte und Freiheiten werden ihnen von den „anderen“, den Juden, gewährt. Sie fürchten als Araber, daß diese Rechte im jüdischen Staat Rechte auf Abruf oder Widerruf sein könnten. Sie erinnern sich nämlich, daß sie bis Ende 1966 unter israelischer Militärverwaltung lebten und strengen Kontrollen unterlagen, die ihre Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht erheblich einengten.
Auch ohne eine Eingliederung der seit 1967 besetzten Gebiete ist die Zahl der arabischen bzw. palästinensischen Einwohner des israelischen Kemlandes so beträchtlich gewachsen, daß sie sich langfristig auf der Ebene ihrer politischen Repräsentanten und im politischen Selbstverständnis des Staates widerspiegeln muß — es sei denn, Israel verzichtete auf seine Demokratie. Politisch und in seinem Selbstverständnis ist der jüdische Staat tatsächlich jüdisch geblieben; seine Gesellschaft ist und wird in Zukunft noch mehr eine jüdisch-arabische sein. Wenn wir die Juden als „Nation“ bezeichnen — und vieles spricht dafür —, dann ist Israel zwar der Nationalstaat der Juden; die Gesellschaft Israels ist jedoch binational. Der staatlich-politische Überbau entspricht also nicht der gesellschaftlichen Basis. Im Bild gesprochen: Das Dach ist jüdisch, das Haus jüdisch-arabisch. Irgendwann wird das Haus entweder umgebaut oder zusammenbrechen.
Noch grundsätzlicher würde eine Annexion der besetzten Gebiete den jüdischen Charakter des jüdischen Staates verändern. Die Gesellschaft des Jüdischen Staates wäre dann noch mehr als ohne die Gebiete jüdisch-arabisch. Den heutigen 3, 6 Millionen Juden stünden 2, 1 Millionen und nicht mehr , nur‘ 800 000 Araber gegenüber. Gewährte man dieser großen nichtjüdischen Minderheit keine Gleichberechtigung, gäbe man die Demokratie auf. Langfristig kann der Jüdische Staat daher nicht sowohl demokratisch als auch jüdisch bleiben; er muß jüdisch-arabisch werden, wenn er demokratisch bleiben soll.
Es mehren sich seit den frühen achtziger Jahren im jüdischen Teil der israelischen Politik und Gesellschaft die Stimmen derer, die das Problem erkennen und aussprechen. Sie wollen, daß Israel ein jüdischer Staat bleibt, und warnen deshalb vor einer Annexion der Gebiete. Die fortdauernde Kontrolle über die dort lebenden Palästinenser würde Israel in einen „rassistischen“ Staat verwandeln, erklärte Verteidigungsminister Rabin, der nicht als politische „Taube“ gilt Doch auch ohne diese Frage der Annexion bleibt das eigentliche Problem bestehen; denn selbst ohne die Palästinenser der besetzten Gebiete wird das israelische Kernland in seiner Gesellschaft immer mehrjüdisch-arabisch. Auf der politischen Ebene muß und wird sich ein Wandel vollziehen, in die eine oder andere Richtung. Der Verfasser neigt aufgrund der seit 1982 (Libanon-Krieg gegen die PLO) zunehmend selbstkritischen Einschätzung maßgeblicher Politiker und Multiplikatoren in Israel zu der Auffassung, daß die Demokratie bleiben, der zionistisch-jüdische staatliche „Überbau“ sich allmählich der jüdisch-arabischen gesellschaftlichen „Basis“ angleichen wird Gegen antiarabische Militanz schließen sich immer mehr verantwortungsbewußte Juden in Israel zusammen.
Daß andererseits extrem antiarabische Tendenzen in den achtziger Jahren ebenfalls stärker wurden, kann man freilich nicht verschweigen, und diese gegenläufige Entwicklung dämpft den Optimismus: Bei den Knesset-Wahlen des Jahres 1984 errang der militant antiarabische Rabbiner Kahana erstmals einen Sitz im israelischen Parlament. Seit 1973 hatte er sich hierum immer wieder vergeblich bemüht. Stärker geworden ist auch die extrem jüdisch-nationalistische Tehija-Partei, die 1979 aus Protest gegen den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag gegründet wurde. Der Gedanke eines „Transfers“ der Palästinenser aus Israel und den besetzten Gebieten wurde seit 1987 erstmals nicht nur von Kahanä, sondern auch von führenden nationalreligiösen und Likud-Politikern, ja von einigen ihrer Minister und Vizeminister öffentlich geäußert. Das Wort „Transfer“ löst in der geschichtsbewußten deutsch-jüdisch-israelischen Welt unliebsame Erinnerungen wach: 1933 schlossen die nationalsozialistischen Machthaber und die Jewish Agency ein Abkommen, das die Auswanderung deutscher Juden ermöglichte. Bis 1937 funktionierte es recht gut. Es war die pseudohumane Vorstufe zur „Endlösung“: Die NS-Rassisten kamen ihrem Ziel näher, ein „judenreines“ Deutschland zu schaffen, ohne sich durch Juden-morde die Hände vorzeitig zu beschmutzen, und die Zionisten konnten Juden retten. Dieses Transfer-Abkommen war in der jüdischen Welt stets außerordentlich umstritten Allein die Begriffswahl zeigt also nicht nur das mangelnde Gespür für jüdisch-arabische, sondern auch für innerjüdische Empfindsamkeiten. Volle politische und bürgerliche Rechte, also Demokratie, wollten im Mai 1987 nur 40 Prozent der 15-bis 18jährigen jüdischen Israelis ihren arabischen Mitbewohnern gewähren und ähnliche Werte ergab zur Jahreswende 1987/88 eine Umfrage beijüdisch-israelischen Lehrern. Bemerkenswert war dabei außerdem die Selbsteinschätzung dieser Erzieher: 80 Prozent hielten sich für „Demokraten“ Diese Radikalisierung mit der Neigung zur Umwandlung der gesamtisraelischen Demokratie in eine jüdisch-israelische (unter Ausschluß der Araber/Palästinenser), dürfte eine Reaktion auf den palästinensischen Terror der vergangenen Jahre sein. Sie macht sich fatalerweise gerade zum jetzigen Zeitpunkt bemerkbar, da die Palästinenser erstmals in der Geschichte des arabisch-israelischen Konfliktes zur sanfteren Politik des zivilen Ungehorsams übergehen; nicht zur gewaltfreien, aber doch zur deutlich gewaltloseren und deswegen erfolgreicheren Politik. -
Die zunehmende Mäßigung der Palästinenser einerseits und die Radikalisierung der jüdischen Israelis andererseits verdeutlichen auch folgende Umfragedaten aus dem Frühjahr 1985: Einen „binationalen Staat ohne Vertreibung der Juden“ akzeptierten 64 Prozent der Palästinenser im Westjordanland, 60 Prozent der israelischen Araber und nur 10 Prozent der jüdischen Israelis „Die Gründung eines Palästinenserstaates und die Vertreibung der Juden“ betrachteten 1982 26 Prozent der israelischen Araber als „akzeptable Lösung“ des Konfliktes; 1985 waren es immerhin noch 23 Prozent, aber die Radikalität war eben rückläufig. Anders auf der jüdisch-israelischen Seite: Die „Eingliederung der Gebiete und die gleichzeitige Vertreibung der Palästinenser“ billigten 1982 „nur“ 30 Prozent, doch 1985 43 Prozent!
Zu unterschiedlichen Zeitpunkten bekannten sich also Israelis wie Palästinenser zur Gewalt als wichtigstem Mittel der Politik. Als israelisch-palästinensische „Ungleichzeitigkeit“ sollten wir diese Entwicklung bezeichnen. Sie wurde seit Dezember 1987 erkennbar, das heißt seit dem „Aufstand der Palästinenser“ in den besetzten Gebieten. Dieser Aufruhr kopiert zudem ein altes Erfolgsrezept der zionistischen Bewegung: Terrorisierte und drangsalierte Menschen erhalten mehr Sympathie als Terroristen und Drangsalierer. Märtyrer, nicht Täter sind eine politische Waffe — das ist der Leitgedanke. Besatzer sind keine Märtyrer, aber Besetzte. Die Besatzer können bestenfalls die echte Waffe zurückhaltend benützen. Die Israelis werden heute von den Palästinensern mit ihren eigenen früheren Waffen geschlagen. Nicht zuletzt deswegen haben sie noch keine Antwort auf die neue Herausforderung gefunden.
Der Glaube an und die Verpflichtung zur „Reinheit der Waffe“ (sofern es sie jemals geben kann) war Teil der Militärideologie der wichtigsten zionistischen Gruppierungen vor der Staatsgründung. Sie galt danach als oberstes Gebot der „Israelischen Verteidigungsstreitkräfte“ („Zahal“). Man hat es nach außen betont, und von Ausnahmen abgesehen haben die meisten Offiziere und Soldaten es verinnerlicht. Gab es in der Weltgeschichte je eine Besatzungsarmee, die ihre Waffen stets und dauerhaft „rein“ halten konnte? Der Verfasser kennt keine, und auch der israelischen ist es nicht gelungen. Außerhalb und — wichtiger noch — innerhalb Israels erkannte man diese Quadratur des Kreises seit 1967 zunehmend deutlicher. Der Libanon-Krieg gegen die PLO verstärkte diese Wahrnehmung, und offenkundig wurde die ungewollte, doch geradezu vorprogrammierte Brutalisierung der israelischen Besatzungsarmee seit Ausbruch der Revolte der Einwohner des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens im Dezember 1987. Die gegenwärtige Ziel-und Ratlosigkeit, das Dilemma der israelischen Soldaten, auch ihr inneres Ringen, dokumentieren vielleicht die folgenden Daten: Einerseits erklärten 70 Prozent im Februar 1988, das militärische Vorgehen Zahals gegen palästinensische Demonstranten würde ihre „Kampffähigkeit beeinträchtigen“ Andererseits billigten knapp 80 Prozent diese Gewaltanwendung und meinten, man könnte nur mit Härte „Ruhe und Ordnung“ wiederherstellen Der für das Westjordanland verantwortliche General war dagegen angesichts der willkürlichen Grausamkeit einiger seiner Soldaten „sprachlos vor Schock“ Er erkannte, daß Zahal sowohl die Palästinenser als auch die eigenen Ideale mit Füßen trat. Es ehrt einen großen Teil der israelischen Gesellschaft, daß sie schonungslos die eigenen Blößen aufdeckt und Radikale auch im eigenen Lager zu bändigen versucht.
Diese jüdisch-israelische Selbstkritik ist freilich auch notwendig, um nicht zuletzt vor sich selbst glaubwürdig zu bleiben: Angesichts der jahrhundertelangen Verfolgungen der Diasporajuden, der Pogrome und schließlich des Holocaust hatten sich die Staatsgründer Israels vorgenommen, im eigenen Land auch in bezug auf die Wehrhaftigkeit einen „neuen jüdischen Menschen“ zu schaffen; einen Juden, der sich nicht mehr widerstandslos abschlachten lassen würde. „Nie wieder Opfer!“ „Eher frühzeitig und heftig, vielleicht auch zu stark, zuschlagen als gar nicht und dann möglicherweise wieder tot.“ — Das war der Grundgedanke aus dem Erlebten und Erlittenen. Die Strategie von Zahal muß man auch vor diesem Hintergrund sehen. Zahal wurde wehrhaft, militärisch erfolgreich, durch unerwartete Gelegenheiten und Gegebenheiten seit 1967 zur Besatzungsarmee, und dabei distanzierten sich viele junge Israelis offenbar von den Idealen der zionistischen Gründungsgroßväter. Die Distanz der Enkel zum Diasporatrauma, den zionistischen Idealen und der Gründergeneration wurde nicht nur zeitlich größer; man erkennt sie an der inneren und durch Anwendung geäußerten Einstellung zur Gewalt.
III. Ausblick: Vom weltlichen Messianismus zum Realismus
Die Frage nach dem jüdischen Charakter des Jüdischen Staates gilt nicht nur in bezug auf die Spannung zwischen Juden und Arabern; sie sorgt traditionell auch für innerjüdischen Zündstoff. Die jüdische Orthodoxie hatte von Anfang an ihre Schwierigkeiten mit dem Zionismus, der ihrer Meinung nach in den Gang der Geschichte und damit in „Gottes Werk“ eingriff. Von der extremen Ablehnung des Zionismus setzten sich frühzeitig die Nationalreligiösen ab. Sie wollten den „unjüdischen“ Zionismus, später den Staat Israel, von innen „jüdischer“ gestalten, ihn nicht von außen bekämpfen. Ein Teil der Orthodoxie hat sich diesem „Marsch durch die israelischen Institutionen“ seit den vierziger Jahren unter dem Eindruck des Holocaust angeschlossen. Kurz vor der Staatsgründung, im Juni 1947. schlossen Religiöse und Nichtreligiöse eine religionspolitische Vereinbarung, das „Status-QuoAbkommen“. Er regelte das Was und Wieviel an angewandten jüdischen Geboten im künftigen jüdischen Staat. Zwar erwies sich dieser Status quo als sehr dynamisch, aber die dynamisierte Fassung hielt. Dazu gehörte auch die Nichtanerkennung des in den USA so mitgliedsstarken konservativen wie des Reformjudentums. Beide sind wesentlich liberaler als das orthodoxe Judentum, das in Israel ein Monopol über Personenstandsfragen verfügt, weil Israel keine Trennung zwischen „Kirche“ und Staat kennt — aufgrund des erwähnten Abkommens. Von konservativen und Reformrabbinern vollzogene Übertritte zum Judentum oder Eheschließungen wurden deshalb nicht amtlich anerkannt. Liberalisierungen wurden erst 1986/87 durchgesetzt, doch über diese Fragen ist noch nicht grundsätzlich entschieden.
Die Nichtreligiösen (ca. 70 Prozent der jüdischen Israelis) fühlen sich von den Religiösen „vergewaltigt“. Die Religiösen wollen einen Jüdischen Staat, und das bedeutet für sie einen an den religiösen Geboten orientierten Staat. Umstritten ist demnach nicht nur das Mischungsverhältnis von Religion und Staat, sondern die Mischung überhaupt. Wenn der Jüdische Staat freilich ein „Staat wie jeder andere“ wird, so ist es auch das Volk Israel, und genau dagegen sträubt sich die Orthodoxie. Die Frage wirft neben geistlich-religiösen auch brisante politische Probleme der Existenz auf: Wenn Israel nicht mehr religiös-jüdisch ist, hat es damit nicht auch die Rechtfertigung verspielt, das „Gelobte Land“, das „Heilige Land“ zu besiedeln? Das geschichtliche Aufbauwerk des modernen Israel wäre, wie jede historische Leistung, veränderbar; nicht metaphysisch und damit absolut, sondern relativierbar. Auch deswegen kommen seit ungefähr zehn Jahren wieder mehr verunsicherte Israelis zu den Religiösen. Die innerjüdische Relativierung des Absoluten, also des Religiösen, könnte für das jüdische Israel geradezu politisch selbstmörderisch werden, denn die Araber des eigenen Staates und die Palästinenser in den besetzten Gebieten wenden sich zunehmend der islamischen Religion zu. Auf diese Weise werden sie immer sicherer, während die jüdischen Israelis immer unsicherer werden. Für sie wurde alles relativ, für die Araber zunehmend absolut — eine weitere Ungleichzeitigkeit zwischen den Konfliktparteien.
Ob die Rückkehr zur alten, vielleicht sogar fundamentalistisch interpretierten jüdischen Religion die Antwort auf die neue Herausforderung ist. kann zumindest bezweifelt werden. Das jüdische Israel muß auch hier die Quadratur des Kreises finden, und ein religiös-jüdischeres Israel würde eine jüdisch-arabische Annäherung außerdem erschweren — weil es jüdische Exklusivität noch mehr betonen würde.
Die von pseudo-messianischen Hoffnungen durchdrungenen Gründungsgroßväter Israels sowie ihre Kinder und Enkel prallten auch in anderen Bereichen ebenfalls auf den harten Boden der Wirklichkeit. In der Wirtschaft wurde das landwirtschaftliche Pionierideal („Chalutziut“) von der industriellen Wirklichkeit überlagert, die Landwirtschaft mechanisiert. mit der industriellen Produktion verflochten und damit völlig umgestaltet Diejenigen Kollektivsiedlungen („Kibbutzim“) oder landwirtschaftlichen Genossenschaften („Moschawim“). die den Anschluß verpaßten, kämpfen ums Überleben.
Auch ideologisch hat man Abstriche hingenommen: Die einst verpöhnte Lohnarbeit ist sogar in den Kibbutzim längst zur Regel, „jüdische Arbeit“ (. Awoda Iwrith“) oft durch arabische Lohnarbeit ersetzt worden. Viele der arabischen Lohnarbeiter kommen aus den besetzten Gebieten. Auf diese Weise verletzt man gleich zwei Ideale der Gründungsgroßväter: „jüdische Arbeit“ und „Wehrhaftigkeit ohne moralische Beschmutzung“.
Das Ideal der „jüdischen Arbeit“ klingt neudeutschen Ohren geradezu rassistisch; so war es jedoch nie gemeint. Vielmehr strebten die Staatsgründer auch in der Wirtschaft einen „neuen jüdischen Menschen“ an. In der Diaspora durfte der Jude lange keine Landwirtschaft betreiben, nicht von seiner eigenen Hände Arbeit leben. Der blasse, durchgeistigte, doch körperlich schwache und wehrlose Jude sollte durch körperliche Arbeit im jüdischen Staat gesunden. Er sollte die zum Leben notwendigen Produkte in allen Stufen ohne Arbeitsteilung und „Entfremdung“ selber herstellen, andere nicht durch Lohnarbeit „ausbeuten“.
Auch in bezug auf die „reale Utopie“ des Zionismus und Israels erwies sich im Alltag die Realität stärker als die Utopie. Der Jüdische Staat ist ein Staat wie viele andere — mit bewundernswerten Leistungen und Fehlschlägen. Das ist im allgemeinen Wert-und Weltmaßstab weder Schande noch Bankrotterklärung, sondern eher angesichts der enormen Probleme und Aufgaben Israels ein hervorragendes Reifezeugnis. An den Wertmaßstäben gläubiger Juden gemessen, ist es freilich ein Armutszeugnis, denn das „auserwählte Volk“ dürfe sich nicht damit begnügen, „wie alle anderen Völker“ zu sein. Die Auserwähltheit sei nicht Belohnung und Auszeichnung, sondern Verpflichtung. Ein jüdischer Staat müsse messianische Erwartungen nicht nur wecken, sondern erfüllen.
Wir haben zu zeigen versucht, daß der Zionismus und der Staat Israel die orthodox-messianischen Hoffnungen von der Heilsgeschichte in die weltlich-reale Geschichte zu übertragen versuchten. In Anlehnung an Gershom Scholem sprachen wir von einem „Pseudo-Messianismus“. Damit waren allerdings Enttäuschungen vorprogrammiert. An dieser Enttäuschung leidet Israel am meisten. Das bedrückt auch seine Freunde, und so mancher enttäuschte Freund wurde zum Kritiker. Ich meine, alle sollten realistischer werden und sich nicht weiterhin an pseudo-messianische Hoffnungen klammem. Sie würden dann die Erwartungen den Möglichkeiten anpassen. Der Verzicht auf die für die eigene Seite beste Lösung dürfte die Wahl der zweitbesten erleichtern. Das gilt natürlich auch für die Palästinenser.