Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Entwicklungsprobleme und wirtschaftspolitische Optionen im Griechenland der achtziger Jahre | APuZ 14-15/1988 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14-15/1988 Der Weg der Türkei in die Moderne -65 Jahre politisch-historischer Entwicklung Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei seit 1973 Aspekte der griechischen Zeitgeschichte Entwicklungsprobleme und wirtschaftspolitische Optionen im Griechenland der achtziger Jahre Artikel 1

Entwicklungsprobleme und wirtschaftspolitische Optionen im Griechenland der achtziger Jahre

Panos Kasakos

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den achtziger Jahren sehen sich Wirtschaft und Gesellschaft Griechenlands vor prinzipiell die gleichen Probleme gestellt wie andere europäische Länder auch. Die Strategien aber, die hier angewandt werden, sind entscheidend durch die politische Tradition sowie Leistungen und Verfehlungen der Nachkriegs-periode beeinflußt. Fehlentwicklungen im strukturellen Bereich traten offen zutage, als sich die weltwirtschaftliche Lage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verschlechterte. Beim Übergang ins laufende Jahrzehnt war die Lage in Griechenland gekennzeichnet durch außenwirtschaftliche Defizite, Probleme der Finanzierung des Wohlfahrtsstaates, verlangsamtes Wachstum und rückläufige Entwicklungen bei den privaten Investitionen und der Industrieproduktion. Nach der wirtschaftlichen Euphorie der Transformationsperiode von den frühen fünfziger bis zur Mitte der siebziger Jahre herrschte nun allgemein Krisenstimmung. Nach dem politischen Wechsel von 1981 nahm die sozialistische Regierung zunächst eine Reformpolitik in Angriff, die zugleich redistributiv und expansiv ausgerichtet war. Als sich jedoch zeigte, daß sich der Wachstumsprozeß nicht nennenswert erholte, fand 1985 inmitten einer tiefen außenwirtschaftlichen Krise eine radikale Umorientierung in fast allen Politikbereichen statt. Von Ende 1985 bis heute wird mit Hilfe einer rigorosen Stabilitätspolitik versucht, die Defizite in der laufenden Bilanz und im Staatshaushalt zu beseitigen und die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Produkte zu verbessern. Diese Politik wird in der Überzeugung geführt, daß das wirtschaftliche Wachstum auf die Wiederherstellung des internen und externen Gleichgewichts folgen wird. Die Stabilitätspolitik hat zwar die Voraussetzungen dafür verbessert, daß die Ressourcen des Landes, anstatt in den öffentlichen und privaten Konsum zu fließen, nun für Investitionen zur Verfügung stehen; im Bereich der Institutionen (Bildung, Verwaltung, Steuerreform) und der wirtschaftlichen Strukturen (Sanierung der Krisenindustrien und öffentlichen Unternehmungen) aber stehen noch grundlegende Reformen aus. Schließlich geht es nicht nur darum, Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren, sondern vor allem darum, den Herausforderungen gewachsen zu sein, die das Land durch Veränderungen der europäischen (Ausbau des Binnenmarktes) und weltwirtschaftlichen Umwelt auf sich zukommen sieht.

In den achtziger Jahren wurden Wirtschaft und Gesellschaft in Griechenland prinzipiell vor die gleichen Probleme gestellt wie in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern auch: Verlangsamung des Wachstums, Ausbreitung der Schatten-wirtschaft, Schwerfälligkeit der Bürokratie, interne und externe Ungleichgewichte, Probleme der Regierbarkeit usf.

Tabelle 5: Exporte, Importe und Unsichtbare Einnahmen in Griechenland 1972— 1987 in Mill. Dollar Exporte Importe Handelsbilanz Unsichtbare Einnahmen, Netto Laufende Bilanz Das Defizit der laufenden Bilanz in % des Bruttoinlandsprodukts 1972 1973 860 1 231 2 197 3 642 -1 337 -2 411 1974 963 1 222 1 207 -374 -1 189 -1 136 1978 -1979 1980 1981 6. 5 1982 4. 9 1983 5. 4 1984 6, 5 1985 1986 1 803 2 999 3 979 4 093 4 772 4 141 4 106 4 394 4 293 4 513 4 243 6 498 8 948 2 650 10 149 8 910 8 400 8 624 9 346 9 089 -2 ‚

Im folgenden soll versucht werden, die Probleme. Hoffnungen. Erfolge, aber auch Enttäuschungen der achtziger Jahre, und zwar hauptsächlich im ökonomischen Bereich, vor dem Hintergrund vergangener Leistungen und Versäumnisse aufzuzeigen. In drei Abschnitten werden — die breiten Trends der Nachkriegsjahrzehnte umrissen, — die Wirtschaftspolitik zwischen 1981 und 1985 und die wichtigsten politischen, ideologischen und ökonomischen Kräfte, die sie geformt haben, erläutert und — Inhalt. Philosophie und Ergebnisse des stabilitätspolitischen Programms von 1985/87 untersucht.

I. Die sozialen und ökonomischen Veränderungen der Nachkriegszeit

Tabelle 1: Durchschnittliche Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen in Prozent (Griechenland, EG und Westeuropa) EG*) Westeuropa Griechenland 4. 6 4, 6 7, 5 3. 3 3, 3 4, 9 1, 8 1, 8 2, 4 3, 1 3, 0 6, 7 3, 2 3, 4 3, 7 1, 0 1, 3 1, 8 -0, 2 0, 0 -0, 3 0, 5 0, 5 -0, 2 1, 3 1, 4 0, 3 2, 0 2, 1 2, 6 2, 4 2, 5 2. 1 2, 25 2. 25 0. 0 1960/70 1970/75 1975/84 1977/78 1978/79 1979/80 1980/81 1981/82 1982/83 1983/84 1984/85 1985/86 ♦) Errechnet für die heutigen 12 Mitgliedsstaaten.

Quelle: ޝ

Von den frühen fünfziger bis zur Mitte der siebziger Jahre ist Griechenland durch eine ökonomische „Revolution“ hindurchgegangen Eine im wesentlichen agrarische und kaufmännische Gesellschaft mit rudimentärer Industrie und stagnierendem Handwerk transformierte sich in eine „newly industrializing" Ökonomie.

Tabelle 6: Neuverschuldung des öffentlichen Sektors in Griechenland in Prozent des Bruttosozialprodukts des entsprechenden Jahres Ordentlicher und Investitionshaushalt Agrarprodukte (Intervention)

und Staatsvorräte Öffentliche Unternehmungen Lokale Selbstverwaltung und Sozialversicherungen Neuverschuldung, Netto in % des Bruttosozialprodukts in Mrd. Drachmen Quelle: OECD, Paris 1983. Greece. -1, 4 Economic Survey 4, 6 1. 3 1, 2 5, 7 84 5, 7 1, 4 1, 9 -0. 9 8. 1 143 1986/87, Paris 10, 0 2. 2 2, 8 -0. 6 1A

Zu den beachtlichen Leistungen jener Zeit gehören die Wiederherstellung der Preis-und Währungsstabilität und eine eindrucksvolle Beschleunigung des Wachstums. So wuchs zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt von 1960 bis 1970 jährlich um durchschnittlich 7, 5 Prozent (siehe Tabelle 1). Mit dem raschen Wachstum gingen einher — die Ausweitung des Industriesektors bei gleichzeitiger Schrumpfung der Rolle der Landwirtschaft im sozialen und ökonomischen Gefüge des Landes (siehe Tabelle 2).

— eine ungehemmte Verstädterung und die Herausbildung neuer Mittelklassen und — die Erweiterung und Veränderung der Rolle des Staates.

Die Industrialisierung wurde durch — für griechische Verhältnisse — gigantische Projekte eingeleitet, die ungeahnte industrielle und beschäftigungspolitische Schubeffekte zeitigten: Werften und ein Stahlwerk bei Athen, ein Aluminiumwerk am Golf von Korinth, Zucker-und Düngemittelfabriken sowie eine Raffinerie im Norden, die Elektrifizierung des ganzen Landes unter Ausnutzung der heimischen Wasser-und Kohlevorräte, der Ausbau der Häfen und des Fernverkehrsnetzes — dies waren die Symbole eines Industrialisierungsprozesses, der durch den Staat und kapitalkräftige Auslandsgriechen gefördert wurde. Dieser Prozeß wurde begleitet von einer Verstädterung großer Teile der Land-bevölkerung.deren Arbeits-und Lebensbedingungen einen radikalen Wandel erfuhren. Während 1951 noch fast die Hälfte der Bevölkerung in rückständigen Agrarsiedlungen lebten, sind es heute weniger als ein Drittel.

Eine andere wesentliche Voraussetzung für die Politik der achtziger Jahre wurde ebenfalls in jener Epoche geschaffen: Der Staat weitete kontinuierlich seine Funktionen aus. Wie ein roter Faden zieht sich die Entscheidung für „mehr Staat“ durch die neuere Geschichte Griechenlands — von den frühen Industrialisierungsunternehmungen der fünfziger Jahre bis zu den noch unter konservativer Regierung beschlossenen Verstaatlichungen von 1975/77. Die griechischen Regierungen folgten durchweg — trotz offizieller wettbewerbsorientierter Stellungnahmen — in ihrer Wirtschaftspolitik einem „etatistischen Pragmatismus“ — vergleichbar dem der französischen Nachkriegsregierungen —, was sich u. a. an der ständigen Zunahme des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt ablesen läßt (siehe Tabelle 3).

Die ökonomische Dynamik der Nachkriegsjahr-zehnte entsprang sicherlich dem Überlebenswillen einer durch Krieg und Bürgerkrieg verelendeten Bevölkerung; sie wurde aber auch begünstigt durch die damaligen weltwirtschaftlichen Bedingungen, die vielen Ländern Wachstum und neue Handels-chancen bescherten. Der expandierende europäiTabelle sehe Markt, der sich durch das Assoziierungsabkommen mit der EWG vom 9. Juli 1961 für griechische Produkte geöffnet hatte, wurde zum Bestimmungsort eines großen Teils der griechischen Exporte (ca. 40 Prozent) und übernahm eine Art „Zugfunktion“ für die Entwicklung der griechischen Wirtschaft.

Intern wurde die rasante Wirtschaftsentwicklung ermöglicht durch eine bis dahin beispielslose politische Stabilität. In den Jahren des „take-off" von 1955 bis 1963 wurde die Politik von ein-und derselben Partei, der Nationalen Radikalen Union von Konstantin Karamanlis, bestimmt. Die wirtschaftspolitischen Optionen der Regierungen Karamanlis waren im wesentlichen: Preis-und Währungsstabilität (durchgesetzt mit Hilfe einer restriktiven Lohnpolitik und der Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte), Ausbau der Infrastruktur, produktive Initiativen durch den Staat und Mobilisierung von Auslandskapital sowie verstärkte Bindung an die EWG.

Den wichtigen wirtschaftlichen Weichenstellungen jener Periode stehen eine Reihe von Versäumnissen und verfehlten Entscheidungen gegenüber, die sich im Laufe der Jahre immer mehr als Hemmnisse der Entwicklung entpuppen sollten. So ist zum Beispiel ein chronisches Problem des heutigen Griechenlands durch die damalige ungleichgewichtige Entwicklung der Regionen hervorgerufen worden: Berg-und grenznahe Gebiete — in Griechenland sehr große Landstriche — wurden vernachlässigt und entvölkert. Gleichzeitig „explodierte“ die Region von Attika, in der mittlerweile ca. 40 Prozent der Bevölkerung und ca. 50 Prozent der Industrie-betriebe angesiedelt sind — mit all den kaum noch bewältigbaren Folgeproblemen eines chaotischen Wachstums. Zudem blieben fundamentale Reformen aus, die die Voraussetzung für ein kontinuierliches Wachstum und einen Strukturwandel hätten schaffen können. Das wurde besonders verhängnisvoll im Bildungsbereich, der lange in einer Art anachronistischer Altertumspflege verharrte und Verhaltensweisen reproduzierte, die einer traditionellen Gesellschaft mit ihren autoritären Strukturen in Familie, Betrieb und Staat eher entsprachen als den Erfordernissen einer sich rasant verändernden Welt.

In den fünfziger und sechziger Jahren, während der — wenn auch aus sehr unterschiedlichen Interessen — eine weitgehende Zustimmung von links und rechts zu einer Politik der Verstaatlichung und der indikativen Planung bestand, konnte sich der Staat zu jener mit dem politischen Klientelsystem verflochtenen allgegenwärtigen, schwerfälligen und undurchsichtigen Maschinerie entwickeln, die noch heute auf viele Aktivitäten lähmend wirkt. Am Ende der Entwicklung hatte sich ein politisch-ökonomisches System herausgebildet, in dem der Staat zwar auch Güter und Dienstleistungen produzierte. vor allem aber den Verteilerpunkt bildete, um den der Kampf um Zuwendungen, Privilegien und Sonderregelungen für die verschiedenen Gruppen der privaten und öffentlichen Wirtschaft geführt wurde.

Die Unterbrechung der politischen Normalität durch die Militärdiktatur (1967— 1974) erwies sich auch ökonomisch und gesellschaftlich als verheerend. Die bemerkenswerte Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards in den ersten Jahren der Diktatur war Frucht des Entwicklungsstoßes der vorangegangenen Periode und verpuffte allmählich. Das anfangs bejubelte „ökonomische Wunder“ erwies sich als trügerisch. Eine hohe Wachstumsrate wurde zwar — verstärkt durch den Boom im Fremdenverkehr — bis Anfang der siebziger Jahre beibehalten, aber die Inflation brach 1972 vehement durch und erreichte 1973 30 Prozent, während die großen Investitionsprogramme Rückschläge erlitten

Die Diktatur hatte die Devise „Bereichert euch!“ ausgegeben und damit einem Plünderungsverhalten Vorschub geleistet, das nicht durch Wahlen gesellschaftlich korrigiert werden konnte und das langfristige Folgen für die Natur, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die ökonomische Leistungsfähigkeit hatte. Seither nimmt auch die Schattenwirtschaft einen festen Platz im ökonomischen Gefüge des Landes ein. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie müssen die offiziellen Berechnungen des Bruttosozialprodukts um 30 Prozent nach oben revidiert werden, in manchen Sektoren wie dem Wohnungsbau sogar um 100 Prozent, um dem ökonomischen Effekt der Schattenwirtschaft Rechnung zu tragen. Das Ausmaß, in dem allein durch die Hinterziehung von Steuern in diesem Bereich der Öffentlichkeit Mittel für wichtige Aufgaben entzogen werden, ist leicht vorstellbar

In den siebziger Jahren begannen sich — nach einer langen Phase des wirtschaftlichen Wachstums -die Warnzeichen zu mehren. 1973, im Jahre der ersten Ölkrise, verdreifachte sich das Defizit der griechischen Zahlungsbilanz von ca. 300 Millionen (1973) auf 1, 1 Milliarden Dollar (1974). Als das Obristen-Regime im Jahre 1974 zusammenbrach, betrug die Inflation fast 28 Prozent, während Inlandsprodukt, Investitionen und industrielle Produktion rückläufig waren

Nach der Wiedergewinnung der Demokratie konnten die konservativen Regierungen Mitte der siebziger Jahre mit einigem Erfolg ein Stabilisierungsprogramm durchführen, das eine Halbierung der Inflationsrate und eine beachtliche Erholung der Produktion brachte. Allerdings konnte das Defizit derlaufenden Bilanz nicht wesentlich gedrückt werden. Auch gab es Anzeichen einer strukturellen Rückwärtsentwicklung im industriellen Bereich. Die günstigen „Externalitäten" der großen Investitionsprojekte der sechziger Jahre hatten sich erschöpft

Die 1979 ausgebrochene zweite Erdölkrise und die mit ihreinsetzende Rezession haben neue Spannungen hervorgebracht. Während sich die Ausgaben für Erdöl noch einmal sprunghaft vergrößerten, gingen die „unsichtbaren Einnahmen“ aus dem Tourismus, der Arbeitsemigration und Schiffahrt zurück. Das Defizit der laufenden Bilanz kletterte auf 1, 9 Milliarden Dollar und stieg dann in den nächsten zwei Jahren bis zum Regierungswechsel auf fast drei Milliarden an (siehe Tabelle 4).

Ernsthafte Versuche, durch einen politischen Kurs-wechsel die Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, gab es in diesen Jahren nicht mehr. Man versuchte vielmehr vor allem, den offenen Zusammenbruch eines großen Teils der Industrie zu verhindern, zunächst durch Verlängerung der Kreditlinien durch die Staatsbanken. So war denn zu Beginn der achtziger Jahre Unsicherheit das vorherrschende Gefühl.

II. Reformpolitik und Wiederbelebungsversuche des Wachstums — eine Periode gesellschaftlicher Reformen (1981 — 1985)

Tabelle 2: Wirtschaftlicher Strukturwandel in Griechenland. Anteile der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt und an der Gesamtbeschäftigung 1960— 1985 A. Zusammensetzung des

davon:

— Landwirtschaft — Bergbau, Elektrizität, Wasser — Verarbeitende Industrien — Dienstleistungen B. Gesamtbeschäftigung davon:

— Landwirtschaft — Bergbau etc.

— Verarbeitende Industrien — Dienstleistungen Bruttoinlandsprodukts 100, 0 24, 4 2, 6 15, 9 50, 6 100, 0 53, 8 0, 6 12, 9 27, 7 100, 0 18, 4 3, 4 18, 8ܛ

Die Sozialistische Partei (PASOK), die nach den Wahlen vom Oktober 1981 die Regierung bildete, hatte seit ihrer Gründung 1974 ein radikales Programm entwickelt. Es enthielt das Versprechen, nach der Übernahme der Regierung den Bruch mit dem Kapitalismus einzuleiten. Die Veränderungen, die die PASOK dann tatsächlich einleitete, fielen allerdings weit weniger radikal aus als angekündigt. Insofern beschritten die griechischen Sozialisten einen ähnlichen Weg wie die französischen Sozialisten, die ebenfalls 1981 die Regierungsgewalt übernahmen. Später sollten sie — wie diese — von einer expansiven zu einer stabilitätsorientierten Politik umschwenken, was eine weder konflikt-noch mühelose Anpassung traditioneller Konzepte an die Gegebenheiten der achtziger Jahre mit sich brachte.

Das Regierungsprogramm der ersten sozialistischen Regierung war ehrgeizig. Es versprach, — 1. die Strukturen des öffentlichen Lebens zu liberalisieren; — 2. soziale Ungerechtigkeiten zu reduzieren, und zwar einerseits durch Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten des Staates und andererseits durch eine verbesserte Einkommensverteilung;

— 3. die Rolle des Kapitalismus durch den Einbau partizipatorischer Elemente in das institutioneile Gefüge des Landes einzuschränken und — 4. die öffentliche Verwaltung zu vereinfachen und in der staatlichen Personalpolitik bei der Einstellung nicht mehr nach Partei-, sondern nach Leistungskriterien zu entscheiden.

Darüber hinaus sollten die in den siebziger Jahren verlorengegangenen Wachstumsimpulse wiedergewonnen werden.

Der Liberalisierung des öffentlichen Lebens diente zum Beispiel die längst überfällige offizielle Anerkennung des nationalen Widerstandes während der deutschen Besatzung, was nicht nur moralische, sondern auch finanzielle Implikationen für die lange Zeit verfolgte und beruflich diskriminierten Mitglieder der EAM (Nationale Befreiungsfront) hatte. Nach der Legalisierung der KP durch die konservative Regierung im Jahre 1974 war dies der wichtigste Schritt zur Überwindung der Bürger-kriegsfolgen, insbesondere des langwirkenden Schismas der griechischen Gesellschaft, das entlang der Fronten des Bürgerkriegs (1944— 1949) aufgebrochen war. Ebenso wichtig waren die legislativen Maßnahmen zur Sicherung der kollektiven Arbeitsrechte, die der Bevormundung der Gewerkschaften durch Staat und Arbeitgeber ein Ende machte sowie die Reform des Familien-und des Wahlrechts.

Die wichtigste sozialpolitische Reform war der Aufbau eines nationalen Gesundheitswesens (1983), das parallel zum privaten arbeiten sollte. Es entstanden hunderte von integrierten Gesundheitszentren. durch die die eklatante medizinische Unter-versorgung der Provinz beendet wurde. Diese ehrgeizige Reform verschlingt seit 1983 immer mehr Haushaltsmittel und bleibt ein Demonstrationsstück sozialistischer Politik, wenngleich sie an finanzielle Grenzen stößt und in der Ärzteschaft sehr umstritten ist.

Auch die Einkommenspolitik war auf mehr Gerechtigkeit, insbesondere auf Anhebung der Mindestlöhne und der Einkommen unterprivilegierter Gruppen der Lohn-und Gehaltsempfänger, angelegt Das Ergebnis: Zwischen 1979 und 1985 stie-gen die Reallöhne in der verarbeitenden Industrie um durchschnittlich 3, 3 Prozentjährlich. Gleichzeitig ging die Produktivität jedoch jedes Jahr um durchschnittlich 1, 4 Prozent zurück Diese Entwicklung hat — neben vielen anderen Faktoren -die Konkurrenzfähigkeit der griechischen Wirtschaft beeinträchtigt.

Hauptsächlich partizipatorischen Charakter hatten zwei weitere Reformversuche: die „Dezentralisierung“ der staatlichen Maschinerie und der Versuch, die Staatsbetriebe unter verstärkter Kontrolle der Beschäftigten und der Öffentlichkeit zu führen (Vergesellschaftung). Dezentralisierung, d. h. die Übertragung von Zuständigkeiten des allmächtigen Zentralstaats auf die Präfekturen und die lokale Selbstverwaltung, war und ist in Griechenland eine Notwendigkeit, der keine Regierung mehr hätte ausweichen können Die „Vergesellschaftung“ dagegen hatte spezifisch sozialistischen Charakter. Ihr Hauptinstrument sollten „Versammlungen“ mit Entscheidungsbefugnis sein, an denen neben Arbeitnehmervertretern Vertreter der Ministerialbürokratie.der Städte und Gemeinden und der Wissenschaft teilnehmen sollten. Damit reagierte man auf den Wunsch der Öffentlichkeit, größere Effizienz und vor allem Transparenz in die Staatsbetriebe zu bringen, in denen und um die sich geschlossene Einflußnetze und Verteilungssysteme von Privilegien (via Anschaffungswesen, Sondertarife etc.) gebildet hatten. Das Nebeneinander von „Vergesellschaftungsorganen“ und den weiterhin noch entscheidungs-und weisungsbefugten Ministern und Ministerialbürokratien führte aber schon bald zu lähmenden Konflikten, wenn es um wichtige Entscheidungen wie Tarif-oder Preispolitik, Investitionen, größere Beschaffungspläne, Einstellungspolitik ging. 1987, zwei Jahre nach der feierlichen Einsetzung der neuen Organe in zwei öffentlichen Großunternehmen (Telefon-und Elektrizitätsgesellschaft), wurden diese dann praktisch schon wieder entmachtet.

Bei der Beurteilung der „Vergesellschaftung“ ist allerdings zu bedenken, daß dieses Experiment in Zeiten durchgeführt wurde, als sowohl die privaten als auch die öffentlichen Großunternehmen in eine tiefe Krise geraten waren, die aus beschäftigungsund sozialpolitischen Gründen nur verschleppt, nicht aber gelöst werden konnte 1. Ökonomische Zwänge und Wirtschaftspolitik Wie erwähnt, war die Wirtschaft 1981 — bei Übernahme der Regierung durch die Sozialisten — in eine echte Stagflagtion (Stagnation und Inflation) abgedriftet. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs um kaum mehr als ein Prozent jährlich, die Investitionen waren weiter rückläufig, die Inflation hatte sich wieder auf fast 25 Prozent beschleunigt und die Arbeitslosigkeit stieg an Dies engte den wirtschaftspolitischen Spielraum der sozialistischen Regierung stark ein. Die angestrebte Erweiterung der sozialstaatlichen Leistungen und die Einebnung der Einkommensunterschiede — beides wesentliche Elemente eines sozialistischen Programms — liefen unter diesen Umständen Gefahr, der Inflation weiteren Auftrieb zu geben und somit die ökonomische Basis der Reformprogramme zu zerstören. Aber auch eine strikte Anti-Inflationspolitik war nicht möglich: Sie hätte verheerende Folgen für die Beschäftigung gehabt.

Der Sisyphus-Aufgabe, Wachstums-und sozialpolitische Ziele zu erreichen, ohne der Inflation Vorschub zu leisten, stellte sich die PASOK-Regierung mit einem komplexen wirtschaftspolitischen Programm. Es enthielt Maßnahmen, die sowohl auf der Angebots-als auch auf der Nachfrageseite wirksam werden sollten.

Die Angebotspolitik bekam einen unkonventionellen Inhalt. Anders als sie üblicherweise von der OECD oder dem IMF unter dem Stichwort „more market“ definiert wird, bezog sie sich nun in erster Linie auf neue Formen selektiver Intervention des Staates zugunsten von Produktion und Investition, zum Beispiel in Gestalt der „programmatischen Liefervereinbarungen“ zwischen großen „Krisenunternehmen“ unter Vermittlung durch den Staat. Diese Maßnahmen wurden mit einer zwar vorsichtigen, aber letztendlich — berücksichtigt man die allgemeinen Bedingungen — doch expansiven Nachfrage-und Einkommenspolitik verbunden. Besonders im ersten Regierungsjahr der PASOK wurden die Ausgaben für das Gesundheitswesen stark erweitert und die Renten beträchtlich erhöht -mit dem Ergebnis, daß die Sozialversicherungsträger tiefer in die roten Zahlen gerieten. Nach den Ausführungen eines führenden regierungsnahen Ökonomen sollte die neue Wirtschaftspolitik verhindern, daß die Wirtschaft aus einem „klassischen“ in ein „keynesianisches" Ungleichgewicht geriet • Im Juni 1983 präsentierte die Regierung im Parlament die Entwürfe eines „Fünfjahresplanes zur ökonomischen und sozialen Entwicklung 1983 bis 1987“. In deren — ziemlich allgemein gehaltenen — Formulierungen spiegelte sich einiges von der ursprünglichen sozialistischen Vision wider, zugleich wurden aber auch bereits laufende Reformen bekräftigt und neue ökonomische Ziele gesetzt.

Entwicklungspläne hatten fast alle Regierungen — ob konservativ oder liberal — seit Ende der fünfziger Jahre aufgestellt. Sie waren in Griechenland ein allgemein akzeptiertes Mittel der indikativen Planung und behielten ihre Anziehungskraft, ungeachtet der Tatsache, daß sie niemals zur Anwendung gelangten. Das sozialistische Planungsexperiment unterschied sich jedoch von den vorherigen dadurch, daß es mit einer Änderung des Planungsprozesses einherging Man strebte eine breite Beteiligung der relevanten gesellschaftlichen Gruppen und organisierten Interessen (Ministerialbürokratien, dezentrale Behörden, Städte und Gemeinden, Gewerkschaften und Untemehmerverbände) an, um einen möglichst breiten Konsensus über Ziele und Realisierungsformen zu erreichen. Inhaltlich hielt der Wirtschaftsplan der PASOK-Regierung am Leitbild einer „mixed economy" fest, visierte jedoch eine Verschiebung des Gleichgewichts im ökonomischen System zugunsten von Staat, Genossenschaften und Selbstverwaltungsorganen an. Die makroökonomischen Zielsetzungen, wie etwa die Beschleunigung des Wachstums auf 4, 3 Prozent, zeugten von einer ungebrochenen Euphorie trotz sich verdichtender Wolken am ökonomischen Horizont Im Sommer 1985, als die endgültige Fassung des Plans präsentiert wurde, war dieser dann bereits von der Entwicklung überholt. Das Land war in eine außenwirtschaftliche Krise geraten, die eine radikale Umorientierung in sämtlichen Politikbereichen erzwang und damit den auf anderen Voraussetzungen bauenden Plan obsolet machte 2. Das Ende der Euphorie Nach gängigen Begriffen kann man die wirtschaftspolitische Konzeption jener Jahre als eine linkskeynesianische Wachstumspolitik der Nachfragestimulierung bezeichnen. Diese Politik stieß nun auf Grenzen. Denn trotz expansiver Haushalts-und Einkommenspolitik hatte sich der Wachstumsprozeß nicht nennenswert erholt. Der angestrebte soziale Fortschritt konnte angesichts dessen nicht realisiert werden, zumal sich die wirtschaftliche Situa-tion weiter verschlechterte. Die außenwirtschaftlichen Defizite wuchsen erneut in großem Umfang. Beunruhigend war auch die Entwicklung anderer Leistungsgrößen. Die Produktion in der Verarbeitungsindustrie stagnierte ebenfalls; wenn man von der traditionellen Tabak-und Nahrungsmittelverarbeitung absieht, ging sie sogar zurück. Am schlimmsten traf es die ohnehin schwache Kapitalgüterindustrie Die Privatinvestitionen nahmen bis 1984 weiter ab, ein Trend, der durch die staatliche Investitionserweiterung nicht wettgemacht werden konnte (siehe Tabelle 4). Eine leichte Erholung trat im verarbeitenden Bereich erst im Stabilitätsjahr 1986 ein.

Auch die Ausweitung der Rolle des Staates in der Wirtschaft erwies sich als Bestandteil der Krise: Die Staatsausgaben waren von 1977 bis 1980 nahezu konstant bei über 30 Prozent des Bruttosozialprodukts geblieben und im Wahljahr sogar sprunghaft auf 38 Prozent gestiegen. Nach 1980 setzten sie ihren Aufwärtstrend fort und erreichten 1985 fast 49 Prozent des Bruttosozialprodukts. Damit lag die Staatsquote zwar nur leicht über dem OECD-Durchschnitt, die Entwicklung war aber dennoch problematisch, weil sich die Neuverschuldung des Staates von 1980 bis 1985 verdoppelte und es vor allem die Konsumausgaben des Staates und die Sozialversicherungsleistungen waren, die die Defizite hervorgerufen hatten. Besonders im ersten Regierungsjahr der PASOK ging die sozial-konsumtive Euphorie auf Kosten der Investition — und das auf dem Höhepunkt einer weltwirtschaftlichen Rezession.

Die Entwicklung des Privatsektors in den achtziger Jahren gibt einige Rätsel auf. Auffallend ist seine anhaltende Schwäche, die bereits in den siebziger Jahren erkennbar war. Trotz fortgesetzter, staatlich induzierter Nachfrageexpansion, auf die der private Sektor — im Gegensatz zu früheren Jahren — überhaupt nicht reagierte, blieb die Erholung aus. Mögliche Erklärungen dafür sind, — daß durch die rasche Expansion des Staates ein „crowding-out“ -Mechanismus (Verdrängungsmechanismus) ausgelöst wurde. Dieser nahm sowohl Ersparnisse als auch Arbeitskräfte in Anspruch -auf Kosten der Privatwirtschaft;

— daß die rapide Verschlechterung der Profitabilität in den achtziger Jahren, ihrerseits ein komplexes Phänomen, zur Investitionsschwäche beigetragen hat;

— daß sich eine Art „Vertrauenskrise“ zwischen Staat und Unternehmertum ausbreitete — von letzterem wird vor allem dieser Grund angeführt;

— daß die schwer durchschaubaren Veränderungen der Rahmenbedingungen durch den Beitritt zur EG (1981) die an Protektion und fremdfinanziertes Risiko gewöhnten griechischen Unternehmer verunsicherten und von größeren Investitionen abschreckten.

Die Unklarheit über die gegenwärtig geltenden und erst recht über die künftig geltenden Regelungen mag die Neigung zum Provisorischen, die ohnehin eines der Hauptkennzeichen der traditionellen griechischen Unternehmer der Nachkriegsjahre ist. noch einmal verstärkt haben. All diese Faktoren reichen jedoch bei weitem nicht aus, die Schwäche des privaten Sektors zu erklären. So gingen die Investitionen schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zurück, als die Profitabilität stabil blieb und kein „crowding-out“ -Mechanismus zu verzeichnen war; und was die „Vertrauenskrise“ anbelangt, so warf der Griechische Unternehmerverband auch der konservativen Regierung schon 1976 „Sozialmanie“ vor. Die Schwäche des privaten Sektors ist zudem nicht nur ein griechisches Phänomen. Ähnliches zeigt sich vielmehr in vielen anderen Ländern wie zum Beispiel in Spanien oder Portugal

III. Krisenmanagement 1985— 1987

Öffentliche Aufwendungen, insgesamt davon: Güter + Dienstleistungen Öffentliche Aufwendungen ohne Staatsbetriebe davon:

Güter und Dienstleistungen Transferzahlungen 27, 0 22, 0 20, 5 15, 0 5, 0 33. 6 23, 9 26, 4 16, 7 9. 7 39, 1 25. 8 31, 8 • 18. 5 13, 3 3: Ausbreitung des öffentlichen Sektors in Griechenland 1960— 1986.

Staatsausgaben in Prozent des Bruttosozialprodukts (Staatsquoten) 48, 2 30, 5 38, 2 20, 5 17, 7 58, 4 34, 9 48, 7 + 25, 0 23, 7 56, 9 33, 3 47, 8 23, 8 24, 0 Quelle: OECD, Greece. ܛ

Inflation und schnell wachsende Defizite im Haushalt zwangen die Regierung, auf einen stabilitätsorientierten Kurs umzuschwenken. Das zweijährige Stabilitätsprogramm, das im Oktober 1985 verkündet wurde, fand die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft. Die Regierung hatte zuvor mit der EG über einen Kredit in Höhe von 1, 7 Milliar-den ECU verhandelt, dessen zweite Rate im Januar 1987 nur nach einer Prüfung der Erfolge der Stabilitätspolitik zur Auszahlung käme. Diese Kreditvereinbarung war für Griechenland sehr wichtig, weil es nur so den Gang zum IMF vermeiden konnte, der aus politischem Kalkül nicht tragbar war

Der neue wirtschaftspolitische Kurs, dessen Strenge die internationale Öffentlichkeit davon überzeugen sollte, daß man es ernst meinte, war generell darauf ausgerichtet, -die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Produkte zu verbessern, -interne und externe Ungleichgewichte zu beseitigen und -die Inflation zu bändigen.

Dies alles sollte vor allem durch eine kräftige Abwertung der Drachme und durch eine erhebliche Reduktion der Binnennachfrage („domestic expendure“) erreicht werden. Man verpflichtete sich insbesondere, die jährliche Neuverschuldung des Staates, die 1985 die Rekordhöhe von 17, 5 Prozent des Inlandsprodukts erreicht hatte, binnen zwei Jahren auf unter zehn Prozent abzusenken

Die breite Palette haushaltspolitischer Maßnahmen, die diese stabilitätspolitischen Ziele erreichbar machen sollten, riefen naturgemäß starke Widerstände bei den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen hervor: Subventionen sollten gekürzt werden, Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor real sinken, die Steuerflucht sollte bekämpft und das Defizit der Staatsbetriebe reduziert werden. Diese Maßnahmen dienten nicht nur dem Stabilitätsziel, sondern auch längerfristigen strukturellen Zielen. Die andauernden Staatsdefizite erzeugen einen Teufelskreis von wachsendem Schulden-stock, vermehrter Zinsbelastung und vergrößertem Defizit, der auch künftige Generationen belastet, insbesondere dann, wenn er durch Staatskonsum genährt wird. Außerdem wird die Flexibilität der Haushaltspolitik eingeschränkt, wenn die Regierung gerade bei ungünstigen Entwicklungen (Rezession) keine Möglichkeit zu einer gezielten Ausgabenpolitik hat.

Auch der Einkommenspolitik fielen komplexe Funktionen zu. Über einschneidende Senkungen der Reallöhne sollten die Nachfrage gedämpft und zugleich auch Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen beeinflußt werden. Das wichtigste Instrument der Einkommenspolitik waren Modifikationen der sogenannten ATA (Automatische Lohnanpassung), die jetzt nicht mehr anhand der tatsächlichen Inflation, sondern anhand der angekündigten Inflationsziele (abzüglich des importinduzierten Teiles)

berechnet wurde Begünstigt wurden dabei die Niedriglöhne, da nur sie in den „vollen“ Genuß dieser modifizierten ATA kamen, während es ansonsten gestaffelte Abschläge bis zu 100 Prozent gab.

Das Ergebnis war eine ständige Verminderung der Abstände zwischen den verschiedenen Lohngruppen, mit zweifelhaften Folgen für die Leistungsbereitschaft der Besserverdienenden.

Die Stabilitätspolitik von 1986/87 erwies sich, indem sie schwerpunktmäßig auf die Einkommens-und Nachfrageseite setzte, als echte „austerity policy". Die OECD bescheinigte der griechischen Regierung denn auch, daß ihre Maßnahmen die Voraussetzungen für eine Erholung des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses schaffen könnten. Allerdings vermißte sie zunächst effektive Maßnahmen auf der Angebotsseite, die strukturelle Schwächen und Produktionshemmnisse beseitigen könnten Ende 1987 waren viele Ziele des Stabilitätsprogramms fast erreicht, und einige wichtige ökonomische Größen zeigten einen günstigen Trend. Die entscheidende Größe, das Defizit der laufenden Bilanz, in der der Güter-und Dienstleistungsaustausch registriert wird, verringerte sich von 3, 3 (1985) auf 1, 3 Milliarden Dollar (1987). Das war zum Teil das Ergebnis günstiger äußerer Umstände wie steigender Einnahmen aus dem Fremdenverkehr infolge der Stabilisierung der europäischen Wirtschaften sowie von Einnahmen aus der Seefahrt, die aus dem neuen Transportboom auf den Weltmeeren resultierten (siehe Tabelle 5). Zum Teil hat die Verbesserung der Zahlungsbilanz auch „organischen“ Charakter, was sich an der Ausweitung der privaten Kapitalzufuhr zeigt. Auch bei den Investitionen trat nach sechs Jahren ununterbrochenen Rückgangs 1986 zum erstenmal eine Erholung ein.

Bescheidener fielen hingegen die Erfolge an der Preisfront und bei der Bekämpfung der staatlichen Verschuldung aus. Nach einem anfänglichen viel-versprechenden Rückgang stabilisierte sich der so-genannte Neuverschuldungsbedarf des öffentlichen Sektors bei ca. 14 Prozent des Bruttosozialprodukts. Das ursprüngliche Ziel, die Neuverschuldung auf zehn Prozent zu senken, wurde nicht erreicht (siehe Tabelle 6).

Auch das Defizit im Warenaustausch blieb in ungefähr der gleichen Größe bestehen. Das ist insofern nicht erstaunlich, als diesem Ungleichgewicht tieferliegende Faktoren sowohl auf der Produktionsais auch auf der Nachfrageseite zugrunde liegen. Solche Faktoren sind zum Beispiel die geringe Größe der griechischen Unternehmen, traditionelles Führungsverhalten und überkommene Organisationsstrukturen, inadäquate Finanzierung sowie das Fehlen von Forschungsaktivitäten und Fachkräften. Alle Faktoren zusammen verhindern eine rasche Anpassung an eine sich ändernde ökonomische Umwelt Auch die gegenwärtigen Möglichkeiten des griechischen Produktionsapparates entsprechen kaum mehr der heutigen Konsumstruktur. Die Stabilitätspolitik war von Anfang an naturgemäß auf Widerstand gestoßen. Ihre große Prüfung hatte sie jedoch gegen Ende 1987 zu bestehen, als die Widerstände der Interessengruppen einen Kulminationspunkt erreichten und der Unmut auch auf die Regierungspartei Übergriff. Unmittelbarer Anlaß waren die Diskussionen über die Wirtschaftspolitik der Regierung nach dem Ablauf der zweijährigen Programmperiode. Der Konflikt wurde zwar durch den Rücktritt des mit der Sparpolitik identifizierten Wirtschaftsministers, Professor K. Simitis, politisch entschärft, aber nicht wirklich gelöst.

IV. Ausblick

1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985*) 1986**) 99 121 92 705 85 750 84 100 83 000 78 300 82 290 78 300 Tabelle 4: Bruttoanlageinvestitionen in Griechenland 1979— 1986 in Mill. Drachmen und konstanten Preisen von 1970 25, 8 24, 2 23, 3 20, 1 20, 4 18, 5 19, 0 — 76 385 70 465 63 495 60 300 56 000 48 570 49 600 52 100 22 736 22 240 22 255 23 800 27 000 27 730 32 690 26 200 insgesamt in Mill. Drachmen in % des Bruttosozialprodukts private in Mill. Drachmen öffentliche in Mill. Drachmen *) provisorische Daten **)

Das Management der ökonomischen Krise durch eine sozialistisch ausgerichtete Regierung wurde von vielen Seiten aus verschiedenen Beweggründen als „politische Unmöglichkeit“ empfunden. Dennoch gehört es nun zum Erfahrungsbestand nicht nur der griechischen, sondern auch fast der gesamten europäischen demokratischen Linken. Wie in Griechenland, so sahen sich zum Beispiel auch in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland Sozialisten und Sozialdemokraten, die angetreten waren, verteilungs-und gesellschaftspolitische Korrekturen in einem wachsenden System vorzunehmen, vor die Aufgabe gestellt, Strukturen zu bereinigen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es überhaupt noch Wachstum gibt. Sie haben sich dieser Aufgabe zwar nicht entzogen, aber in allen diesen Fällen ist eine interne Spannung unverkennbar. Auch in Griechenland betrachten viele Sozialisten die Stabilitätsmaßnahmen als vorübergehenden Rückschritt auf dem Weg zu einem großen redistributiven und wohlfahrtstaatlichen Programm und nicht als Grundbedingung für die Reorganisation der Produktions-, Konsum-und Distributionsprozesse. Die Stabilitätspolitik hat, wie es K. Tsoukalas bezeichnend für die vorherrschende Denkrichtung formulierte, „die Glaubwürdigkeit der Regierung aufs Spiel gesetzt“ 23). Dabei wird erstens unterschätzt, daß die Balance zwischen Effizienz und Gerechtigkeit in den achtziger Jahren unter schwierigeren Bedingungen gesucht werden muß als in der langen Zeit der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit; und zweitens wird verkannt, daß eine erfolgreiche Stabilitätspolitik den Weg zur Bewältigung chronisch gewordener Disfunktionalitäten ebnet. In Griechenland gilt es insbesondere, industrielle Sklerose und staatsbürokratische Lähmung zu überwinden.

Erstere trat mit dem effektiven Bankrott von privaten Großunternehmen und der schweren Verschuldung der Staatsbetriebe offen zutage. Die Sanierung beider Bereiche ist eine der wichtigsten noch ausstehenden Aufgaben. Die „Organisation für den Wiederaufbau von Krisenunternehmen" hat bisher nicht die nötigen Erfolge gebracht. Die klassischen Staatsbetriebe, deren Gesamtdefizit die Wirtschaft schwer belastet, haben ihre finanzielle Situation zwar im Rahmen der Stabilitätspolitik etwas verbessern können. Sie zeichnen sich aber weiterhin durch Fehlstrukturen und mangelnde Effizienz aus und könnten sich wegen ihrer Größe und gesellschaftlichen Bedeutung als schwer zu überwindendes Hin-demis auf dem Weg zu einem sich selbst tragenden Wachstum erweisen.

Die Verwaltungsreform ist die zweite dringliche Aufgabe. Ihre Notwendigkeit wurde schon früh erkannt (bereits 1963 hat die damalige Zentrumsregierung technische Hilfe dafür bei der OECD beantragt), und es gab auch einige Reformansätze, aber es bleibt noch vieles zu tun. Die „zivile“ Gesellschaft sieht sich heute durch Größe. Struktur, Funktionsweise und Output der bürokratischen Maschinerie des Staates vielfach herausgefordert. Denn trotz einiger Fortschritte hinsichtlich der materiellen Funktionsvoraussetzungen könnte man heute noch lange Passagen des Langrod-Berichtes der OECD von 1965 übernehmen, der ein äußerst düsteres Bild der griechischen Bürokratie zeichnete

Die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in Griechenland wurde in der Vergangenheit weitgehend vom politischen Klientelsystem mitbestimmt. Zu dessen Hauptmerkmalen gehört der Mißbrauch des Staatsapparates für die Sicherung des lokalen Einflusses von Ministern, Parteifunktionären u. a. Dieses System hatte sich im 19. Jahrhundert etabliert, als „die Wähler von denen, die sie gewählt hatten, erwarteten, ihnen eine Beschäftigung zu sichern, wenn nötig gegenüber der beschwerlichen, ineffizienten und unflexiblen Bürokratie zu intervenieren und allgemein Vergünstigungen zu verteilen . . . Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen in der Verwaltung bedeutete, daß diese viel größer als strenggenommen notwendig war.“

Dem weitverbreiteten Unmut über den Staatsapparat hat man nun in den achtziger Jahren durch einige Reformen Rechnung getragen. Aber es gibt noch keine langfristig orientierte, kontinuierliche und auf Effizienz gerichtete Reformkonzeption und auch keinen politischen Konsens darüber. Zu unmittelbar sind zu viele Interessengruppen an der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems interessiert. Der Druck zur Bewältigung der großen noch ausstehenden Aufgaben, von denen nur einige exemplarisch angeführt wurden, ist auch in Zukunft gegeben. Die weltwirtschaftlichen Strukturen sind in Bewegung geraten, und auch innerhalb der Euro-päischen Gemeinschaft haben sich durch die Revision des EG-Vertragswerks rasche Veränderungen angekündigt Insbesondere die Perspektiven für das Jahr 1992, das Jahr, in dem in der EG der Gemeinsame Binnenmarkt Wirklichkeit werden soll, gewinnen immer mehr Gewicht im politischen Denken Griechenlands. Die griechische Regierung führt die Einführung des Gemeinsamen Binnenmarktes nunmehr als obersten Legitimationsgrund für die Fortsetzung des Stabilitätsexperiments an.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe zu dieser Periode u. a. K. Featherstone/D. Katsoudas (eds), Political Change in Greece. Before and After the Colonels. London 1987; C. M. Woodhouse, Karamanlis. The Restorer of Greek Democracy, Oxford 1982; ders., Modem Greece. A Short History, London 1977; R. Clogg,

  2. C. M. Woodhouse, Modem Greece (Anm. 1), S. 302.

  3. Siehe die kürzlich erschienene Studie von P. Pavlopoulos. Die Schattenwirtschaft (griech.), Athen 1987.

  4. Siehe D. Katsoudas, The Conservative Movement and the New Democracy, in: K. Featherstone/D. Katsoudas (Anm. 1), S. 85-111, hier S. 92.

  5. P. Corliras, The Economics of Stagflation and Transformation in Greece. in Z. Tzannatos (ed.). Socialism in Greece, Aldershot 1986, S. 35-39, hier S. 36.

  6. Siehe Ch. Jecchinis/Th. Katsanevas, The Trade Union Movement in Greece, Athens 1985. — So enthielt das im Juli 1982 vom Parlament verabschiedete Gesetz zur „Demokratisierung der Gewerkschaften“ Bestimmungen über die finanzielle Autonomie der Gewerkschaften, den Schutz der Gewerkschaftler vor willkürlichen Entlassungen, den (erweiterten) Inhalt des Streikrechts etc. Im öffentlichen Sektor hat man zwei Jahre später versucht, die Ausübung des Streikrechts strengeren Prozeduren zu unterwerfen (Urabstimmungen usw.), und zwar im Zuge einer Neubestimmung der Rolle der Gewerkschaften in öffentlichen Unternehmungen im Rahmen ihrer „Vergesellschaftung“ (s. u.). Der Versuch scheiterte am Widerstand der im öffentlichen Bereich hoch organisierten Gewerkschaften. Die entsprechenden Regelungen wurden 1987 wieder aufgehoben. Siehe G. Arsenis, Niederschrift einer politischen Zeugenaussage (griech.), Athen 1987.

  7. OECD, Greece. Economic Survey 1986/87, Paris 1987, S. 30.

  8. Ministerium für Nationalökonomie/Kommission der EG. Die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft (griech.), Athen 1987.

  9. P. Christofilipoulou, Decentralization Policy in Post-Dictatorial Greece, in: Local Government Studies, (1987), S. 6-15.

  10. OECD, Greece. Economic Survey 1986/87 (Anm. 7), S. 47-48.

  11. Vgl. OECD, Greece. Economic Survey 1983/84, Paris

  12. p. Corliras, The Economics of Stagflation (Anm. 5), S. 38.

  13. L. Katseli, Building a Process of Democratic Planning, in: Z. Tzannatos (ed.), Socialism in Greece, Aldershot 1986, S. 66.

  14. Ministerium für Nationalökonomie/Planungs-und Wirtschaftsforschungszentrum, Plan für die ökonomische und soziale Entwicklung 1983— 1987. Preliminarien (griech.), Athen 1983; dass., Plan für die ökonomische und soziale Entwicklung 1983— 1987. Abschließendes Referat (griech.), Athen 1985; dass., Bericht über die Implementierung des Fünfjahresplans für die ökonomische und soziale Entwicklung in der Periode 1983— 1985 (griech.), Athen 1986.

  15. Zu einer Kritik der gesamten sozialistischen Politik jener Periode siehe R. C. Macridis, Die griechische Politik am Kreuzweg — Das sozialistische Experiment (griech.. Original englisch), Athen 1984. — Macridis wertet denn auch die betriebene Politik als eher populistisch denn als sozialistisch, nicht zuletzt wegen ihrer abrupten Wendungen.

  16. Zur industriellen Krise in Griechenland siehe A. Giannitsis, Grece: L’Industrialization Mirage, in: LesTemps Modernes, (1985) 473, S. 937— 959; K. Vaitsos/A. Giannitsis: Technologische Transformation und wirtschaftliche Entwicklung (griech.), Athen 1987.

  17. K. Vergopoulos, Rückwärtsentwicklung heute. Ein Versuch über die Stagnation in Südeuropa (griech.), Athen 1987.

  18. Siehe P. Kasakos, Die neue europäische Dynamik und Griechenland, in: P. Kasakos/K. Stefanou (Hrsg.). Griechenland in der EG. Die ersten fünf Jahre. Tendenzen, Probleme. Perspektiven (griech.), Athen 1987, S. 427- 455. hier S. 437 ff.

  19. Bank von Griechenland. Bericht des Gouverneurs für das Jahr 1985 (griech.), Athen 1986, S. 26ff.

  20. Ebd., S. 77.

  21. OECD, Greece. Economic Survey 1985/86, Paris 1986, S. 51 ff. Vgl. auch K. Drakatos. Die griechische Wirtschaft in der Krise (griech.), Athen 1987, S. 64. Dabei wird die Angebotsseite natürlich anders definiert, als es die Regierung in der Periode 1981 — 1985 getan hat, nämlich als die Summe von Maßnahmen, die u. a.dem Ziel dienen, die Arbeitsmarktflexibilität zu erhöhen, eine freundliche Umwelt für die Unternehmer herzustellen, die Regulierung der Wirtschaft durch den Staat einzuschränken („deregulation") oder zumindest zu rationalisieren.

  22. Siehe u. a. W. Hummen, Die entwicklungspolitische Strategie Griechenlands im Lichte einer Integration in die EG, in: W. Gümpel (Hrsg.), Griechenland und die EG, München 1980, S. 19— 35. Siehe auch die Literatur zu Anm. 16.

  23. Vgl. G. Langrod, Reorganization of Public Administration in Greece. A Report (OECD), Paris 1965. Vgl. auch D. Athanassopoulos, Die griechische Verwaltung (griech.), Athen 1983.

  24. K. Pfeffer/I. Schaafhausen. Griechenland — Grenzen wirtschaftlicher Hilfe für den Entwicklungserfolg, Hamburg

  25. R. Clogg, Short History of Modern Greece (Anm. 1),

  26. Siehe R. Hrbek/Th. Läufer, Die Einheitliche Europäische Akte. Das Luxemburger Reformpaket: eine neue Etappe im Integrationsprozeß, in: Europa-Archiv, 41 (1986) 6, S. 173-184.

Weitere Inhalte