Familienpolitik gilt als . Querschnittsaufgabe*, das heißt eine Vielzahl von Politikbereichen wirkt auf die Familie ein. Dabei beachtet man meist nur die wohlmeinenden Maßnahmen zugunsten von Familien, nicht aber die fehlende Berücksichtigung der Sondersituation von Vätern und Müttern im Rahmen des Rechts. Auch wenn heute Ehe und Familie weniger attraktiv (Rückgang der Heiratshäufigkeit), weniger stabil (Zunahme der Scheidungshäufigkeit) und weniger leistungsfähig (Kinder pro Ehe) als in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen, so wird man sich doch vor vereinfachenden Pauschal-erklärungen hüten müssen. Kinderarmut muß als strukturelle Konsequenz einer Gesellschaftsordnung begriffen werden, die das Arbeitsentgelt grundsätzlich an der Leistung (und nicht am Familienbedarf) orientiert, welche die Altersversorgung kollektiviert und die Kinderversorgung familialisiert und in der eine Ungleichheit der Lebensansprüche von Männern und Frauen nicht mehr legitimiert werden kann. Die Übernahme von Elternverantwortung führt unter den gegenwärtigen Bedingungen zu einer doppelten ökonomischen Benachteiligung: Einerseits ersetzen die öffentlichen Transferleistungen nur etwa ein Drittel der privaten Aufwendungen für Kinder, andererseits sinkt das Familieneinkommen, weil mindestens ein Partner die Erwerbsarbeit zugunsten der Familienarbeit einschränken oder gar aufgeben muß. Zudem hat sich die ökonomische Situation von Familien mit Kindern im Laufe der letzten Jahre relativ zu derjenigen kinderloser Ehepaare verschlechtert. Die niedrigen Geburtsraten in den meisten Industrieländern, besonders ausgeprägt aber in der Bundesrepublik, signalisieren die strukturelle Rücksichtslosigkeit von Wirtschaft und Politik gegenüber den Familien. Nur solange als die Frauen in ihrer großen Mehrheit darauf verzichteten, gleiche Teilhabe zu beanspruchen wie die Männer, ließ sich diese aus Indifferenz für die Erziehungsleistungen resultierende Rücksichtslosigkeit kompensieren. Unter den heute erforderlichen strukturellen Reformen kommt der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau sowie der Anerkennung von Erziehungszeiten für Frauen und Männer im System der Alterssicherung strategische Bedeutung zu, da sie allein ein Äquivalent für das erforderliche langfristige Engagement der Übernahme von Elternverantwortung darstellen.
Kommentar und Replik: Parlamentsreform — eine demokratische Notwendigkeit, S. 44-54
Seit im Jahre 1953 in der Bundesrepublik ein Familienministerium errichtet wurde, ist Familie sozusagen offiziell zum Adressaten der Sozialpolitik geworden. Allerdings reichen die staatlichen Bemühungen um Familie wesentlich weiter zurück, und auch heute deckt der Geschäftsbereich des mittlerweile auf Jugend, Frauen. Familie und Gesundheit ausgeweiteten Bundesministeriums noch keineswegs die Gesamtheit der familienrelevanten Politik ab. Familienpolitik gilt als „Querschnittsaufgabe“, das heißt eine Vielzahl von Politikbereichen wirken auf die Familie ein: die Rechtspolitik (zum Beispiel elterliches Sorgerecht, Scheidungsrecht), die Arbeits-und Wirtschaftspolitik (zum Beispiel Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. Mutterschutz), die soziale Sicherungspolitik (zum Beispiel Anrechnung von Erziehungszeiten, eigenständige Alterssicherung der Frau) usw. Familienpolitisch relevant sind auch keineswegs nur jene Maßnahmenbereiche, die sich ausdrücklich an die Familie oder an Personen in ihrer Eigenschaft als familiale Rollenträger richten.
Mindestens ebenso einflußreich kann das Fehlen der Berücksichtigung der besonderen Situation von Müttern und Vätern im Rahmen der unterschiedlichsten Rechtsmaterien sein.
Es wäre also zu einfach und würde der offensichtlich prekärer gewordenen Lage von Familien in der Bundesrepublik nicht gerecht, wollte ich das Thema „Sozialpolitik und Familie“ lediglich unter dem Gesichtspunkt jener wohlmeinenden Intentionen, die wir gemeinhin mit Sozialpolitik verbinden, darstellen. Da es noch immer an einer überzeugenden, zusammenfassenden Darstellung der staatlichen Familienhilfen mangelt -können diese hier nur beispielhaft erwähnt werden. Was der sozialpolitischen Diskussion um Familie vor allem fehlt, ist eine angemessene Vorstellung von den Leistungen und Leistungsbedingungen von Familie, aber auch von den Schwierigkeiten, unter denen diese Leistungen heute erbracht werden müssen.
I. Familie, Staat und Gesellschaft in sozialgeschichtlicher und soziologischer Perspektive
Direkte Lebensgrundlage der überwältigenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung war bis zum 18. Jahrhundert die Landwirtschaft. Dementsprechend spielten die von Landschaft zu Landschaft recht unterschiedlichen, überwiegend gewohnheitsrechtlichen Ordnungen der Rechtsver-hältnisse an Grund und Boden eine entscheidende Rolle, auch für die Möglichkeiten der Familiengründung und der damit verbundenen Rechte und Pflichten. Lediglich in den Städten galten andere Regeln, aber auch dort blieb die Familiengründung an den Nachweis von wirtschaftlichen und bürgerschaftlichen Voraussetzungen gebunden. Solange ein Mann die notwendigen Voraussetzungen zur Familiengründung nicht schaffen konnte, war er in die alteuropäische Gesellschaft ebenso wie die unverheirateten Mädchen und Frauen als Gesinde eines Hausherrn integriert, oder aber er gehörte zu jenem „fahrenden Volk“, das seit dem Spätmittelalter mehr und mehr als Bettel-und Vagantentum definiert und verfolgt wurde. Das „Haus“, die (bäuerliche, höfische oder städtische) Wirtschaftseinheit, war für die ihr Angehörenden voll verantwortlich, auch für Unterhalt und Pflege im Falle von Siechtum. Blutsverwandtschaft spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle, der Hausherr war sowohl für die eigene Familie wie für das Gesinde gleichermaßen verantwortlich. Mit dem Aufkommen des Territorialstaates und insbesondere nach Konsolidierung der Territorien im Anschluß an den Westfälischen Frieden (1648) entwickelten die Fürsten ein wachsendes Interesse an der Produktivität ihrer Untertanen. So versuchten sie, bestärkt durch merkantilistische und kameralistische Theorien, die Zucht des Hausvaters für ihre eigenen Zwecke dienlich zu machen und begannen gerade dadurch, die auf der hausväterlichen Autorität beruhende Ordnung des „ganzen Hauses“ zu zersetzen. Die individualistischen und vertragstheoretischen Ideen der Aufklärung taten ein übriges, so daß das Allgemeine Preußische Land-recht von 1791/94 erstmals zwischen Hausgemeinschaft und Familie im Sinne der Blutsverwandtschaft unterschied. Vor allem unter dem Einfluß der Romantik und unterstützt durch das an Bedeutung gewinnende, städtisch orientierte Bürgertum entstand dann die normative Überhöhung von Ehe und Elternschaft, die Auffassung von Familie als einer durch starke Gefühle zusammengehaltenen Intimgruppe, welche auch heute noch das Familien-leitbild bestimmt.
Damit gewann die Familie erneute Unabhängigkeit vom Staat. Sie wurde unter dem Einfluß liberaler Staatsdoktrin zum Ort der Privatsphäre und genießt direkten (Art. 6 GG: Schutz von Ehe und Familie) bzw. indirekten (Art. 13 GG: Unverletzlichkeit der Wohnung) Verfassungsschutz.
Aus soziologischer Sicht lassen sich diese historischen Prozesse differenzierungstheoretisch deuten: Im Zuge funktionsorientierter struktureller Differenzierung entsteht neben dem Staat, der Marktwirtschaft und der Kirche als institutioneilen Trägem politischer, ökonomischer bzw. religiöser Funktionen die Familie als nunmehr auf Fortpflanzung, Erziehung und Regeneration des Arbeitsvermögens spezialisierter Handlungszusammenhang. Natürlich geschieht in Familien noch vieles mehr, aber diese drei Leistungen bedingen das öffentliche Interesse an Familie: Kein anderer Lebenszusammenhang ist in Sicht, der die sich für jede Gesellschaft stellende Aufgabe der Nachwuchssicherung, der Sozialisation des Nachwuchses und der physischen und psychischen Regeneration im Regelfall ähnlich effektiver und emotional befriedigender Weise lösen könnte. Vieles spricht ferner dafür, daß die Familie in relativ zwangloser Weise auf ihre Mitglieder eine soziale Kontrolle ausübt, die weniger durch Kritik und Druck denn durch soziale Anerkennung (Liebe und Dankbarkeit) zu bestimmten Verhaltensweisen motiviert. Inwieweit diese Verhaltensweisen allerdings den herrschenden gesellschaftlichen Erwartungen konform sind, hängt von den Wertorientierungen der Familien-mitglieder, insbesondere derjenigen der Eltern ab.
Auf jeden Fall stellt die Familie eine eigenständige Ebene sozialer Motivation und Kontrolle dar, deren Wegfall die anomischen Tendenzen in modernen Gesellschaften nachhaltig verstärken würde. Ältere Gesellschaftsformationen, so auch noch die ständische Gesellschaft der frühen Neuzeit, ließen politische, wirtschaftliche, religiöse und familiale Aufgaben in alltäglicher Form durch einen einheitlichen Sozialzusammenhang (in Nordeuropa das „Haus“) lösen, wobei diese heute getrennten Aspekte ineinanderflossen. In funktional differenzierten, modernen Gesellschaften dagegen werden diese Aufgaben räumlich und sozial auseinandergezogen, wobei die arbeitsteilige Spezialisierung gleichzeitig auch eine fortgesetzte Effektivitätssteigerung ermöglicht. Das gilt nicht nur für die Macht-steigerung des Staates, die Produktivitätssteigerung der Wirtschaft und die zunehmende Konsistenz theologischer und pastoraler Aspekte religiöser Praxis: Das Verantwortungsbewußtsein und Erziehungsengagement, das heute Eltern im Regelfall für ihre Kinder zeigen, hat sich erst in diesem Jahrhundert verallgemeinert. Noch im 19. Jahrhundert wurden auch eheliche Kinder häufig von ihren Eltern weggegeben, sogar ins Findelhaus.
Das bisher skizzierte Bild ist allerdings zu einfach. Denn selbst wenn moderne Gesellschaften besonders effektive Institutionen für die Erfüllung unterschiedlicher Funktionen entwickelt haben, ergeben sich aus solcher Spezialisierung doch auch Folge-probleme, die insbesondere aus der unterschiedlichen „Eigenlogik“ und daraus abzuleitender mangelnder Rücksichtnahme auf die Erfordernisse anderer Lebensbereiche resultieren. Solche Auseinandersetzungen haben zwischen Kirche und Staat vor allem im 19. Jahrhundert, zwischen Staat und Wirtschaft vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stattgefunden, und heute scheint sich eine ähnlich tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen Staat und Familie anzubahnen.
Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die bisher als selbstverständlich vorausgesetzte Erfüllung der familialen Funktionen in modernen Gesellschaften nicht mehr mit der erforderlichen Massenhaftigkeit gelingt, zumindest nicht mehr unter den Prämissen der bisherigen Ehe-und Familienauffassung. Etwa gleichzeitig sind in nahezu allen westlichen Ländern seit Mitte der sechziger Jahre die Heiratshäufigkeit und die mittlere Kinderzahl pro Ehe gesunken, woraus ein massiver Geburtenrückgang resultierte. Diese Entwicklung verlief in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt: Die gegenwärtige Geburten-häufigkeit sichert die Ersetzung der Generationen nur noch zu knapp zwei Dritteln. Auch wenn seit 1975 größere Schwankungen der Geburtenhäufig35 keit auf diesem niedrigen Niveau ausgeblieben sind, so ist der nächste Geburtenrückgang infolge der ins Fortpflanzungsalter hineinwachsenden geburten-schwachen Jahrgänge für die Jahre ab ca. 2000 bereits vorprogrammiert. Die Entwicklung der unehelichen Geburten variiert stark von Land zu Land, kann aber nirgends den Rückgang der ehelichen Geburten kompensieren. Gleichzeitig hat die Scheidungshäufigkeit stark zugenommen. In der Bundesrepublik wird zur Zeit mehr als jede vierte (in den USA fast jede zweite) Ehe wieder geschieden. Ehe-und Familienleben erscheinen heute somit weniger attraktiv (Rückgang der Heiratshäufigkeit), weniger stabil (Zunahme der Ehescheidungen) und weniger leistungsfähig (Kinder pro Ehe) als in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg. Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen? Eine schlüssige Antwort auf diese Frage wird durch den Umstand erschwert, daß wir hierfür sowohl weit zurückliegende als auch recht aktuelle Gesichtspunkte berücksichtigen müssen. In gewisser Hinsicht erweist sich nämlich die hohe Stabilität der familialen Verhältnisse in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in unserem Jahrhundert eher als Ausnahme denn als Regel. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fand ein mehr oder weniger kontinuierlicher Rückgang der mittleren Kinderzahl pro Ehe von Heirats-zu Heiratskohorte statt, dessen Effekte jedoch durch Wellen unterschiedlicher Heiratshäufigkeit überlagert wurden. Lediglich die Frauenjahrgänge um 1930, welche in der Bundesrepublik maßgeblich zum Geburtenanstieg von 1955 bis 1965 beigetragen haben, bilden eine Ausnahme, sie zeigen eine etwas höhere mittlere Geburtenzahl pro Ehe Auch die Scheidungshäufigkeit unterlag im Laufe der Zeit starken Schwankungen. Ihre Gipfelpunkte lagen allerdings bisher überwiegend in Kriegs-und Nachkriegszeiten, neu ist das Phänomen eines kontinuierlichen Anstiegs der Scheidungen ohne erkennbare kollektive Katastrophen.
II. Was Staat und Wirtschaft den Eltern ökonomisch zumuten
Betrachten wir zunächst die Entwicklung der ökonomischen Situation der Familien. In der alteuropäischen Gesellschaft herrschten zwargroße Unterschiede zwischen Reich und Arm, aber diese wurden durch unterschiedliche Standeszugehörigkeiten in ihren Auswirkungen gedämpft. Standeszugehörigkeit war wichtiger als Einkommen. Konsumaufwand wurde überdies durch Gesetze und polizeiliche Kontrollen eingeschränkt. Es gab zwar starke soziale Unterschiede, aber wenig Konkurrenz.
Mit der Einführung der Freiheit von Handel und Gewerbe, der Auflösung der altständischen Schutz-und Abhängigkeitsverhältnisse sowie der Einführung des grundsätzlich leistungsbezogenen Individuallohnes änderte sich für die Familie vieles. Die Verallgemeinerung des Tausch-und Konkurrenz-prinzips führte mehr und mehr dazu, daß individuelle Lebenschancen einkommensabhängig wurden. Da sich gemäß der Tauschlogik die Entlohnung grundsätzlich nach Umfang und Bedeutung der Arbeitsleistung bemaß, konnte sie den Familienstand und die Kinderzahl nicht berücksichtigen. Vor allem in Frankreich wurde schon früh erkannt, daß dies zu einer Diskriminierung der kinderreichen Familien führen müsse. Entsprechend einer paternalistischen Familienauffassung vertraten Frdric Le Play und seine einflußreiche Schule die Auffassung, daß der Lohn eines männlichen Arbeiters zum Unterhalt seiner nicht-erwerbstätigen Frau und aller Kinder des Paares ausreichen müsse. Vor allem christlich gesinnte Unternehmer versuchten, dieses Prinzip in die Praxis umzusetzen, stießen jedoch bald an kostenmäßige Grenzen dieses bedarfs-bezogenen Experiments betrieblicher Sozialpolitik. Die Konkurrenz mit bloß leistungsbezogenen Löhnen zog kinderarme Arbeiter an und produzierte billiger. Zur Lösung dieses Problems wurden zunächst regionale, freiwillige Familienlastenausgleichskassen geschaffen, die später vom Staat allgemein verbindlich erklärt wurden und noch heute eine Säule des im Vergleich zur Bundesrepublik weit stärker ausgebauten Familienlastenausgleichssystems in Frankreich sind.
Die grundsätzliche Familienindifferenz des arbeitsvertraglichen Lohnsystems ist ein strukturelles Merkmal des auf Konkurrenz beruhenden privatwirtschaftlichen Wirtschaftssystems — die bedarfs-bezogene Alimentierung der deutschen Beamten zeigt nur, wie sehr diese von der Unbill der Konkurrenzwirtschaft geschützt sind. Sie entspricht der „Eigenlogik“ des Wirtschaftssystems, welches sich in dieser Hinsicht als rücksichtslos gegenüber der Familie manifestiert. Ähnliche Rücksichtslosigkeiten gegenüber menschlicher Arbeit haben — beginnend mit dem Verbot der Arbeit von Kindern unter neun Jahren und Beschränkung der Arbeit bei Ju-B gendlichen — in Deutschland zur staatlichen Sozialpolitik geführt. Anders als in Frankreich, wo die Familien-und Bevölkerungsfrage stets ein zentraler Gesichtspunkt der Ausgestaltung sozialpolitischer Maßnahmen war. stand in Deutschland die Arbeiterfrage im Zentrum des Interesses. Bis heute können wir feststellen, daß die Rechtsstellung und die soziale Sicherung, insbesondere auch die Alterssicherung der Arbeitnehmer in Deutschland, wesentlich besser ausgebaut ist als in Frankreich, wo es statt dessen den Familien mit mehreren Kindern vergleichsweise besser geht.
Betrachten wir nun die Wirkung der wohlmeinenden sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten von Kindern und Jugendlichen genauer, so erkennen wir. daß diese Schutzmaßnahmen weniger zulasten der Unternehmer als zulasten der Eltern gingen. Denn für die Unternehmer zeigte sich bald, daß sie nur vergleichsweise unproduktive Arbeitskräfte verloren hatten und daß die Arbeitsproduktivität der Jugendlichen (wie später aller anderen Arbeiter) infolge der Arbeitszeitverkürzung anstieg. Für die Eltern dagegen stellte sich nun das Problem des Unterhalts und der Beaufsichtigung der Kinder. Effektiv wurde das Verbot der Kinderarbeit meistens erst mit dem Ausbau des Volksschulwesens. Damit waren die Kinder wieder beschäftigt, aber nun unentgeltlich. Die Eltern hatten für den Unterhalt während der Zeit aufzukommen, in der die Kinder durch staatliche Maßnahmen qualifiziert wurden.
Solange die Eltern darauf hoffen konnten, von diesen nun besser qualifizierten Kindern im Alter unterstützt zu werden, mochte auch diese Rechnung noch in etwa aufgehen. Aber mit der Einführung der Invaliditäts-und Altersversicherung griff der Staat auch in dieses „Familienkalkül“ ein. Daß solche Kalküle kein bloßes Himgespinnst von Nutzen-theoretikern sind, zeigt der statistisch nachweisbare Beginn des Geburtenrückgangs der Arbeiter im Anschluß an die Einführung der Arbeiterrentenversicherung im Deutschen Reich Aus der Kombination von Individuallohn und staatlicher Reglementierung des Arbeitslebens, insbesondere auch aus der Beschränkung des Arbeitslebens auf die mittlere Lebenszeit sowie aus dem Ausbau des Bildungswesens und der Kollektivierung der Alterssicherung resultiert somit eine ökonomische Entwertung der Kinder für ihre Eltern. Dem kollektiven Nutzen erweiterter Schulbildung entspricht immer weniger ein familialer Nutzen. Die Familie „investiert in Kinder“, der Ertrag dieser Humankapitalbildung kommt jedoch nicht direkt den Eltern, sondern der Allgemeinheit, insbesondere der Wirtschaft und dem Staat, zugute.
Wenn vielleicht auch nicht in dieser Schärfe, so ist das Problem den Politikern im Laufe der Jahrzehnte doch bewußt geworden, und so lassen sich auch in der Bundesrepublik heute eine Vielzahl von Maßnahmen aufweisen, die direkt oder indirekt dem Familienlastenausgleich dienen: Kindergeld und Kinderfreibeträge im Steuerrecht, Preisvergünstigungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln, Wohngeld, besondere Regelungen für Waisen und neuerdings auch für alleinerziehende Elternteile usw. Von der fiskalisch aufwendigsten Vergünstigung, dem Ehegattensplitting, profitieren allerdings kinderlose oder kinderarme Ehepaare stärker als kinderreiche. Auch wenn diese öffentlichen Familienhilfen bei weitem nicht kostendeckend für das Aufbringen der Kinder sind stellen sie doch eine spürbare Entlastung dar. Diese wird allerdings durch eine Entwicklung in jüngster Zeit stark relativiert, nämlich das Selbstverständlich-Werden der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern.
Zwar hat die weibliche Erwerbstätigkeit insgesamt im Laufe dieses Jahrhunderts nur unwesentlich zugenommen. aber die Art der Erwerbstätigkeit hat sich grundlegend gewandelt. Waren die verheirateten Frauen zu Beginn des Jahrhunderts noch überwiegend mithelfende Familienangehörige in den Haushalten ihrer selbständig erwerbenden Männer oder aber Arbeiterfrauen, die aus Not hinzuverdienten, so ist der heute dominierende Typus weiblicher Erwerbstätigkeit die Angestellten-und Beamtentätigkeit. Mag auch immer noch die Knappheit des Haushaltsbudgets ein wichtiges Motiv für berufstätige Mütter sein, so hat sich doch mehr und mehr — nicht zuletzt infolge gestiegener Bildungsund Berufsqualifikation — auch ein Eigeninteresse an außerfamilialen Kontakten, finanzieller Unabhängigkeit und Arbeitsinhalten entwickelt, das heute im Vordergrund der Legitimation weiblicher Erwerbstätigkeit steht. Die meisten Frauen wünschen sich die Vereinbarkeit von familienunabhän-giger Berufstätigkeit und Familie. Und auch die Wirtschaft ist stärker an jungen weiblichen Arbeitskräften interessiert, ohne allerdings für die resultierende Doppelbelastung erwerbstätiger Mütter entlastende Lösungen anzubieten. Wie wir kürzlich zeigen konnten, ist das Resultat der Konkurrenz zwischen Berufs-und Familienorientierung im Lebenszusammenhang junger Frauen eine Beschränkung der Kinderzahl, häufig auf nur ein Kind. Mit jedem zusätzlichen Kind geht die Berufstätigkeit der Frauen weiter zurück, bei drei Kindern hört sie fast völlig auf
Zieht man diese Reduktion weiblicher (oder unter besonders partnerschaftlichen Bedingungen auch schon männlicher) Erwerbstätigkeit mit zunehmender Kinderzahl in Betracht, so wird eine doppelte, scherenartige Verschlechterung der ökonomischen Situation der Familienhaushalte mit zunehmender Kinderzahl sichtbar: einerseits zunehmende Kosten, andererseits sinkende Arbeitseinkommen. Die zusätzliche Familienarbeit’ bleibt unbezahlt
Sie führt überdies angesichts der individualistischen Ausrichtung auch des Rentenversicherungssystems zu einer entsprechenden Reduktion der Rentenanwartschaft. Unter sonst gleichen Bedingungen wird ein kinderloses Doppelverdiener-Ehepaar im Alter über ein doppelt so hohes Einkommen verfügen als ein Paar, bei welchem die Frau anstelle der Berufs-tätigkeit drei oder mehr Kinder aufgezogen hat. Erst in jüngster Zeit ist durch die Einführung eines . Babyjahres'dieses Verhältnis etwas verbessert worden.
Welches Ausmaß an unmittelbarer ökonomischer Schlechterstellung sich aus der Schere zunehmender Kosten und sinkender Arbeitseinkommen ergibt. zeigen recht gründliche Schätzungen des Statistischen Landesamtes von Baden-Württemberg Im Jahre 1982 ergaben sich bei jungen Familien (Altersgruppe 25 bis 35 Jahre) im Durchschnitt folgende Einkommensverhältnisse:
Die mit steigender Kinderzahl wachsenden staatlichen Transferleistungen reichen also nicht einmal aus, um die Reduktion der Haushaltnetto-Einkommen infolge der Reduktion von Erwerbsarbeit voll zu kompensieren. Dementsprechend sinkt das ge-wichtete Pro-Kopf-Einkommen (Kinder werden gemäß durchschnittlichen Bedarfsschätzungen nur mit dem Faktor 0, 6 gewichtet) bereits bei der zwei-Kinder-Familie auf weniger als die Hälfte desjenigen eines kinderlosen Ehepaars.
III. Überlastung oder Deinstitutionalisierung von Familie?
Obwohl diese Darlegungen plausibel machen, warum der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson schon 1958 die Auffassung vertreten hat, daß ein kollektives Altersvorsorgesystem ohne eine entsprechende Kollektivierung der Aufbringungskosten der Kinder das Kinderhaben zu einem ökonomisch irrationalen Tun mache, stellen die ökonomischen Belastungen vermutlich nur einen Teil der Ursachen dar, welche heute zu einer Labilisierung familialer Verhältnisse beitragen. Mehr noch, in unserer Längsschnittuntersuchung zur differenzierten Ermittlung von Faktorkonstellationen, welche die Wahrscheinlichkeit erster, zweiter und dritter Kinder bei jungen Paaren erklären können, spielen ökonomische Faktoren kaum eine Rolle Entscheidend scheinen vielmehr Einstellungen, insbesondere hinsichtlich der Wertigkeit von Familie und Beruf bei der Frau zu sein, aber auch Einschätzungen hinsichtlich der mit Kindern verbundenen Belastungen, sodann Merkmale des . Partnerschaftssystems 1 bzw.der Alters-abstand zwischen Mann und Frau, die Dauer der Partnerschaft oder der Konsens bzw. Dissens der Partner hinsichtlich ihrer Einstellungen. Endlich treten auch Umweltfaktoren auf, die jedoch nicht als Ursachen des generativen Verhaltens betrachtet werden dürfen. Vielmehr scheinen junge Menschen heute einen Wohnort gezielt anzustreben, der ihren Lebensentwürfen entspricht. Die erheblichen Differenzen der Geburtenhäufigkeit zwischen Großstädten und eher ländlichen Regionen sind überwiegend durch Wanderung bildungs-und berufsmotivierter . Singles'in die Großstädte und von familienorientierten Paaren in Gebiete mit günstigeren Bodenpreisen und kinderfreundlicherer Umwelt zu erklären.
Ein angemesseneres Verständnis heutiger Familien ergibt sich, wenn wir die Paarbeziehung nicht als wechselseitigen „Vertrag zum Gebrauch der Geschlechtseigenschaften zweier nutzenmaximierender Individuen“, sondern als eine Probleme lösende Einheit betrachten. Es gehört zum Erlebnishorizont neuzeitlicher Familien, daß die familiale Gemeinschaft vorausgesetzt und die Paarbeziehung als Schicksalsgemeinschaft erlebt wird. Erst wenn diese gelegentlich auch fiktive Voraussetzung zerbricht, wenn also an Trennung oder Scheidung ernsthaft gedacht wird, tritt die Tauschrationalität an die Stelle der Solidarität.
Aufgrund dieses solidarischen Charakters vermögen Paarbeziehungen, insbesondere Familien, die ökonomische Benachteiligung in oft erstaunlichem Maße zu ertragen. Das ist gewiß kein Argument für die Fortsetzung jener zunehmenden Ausbeutung familialer Solidarität, die sich in der auch in jüngster Zeit beobachtbaren Verschlechterung der relativen ökonomischen Position von Familien zeigt Aber es verschiebt unsere Blickrichtung auf die Frage nach den Bedingungen, unter denen solche Solidarität auf Dauer attraktiv und stabil gehalten werden kann.
Fragt man so, dann wird deutlich, daß die traditionellen normativen Bedingungen ehelicher Solidarität in jüngster Zeit einem starken Plausibilitätsverlust unterliegen, vor allem bei den Frauen. Die zunehmende Bildungsbeteiligung junger Frauen, die zunehmende Berufstätigkeit junger Mütter, die Verbreitung der Pille und nicht zuletzt eine sich ändernde öffentliche Einstellung zur Sexualität haben seit den sechziger Jahren den Lebenszusammenhangjunger Frauen im Vergleich zu ihren älteren Geschlechtsgenossinnen sehr nachhaltig verändert. In der Bundesrepublik kam noch das Ende der Nachkriegsära mit ihren deutlich restaurativen Tendenzen im intellektuell-moralischen . Aufbruch* der Studentenbewegung hinzu. All dies vollzog sich vor dem Hintergrund der längsten in der Wirtschaftsgeschichte bekannten Expansionsphase, die zu einer starken Steigerung der Massenkaufkraft geführt hat. So stehen heute insbesondere Frauen weit größere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, so daß die Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung gegenüber denjenigen familialen Engagements nahezu zwangsläufig an Gewicht gewonnen haben Frauen können heute nicht mehr bereit sein, so wie früher ihre gesamte Lebensenergie auf die Familie zu konzentrieren. Die damit verbundenen Verzichte haben sich wesentlich vergrößert. Ökonomisch ausgedrückt: Nicht nur die direkten Kosten, sondern auch die , Opportunitätskosten* des Kinderhabens sind — insbesondere für die Frauen — stark gestiegen. Gleichzeitig haben sich die familialen Machtbalancen geändert: Soweit die Frau erwerbstätig ist, ist sie weniger von ihrem Manne abhängig, und genau dies scheint nicht selten ein Grund für den Wunsch nach Beibehaltung der Erwerbstätigkeit zu sein. Dies wiederum hängt mit allgemeinen Entwicklungstendenzen unserer Kultur zusammen, der Betonung von Freiheit und Selbstverwirklichung, aber vielleicht auch der Beschleunigung und Legitimierung des sozialen Wandels, wie er im Begriff der Modernität zum Ausdruck kommt Je mehr die Wandelbarkeit der Verhältnisse — also zum Beispiel auch die Scheidbarkeit von Ehe — zum Bestandteil des individuellen Erwartungshorizonts wird, desto schwieriger wird es, jenes dauerhafte Engagement zu übernehmen, das mit der Übernahme der Elternverantwortung unter der allgemein akzeptierten normativen Prämisse verantwortlicher Elternschaft verbunden ist.
Auch in dieser Perspektive ist nunmehr die Frage zu erörtern, welchen Nutzen sozialpolitische Maßnahmen zu stiften vermögen. Hierbei ist allerdings weniger an ökonomische Hilfen für die Familien, als an soziale Dienstleistungen sowie an Maßnahmen zu denken, welche eine leichtere Verbindung von Erwerbs-und Familientätigkeit ermöglichen.
Wiederum ist zunächst auf die mangelnde Berücksichtigung familialer Belange in der herrschenden Sozialpolitik zum Schutze der Arbeitsverhältnisse hinzuweisen. Unser gesamtes sozialpolitisches System ist primär auf das vollzeitige Normalarbeitsverhältnis abgestimmt; Teilzeitarbeit und vorübergehende Beurlaubung erscheinen als systemfremd. Zwar ist in jüngster Zeit in dieser Hinsicht einiges im Gange, aber es bedarf doch stets erneuter Sonderregelungen, gegen deren finanzielle Konsequenzen sich insbesondere die Sozialversicherungsträger und ihre Vertreter sträuben. Die starke Fragmentierung des deutschen Systems der sozialen Sicherung und die daraus resultierenden Belastungsverschiebungen erschweren die Berücksichtigung familialer Belange zweifellos im Vergleich zu einem stärker vereinheitlichten Sicherungssystem, wie es für die skandinavischen Länder charakteristisch ist.
Weit weniger in der Diskussion ist eine zweite Frage, nämlich unter welchen Gesichtspunkten das öffentliche Angebot von sozialen Diensten für Kinder und Familien aus der Sicht der Eltern als Entlastung erfahren wird. Diese wird im allgemeinen als selbstverständlich vorausgesetzt, und natürlich soll auch hier der allgemeine Nutzen zum Beispiel von Bildungs-und Gesundheitseinrichtungen nicht in Frage gestellt werden. Wasjedoch bei deren Ausgestaltung zu wenig bedacht wird, ist, daß ihre Inanspruchnahme auf Seiten der Eltern auch materielle und immaterielle Belastungen zu verursachen vermag, selbst wenn die Leistungen unentgeltlich gewährt werden. Das geht von erhöhten Kleideraufwendungen für die Kinder über Verkehrszeiten und Verkehrskosten bis zu den Anpassungserfordernissen der familialen Alltagsorganisation. Betrachtet man die Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen für Kinder, so wird offenkundig, daß diese in der Regel nicht aufdie typischen Beschäftigungszeiten von Müttern Rücksicht nehmen. Ganztageskindergärten und Ganztagesschulen sind in der Bundesrepublik im Gegensatz zu zahlreichen anderen Ländern die große Ausnahme Überhaupt ist festzuhalten, daß der Elterneinfluß auf die öffentlichen Einrichtungen für Kinder gering ist, daß also die Anerkennung der Eltern als Eltern in der Bundesrepublik wenig entwickelt ist. Zunehmende Professionalisierung von Erziehungsaufgaben, wie sie in der besseren Qualifikation von Lehrern, Kindergärtnern und ähnlichem zum Ausdruck kommt, führt leicht auch zu einer „Laisierung“ der Eltern, das heißt, die „Professionellen“ nehmen die . laienhaften'Eltern nicht ernst genug, obwohl letztlich doch diese allein jene unverwechselbaren Identifikationspersonen darstellen, die nach den Einsichten heutiger Sozialisationstheorie zu den wichtigsten Voraussetzungen gelingender Identitätsbildung gehören. Insoweit als soziale Dienstleistungen den Handlungsspielraum und den erzieherischen Erfolg der Elternrolle in Frage stellen, muß damit gerechnet werden, daß sie auch den immateriellen Wert der Kinder für ihre Eltern reduzieren und damit Elternschaft weniger attraktiv machen.
IV. Warum überhaupt noch Kinder?
Trotz dieser kritischen Einlassungen bleibt festzuhalten, daß das ökonomisch irrationale Tun des Kinderhabens offensichtlich immer noch im Regelfall mit Lust und Freude verbunden ist, sonst wäre nicht zu erklären, daß sich immer noch die Mehrzahl junger Leute früher oder später entschließt, wenigstens ein Kind zu bekommen. Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Geburtenkontrolle können wir davon ausgehen, daß der Geburt von Kindern heute ein Akt der bewußten Kindesannahme vorangeht. Dieser sollte allerdings nicht mit den sogenannten . Kinderwünschen'verwechselt werden, mit deren Hilfe manche Bevölkerungswissenschaftler die Geburtenentwicklung prognostizieren wollen. So läßt sich zwar eine parallele Veränderung durchschnittlicher Kinderwünsche und statistischen Geburtenhäufigkeiten beobachten, aber bezogen auf die Individuen sind solche Kinderwünsche bemerkenswert instabil Es scheint also nicht so zu sein, daß die meisten Menschen eine feste Kinderzahl planen, sondern im Rahmen gewisser Grundorientierungen resultieren konkrete Kinderwünsche oder nachträgliche Kindesannahme aus einer Vielzahl nicht voll durchschaubarer Umstände. Es spricht jedoch vieles dafür, daß unter diesen Faktoren der Partnerbeziehung selbst eine zentrale Bedeutung zukommt Das mag selbstverständlich scheinen, ist aber unter soziologischen als auch bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten sehr bedenkenswert: Wenn wir Familien als ein zentral durch die Partnerbeziehung strukturiertes . System'begreifen, das eine . Eigendynamik'hat und eine von den spezifischen Systemeigenschaften abhängige . Problemlösungsfähigkeit'aufweist, so wird zweierlei verständlich:
Zunächst lernen wir begreifen, daß die ökonomische Irrationalität des Kinderhabens familial durchaus rational sein kann. Wir können zwar nicht im einzelnen sagen, wann und warum ein Paar sich für ein Kind entscheidet, aber unsere empirischen Befunde lassen erkennen, daß Frauen mit hoher Familien-bzw. Kindorientierung tatsächlich mehr Kinder bekommen, und zwar vor allem dann, wenn die Einstellungen der beiden Partner zum Verhältnis von Familie und Beruf miteinander harmonieren. Was im einzelnen den . Familiensinn'ausmacht ist schwer zu umschreiben und stellt sich wohl auch lebensmäßig sehr unterschiedlich dar. Deutlich wird jedoch, daß es keine verbreitete Ablehnung von Ehe und Kindern gibt. Nur sind die hierzu führenden Motive unterschiedlich stark und stehen zu anderen Motiven wie der Berufsorientierung in Konkurrenz. Das Verhältnis solcher Motiv-gruppen kann sich zudem im Laufe der Jahre ändern, nicht zuletzt auch unter dem Einfluß gewandelter Umstände (zum Beispiel Abschluß einer Ausbildung. Angebot oder Verlust eines Arbeitsplatzes). Dabei dürfte jedoch die subjektive bzw.
partnerschaftlich vermittelte Wahrnehmung der Umstände in der Regel wichtiger sein als ihre . objektive'. das heißt vom außenstehenden Beobachter wahrnehmbare Qualität. Das setzt auch der Ermittlung verallgemeinerungsfähiger Regelhaftigkeit enge Grenzen.
Die Tatsache, daß Partner (und später auch Eltern mit ihren Kindern) . eigensinnig'einen Kosmos von Vorstellungen über sich selbst und ihre Situation entwickeln erklärt zum einen, weshalb Familien oft in einem für Außenstehende unfaßbaren Maße belastbar sind. Wer erlebt, wie Familien mit behinderten Kindern, mit Krankheiten oder auch mit ökonomischer Knappheit zurechtkommen, ohne besonders bedrückt zu wirken, wird dies nicht zuletzt auf eine erstaunenswerte Normalisierungsfähigkeit zurückführen. Was in der Familie geschieht, gilt eben als normal Sicher kann dies unter extremen Bedingungen auch zu pathologischen Entwicklungen führen, aber im’Regelfall ist dieser familiale Zusammenhalt und die daraus folgende Anpassungsfähigkeit der Familienmitglieder doch ein bemerkenswertes und für die Lebensführung hilfreiches Phänomen. Vielleicht liegt übrigens gerade in solchen Erfahrungen der eigentliche „Sinn von Familie“ in einer unübersehbar gewordenen Umwelt — nämlich durch wechselseitige Bestätigung eine Stabilisierung der Nachwelt zu bewirken.
Andererseits wird daraus auch verständlich, daß es außerordentlich schwierig, um nicht zu sagen sinnlos ist, mit Hilfe genereller, zum Beispiel familien-politischer Maßnahmen bestimmte Verhaltensän-derungen bei Familien erzeugen zu wollen. Politische Absichten wie die Erhöhung der Geburtenrate oder die Veränderung der familialen Ernährungsgewohnheiten werden von den Familien sehr verschieden und auf jeden Fall häufig anders wahrgenommen, als es den politischen Intentionen entspricht. Häufig werden diese auch schlicht ignoriert, denn was . ankommt*, ist ja bestenfalls ein bestimmtes Angebot wie eine Geburtenprämie oder ein Ernährungsratgeber, mit dem man im Falle seiner Annahme sehr verschieden umgehen kann. Geburtenprämien scheinen unter Umständen durchaus kurzfristig , zu wirken*, das heißt ein Partnerverhalten zu fördern, bei dem man die Prämie . mitnehmen* kann. Aber die endgültige Zahl der Kinder wird dadurch nicht erhöht.
V. Was ist familien-bzw. sozialpolitisch sinnvoll?
Im sozialpolitischen Geschäft der Gegenwart ist die . Sozialpolitik erster Ordnung’, also das politische Aufgreifen sozialer Problemlagen und die Entwicklung neuer Maßnahmen, um sie zu beseitigen oder zumindest ihre negativen Folgen aufzufangen, längst in den Hintergrund getreten. Im Vordergrund steht heute die . Sozialpolitik zweiter Ordnung*, der Versuch der Politiker, das bereits bestehende System sozialpolitischer Institutionen und Einrichtungen funktionsfähig zu halten und die Folgeprobleme der durch die politischen Maßnahmen erzeugten Wechselwirkungen zu bewältigen. So werden heute auch die Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, welche durch den jüngsten Geburtenrückgang einen nachhaltigen Anstoß erfahren hat, ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt von Anpassungen der bestehenden sozialpolitischen Systeme diskutiert, nicht jedoch unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Umverteilungsprozesse zugunsten von Familien und Kindern.
Auch wenn man der Auffassung ist, daß eine Erhöhung der Geburtenrate in der Bundesrepublik durchaus wünschenswert wäre, und hierfür sprechen vielfältige nachteilige Wirkungen eines starken langfristigen Bevölkerungsrückgangs oder einer sie kompensierenden massiven Einwanderung so sollte man sich doch hinsichtlich der Möglichkeiten, dies gezielt durch politische Maßnahmen zu bewirken, keinen Illusionen hingeben. Zwar ist die Diskussion um die Wirksamkeit staatlicher Bevölkerungspolitik noch keineswegs entschieden Aber soviel steht fest: Geburtenfördemde Einzelmaßnahmen zeitigen im wesentlichen . Mitnahmeeffekte*, sie haben keine dauerhaften Wirkungen. Andererseits weist das Beispiel Frankreich darauf hin. daß eine kontinuierliche Förderungspolitik von Familien auch demographische Wirkungen zeitigen kann: Während Frankreich vor 50 Jahren die niedrigste Geburtenrate Europas hatte, hat es heute eine der höchsten. Zwar ersetzen auch hier die Geburten nicht ganz den Bevölkerungsstand. aber ein langsamer Bevölkerungsrückgang ist im Vergleich zu dem in der Bundesrepublik etwa ab dem Jahre 2010 zu erwartenden massiven demographischen Einbruch vergleichsweise unproblematisch.
Falls Politiker es als Aufgabe des Staates betrachten. zur Stabilisierung oder Erhöhung von Geburtenraten beizutragen, so kann ihnen nur geraten werden, eine konsequente, im wesentlichen der Veränderung weiblicher Lebensansprüche und Lebenszusammenhänge entgegenkommende, langfristig angelegte Politik zu betreiben, welche die ökonomischen Nachteile des Kinderhabens reduziert, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöht und nicht zuletzt die soziale Wertigkeit von Elternschaft stärker anerkennt. Eine der wichtigsten Forderungen in diesem Zusammenhang scheint mir die eigenständige soziale Sicherung der Frau und die verstärkte Anerkennung von Erziehungszeiten im System der Alterssicherung zu sein. Hier ist meines Erachtens eine . strategische* Variable für die Lebensplanung junger Frauen angesprochen, welche auch einige Verkrampfungen des Scheidungsfolgenrechtes abbauen könnte. Junge Frauen, die angesichts einer statistischen Wahrscheinlichkeit, daß mindestens jede vierte Ehe geschieden wird, mit verständlichen Gründen am lebenslangen Bestand ihrer Ehe zweifeln, können bisher eine eigenständige soziale Sicherung nur durch Erwerbsarbeit erlangen. Deshalb ist die eigenständige soziale Sicherung aller Frauen — also die allmähliche Ersetzung der bisherigen Witwenrenten durch eigene Ansprüche aus Erwerbs-und Familientätigkeit — eine der dringlichsten Sozialreformen für die kommenden Jahre. Eine bemerkenswerte Signalwirkung könnte in der Sozialpolitik weiterhin dadurch gesetzt werden, daß auch die Familientätigkeit von Männern versicherungsrechtliche Anerkennung finden kann, wenn sie sich teilweise aus dem Beruf zurückziehen. Wenn es nämlich richtig ist, daß die gegenwärtige Labilisierung familialer Verhältnisse wesentlich durch eine Veränderung der Machtbalancen und der Geschlechtsrollenvorstellung der Frauen geprägt ist, kann es durchaus sinnvoll sein, entsprechende Veränderungen der Geschlechterrolle bei den Männern durch staatliche Maßnahmen zu fördern. Zwar geht es hier in erster Linie um Bewußtseinsphänomene, aber diese sind von institutionellen Gegebenheiten durchaus abhängig. Solange Staat und Wirtschaft Teilzeitarbeitsplätze lediglich für Frauen anbieten, wird sich an der beruflichen Fixierung der Männer wenig ändern.
Aber es sind nicht nur die Koordinationsschwierigkeiten zwischen Berufstätigkeit und Familientätigkeit, die junge Familien belasten, sondern auch die Koordinationsschwierigkeiten mit anderen außer-familialen Lebensbereichen. Hierzu gehören beispielsweise Verrichtungen auf Ämtern oder Einkäufen, aber auch das Bildungs-und Gesundheitswesen, Freizeitmöglichkeiten und Urlaub. Hier eröffnet sich ein weites Feld für öffentliche und private Initiativen, die darauf abzielen, Eltern angesichts ihrer besonderen Verantwortung für Kinder nicht bloß zu entlasten, sondern bevorzugt zu behandeln. Das kann von temporären Kinderbetreuungseinrichtungen über gezielte Verkürzungen von Wartezeiten bis zur kinderfreundlichen Gestaltung öffentlicher Einrichtungen gehen. Warum soll das, was in den sechziger Jahren für die Behinderten möglich war, eigentlich für Eltern und Kinder unmöglich sein? Was spräche beispielsweise dagegen, bei öffentlichen Ämtern und Dienststellen mit Publikumsverkehr grundsätzlich Müttern und Vätern mit kleinen Kindern Priorität vor den übrigen Wartenden zu geben? Das wäre eine praktische Anerkennung der sozialer Wertigkeit von Elternschaft, nicht die Einführung von Mutterkreuzen! In dieser Perspektive ist auch der Gedanke französischer Familienpolitiker durchaus konsequent, Eltern gemäß der Zahl ihrer Kinder zusätzliche Wählerstimmen zu geben, auch wenn er wahrscheinlich an juristischen Bedenken scheitert.
Grundgedanke einer familienfreundlichen Politik muß es sein, Familien als autonome Solidargemeinschaften ernst zu nehmen, die durch die von niemandem beabsichtigte, jedoch in ihren Wirkungen offenkundige familiale Rücksichtslosigkeit moderner Lebenszusammenhänge tendenziell überlastet sind. Diese Überlastung wurde bisher vor allem durch die einseitige Konzentration weiblicher Lebenszusammenhänge auf die Familie aufgefangen, zu der jedoch offensichtlich immer weniger Frauen bereit sind. Auch sie klagen für sich die Vorteile einer freieren Lebensgestaltung ein, die den Männern längst selbstverständlich ist. Soll dies jedoch nicht zu Lasten der Attraktivität und sinkenden Leistungsfähigkeit familialer Lebenszusammenhänge gehen, scheinen erhebliche Umorientierungen der Arbeitsverhältnisse wie der Sozialpolitik unverzichtbar.
Kommentar und Replik
Parlamentsreform — eine demokratische Notwendigkeit
Stellungnahmen von Mitgliedern des Deutschen Bundestags zu Eberhard Schütt-Wetschky: „Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse?“ (B 48/87)
Die ausführliche Auseinandersetzung, die Eberhard Schütt-Wetschky in seinem Aufsatz unter der Überschrift „Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse?“ mit dem eindeutigen Akzent auf „Sackgasse“ vorgelegt hat, gibt mir eine gute Gelegenheit zur Entgegnung und zur Erläuterung unserer Vorstellungen. Da mir für beides nur begrenzter Platz zur Verfügung steht, kann dies nur stichwortartig geschehen. 1. Allgemeiner Eindruck Es ist nicht nur mir, sondern auch anderen Kollegen der „Überfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ aufgefallen, daß der Autor gar nicht erst zu ergründen versucht, wo eigentlich die Ursachen für das wachsende Unbehagen von immer mehr Bundestags-Abgeordneten liegen könnten und was sie sich tatsächlich vorgenommen haben. Statt dessen reduziert er seine Beweisführung für unser Vorhaben auf meine persönlichen Erfahrungen mit dem Grundgesetzartikel 38, 1 anläßlich des Mißtrauensantrags gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Herbst 1982 mit der irrigen Folgerung, ich würde mit der Initiative die Rückkehr zu einem „klassisch-altliberalen Parlamentsverständnis" anstreben, mit dem Ziel, wir wollten Parlamentsdebatten und -entscheidungen sozusagen aus den Fraktionsbindungen herauslösen und individualisieren. Das Schreckgespenst eines Parlaments von 518 Einzelkämpfern wird mit Zitatausschnitten auf-und zwischen die Zeilen gemalt, ohne die vorliegenden Anträge, Aussagen und Papiere der Initiative auch nur ansatzweise auszuwerten und in die Betrachtungen mit einzubeziehen.
Am Ende hat man einen Aufsatz gelesen, der sich weder mit den offenkundigen Schwachstellen der parlamentarischen Wirklichkeit in Bonn auseinandersetzt, noch mit den daraus resultierenden „Stoßrichtungen“ unserer Überlegungen, Vorschläge und Ziele. Auch bedaure ich, daß sich Herr Schütt-Wetschky nicht einmal mit uns unterhalten oder an unseren Besprechungen teilgenommen hat (wozu ich ihn und andere interessierte Politik-wissenschaftlerherzlich einlade). Schließlich sollte es ihm doch wenigstens zu denken geben, daß eine immer mehr wachsende Zahl von Bundestagsabgeordneten (zunächst waren es 60, dann 110 und zu Beginn des Jahres 1988 sind es über 180 Abgeordnete des Deutschen Bundestages — mehr als ein Drittel —) unsere Überlegungen und Vorschläge unterstützt, und daß nun auch der Bundestagspräsident eigene Reformvorschläge vorgelegt hat, die in die gleiche Richtung zielen.
Es mag manchem Beobachter zwar zunächst ungewöhnlich erscheinen, daß Anstöße zum Nachdenken über notwendige Reformen nicht von den Fraktionsführungen, also „von oben“, sondern von der Basis des Parlaments kommen, aber ich denke, daß dies kein schlechtes, sondern ein gutes Zeichen für das wachsende Selbstverständnis des Abgeordneten ist, ob und wie er im Spannungsfeld seiner Fraktionsloyalität und des Verfassungsauftrags nach Art. 38, 1 GG seiner Mitverantwortung für beides gerecht werden kann. 2. Worum geht es der „Initiative Parlamentsreform“? Ich möchte einige der gravierendsten Probleme nennen, die nach Einsicht der Mitglieder unserer Initiative die Funktionsfähigkeit und das Ansehen unserer Parlamente im allgemeinen und des Deutschen Bundestages im besonderen einschränken und beeinträchtigen.
Da ist vor allem die unbestrittene Tatsache, daß die Gewaltenteilung in unserer Demokratie und in der derzeitigen Ausprägung des Parlamentarismus nicht ausreichend funktioniert und sich im Gefolge die Gewichte eindeutig zuungunsten der „Ersten Gewalt“ verschoben haben. Das Übergewicht von Regierung und Exekutive ist im parlamentarischen Alltag allgegenwärtig — von der Debattenordnung des Plenums über die äußerst beschränkten Möglichkeiten des Abgeordneten, sein Informationsund Fragerecht wahrzunehmen, bis zu den Ausschußberatungen, bei denen der Abgeordnete — allein auf sich gestellt — Heerscharen von Be-B amten gegenübersitzt. Hinzu kommt, daß der „Vertreter des ganzen Volkes“ bei der Ausübung seiner täglichen Arbeit so vielen Reglementierungen, Restriktionen, Hierarchien und Zwängen unterworfen ist, daß schon von daher eine auch nur einigermaßen selbständige Entfaltung kaum noch möglich ist. (Der Vertust sogenannter „Persönlichkeiten“ unter den Parlamentariern ist die natürliche Folge.)
Und das sind weitere Folgen: Mangels echter Mitwirkungs-und Mitgestaltungsmöglichkeiten verkümmert der ursprünglich mitgebrachte Elan des Abgeordneten, sich wirklich mitverantwortlich für das Ganze zu fühlen. Seine Bereitschaft läßt nach, ohnehin vorgegebene und scheinbar unabänderliche Entscheidungen mit eigenem Nachdenken zu begleiten. Am Ende raubt die „Ich-kann-ja-dochnichts-ändern-Mentalität" dem Parlamentarismus insgesamt die notwendige Spontaneität, Kreativität, Lebendigkeit — und er verliert auch die Sensibilität für die Erwartungen und Anforderungen der Bürger an ihre Volksvertreter. Ein spürbarer Entfremdungsprozeß zwischen Wählern und Gewählten ist die Folge, worunter übrigens die meisten Mitglieder unserer Initiative besonders leiden. Als Einzelner kann man das nicht ändern, und der ohnehin überlastete Wochenarbeitsplan läßt keine Zeit, über Abhilfe nachzudenken. Deshalb versuchen wir es arbeitsteilig in der Gruppe und mit der Gruppe. 3. Ein neues Selbstverständnis für den Verfassungsauftrag Das ist der Hintergrund, der uns in unserer überfraktionellen Initiative zusammengeführt hat, nicht die Suche nach einem theoretischen Modell „altliberalen Parlamentsverständnisses" (wie es Herr Schütt-Wetschky beschwört), sondern das Bewußtwerden der Diskrepanz zwischen dem Anspruch unserer partamentarisch-repräsentativen Demokratie und der Wirklichkeit, die wir als MdB’s vorfinden. Hier, und nur hier, setzt unsere Berufung auf das Verfassungsgebot ein, als Vertreter des ganzen Volkes mitverantwortlich zu sein für das Ansehen der repräsentativen Demokratie. Und deshalb haben wir auch durchgesetzt, daß dieser Auftrag in den Abschnitt unserer Geschäftsordnung, der sich mit den „Rechten und Pflichten der Mitglieder des Bundestages“ beschäftigt, aufgenommen wurde. Wenn es nicht erlaubt oder nicht erwünscht ist oder gar als antiquiert erscheint, sich auf einschlägige Grundgesetzbestimmungen zu berufen und daran das eigene Selbstverständnis zu orientieren, dann sollten wir allerdings ehrlicher-weise diesen Artikel aus dem Grundgesetz streichen.
Nach unserer Einsicht und Erfahrung bedrückt uns gar nicht mehr so sehr der krasse „Fraktionszwang“, das heißt, das mit offenen Sanktionen des Ausschlusses belegte Druckmittel, Abgeordnete zu geschlossenem Abstimmungsverhalten zu veranlassen. Dagegen kann man sich mit ein bißchen Zivilcourage anläßlich von persönlich wichtigen Entscheidungen einigermaßen wehren. Viel schwieriger und mühsamer ist es, als MdB gegen die zunehmende „Verapparatung“ anzukommen. Deshalb fordern wir deutlich mehr Freiräume zur Mitwirkung, Mitgestaltung und Mitverantwortung, um auf diese Weise die Funktionstüchtigkeit des Parlaments und sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu stärken. Und dies vor allem möchte ich deutlich unterstreichen: Die Mitglieder der überfraktionellen Initiative verstehen sich weder als Dissidenten in ihrer Fraktion noch als Einzelkämpfer im Parlament. Wir beabsichtigen keine Rückkehr zum klassisch-altliberalen Parlamentsverständnis, vielmehr versuchen wir zur Fortentwicklung eines funktionsfähigen Parlamentarismus kleine und kleinste Schritte, die übrigens oft gar nicht durch Geschäftsordnungs-Regelungen erfaßt werden können. Es ist uns klar, daß dies nicht mit Anträgen und formalen Geschäftsordnungs-Änderungen allein zu erreichen ist, sondern dadurch, daß möglichst viele Abgeordnete aus allen Fraktionen neben ihren anderen Aufgaben hierzu einen eigenen Beitrag zu leisten bereit sind. 4. Notwendigkeit der Offenheit und Unterstützung Für diesen Prozeß suchen wir Rat, Unterstützung und Begleitung der politischen Wissenschaft. In der Studierstube konstruierte (Vor-) Urteile über unsere Absichten sind uns dabei wenig hilfreich. Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog ist die Offenheit für die tatsächlich vorliegenden Probleme und die komplizierten Verflechtungen der parlamentarischen Wirklichkeit. In diesem Sinne möchte ich, namens unserer Initiative, für eine faire Diskussion und Begleitung unserer Bemühungen durch die Politikwissenschaft plädieren.
Hildegard Hamm-Brücher, Sprecherin der „Überfraktionellen Initiative Pariamentsreform“ Der Beitrag von Eberhard Schütt-Wetschky kann zumindest in einer Hinsicht als nützlich angesehen werden: Er hat innerhalb der „Überfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ einen Prozeß des Nachdenkens über die eigenen Motive und Begründungszusammenhänge angestoßen. Mag der Autor unsere Initiative auch eher als willkommenen Anlaß verstanden haben, seine Vorstellungen des Modells der politischen Gruppe an dem vermeintlichen „klassisch-altliberalen Parlamentsverständnis“ unserer Initiative zu profilieren, so ist er dennoch herzlich zum weiteren Diskurs eingeladen. In der Tat ist dieser Diskurs notwendig, denn wir stimmen zwar in den meisten Forderungen der inzwischen mehr als 180 Abgeordnete umfassenden Initiative überein, keineswegs jedoch in der jeweiligen demokratie-theoretischen Begründung der Forderungen. Außerdem diskutieren wir in einigen Arbeitsgruppen arbeitsteilig weitergehende Überlegungen zur Parlamentsreform.
Es ist zwar sicherlich reizvoll, die Kemforderung des Autors aufzugreifen und zu fragen, wie das Parlament als Forum für die Konkurrenz der „politischen Gruppe Regierungsmehrheit“ mit der „politischen Gruppe Opposition“ gestärkt werden kann. Das machte jedoch zunächst eine Auseinandersetzung darüber erforderlich, ob die phänomenologische Sichtweise des „Gruppentyps“ hingenommen werden kann als Voraussetzung für Parlamentsreform.
Ich hingegen halte für die wesentliche Frage, inwieweit die gegenwärtige parlamentarische Praxis dem im Grundgesetz angelegten demokratischen Willensbildungsprozeß entspricht. Auf Eberhard Schütt-Wetschkys Beitrag bezogen heißt das, ob der von ihm beschriebene Gruppentyp diesem Demokratieanspruch standhält. Ausgangspunkt sind für mich die Artikel 20, 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“; Artikel 21, 1: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“; und Artikel 38, 1: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Bei Schütt-Wetschky wird das Volk allein auf das Machtmonopol der Parteien reduziert, und diese werden durch das Konstrukt des Gruppentyps der Regierungsmehrheit bzw. Opposition völlig ausgesperrt. Beides kann vom Ansatz einer Beteiligungsdemokratie her nicht akzeptiert werden; es ist die Rechtfertigung eines Demokratiemodells, bei dem das Volk auf die Rolle des Zuschauers reduziert wird. Unser Problem ist, daß der politisch-parlamentarische Prozeß in seiner Realität diese Aussperrungstendenz des Volkes — nach dem Grundgesetz des Souveräns — tatsächlich zu belegen scheint. Für das Volk sind die Entscheidungsgänge unsichtbar und undurchsichtig. Vorschläge oder Initiativen aus der Bevölkerung verschwinden hinter den Türen des parlamentarischen Entscheidungsgangs; hinter den Türen und im Parlament selbst laufen Debattenrituale ab, die eher von Politik abschrecken als für Politik interessieren. Gleichzeitig muß der interessierte Bürger zur Kenntnis nehmen, daß seine Initiativen versanden, aber mächtige wirtschaftliche Interessen durchaus Zugang zu den Entscheidungsprozessen finden, die unsichtbar ablaufen. Flick und das Management der Atomindustrie brauchen keine Parlamentsreform.
Das Ergebnis dieser Erfahrungen ist eine zunehmende Entfremdung zwischen dem Volk und den von ihm gewählten Repräsentanten. Diese Abwendung von der Politik und der parlamentarischen Demokratie ist besonders bei der jungen Generation anzutreffen: „Die Politiker“ — da wird zwischen Regierung und Parlament, Regierungspartei und Opposition nicht unterschieden — „machenja doch, was sie wollen“. Verstärkt wird dieser Eindruck besonders durch die parlamentarische Folgenlosigkeit von Massendemonstrationen wie gegen die Raketenstationierung, Atomenergie u. ä. Wir beklagen uns nicht ohne Grund über zurückgehende Wahlbeteiligung und Stagnation der Mitgliederentwicklung in den Parteien, auch hier besonders bei den Jüngeren. Nehmen wir zur Kenntnis, daß gleichzeitig der Anteil der Bevölkerung zunimmt, der sich politisch einmischen will — Bürgerinitiativen, Protestbewegungen, Massenpetitionen, Initiativen zu Volksentscheiden —, so ergibt sich eine Diskrepanz zwischen der Abnahme traditionellen politischen Engagements und der Zunahme des Wunsches, sich punktuell in politische Entscheidungsprozesse einmischen zu wollen.
Diese Entwicklung stellt eine Herausforderung sowohl an die Parteien als auch an das Parlament als Ganzes dar. Für die Parteien heißt das, sich für ihre Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes zu öffnen, also wenn man so will, aus dem Konstrukt der „politischen Gruppe“ auszubrechen. Für das Parlament heißt das, alle Möglichkeiten zu überprüfen, die geeignet sind, das politische Interesse des Volkes auf das von ihm selbst gewählte Organ zu lenken und die Abschottung des Parlaments vom Volke zu überwinden. Als Abgeordneter, der in der Initiative Parla-mentsreform mitarbeitet, weiß ich, daß es für diesen „Demokratisierungsprozeß“ der parlamentarischen Demokratie weitreichende, bislang noch nicht konsensfähige Vorschläge gibt, aber die bisher vorliegenden Vorschläge müßten wohl konsensfähig für das ganze Parlament sein können.
Der am weitesten reichende Vorschlag wäre sicherlich der Ausbau des in Artikel 20, 2 angelegten Weges des Volksentscheids. Diesen Weg zuzulassen hieße für das Parlament, dem Volk zuzutrauen, daß es in bestimmten Fragen selbst initiativ werden und entscheiden kann. Ein Volksabstimmungsgesetz wäre ein bewußter Akt der Mündig-erklärung des Volkes durch das von ihm gewählte Organ. Parlamentsreform als Ansatz zur Beteiligungsdemokratie anzugehen heißt auch, sich mit diesem von immer mehr Bürgern gefordertem Anliegen, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren durch plebiszitäre Elemente zu ergänzen, auseinanderzusetzen.
Daß das Problem der Abschottung von der Initiative gesehen wird, zeigt sich an dem Vorschlag der Initiative an den Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages, eine Anhörung von Wissenschaftlern und engagierten Petenten über die Ausgestaltung des Petitionsrechts in die Wege zu leiten. „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden", heißt es in Artikel 17. Die Zahl der Massenpetitionen mit politischen Forderungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Das signalisiert, daß viele Bürger sich nicht damit zufrieden geben, nur zu den Wahlen um ihre Meinung gefragt zu werden, und das auch nur zu sehr allgemein gehaltenen Wahl-programmen. Sie suchen bei sie besonders betreffenden politischen Fragen die Entscheidung des Bundestages herbeizuführen und erleben, daß hinter den verschlossenen Türen des Petitionsausschusses ein für die Petenten im Entscheidungsgang nicht durchschaubarer Bescheid zustande-gekommen ist. Das Ergebnis sind enttäuschte Erwartungen der Bürger, die den Dialog mit dem Parlament suchen. Die Anhörung soll Wege aufzeigen, wie der Dialog zwischen Bürger und Parlament besser organisiert werden kann. Es ist vorstellbar, daß über Massenpetitionen mit politischen Forderungen direkt im Parlament diskutiert wird, etwa in Form einer ersten Lesung, bevor sie der Petitionsausschuß behandelt. Hier böte sich die von der Initiative Parlamentsreform vorgeschlagene Form der Debatte als offene Aussprache der einzelnen Abgeordneten an.
Ein weiteres Element der Parlamentsreform im Sinne der Öffnung und Durchschaubarkeit der Meinungsbildung könnten Debatten über aktuelle grundsätzliche Probleme sein, zu denen die Fraktions-bzw. Regierungsmeinung noch offen ist. Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß die Plenardebatten von anderen Diskussionen so entlastet werden, daß genügend Zeit zur Verfügung steht. Dazu hat jüngst auch Bundestagspräsident Dr. Jenninger weiterführende Vorschläge gemacht.
Bezieht man in diesem Argumentationszusammenhang den Gehalt des Artikels 38, 1 ein, dann kommt den einzelnen Abgeordneten eine wichtige Rolle in diesem Demokratisierungsprozeß zu. Das hat nichts zu tun mit „klassisch-altliberalem Parlamentsverständnis“, sehr viel dagegen mit der Überwindung der von Schütt-Wetschky als Gruppentyp beschriebenen Abschottungstendenzen der parlamentarischen Demokratie, die Wolf-Dieter Narr dazu bringen, von parlamentarischem Absolutismus zu sprechen. Es kann nicht erwartet werden, daß die Öffnungsprozesse des Parlamentarismus von den Fraktionen und den eigentlichen Nutznießern der Abschottung, den staatlichen Bürokratien und Fraktionsapparaten, ausgehen. Im Gegenteil werden sie in ihrer Verflechtung in die Willensbildungsprozesse der Fraktionen die obersten Bedenkenträger gegenüber Reformvorstellungen zur parlamentarischen Praxis sein. Wer sonst, wenn nicht die Abgeordneten in ihrer Funktion als Vertreter der Interessen des ganzen Volkes können Träger des notwendigen demokratischen Reformprozesses der parlamentarischen Praxis sein?
Horst Peter Ob eine Parlamentsreform, zu der die überfraktionelle Initiative beitragen will, zum Meilenstein in der Parlamentsentwicklung werden oder in einer Sackgasse enden wird, muß sich erst noch erweisen. Daß sich inzwischen eine wachsende Zahl von Abgeordneten an der Initiative beteiligt und der Bundestagspräsident seine Unterstützung zugesagt hat, spricht nicht gerade dafür, daß es sich um ein Sackgassen-Untemehmen handelt.
Schütt-Wetschkys Kritik an der Initiative und ihren Zielen enthält eine Reihe bedenkenswerter Überlegungen und Einsichten. Sie sind auch der Initiative nicht verborgen geblieben. Seine Kritik an der Initiative und die Bewertung ihres Anliegens dagegen beruhen auf einer gründlichen Verkennung dessen, was tatsächlich ansteht. Dies wiederum hat seine Ursache in der Konstruktion einer offenbar als ausschließlich verstandenen Alternative von klassisch-altliberaler Parlamentsvorstellung einerseits und der sogenannten Gruppenstruktur der modernen Parlamente andererseits. Auf den Punkt gebracht, behauptet Schütt-Wetschky, wir hätten nur die Wahl zwischen parlamentarischen Beschlußfassungen im Wege individueller Entscheidungen aller Abgeordneter im Plenum des Bundestages — als dem Ideal der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung — und einem Parlament der Gruppenrepräsentation, wie sie sich in den meisten Parlamenten der westlichen Demokratien entwickelt habe. Da die Initiative die Zwänge ablehne, die mit der Gruppenstruktur für den einzelnen Abgeordneten verbunden seien (Fraktionszwang, einheitliche Abstimmung im Bundestagsplenum etc.), müsse sie sich folglich für ein Parlamentsverständnis einsetzen, das nicht praktikabel sei und sich auch nie habe verwirklichen lassen. Deshalb die Schlußfolgerung, die Initiative befinde sich in der Sackgasse.
Diese mit großem Aufwand konstruierte Alternative ist lebensfremd und unfruchtbar. Sie verkennt das Ziel der Initiative ebenso wie die tatsächlichen Reformbedürfnisse, um die es geht. Dazu nur einige Anmerkungen:
Schütt-Wetschky verweist den Abgeordneten als Ort seiner Mitwirkung am parlamentarischen Willensbildungsprozeß auf seine Fraktion. Dort werde über die Politik inhaltlich entschieden, um deren Durchsetzung im Parlamentsplenum es vermittels der Geschlossenheit der Fraktion dann gehe.
Daß diese Offenheit fraktionsinterner Willensbildung — vor allem im Falle der Regierungsfraktion — nicht immer gewährleistet sein kann, zeigt die Kritik, die das praktische Entscheidungsverfahren bei Gesetzesvorhaben der Regierung kürzlich in der CDU/CSU-Fraktion gefunden hat. In konsequenter Fortführung des von Schütt-Wetschky propagierten Gruppenprinzips hatten die Koalitionsparteien durch ihre Führungen politische Grundsatzentscheidungen beschlossen. Sie fanden ihren Niederschlag in Regierungsvorlagen, für deren Unterstützung sodann die Fraktion in Anspruch genommen wurde. Sieht man es wie Schütt-Wetschky, wonach Partei und Fraktion praktisch eine politische Gruppierung darstellen und der Abgeordnete sein Mandat der Partei verdankt, so wäre gegen ein solches den Repräsentationsauftrag des Abgeordneten zweifach mediatisierendes Verfahren im Prinzip auch nichts einzuwenden. Der Widerstand von Abgeordneten gegen solchermaßen zustandegekommene Entscheidungen im Rahmen der Fraktionsberatung müßte wohl auch als Gefährdung der Geschlossenheit angesehen werden, die die Glaubwürdigkeit der politischen Gruppe beeinträchtigen könnte — zumal Fraktionssitzungen de facto öffentlich einsehbar sind.
Gleichwohl hat die Kritik den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Alfred Dregger, veranlaßt, sich in der Fraktionssitzung vom 2. Februar 1988 zur Arbeitsweise von Bundesregierung und Koalitionsfraktion zu äußern. In seiner auch schriftlich vorliegenden Stellungnahme heißt es, daß die Fraktion das stabilisierende Element der Union und der Koalition sei. Dies bleibe sie auch auf der Grundlage der Loyalität, die auf Gegenseitigkeit beruht, und auf der Grundlage gegenseitiger Fairneß. Dr. Dregger fährt dann fort: „... und zu dieser Fairneß gehört, daß jeder Kollege die Möglichkeit hat, seine Vorstellungen in den politischen Entscheidungsprozeß einzubringen“. Der Vorsitzende hält es für notwendig, zur Sicherung dieses Anspruches eine Reihe von Regeln festzulegen, die den Beratungs-und Entscheidungsprozeß bei Regierungsvorlagen in Zukunft bestimmen sollen. Die Formulierung und Beachtung solcher Regeln ist bereits ein Stück praktischer Parlamentsreform.
Im übrigen besteht zwischen der Offenheit fraktionsintemer Beratungen und den Möglichkeiten individueller Mitentscheidung im Plenum eine gewisse Beziehung. Die Beratungen in der Fraktion und die Bemühungen um einen tragfähigen Konsens innerhalb der politischen Gruppe werden um so ausgeprägter sein, je eher damit zu rechnen ist, daß Abgeordnete ihren eigenen Auffassungen andernfalls im Plenum des Bundestages Ausdruck verleihen könnten. Die individuelle Stellungnahme und Entscheidung des Abgeordneten im Plenum mag regelmäßig wenig praktikabel sein. Sein Anspruch darauf muß jedoch erhalten bleiben. Ihn mit der von Schütt-Wetschky vorgeschlagenen Konstruktion des Plenums als einer Arena der politischen Gruppierungen — die selbst bei annähernd leerem Haus zu 100 Prozent vertreten sind (was im übrigen Beschlußunfähigkeitsregeln zur Farce werden ließe) — abzuschneiden, wäre gleichbeB deutend mit einer nachhaltigen Intensivierung der Grenzen, die der individuellen Mitwirkung des einzelnen Abgeordneten bei der politischen Willensbildung im Parlament ohnehin schon gezogen sind.
Von allen praktischen Verbesserungen derArbeitsbedingungen der Abgeordneten abgesehen, die die Initiative voranbringen möchte, ist auch ihre Forderung, das politische Gewicht des Bundestages zu stärken, berechtigt. Vom Volk, das es repräsentiert, wird das Parlament vor allem nach dem Bild beurteilt, das sich die Bevölkerung von der Arbeit des Plenums machen kann. Gleichgültig, wie man dessen Möglichkeiten rechtlich und praktisch beurteilt: Für die Bürger unseres Landes bleibt das Plenum der eigentliche Ort des politischen Diskurses und der Auseinandersetzung um die Grundlinien der politischen Entwicklung.
Schütt-Wetschky meint nun, im Plenum des Bundestages könne man gar nicht beraten. Plenarberatungen über Sachfragen, die zwischen den Parteien öffentlich umkämpft seien, könne es praktisch nicht geben. Der Begriff Beratung sei deshalb selbst irreführend. Es werde mit ihm verbal etwas vorgetäuscht, was faktisch nicht existiere. Es handle sich wohl um einen „unreflektierten Restbestand" der klassisch-altliberalen Parlaments-theorie, dessen offizielle Aufbewahrung alle diejenigen „in ihrer Auffassung bestärken (muß), die seit eh und je fordern, daß im Bundestag nun endlich wirklich beraten werde oder die... das Fehlen von Beratung im Plenum öffentlich wirksam kritisieren“ (S. 9 seines Aufsatzes).
Im Gegensatz zu Schütt-Wetschky bekenne ich mich ausdrücklich nicht nur zur Möglichkeit einer echten parlamentarischen Beratung, sondern zu ihrer zwingenden Notwendigkeit. Beratung heißt Diskussion mit dem Ziel, auf die Willensbildung inhaltlich Einfluß zu nehmen und sich nicht auf den sogenannten „Schlagabtausch“ zu beschränken. Warum das Plenum eine solche Möglichkeit nicht gewähren können soll, ist unerfindlich. Sie steht nicht im Widerspruch zur Notwendigkeit von Schlußentscheidungen, die durch die jeweilige Regierungsmehrheit getragen werden. Wenn die Abfolge von erster und zweiter Lesung einen Sinn haben soll, dann doch den, in der ersten Lesung die Argumente zu sammeln und auszutauschen, die dann in den Ausschußberatungen behandelt werden und so auch in die abschließende Entscheidung eingehen können. Daß es in diesem Prozeß keine Plenumsberatungen geben könne -wie Schütt-Wetschky meint —, ist falsch. Die Geschichte des Bundestages liefert zahlreiche, zum Teil eindrucksvolle Beispiele für das Gegenteil. Die Erhaltung und Stärkung der Tradition, die in ihnen zum Ausdruck kommt, ist unerläßlich.
Alle sind sich einig, daß wir in einer Umbruchsituation leben. Für sie ist kennzeichnend, daß vieles gestaltet werden muß, was neu ist und für dessen Gestaltung es deshalb an historischen Vorbildern oder erprobter Erfahrung fehlt. Umso notwendiger ist es, alle Fähigkeiten zur Innovation voll auszuschöpfen, die uns zur Verfügung stehen. Daß sich in der jeweiligen Suche nach brauchbaren und langfristig tragfähigen Antworten auch Mehrheit und Opposition durch Argumente befruchten und befördern können, ist offensichtlich. Unser aller Verantwortung für möglichst zukunftsfähige Antworten gebietet es, daß wir einer solchen gegenseitigen Beförderung zumindest eine Chance geben. Kein Ort ist dafür besser geeignet — und zugleich wirksamer — als das Plenum des Bundestages. Offene Diskussion in der ersten Lesung gefährdet weder Geschlossenheit noch notwendige Regierungsmehrheiten. Das gleiche gilt für Aussprachen über Berichte der Regierung zu großen Anfragen oder in Erfüllung von Berichtspflichten. Dem Bürger bieten sie Einblick in den Diskussionsstand, den sogenannten Argumentationshaushalt. Dem Abgeordneten verschaffen sie die Chance, seinen individuellen Beitrag zu Fragen zu leisten, die ihm wichtig sind. Insgesamt bereichern sie den politischen Diskurs.
Zusammenfassend: Die Konfrontation sich ausschließender Dogmen, mit der Schütt-Wetschky der „Initiative Parlamentsreform“ die Basis entziehen will, ist unfruchtbar und unpolitisch. Weder der von ihm behauptete Gegensatz zwischen Dogma und Praxis noch seine Alternativen werden der Wirklichkeit gerecht. Tatsächlich ist Reform ein Dauerauftrag. Er vollzieht sich in großen und kleinen Schritten. Auch die kleinen Schritte sind wichtig. Immer geht es um die Lebendigkeit und Funktionsfähigkeit der Gewaltenteilung und damit um Machtfragen. Kein Parlament kann sich damit zufriedengeben, daß es nur rechtlich gesehen die erste der drei Gewalten ist. Diese Stellung muß stets neu mit Leben erfüllt werden. Darum geht es letztlich bei der Initiative. Um mit Ortega Y Gasset zu sprechen, der im Zusammenhang mit der Parlamentsreform feststellt: „Was kann man aber besseres von einer Sache sagen, als daß sie reform-bedürftig, das heißt unentbehrlich und zu neuem Leben fähig ist?“
Kurt H. Biedenkopf Die „Überfraktionelle Initiative Parlamentsreform“ hat ein doppeltes Reformziel: die Aufwertung der Abgeordneten und die Aufwertung des Parlaments. Anlaß ist die persönlich erfahrene Einflußlosigkeit als Bundestagsabgeordneter. Diese Ohnmacht wird wegen der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundestages, des hohen Sozialprestiges sowie der besonderen Alimentierung des MdB als schmerzlich empfunden. 1. Die Abgeordneten Schütt-Wetschky meint in seinem Aufsatz, die einzelnen Abgeordneten hätten die Möglichkeit, innerhalb ihrer Fraktion jenen Einfluß auszuüben, der ihnen im Gesamt-Parlament verwehrt wird. Meint der Autor tatsächlich, die Abgeordneten hätten in der Fixierung auf ihr „klassisch-altliberales“ Parlamentsverständnis politischen Einfluß innerhalb der Fraktionen verschenkt? Die Unzufriedenheit unter den Mitgliedern aller Fraktionen, die sich nicht zuletzt in dem wachsenden Zuspruch zur „HammBrücher-Initiative“ zeigt, ist ja gerade ein Beleg für die — zumindest subjektiv empfundene — Einflußlosigkeit innerhalb ihrer Fraktionen. Die Klagen über die Fraktionshierarchien und den folgenlosen Protest hinter verschlossenen Türen — nur die Fraktion DIE GRÜNEN tagt öffentlich — lassen vermuten, daß die Einwirkungschancen für den einzelnen Mandatsträger in Fraktion und Plenum ähnlich gering sind. Die Koalitionsfraktionen sind Disziplinierungsinstanzen zur Regierungsunterstützung; die Opposition zeigt ein vergleichbares Verhalten, um ihre Regierungsfähigkeit nicht in Zweifel ziehen zu lassen.
Das erste Jahr der 11. Wahlperiode hat zahlreiche Beispiele dafür geliefert, daß zuvor außerhalb des Parlaments geäußerte abweichende Meinungen durch die Gruppenstruktur des Parlaments eliminiert werden. Mit gemeinsamen Entschließungsanträgen der Koalitionsfraktionen wurden wiederholt Einheitsmeinungen herbeigeführt (Verzicht auf Pershing 1A, Südafrikareise von Franz Josef Strauß). Die Bereitschaft, gegen die persönliche Position und für die Regierung zu stimmen, wird mit Beförderung in der Fraktion bzw. mit der Aufnahme in die Regierung honoriert.
Wer wie Schütt-Wetschky diese Realität als unabänderlich oder sogar als adäquate Erscheinungsform des Parlamentarismus versteht, verlangt einen Abgeordneten, der nur in zwei Fällen eine wichtige Entscheidung treffen kann: bei der Kanzlerwahl und bei einem konstruktiven Mißtrauensvotum. Alle übrigen Abstimmungen sind von formaler und symbolischer Bedeutung. 2. Der Bundestag Mit seiner wichtigsten Aufgabe, der Regierungsbestellung, entmannt sich der Bundestag. Materieller Träger von Staatsgewalt ist er eigentlich nur in der kurzen Zeitspanne zwischen seiner Konstituierung und der Wahl des Bundeskanzlers. Anschließend ist er jenen Scheinparlamenten nicht unähnlich, in denen die Parlamentarier nur „die Begleitung zu der Musik spielen dürfen, die von der Regierung gemacht wird“ (Karl Loewenstein).
Der Bundestag kann seinen Anspruch, die Volksvertretung zu sein, nicht länger aufrecht erhalten, weil er aus mehreren Gründen nur noch Wahlmänner/-frauengremium und Unterstützungsinstanz des Bundeskanzlers ist. Diese Einschätzung wird beim Blick auf die anderen Funktionen bestätigt. a) Kontrollfunktion Die Kontrolle der Regierung kann nur die Opposition leisten, die diese Aufgabe gegen die Parlamentsmehrheit wahmehmen muß. Ihre Kontrollkapazität ist im Vergleich zu den gewaltigen finanziellen und personellen Möglichkeiten der Massenmedien gering. Skandale werden durch die Medien öffentlich, das Parlament kann sie etwa durch Untersuchungsausschüsse nachbereiten.
Das Fragerecht von Journalisten ist ungleich ergiebiger als das institutionalisierte Fragerecht der Abgeordneten, weil die Regierenden selbstverständlich den Unmut der Pressevertreter mehr fürchten als den der Volksvertreter. Die Arroganz der Regierungsvertreter gegenüber Anfragen von Abgeordneten und Fraktionen entspricht dem Machtgefälle von Regierung zu Parlament. Informationen der Bundesregierung auch in nichtöffentlichen Sitzungen der Ausschüsse sind nicht selten falsch (z. B. Zahlenangaben über die „Nachrüstung“) oder sind selbst bei Klassifizierung als Verschluß-Sache häufig am Folgetag in der Presse zu lesen. b) Fommsfunktion Um diese Aufgabe bemüht sich das Parlament redlich, obwohl alle Beteiligten wissen, daß die Debatte umso folgenloser bleibt, je wichtiger der Gegenstand ist. Aber mit langen „Redeschlachten“ läßt sich die Illusion von der „ersten Gewalt" nähren. Doch im Wettbewerb mit den elektronischen Medien ist die Parlamentsdebatte ohne Chance. Femsehstatements, TV-Diskussionen, ja selbst die Bundespressekonferenz bieten eine Fülle von Möglichkeiten der verzugslosen Berichterstattung und Kommentierung, während der Bundestag mit seinem starren Sitzungsrhythmus allenfalls zufällig aktuell sein kann. Das Gedränge um die Redezeit bei TV-Übertragungen von Bundestagssitzungen gibt einen Hinweis auf die Bedeutung des Plenarsaales als Fernsehstudio. c) Gesetzgebungsfunktion Da die Initiative einer Partei stets als Niederlage der anderen verstanden wird, ist fraktionsübergreifendes Handeln nur bei peripheren Themen möglich (Tibet-Resolution). Im Gesetzgebungsverfahren sind Abweichungen von den Regierungsentwürfen unerheblich. Das politische Kräftespiel um die großen Reformvorhaben (Krankenversicherung, Agrarmarkt, Stahlkrise oder Rentenversicherung) findet weitgehend außerhalb des Bundestages statt. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren erinnert an eine notarielle Beurkundung, weniger an die aktive Gestaltung. 3. Funktionswandel der Parlamentarier Die Ohnmacht der Parlamentarier ist eine Funktion der Ohnmacht des Parlaments. Keine Parlamentsreform kann den Bundestag zu einem Gegengewicht zur Bundesregierung aufwerten. Dies wäre wohl nur bei direkter Wahl von Parlament und Kanzler möglich. Erst dann wären Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit Mitgliedern des amerikanischen Kongresses vergleichbar. Da aber eine solch tiefgreifende Umgestaltung des Regierungssystems ausgeschlossen erscheint, läuft der Reformversuch der „Überfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ auf den Versuch hinaus, die Mitglieder eines prinzipiell ohnmächtigen Gremiums aufzuwerten.
Dazu bedarf es einer Revitalisierung der personalen Komponente des Artikel 38 GG. Nicht Partei-und Verbandsfunktionäre und auch nicht in Hierarchien sozialisierte Beamte sollen „Vertreter des ganzen Volkes“ sein, sondern mutige Vor-und Querdenker, Intellektuelle, unabhängige Persönlichkeiten. Sie müssen Seismographen des Bewußtseinswandels in der Gesellschaft sein und als kompetente und glaubhafte Anwälte der Menschen gegenüber der Regierung und ökonomischen Mächten wirken. Ihr Arbeitsplatz sollte an der gesellschaftlichen Basis und im Parlament gleichermaßen sein. Durch eine gründliche Reform des parlamentarischen Prozesses — insbesondere durch Privilegierung der Opposition und Stärkung der Minderheitsrechte — können Abgeordnete mit diesen Voraussetzungen zu einer selbstbewußten Wahrnehmung ihres Mandats ermutigt und neue Persönlichkeiten für eine Tätigkeit im Parlament interessiert werden. Wenn es in der Bevölkerung einen Bedarf an unabhängigen Köpfen gibt, dann wird der Wähler jene Partei begünstigen, die ihm ein solches Angebot macht. Dann besteht eine Chance der personellen Erneuerung des Parlaments, in dem dann auch Mehrheiten gegen die Regierung möglich sind, ohne daß sie sogleich als Rücktrittsforderungen gewertet werden.
Es besteht die Gefahr, daß die Demokratie in der Bundesrepublik in eine ernste Krise gerät, wenn die gutgläubige Bevölkerung nach 40 Jahren realisiert, daß sie nicht in einer parlamentarischen Demokratie, sondern in einer Femseh-und Kanzler-demokratie lebt und die von ihr in den Bundestag gewählten Vertreter ohnmächtiger sind als der Chefredakteur einer mittleren Tageszeitung. Dann wird die massive Forderung nach einer direkten Beteiligung der Bevölkerung durch Volksbegehren und Volksentscheid nicht mehr mit dem Hinweis auf das Repräsentationsprinzip abgewehrt werden können — weil genau diese Repräsentation des Bevölkerungswillens in seiner Vielfalt im Bundestag vermutlich auch nach einer Parlamentsreform nicht stattfinden wird.
Alfred Mechtersheimer
Replik: Zu den Erwiderungen auf meinen Aufsatz „Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse?“
1. Ausgangspositionen „Wir wollen miteinander reden“. So Frau Hamm-Brücher in der Geschäftsordnungsdebatte, die der Diskussion über politische Bildung am 21. Januar 1988 voranging; sie hatte zusätzliche Redezeit für „freie“ Wortmeldungen beantragt. Miteinander zu reden ist in der Tat unverzichtbar. In diesem Sinne begrüße ich die Antworten auf meinen Aufsatz in dem Heft B 48/87 dieser Zeitschrift. Enttäuschend ist allerdings, daß Frau Hamm-Brücher, deren Schriften und Reden zur Bundestagsreform im Zentrum des Aufsatzes stehen, nicht konkret auf meine Thesen und Argumente eingegangen ist, sondern lediglich Pauschalkritik vorträgt — trotz ihres ständigen Credo, miteinander reden zu wollen.
Unzutreffend ist die Behauptung von Kurt Biedenkopf, ich wolle „der Initiative Parlamentsreform die Basis entziehen“ — nicht der Initiative, sondern dem unrealistischen Teil ihrer Forderungen. Unzutreffend ist auch Biedenkopfs Aussage, daß „der Bundestagspräsident seine Unterstützung zugesagt hat“. Tatsächlich unterstützt der Präsident allein den realistischen Teil. Dies zeigen die Vorschläge, die er im September 1987 dem Ältesten-rat zugeleitet hat. Gerade weil bestimmte Reformen wichtig sind, kommt es darauf an, zu differenzieren zwischen Unrealistischem oder Illusionärem einerseits, Notwendigem und Realisierbarem andererseits. Hierzu beizutragen ist das Anliegen meines Aufsatzes. Anlaß war die Ergänzung der Bundestags-Geschäftsordnung im Dezember 1986, von Frau Hamm-Brücher gepriesen als „Meilenstein auf dem Wege zu einer Parlamentsreform“. Tatsächlich jedoch führt die mit jener Änderung verbundene Zielvorstellung — das klassisch-altliberale Leitbild — in eine Sackgasse. 2. Bundestags-Geschäftsordnung und klassisch-altliberales Leitbild Jene Ergänzung der Geschäftsordnung stellt ein merkwürdiges Gemisch von „Meilenstein“, also (vermeintlichem) Fortschritt einerseits, und Belanglosigkeit andererseits, dar. Positiv-rechtlich gesehen hatte der Bundestag nichts anderes getan, als in seine Geschäftsordnung eine Bestimmung aufzunehmen, die schon im Grundgesetz steht und deshalb keiner weiteren Bekräftigung bedurft hätte: das Recht der Abgeordneten auf freie Ausübung ihres Mandates (Art. 38, 1, 2 GG). Die Besonderheit der Ergänzung besteht darin, daß man nicht die seit 1949 geltende Formulierung übernommen hat („an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“), sondern die Formulierung aus einem Vorentwurf des Parlamentarischen Rates, die soge-nannte Langfassung: „Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“ Die Berichterstatter des zuständigen Ausschusses haben zu diesem Satz festgestellt, daß er „das Recht der Mitglieder des Bundestages auf freie Mandatsausübung hervorhebt“ (Drs. 10/6688, S. 6). Das ist korrekt formuliert. Die Berichterstatter hätten auch deutlicher werden können: „Uebe Kolleginnen und Kollegen, auf Wunsch der Initiative Parlamentsreform soll nun eine Ergänzung der Geschäftsordnung beschlossen werden, die an sich überflüssig ist. Denn das Recht auf freie Mandatsausübung steht schon seit 37 Jahren im Grundgesetz ...“
Warum hat die Sprecherin der Initiative die Aufnahme der Langfassung in die Geschäftsordnung dennoch als „Meilenstein“ gefeiert? Weil es ihr entscheidend nicht um das Recht auf freie Mandats-ausübung als solches ging, sondern um eine bestimmte Art und Weise des Plenarverhaltens. Die Aussage, daß jeder Abgeordnete „bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen" folgt oder folgen sollte, war vom Parlamentarischen Rat im klassisch-altliberalen Sinne gemeint. Grundsätzlich sollten alle Abgeordneten im Plenum miteinander beraten und während der Beratung sowie in der Schlußabstimmung allein ihre persönliche Auffassung zum Ausdruck bringen. Die Praxis dagegen ist gekennzeichnet durch das Phänomen der Fraktionsdisziplin. Die Abgeordneten sprechen und votieren zwar ebenfalls gemäß ihrer persönlichen Auffassung; aber diese persönliche Auffassung ist wesentlich geprägt durch die Einsicht, daß dauerhafter politischer Erfolg nur möglich ist in und durch eine Fraktion und Partei. Deshalb rauft man sich fraktionsintern zusammen (in der Regel auf einer Kompromißlinie), um dann im Plenum geschlossen auftreten zu können. Die Verwirklichung des klassisch-altliberalen Leitbildes wird damit unmöglich. Beratung und individuelle (von den Fraktionen unabhängige) Entscheidung im Plenum einerseits, Fraktionsdisziplin andererseits schließen sich aus. Man kann nicht beides zugleich haben.
Die klassisch-altliberale Intention des Parlamentarischen Rates kommt in der Langfassung des Artikel 38, 1, 2 deutlicher zum Ausdruck als in der kürzeren Formulierung, die 1949 beschlossen wurde. Insofern ist es verständlich, daß Frau Hamm-Brücher die Aufnahme der Langfassung in die Geschäftsordnung als „Meilenstein" begrüßte. Mehr als drei Jahre lang war sie für mehr „Freiheit“ der Abgeordneten im klassisch-altliberalen Sinne eingetreten. Offenbar glaubte sie, daß dies nun endlich für alle verbindlich vorgeschrieben würde. Faktisch jedoch hat sich die Plenarpraxis nicht geändert.
Was antwortet Frau Hamm-Brücher auf meine These, daß die Orientierung am klassisch-altliberalen Leitbild weder funktional notwendig noch realisierbar ist und deshalb in eine Sackgasse führt? In der Sache nichts. Statt dessen vollzieht sie — jedenfalls verbal — eine Kehrtwendung. Sie behauptet, ich sei zu der „irrigen Folgerung“ gekommen, sie „würde mit der Initiative die Rückkehr zu einem , klassisch-altliberalen Parlamentsverständnis’ anstreben mit dem Ziel, wir wollten Parlamentsdebatten und -entscheidungen sozusagen aus den Fraktionsbindungen herauslösen und individualisieren“. Doch, genau dies hat sie angestrebt. Aufgrund ihrer Schriften und Reden von 1983 bis 1986 habe ich das im Aufsatz dargelegt. Zugegeben, sie hat es nicht so klar gefordert, wie ich es formuliert habe. Stellenweise war Interpretation erforderlich. Ist die Interpretation an irgendeiner Stelle fehlerhaft? Habe ich die Autorin falsch zitiert? Hierzu von ihr kein einziger konkreter Hinweis. Geradezu merkwürdig aber wirkt das Bestreiten des klassisch-altliberalen Leitbildes angesichts ihrer Plenarrede im Dezember 1986. Warum sonst sollte die Übernahme der Langfassung in die Geschäftsordnung ein „Meilenstein“ sein, wenn nicht im Interesse von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum? 3. Beraten -Miteinanderreden Im Gegensatz zu Hildegard Hamm-Brücher bekennt sich Kurt Biedenkopf ausdrücklich zu Beratung im Plenum. Er geht jedoch von einem verkürzten Beratungsbegriff aus. Für ihn ist Beratung „Diskussion mit dem Ziel, auf die Willensbildung inhaltlich Einfluß zu nehmen und sich nicht auf den soge-nannten Schlagabtausch zu beschränken“.
Beratung im allgemeinen Sprachgebrauch und im bis heute üblichen Sinne des Wortes bedeutet mehr. Sie ist nicht nur Austausch von Argumenten mit dem Ziel, die Willensbildung inhaltlich zu beeinflussen; dies ist selbstverständlich auch im Plenum möglich. Wirkliche Beratung erfordert nicht nur Einflußnahme, sondern auch und vor allem die Bereitschaft der Adressaten der Einflußnahme, gegebenenfalls — wenn Kollegen überzeugendere Argumente vortragen — die eigene Meinung spontan zu ändern und dies auch sichtbar werden zu lassen, zum Beispiel durch ein entsprechendes Votum. Beratung im echten Sinne des Wortes ist nicht nur gemeinsames Erstellen des „Argumentationshaushaltes“, sondern wirkliches Aufeinander-hören, bedeutet nicht nur Rat aussprechen, sondern auch zur sofortigen Annahme von Rat bereit sein. Dies ist gemeint, wenn man zum Beispiel sagt, ein Gericht ziehe sich zur Beratung zurück.
Warum ist es unrealistisch, Beratung für Plenardebatten anzustreben, in denen öffentlich umstrittene Sachfragen zur Diskussion stehen? Weil derartige Debatten politischer Kampf sind. Auf die historische Perspektive habe ich im Aufsatz hingewiesen. Kann man sich ernsthaft vorstellen, daß zum Beispiel der Abgeordnete Dr. Vogel bestimmte Argumente gegen einen Gesetzentwurf der Regierung vorträgt und dann der Abgeordnete Dr. Kohl erwidert: „Ach ja, Herr Kollege, das leuchtet mir ein, Sie haben recht, das haben wir bisher falsch. gesehen ...“? Alle Erfahrung zeigt, daß Beratung nicht in öffentlichen Auseinandersetzungen zu realisieren ist. Das Bestreben, gegenüber dem politischen Gegner „Punkte zu sammeln“, erlaubt keinen „Gesichtsverlust“. Mit gutem Grund plädieren erfahrene Bundestagsabgeordnete nachdrücklich gegen jede nicht unbedingt erforderliche Ausweitung der Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen. Öffentlicher Kampf und Beratung schließen sich gegenseitig aus.
Verzicht auf Beratung im Plenum heißt jedoch nicht, daß man auf Miteinanderreden verzichten müßte. Im Gegenteil. Das öffentliche Miteinander-reden der Abgeordneten sollte sich aber nicht orientieren am Modell des vertraulich beratenden Richterkollegiums, sondern am Modell einer fair geführten Podiumsdiskussion. Hierzu gehört, daß man nicht Monologe hält oder den Kontrahenten persönlich herabsetzt, sondern mit Sachgründen argumentiert. Miteinander reden im Sinne von aufeinander eingehen dürfte das aussichtsreichste Mittel sein, um das Ansehen des Bundestages zu heben. Die Redner sollten deshalb davon ablassen, sich an vorher ausgearbeiteten Texten festzuhalten — im Interesse lebendigerer Debatten. 4. Stärkung des „politischen Gewichtes“ des Bundestages?
Kurt Biedenkopf bekräftigt die Forderung der Initiative, „das politische Gewicht des Bundestages zu stärken“. Was heißt das konkret?
Die bisherige Diskussion sowie die beiden Erwiderungen von Kurt Biedenkopf und Alfred Mechtersheimer enthalten hauptsächlich zwei Zielvorstellungen. (Horst Peter plädiert für Parlamentsreform durch Einführung plebiszitärer Elemente im Sinne einer „Beteiligungsdemokratie“. Ob hierdurch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mehr Beteiligung möglich würde, erscheint sehr fraglich, ganz abgesehen von weiteren Bedenken, die jedoch wegen des begrenzten Platzes hier nicht erörtert werden können.) Erstens: Stärkung des Bundestages als Forum der Debatte, im Sinne einer Arena politischer Gruppen; zweitens: Stärkung des Bundestages als „erste Gewalt“.
Die Verwirklichung des ersten Zieles — Stärkung des „politischen Gewichtes" durch Stärkung der Forumsfunktion — ist notwendig und praktikabel. Auf meine These vom Plenum als Arena politischer Gruppen erwidert Biedenkopf, dem einzelnen Abgeordneten müsse sein „Anspruch“ auf „individuelle Stellungnahme und Entscheidung“ im Plenum erhalten bleiben. Selbstverständlich! Im Aufsatz wende ich mich ausdrücklich nicht gegen die Gewährleistung des freien Mandates durch Artikel 38, 1, 2 GG, sondern gegen die klassisch-altliberale Interpretation dieser Norm. Meine These vom Plenum als Arena politischer Gruppen bezieht sich nicht auf die staatsrechtlich normierten Ansprüche des einzelnen Abgeordneten, sondern auf die in der Regel praktizierte und zu befürwortende Struktur des politischen Prozesses in öffentlichen Auseinandersetzungen. Wenn Biedenkopf gegen diese These ferner einwendet, daß sie die „Beschlußunfähigkeitsregeln zur Farce“ werden lasse, so übersieht er, daß diese Regeln auch schon heute meistens „Farce“ sind. Meine These bedeutet insoweit nichts anderes als die Rechtfertigung der bereits üblichen Praxis. Die Empfehlung der Enquete-Kommission Verfassungsreform, wegen der ständigen Kritik am leeren Plenum die Beschlußfähigkeit von Amts wegen vor einer Schlußabstimmung festzustellen und dadurch das Plenum mindestens zur Hälfte zu füllen, hat der Bundestag mit guten Gründen nicht verwirklicht. Die für das jeweilige Plenarthema nicht zuständigen Abgeordneten haben Wichtigeres zu tun, als ihre Zeit im Plenum als Politstatisten abzusitzen.
Die zweite Zielvorstellung dagegen — Stärkung des „politischen Gewichtes“ des Bundestages als „erste Gewalt“ — ist unrealistisch. Sie beruht auf der These, daß die „Exekutive“ die „Legislative“ entmachtet habe, daß — in der Formulierung von Mechtersheimer — der Bundestag gegenüber dem Bundeskanzler ein „prinzipiell ohnmächtiges Gremium“ sei. Nein, prinzipiell ist es umgekehrt. Prinzipiell liegt die Macht nicht beim Bundeskanzler, sondern beim Bundestag, genauer, bei der Bundestagsmehrheit, auch wenn dies für den Außenstehenden oft nur schwer erkennbar ist. Das jüngste Beispiel — die Regierungsmehrheit rückt faktisch vor dem Kabinettsbeschluß ab, die bisherige Vorruhestandsregelung auslaufen zu lassen — ist nur der letzte in einer langen Reihe ähnlicher Fälle. Wenn dies nicht häufiger geschieht, dann einfach deshalb, weil Minister meistens geschickt genug sind, sich der Zustimmung der Parlamentsmehrheit rechtzeitig vorher zu versichern, bevor es zum Kabinettsbeschluß kommt.
Die Regierung ist praktisch nichts anderes als der Obervorstand der Regierungsfraktion(en). Wie jeder andere demokratische Vorstand auch ist er an die Zustimmung seiner Basis gebunden. Jeder Gesetzesbeschluß der Regierung steht unter dem Vorbehalt, daß die Parlamentsmehrheit zustimmt. Ohne die Unterstützung seiner Fraktionfen) wäre der Bundeskanzler ein armes Kerlchen — trotz Artikel 65 GG (Richtlinienkompetenz). Erfahrene und selbstbewußte Abgeordnete wissen das.
Wenn Mechtersheimer die „persönlich erfahrene Einflußlosigkeit als Bundestagsabgeordneter“ feststellt, so ist dies punktuell — bezogen auf ihn als Oppositionsabgeordneten in der einzelnen Plenarsitzung — natürlich richtig. Oppositionsfraktionen sind nun einmal Minderheit und nicht Mehrheit. Die demokratische Mehrheitsregel erlaubt es, daß die Mehrheit allein entscheiden kann, solange sie nach außen geschlossen auftritt, also als politische Gruppe agiert. Wenn Mechtersheimer die eigene „Ohnmacht“ hochstilisiert zur Ohnmacht „des Bundestages“, dann ist dies nicht begründet.
Hinsichtlich der „Macht“ des Bundestages besteht kein Bedarf, sein „politisches Gewicht“ zu erhöhen, ganz abgesehen von funktionalen Bedenken. Die Forderung, den Bundestag als „Legislative“ gegenüber der „Exekutive“ zu stärken, beinhaltet noch ein zweites Element: Der Bundestag soll als „Einheit", als Gesamtparlament gegenüber der Regierung handeln. Auch diese Zielvorstellung ist unrealistisch. Auf ihren klassisch-altliberalen Hintergrund kann ich im Rahmen dieser Replik nicht eingehen (hierzu mein Buch „Grundtypen parlamentarischer Demokratie“, Freiburg-München 1984). Sie ignoriert den Kampfcharakter öffentlicher Debatten. Man mag noch so sehr die „Einheit“ des Parlaments propagieren — wenn eine Oppositionspartei zum Angriff bläst, etwa indem sie eine „Aktuelle Stunde“ beantragt, dann treten eben doch wieder Parlamentsmehrheit und Regierung nach außen geschlossen auf, handeln als eine politische Gruppe, so daß sich faktisch — im politischen Prozeß — nicht Parlament und Regierung gegenüberstehen, sondern Regierungsmehrheit und Opposition. Ein praktikabler Vorschlag, der geeignet wäre, diesen Mechanismus zu durchbrechen, ist nicht in Sicht, trotz der seit Jahrzehnten, zuletzt auch von Frau Hamm-Brücher vertretenen und allein aus klassisch-altliberaler Sicht gerechtfertigten These von der „Krise des Parlamentarismus“. 5. Welchen Typ parlamentarischer Demokratie wollen wir?
Die Initiative Parlamentsreform hat mindestens ein Verdienst: eine Diskussion über Grundfragen unseres parlamentarischen Regierungssystems veranlaßt zu haben. Die vier Erwiderungen und meine Replik belegen, wie notwendig diese Diskussion ist. Die ständige Kritik vieler Bürger am Bundestag zeigt außerdem, daß die Diskussion nicht auf die unmittelbar beteiligten Abgeordneten und Wissenschaftler beschränkt bleiben sollte. Die interessierte Öffentlichkeit gehört dazu. Auch die politische Bildung ist gefordert.
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