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Unterschätzte Funktionen der Familie | APuZ 13/1988 | bpb.de

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APuZ 13/1988 Artikel 1 Ehe und Familie in der modernen Gesellschaft Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen Unterschätzte Funktionen der Familie Sozialpolitik und Familie

Unterschätzte Funktionen der Familie

Renate Köcher

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Allgemein besteht Konsens darüber, daß die Familie einen großen Teil ihrer ursprünglichen Funktionen an den Staat oder an spezialisierte Dienstleistungsbereiche abgegeben hat. Die Familie hat sich durch diesen Prozeß selber auf die Befriedigung emotionaler und kommunikativer Bedürfnisse und auf das Angebot von Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Mitglieder spezialisiert. Die Bevölkerung selbst definiert heute den Nutzen von Familie weitgehend unter dem Gesichtspunkt dieser personalen Funktionen. Untersuchungen legen nahe, daß die Spezialisierung der Familie heute überbetont wird und wichtige Funktionen unterbewertet werden. Dies gilt zum einen für die Bedeutung der Familie als soziales Netz und zum anderen für die Familie als Institution für Wertevermittlung. In den Familien werden beträchtliche Unterstützungsleistungen für ältere und jüngere Familienmitglieder erbracht, speziell auch für die Absicherung und Pflege älterer Menschen. Angesichts der demographischen Veränderungen der Gesellschaft wird diese Funktion der Familie in Zukunft an Bedeutung gewinnen; allerdings wird der erhöhte Bedarf an derartigen Unterstützungsleistungen auf Familien zukommen, die dazu weniger als früher in der Lage sind. Schwierigkeiten, ihre Aufgaben zu erfüllen, sind auch bei der Wertevermittlung der Familien feststellbar. Die Familie ist unverändert die wichtigste Instanz für die Vermittlung von Wertvorstellungen. Bei Eltern ist jedoch eine auffällige Scheu festzustellen, weltanschauliche Inhalte in die Erziehung zu integrieren. Mit dieser Scheu korrespondiert ein im internationalen Vergleich überdurchschnittlicher weltanschaulicher Dissens in deutschen Familien, sowohl zwischen den Generationen als auch innerhalb einer Generation.

Die moderne Familie hat viele Funktionen eingebüßt oder zumindest teilweise abgegeben, die sie ursprünglich weitgehend alleinverantwortlich bewältigte. Die gewerbliche Produktion ist weitgehend der Familie ausgegliedert; die soziale Absicherung haben staatliche Einrichtungen und Solidargemeinschaften übernommen; für Ausbildung und Betreuung sind spezialisierte teils staatliche, teils private Dienstleistungsbereiche zuständig. Wenn heute die erhöhte Labilität der Familien beklagt wird, wird oft übersehen, daß dies unter anderem eine Folge verringerter Abhängigkeit ist. Die existenzielle Abhängigkeit der einzelnen Mitglieder einer Familie von der Beständigkeit des Familien-verbandes, von seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft hat sich verringert. „Die Verkleinerung der Familien und ihre erhöhte Labilität spiegeln teilweise lediglich die Entlastung von Aufgaben, deren befriedigende Erfüllung zwingend große und stabile Familien erforderte.“

Tabelle 3: Unterstützung durch die Elterngeneration

Durch die (partielle) Übernahme vieler Funktionen der Familie durch den Staat und spezialisierte Dienstleistungsbereiche konzentriert sich der Nutzen der Familie für die einzelnen Mitglieder heute auf ihre „Personalitätsfunktionen“, das heißt, die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse und die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung, während die Bedeutung der materiellen Absicherung zurückgetreten ist.

4: Betreuung älterer Angehöriger

Die subjektive Definition des Nutzens von Familie, den die Bevölkerung vornimmt, zeigt, wieweit die Verlagerung auf die Personalitätsfunktionen fortgeschritten ist. Die Bedeutung der Familie für die eigene Existenz wird in erster Linie über die Geborgenheit in einer Gruppe von Menschen definiert, die von Vertrauen. Liebe und Verständnis geprägt ist.dem einzelnen Entfaltungsspielraum läßt und Identifikationsmöglichkeiten bietet. Der Aspekt materieller Versorgung und die Sicherheit, in materiellen Notlagen durch den Familienverband aufgefangen zu werden, nehmen dagegen in den Gratifikationen der Familie für die einzelnen Mitglieder nur eine untergeordnete Rolle ein. Zwar steht das Bewußtsein, in einer Gruppe von Menschen zu leben. die sich gegenseitig helfen, an der Spitze des subjektiven Nutzens der Familie; die Solidarität wird jedoch in erster Linie immateriell interpretiert und nicht in Form von materieller Unterstützung erwartet

Tabelle 5: Im Pflegefall besser Betreuung in der Familie oder im Pflegeheim?

Die Verlagerung auf die Personalitätsfunktionen der Familie wird häufig als Freisetzung der Familie für ihre eigentliche Aufgabe bewertet, den „Aufbau der sozial-kulturellen Funktion des Menschen“ Der Funktionsverlust der Familie hat die Attraktivität der Familie keineswegs vermindert. Der wachsende Anteil der Bevölkerung, der keine Ehe eingeht, die zunehmende Zahl der Einpersonenhaushalte und die beträchtlich gestiegenen Scheidungs-Ziffern verstellen heute oft den Blick auf die völlig ungebrochene gesellschaftliche und individuelle Wertschätzung der Familie. Diese Wertschätzung wird auch künftig gegen jeden Wertewandel und jede Veränderung der Lebensstile immun bleiben, solange die Familie wie keine andere Institution zur Befriedigung emotionaler Bedürfnisse und zur Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen beiträgt. Zugleich erhöht sich durch die Verlagerung auf die Personalitätsfunktion die Labilität der Familie. Die Grundlage der Familie verlagert sich „in die Harmonie der persönlichen Beziehungen und Gefühle, in ein Zusammenstimmen von freien und selbständiger gewordenen Individuen, eine Grundlage. die Familie und Ehe natürlich um vieles gebrechlicher werden läßt und die Chancen eines Mißerfolges des Familien-und ehelichen Zusammenlebens erhöht gegenüber einer durch ihre institutionellen Funktionen mit anderen lebenswichtigen Bereichen der Gesellschaft eng verknüpften und damit sozusagen von außen mitgetragenen Familie“ Die Verlagerung auf die Personalitätsfunktionen erhöht die an die Familie gerichteten Glückserwartungen. Die gestiegenen Scheidungs-Ziffern signalisieren keine Abkehr von der Familie. sondern eine Absage an die unglückliche Beziehung. Die Qualität der persönlichen Beziehungen ist zu dem mit Abstand bedeutendsten, oft alleinigen Maßstab für die Bewertung der Existenzberechtigung der eigenen Familie geworden.

Tabelle 6: Weltanschaulicher Konsens und Belastbarkeit

Die Dominanz der Personalitätsfunktionen wird auch in den Annahmen der Bevölkerung darüber deutlich, welche Bedingungen die Erfolgschancen einer Ehe bestimmen. Zu den wesentlichen Voraussetzungen rechnet die Mehrheit der Bevölkerung Treue, gegenseitigen Respekt und Verständnis, glückliche sexuelle Beziehungen und gemeinsame Interessen. Materielle Gesichtspunkte, Überein-stimmung bei religiösen und politischen Anschauungen, wirtschaftliches Rollenverhalten, einen ähnlichen sozialen Hintergrund und Kinder zählt dagegen nur eine Minderheit der Bevölkerung zu den wesentlichen Voraussetzungen einer glücklichen Ehe. Vergleichbare Untersuchungen in anderen europäischen Ländern zeigen, daß die deutsche Bevölkerung die Erfolgschancen einer Ehe einseitiger definiert und vor allem die Bedeutung von Kindern, glücklichen sexuellen Beziehungen und ein partnerschaftliches Rollenverständnis niedriger veranschlagt als die Bevölkerung in anderen europäischen Ländern.

Tabelle 7: Dissens belastet die Familie

So eindeutig die Funktionsverluste der Familie historisch nachzuzeichnen sind, muß doch bezweifelt werden, daß die Funktionen der Familie heute derart eindimensional sind wie oft angenommen. Es ist weder der ökonomischen Bedeutung der Familie noch ihrer Funktion für die Weitergabe von Wertvorstellungen angemessen, nur noch von „zahlreiB chen Resten der ökonomischen, erzieherischen oder religiösen Tätigkeiten, der Unterhaltungs-, Unterstützungs-und Gruppenaufgaben“ zu sprechen Vielmehr legen Untersuchungen nahe, daß auch die Bevölkerung selbst sich über die umfassende Bedeutung der Familie täuscht und die Spezialisierung auf die Personalitätsfunktionen überbe-tont wird. Insbesondere zwei Funktionen der Familie scheinen heute unterbewertet zu werden: die soziale Absicherung und finanzielle Unterstützung durch die Familie sowie die Erziehungsfunktion der Familie, besonders ihr Einfluß auf die Tradierung von Wertvorstellungen und weltanschaulichen Überzeugungen.

I. Die Familie als soziales Netz

Tabelle 1: Zentrale Gratifikationen der Familie

Untersucht man den konkreten Nutzen, den die einzelnen Mitglieder aus ihrer Familie ziehen, so wird deutlich, daß dieser sich keineswegs auf die Befriedigung emotionaler und kommunikativer Bedürfnisse beschränkt, sondern aus einem Geflecht gegenseitiger — materieller und immaterieller — Unterstützung und Unterstützungsversprechen besteht. das über die in einem Haushalt zusammenlebende Kernfamilie hinausreicht. Eine Untersuchung in Baden-Württemberg dokumentiert das Ausmaß materieller und immaterieller Hilfen, mit denen die Elterngeneration die äußerlich autonome junge Familie unterstützt. Die praktizierten For-men der Absicherung und Unterstützung umfassen materielle Hilfen in finanziellen Notlagen, das heißt bei größeren Anschaffungen und Ausgaben für die Kinderkleidung ebenso wie immaterielles Einspringen in Krankheitsfällen. Betreuung der Kinder und Hilfe in Haushalt und Garten. Knapp die Hälfte der jungen Familien berichtet von materiellen Hilfen durch die Elterngeneration in finanziell beengten Situationen oder bei größeren Anschaffungen, zwei Drittel von der Finanzierung von Kinderkleidung, 20 Prozent von regelmäßiger finanzieller Unterstützung. Knapp jede vierte junge Familie. 38 Prozent der jungen kinderlosen Paare und zwei Drittel der jungen Alleinstehenden konnten zeitweise auf ein Angebot der Eltern zurückgreifen, kostenlos in der Wohnung der Eltern zu leben. 60 Prozent der jungen Familien können im Krankheitsfall darauf vertrauen, daß Eltern vorübergehend einspringen; zwei Drittel können zumindest kurzfristig die Betreuung der Kinder an die Eltern delegieren. Diese Befunde stützen Erkenntnisse, die vor allem aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien vorliegen, nämlich daß beträchtliche finanzielle Transfers von der Eltemgeneration zu den Familien der Kinder fließen, ergänzt um vielfältige Dienstleistungen und latente, jederzeit aktivierbare Unterstützungsangebote

Tabelle 8: Weltanschauliche Übereinstimmung zwischen den Generationen Quelle: Allensbacher Archiv, Internationale Werte-Studie, IfD-Archiv-Nummer 1295, 1981.

Umgekehrt bilden viele Familien ein Netz, das hilfs-und pflegebedürftige ältere Angehörige absichert. In Baden-Württemberg pflegen neun Prozent der Bevölkerung einen älteren Angehörigen, ein Prozent sogar mehrere hilfsbedürftige Angehörige.

Tabelle 9: Der Erziehungsanspruch der Eltern macht vor Interessen und Weltanschauung halt

Vor allem Frauen zwischen 40 und 60 Jahren übernehmen einen beträchtlichen Anteil der heute anfallenden Aufgaben im Zusammenhang mit der Pflege älterer Menschen. In jedem dritten Fall wird die Pflegeaufgabe umfassend übernommen und der ältere Angehörige in den eigenen Haushalt aufgenommen. Die Verpflichtung hat in der Regel langfristigen Charakter; in der Mehrzahl der Fälle dauert die Betreuung des älteren Angehörigen bereits länger als zwei Jahre, in jedem vierten Fall zumindest zwischen ein und zwei Jahren. Über die bereits praktizierte Betreuung und Unterstützung hinaus hält es in Baden-Württemberg rund ein Drittel der Bevölkerung für möglich, einen älteren Angehörigen aufzunehmen. Exakt vergleichbare Daten für andere Bundesländer liegen zur Zeit nicht vor. Die Bereitschaft zur Aufnahme eines älteren Angehörigen hängt wesentlich, jedoch keineswegs ausschließlich von der materiellen Situation des Haushalts ab. Von Personen aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen von weniger als 2 500 DM im Monat halten 25 Prozent die Übernahme älterer Angehöriger im eigenen Haushalt für möglich, von Personen aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen von 3 500 DM und mehr dagegen 40 Prozent. Neben der materiellen Situation beeinflußt vor allem die Identifikation mit der eigenen Familie die Bereitschaft, ältere Angehörige aufzunehmen. Grundsätzlich spricht sich die Bevölkerung gegen eine Gettoisierung der älteren Generation in Alters-und Pflegeheimen und deutlich für eine Familienlösung der Betreuungsaufgaben aus, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Kernfamilie nicht überfordert wird. Wenn die Fürsorge für ein älteres Familienmitglied die psychischen, physischen oder materiellen Ressourcen einer Familie überfordert, hält die Mehrheit der Bevölkerung die Verpflichtung der Familie gegenüber der älteren Generation für aufgehoben. Solange die Leistungsfähigkeit der Kernfamilie jedoch nicht überfordert wird, plädieren 71 Prozent der Bevölkerung für die Betreuung älterer Menschen in ihren Familien, von den 55jährigen und älteren 76 Prozent.

Die klare Präferenz für die Versorgung älterer Menschen in den Familien und die realen Möglichkeiten einer Familienversorgung in Deckung zu bringen wird künftig zumindest Probleme bereiTabelle ten. Durch die demographischen Veränderungen der Gesellschaft, das heißt durch den rasch wachsenden Anteil der über 65jährigen Menschen wird der Betreuungsbedarf beträchtlich ansteigen. Durch die Tendenz zur kleinen Familie ohne Kinder oder mit maximal ein bis zwei Kindern werden sich künftig die Hoffnungen der älteren Generation auf Unterstützung durch die jüngere an einen wesentlich kleineren Kreis richten. Die ideale Situation, daß sich mehrere Kinder die Betreuungsaufgaben teilen können, wird allmählich zum raren Glücksfall, während zunehmend die Hoffnungen eines oder sogar von zwei Eltempaaren auf einer Tochter oder Schwiegertochter ruhen. Unverändert sind es nahezu ausschließlich Frauen, die die Betreuung älterer Menschen in der Familie sichern. Durch den wachsenden Anteil berufstätiger Frauen verringern sich die Betreuungskapazitäten in den Familien bei gleichzeitig stark steigendem Bedarf nach einer Betreuung in der Familie. Wenn der Familie künftig in der Fürsorge für die ältere Generation die Bedeutung zukommen soll, die die Bevölkerung selbst wünscht, müssen Arbeitszeitregelungen und Aufgabenteilung verstärkt an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf orientiert werden. Angesichts der ungewöhnlichen Schwierigkeiten in der Bundesrepublik, Lösungen durchzusetzen, die jungen Müttern die Vereinbarkeit von Familie — das heißt auch Übernahme von Pflegeaufgaben — und Beruf erleichtern, müssen die Erfolgschancen von solchen Bestrebungen auf absehbare Zeit eher pessimistisch beurteilt werden.

Auch die eindimensionale Sichtweise der Familie, die sich in der Bevölkerung durchgesetzt hat. mindert die Chancen, daß die Familien ihren größtmöglichen Beitrag zur Bewältigung der zu erwartenden Betreuungsaufgaben leisten werden. Wenn die Qualität der persönlichen Beziehungen zum wich-tigsten Kriterium für die Bewertung der Familie, ihres Nutzens und ihrer Verpflichtungen werden, so hat das Folgen für die Familiensolidarität. Eindeutig reicht die objektive Zugehörigkeit zu einer Familie heute nicht aus, um einen Anspruch auf die freiwillige Unterstützung durch die übrigen Familienmitglieder zu begründen. Die Bevölkerung knüpft mehrheitlich ihre Unterstützung für Familienmitglieder an zwei Bedingungen: die objektive Zugehörigkeit zur Familie und gegenseitige Sympathie. Nur 22 Prozent der Bevölkerung akzeptieren grundsätzlich eine Verantwortung für alle Verwandten; 12 Prozent lehnen grundsätzlich jede Verantwortung für Verwandte ab; die Mehrheit knüpft die Verantwortung an die Bedingung gegenseitiger Sympathie. Wenn die persönlichen Beziehungen nicht intakt sind, erlischt der Anspruch auf die Unterstützung durch die Familie.

Schon Dissens in grundlegenden Anschauungen mindert die Bereitschaft, Verantwortung für Verwandte zu übernehmen, beträchtlich. Personen, die mit ihren Eltern in wesentlichen weltanschaulichen Fragen nicht übereinstimmen, sind weitaus weniger zur Aufnahme älterer Familienmitglieder in ihren Haushalt bereit als Personen, die mit ihren Eltern in grundsätzlichen Positionen einig sind. So halten 44 Prozent derjenigen, die in grundlegenden Fragen andere Auffassungen vertreten als ihre Eltern, die Betreuung älterer Angehöriger in der Familie generell nicht für wünschenswert, nur 22 Prozent in der eigenen Familie für denkbar; von Personen, die mit den eigenen Eltern in den grundsätzlichen Positionen übereinstimmen, lehnen nur 21 Prozent die Betreuung älterer Angehöriger in der Familie grundsätzlich ab, 41 Prozent halten die Aufnahme eines älteren Familienmitgliedes im eigenen Haushalt für möglich.

Die Einflüsse weltanschaulicher Positionen auf die Familie wie umgekehrt auch die Einflüsse der Familie auf die weltanschaulichen Positionen ihrer Mitglieder werden aus dem öffentlichen wie aus dem wissenschaftlichen Interesse weitgehend ausgeblendet. Es gilt nahezu als obszön, die Familie unter dem Gesichtspunkt ihrer weltanschaulichen Geschlossenheit und Bedeutung für die Vermittlung von weltanschaulichen Positionen zu analysieren. Nur eine andere Funktion der Familie, ihre Bedeutung als Stätte produktiver Arbeit, wird ähnlich hartnäckig ignoriert und entsprechend unterschätzt.

II. Die Familie als Weltanschauungsgemeinschaft

Tabelle 2: Bedingungen für eine „gute’ Ehe Quelle: Allensbacher Archiv, lfD-Umfrage 1295, Frühjakr 1981

Der Begriff der Weltanschauung wird hier nicht als Synonym für die politische oder gar parteipolitische Orientierung verwendet, sondern umfassend im Sinne grundsätzlicher politischer, religiöser, sozialer und moralischer Wertvorstellungen. In der modernen pluralistischen Gesellschaft sind Wertvorstellungen privatisiert; die Anerkennung der Toleranznorm gilt als Garant einer spannungsfreien Koexistenz verschiedener Anschauungen. Entsprechend gilt auch das Zusammentreffen unterschiedlicher Wertvorstellungen in der Familie als problemlos. solange gegenseitige Toleranz geübt wird. Friedrich H. Tenbruck geht davon aus. daß auch „die Personalisierung der Beziehungen das Anspruchsniveau grundsätzlichen Einverständnisses drückte“ eine Entwicklung, die sich in der Bewertung der Bevölkerung nachzeichnen läßt. Die Einschätzung der Bevölkerung, daß weder Konsens in religiösen noch Übereinstimmung in grundlegenden politischen Positionen zu den wesentlichen Bedingungen einer stabilen Partnerschaft beitragen, spiegelt die Überzeugung, daß unterschiedliche weltanschauliche Positionen mühelos im alltäglichen Zusammenleben verarbeitet werden können. Auch gravierende politische Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und Kindern hält nur eine Minderheit der Bevölkerung für eine Belastung des täglichen Zusammenlebens.

Untersuchungen von Familien, in denen unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinandertreffen, lassen den Schluß zu, daß die Bedeutung von weltanschaulichem Konsens weit unterschätzt wird. In einer Idealisierung der Möglichkeiten der Toleranz wird angenommen, daß Dissens bei grundlegenden Wertvorstellungen durch Toleranz bedeutungslos, ja geradezu völlig neutralisiert wird. Die Vorstellung gründet auf der Annahme eines in seinen Wertvorstellungen völlig autonomen Menschen, der der Bestätigung seiner Überzeugungen durch andere nicht bedarf und daher auch mühelos verarbeitet, daß die für ihn wichtigsten Menschen in wichtigen Bereichen völlig anders denken.

Tatsächlich belastet Dissens in grundlegenden Fragen Familien und einzelne Mitglieder der Familie beträchtlich. Während die Bevölkerung davon ausgeht. daß beispielsweise Konsens in religiösen Fragen keine wesentliche Voraussetzung für die Stabilität einer Partnerschaft ist. hängt die Qualität einer Partnerschaft eindeutig auch mit Übereinstimmung in den grundsätzlichen religiösen Positionen zusammen. Je höher die Übereinstimmung in den grundlegenden Anschauungen ist, desto positiver wird die eigene Familie erlebt und beschrieben.

Personen aus weltanschaulich heterogenen Familien äußern sich auffallend kritisch über ihre Familie und identifizieren sich weniger mit ihr als Personen aus homogenen Familien. Die Bereitschaft zu generationenübergreifender Solidarität und Unterstützung wird durch das Erleben von weltanschaulichem Dissens in der Familie gravierend beeinträchtigt. Darüber hinaus ist erkennbar, daß die weltanschauliche Homogenität von Familien die sozialen Erfolgschancen und die Persönlichkeitsstruktur ihrer Mitglieder beeinflußt. Dissens in grundlegenden Fragen in der Familie beeinträchtigt Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit, soziales Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft. Auf diese Zusammenhänge machte schon in den sechziger Jahren eine amerikanische Studie aufmerksam Vor diesem Hintergrund erhält das Ergebnis besonderes Gewicht, daß die Übereinstimmung in wesentlichen Fragen in deutschen Familien geringer ist als in anderen europäischen Ländern oder in den Vereinigten Staaten. Unabhängig davon, ob Moral-vorstellungen. religiöse Überzeugungen oder politische Ansichten zur Diskussion stehen, wird in der Bundesrepublik seltener Übereinstimmung mit dem Partner oder mit den eigenen Eltern konstatiert als in europäischen Nachbarländern oder den USA So teilen 49 Prozent der deutschen Bevölkerung die Moralvorstellungen ihrer Eltern, 47 Prozent die religiösen Überzeugungen und 28 Prozent die politischen Ansichten. Im Durchschnitt der zehn in die europäische Wertestudie einbezogenen Länder berichteten 63 Prozent von Übereinstimmung mit den Eltern bei den Moralvorstellungen, 56 Prozent bei den religiösen Überzeugungen und 36 Prozent bei den politischen Ansichten. In den Vereinigten Staaten fühlen sich die Generationen noch weitaus stärker durch Konsens verbunden. Auf der Suche nach Gründen für den geringeren Konsens in deutschen Familien fällt eine besondere Zurückhaltung auf, die Aufgabe der „kulturellen Vererbung“ das heißt die Weitergabe von Wertvorstellungen zu akzeptieren. Die große Mehrheit der Eltern klammert weltanschauliche Fragen aus ihrem Verantwortungsbereich aus. Während durchaus der Wunsch besteht, die eigenen Kinder zu prägen, beschränkt sich der Einflußwille weitgehend auf das Sozialverhalten und die Leistungsbereitschaft. Die Mehrheit der Eltern möchte Benehmen, Umgang mit anderen, speziell das Verhalten gegenüber Schwächeren, Ordnungsliebe, Wahrheitsliebe und die Einstellung zur Arbeit beeinflussen.

Religiöse Überzeugungen, Vorbilder, politische Ansichten, Lektüre, Freizeitbeschäftigungen und die Sendungen, die im Fernsehen gesehen werden, wünscht die Mehrheit der Eltern dagegen möglichst wenig zu beeinflussen; der Wunsch dominiert, die Kindersollten sich hier „frei“ entwickeln. Lediglich leitende Angestellte und höhere Beamte sind deutlich überdurchschnittlich gewillt, auch im weltanschaulichen Bereich auf ihre Kinder einzuwirken. Offensichtlich entmutigen falsche Annahmen die Eltern, auch inhaltlich zu erziehen und entschieden Wertvorstellungen zu vermitteln. Doch daß sich Wertvorstellungen in Form eines Angebots, welches akzeptiert oder abgelehnt wird, frei entwickeln könnten, ist falsch. Die Beziehung zu Werten hängt auf das engste von ihrer engagierten Vermittlung in der Erziehung ab. Wenn beispielsweise religiöse Überzeugungen in der Erziehung nicht entschieden vermittelt werden, wird damit nicht Wahlfreiheit eröffnet, sondern verstellt. Untersuchungen dokumentieren, daß es ungleich leichter ist, sich aus einem Wertesystem zu lösen, als den Zugang zu Anschauungen zu finden, die in der Erziehung nicht entschlossen vermittelt wurden. Jugendlichen und Erwachsenen, die als Kind nicht religiös erzogen wurden, ist der Zugang zum Glauben weitgehend verstellt

Nach wie vor ist die Familie die wichtigste Instanz für die Vermittlung von Wertvorstellungen. Wenn Familien diese Aufgabe nicht wahrnehmen, wird eine Gesellschaft offener für Außeneinflüsse und langfristig in ihrer Entwicklung schwerer kalkulierbar sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. R. Köcher, Familie und Gesellschaft, in: E. Noelle-Neumann/R. Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, S. 78.

  2. Diese Ergebnisse sowie die Tabellen 1 und 3 bis 7 stützen sich auf eine Untersuchung über den Zustand von Ehe und Familie in Baden-Württemberg; Vergleiche mit dem Bundesgebiet zeigen jedoch, daß sich die Ergebnisse auf Bundesebene verallgemeinern lassen. Vgl. R. Köcher, Ehe und Familie. Einstellungen zu Ehe und Familie im Wandel der Zeit. Eine Repräsentativuntersuchung im Auftrag des Ministeriums für Arbeit. Gesundheit, Familie und Sozialordnung Baden-Württemberg, Stuttgart 1985.

  3. Vgl. R. König, Die Familie der Gegenwart. Ein interkultureller Vergleich. München 1978.

  4. H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 1954, S. 18.

  5. Ebda., S. 21.

  6. Vgl. G. F. Streib, Intergenerational Rclations, in: Journal of Marriage and the Family. (1965), S. 469— 476; H. M. Bahr, Changes in Family Life in Middletown, 1924— 1977, in: The Public Opinion Ouarterly, Vol. 44, S. 35— 52; L. Lancaster, Some Conceptual Problems in the Study of Family Ties in the British Isles. in: British Journal of Sociology, 12 (1961), S. 317— 333; Köcher (Anm. 2).

  7. F. H. Tenbruck. Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: R. Löwenthal/H. -P. Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik, Stuttgart 1974, S. 297.

  8. J. Aldous, The Consequences of Intergenerational Continuity, in: Journal of Marriage and the Family, 27 (1965) 1, S. 462-468.

  9. E. Noelle-Neumann. Lebenswerte heute. Referat auf dem Forum „Leben für uns alle — Gemeinde als Lebensraum“. veröffentlicht in der Dokumentation des 88. Deutschen Katholikentages „Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“. München 1984.

  10. D. Claessens. Familie und Wertsystem, Berlin 1972, S. 188.

  11. R. Köcher, Abwendung von der Kirche. Eine demoskopische Untersuchung über Jugend und Religion, in: Herder Korrespondenz. 35 (1981) 9, S. 443 — 446; dies., Tradierungsprobleme in der modernen Gesellschaft, in: E. Feifel/W. Kasper (Hrsg.), Tradierungskrise des Glaubens, München 1987, S. 168-182.

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