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Polen nach dem Referendum — Sackgasse oder Chancen für weitere Reformen? | APuZ 11-12/1988 | bpb.de

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APuZ 11-12/1988 Die deutsch-polnischen Beziehungen von 1945 bis in die achtziger Jahre Die Beziehungen zwischen der VR Polen und der Bundesrepublik Deutschland 1949— 1987 Polen nach dem Referendum — Sackgasse oder Chancen für weitere Reformen? Polens Wirtschaft zwischen Krise und Reform Artikel 1

Polen nach dem Referendum — Sackgasse oder Chancen für weitere Reformen?

Klaus Ziemer

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz des Rückschlags durch den Kriegszustand 1981— 1983 ist in Polen in den achtziger Jahren ein Prozeß grundlegender sozio-politischer Reformen zu beobachten, deren Motivation in einer Effizienzoptimierung des Institutionensystems, einer Minderung gesellschaftlichen Drucks und dem Bemühen um eine Produktivitätssteigerung in der Wirtschaft liegt. Untersucht werden einige der markantesten vom Reformprozeß betroffenen Bereiche wie etwa die größere Autonomie des Parlaments oder die gefestigte Bedeutung des Rechts. So sind mit dem Verfassungstribunal und dem „Fürsprecher für Bürgerrechte 4 (Ombudsmann) neue institutionalisierte Kontrollinstanzen entstanden. Die Liberalisierung der Zensur und die faktische Tolerierung der inzwischen weit verzweigten Untergrundpresse sorgen für eine größere Transparenz des öffentlichen Lebens und für eine Stärkung des innergesellschaftlichen Pluralismus. Eingegangen wird ferner auf die Bedeutung von Partei und Kirche, die noch nicht klar umrissene Rolle der neuen Gewerkschaften. die von der Regierung zumindest indirekt anerkannte „politische Opposition“ und auf erste Versuche, letztere in das politische Institutionensystem einzubinden. Empirische Erhebungen belegen in den letzten Monaten beträchtlich angewachsene gesellschaftliche Spannungen. Dies macht den Wunsch der politischen Führung verständlich, die mit der „Zweiten Etappe“ der Wirtschaftsreform in der nächsten Zeit unvermeidlichen Preiserhöhungen durch ein Referendum bestätigen zu lassen. Der Ausgang dieses Referendums brachte der Führung insofern eine selbstverschuldete Niederlage, als sie das erforderliche Quorum nicht erreichte, dessen ungewöhnliche Höhe sie offenbar aus Mißtrauen gegen mögliche „Initiativen von unten“ in das erst im Mai 1987 verabschiedete Gesetz über Referenden hatte einbauen lassen. Angesichts der pessimistischen Grundhaltung in der Gesellschaft und eines zu erwartenden weiteren Absinkens des Lebensstandards ist in der nächsten Zukunft zur Minderung des gesellschaftlichen Drucks eine weitere vorsichtige innenpolitische Liberalisierung wahrscheinlich.

Die innenpolitische Entwicklung Polens in den achtzigerJahren ist durch eine Reihe zum Teil spektakulärer Ereignisse gekennzeichnet, die das politische Bewußtsein der Gesellschaft nachhaltig verändert und ihre Spuren auch im konkreten Funktionieren des politischen Systems hinterlassen haben — vom Entstehen und Wirken der von der Partei unabhängigen Gewerkschaft „Solidarität“ 1980/81 über den Kriegszustand 1981— 83 bis hin zum Referendum vom 29. November 1987, bei dem die erforderliche Mehrheit der Stimmberechtigten nicht erreicht wurde. Wie war es möglich, daß erstmals seit Ende der vierziger Jahre die politische Führung in einem sowjetsozialistischen Staat eine Abstimmung verlor? Was hat sich in den achtziger Jahren im sozio-politischen System Polens verändert, und wie sind seine Perspektiven für die nahe Zukunft?

I. Reformen und Reformprozesse der achtziger Jahre

Trotz des gravierenden Rückschlags, der durch die mit dem Kriegszustand verbundenen einschneidenden Einschränkungen der politischen und individuellen Rechte verursacht war. läßt sich in Polen in den achtziger Jahren ein Prozeß grundlegender Reformen des sozio-politischen Systems beobachten, dessen Ende offenbar noch nicht erreicht ist. Die Motivation der politischen Führung zur Durchführung dieser Reformen war und ist dreifacher Natur: technokratisch, politisch und sozio-ökonomisch. Das heißt, die Maßnahmen zielen auf eine Effizienzoptimierung der bestehenden Institutionen und der ihnen zugrundeliegenden Mechanismen, auf eine Minderung gesellschaftlichen Drucks und auf eine Steigerung der Produktivität in der Wirtschaft. Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz staatlicher Institutionen Seit General Jaruzelski 1981 das Amt des Ministerpräsidenten und kurz darauf den Posten des I. Sekretärs des ZK der Partei übernahm, wurde von der politischen Führung immer wieder die Notwendigkeit eines „starken Staates“ betont. In den achtziger Jahren wurde die Zahl der Beamten um rund 30 Prozent erhöht und die Rolle der Staatsverwaltung (zu Lasten der Weisungskompetenzen der Partei) ausgebaut. Einer Effizienzsteigerung der bestehenden Institutionen sollten u. a. einzelne Gesetze über die Funktionsweise von Ministerien dienen. Der Ende der siebziger Jahre durch z. T. unklare Kompetenzabgrenzungen und persönliche Rivalitäten bedingte „Voluntarismus“ bei zahlreichen Entscheidungen 1) sollte in Zukunft zumindest erschwert werden.

Die Equipe von General Jaruzelski konnte den Staatsapparat in den achtziger Jahren im wesentlichen nach ihren Vorstellungen formen. Die Aufblähung der staatlichen Behörden, die daraus resultierte, war indes keineswegs gleichzusetzen mit größerer Leistungsfähigkeit. Gerade im Hinblick auf die propagierte „zweite Etappe“ der Wirtschaftsreform wurde dann im Herbst 1987 das sogenannte staatliche „Zentrum“ deutlich gestrafft. Mehrere Ministerien (vor allem „Branchenministerien“ für einzelne Wirtschaftsbereiche) und diesen gleichgestellte zentrale Ämter wurden nun zusammengelegt oder umstrukturiert, so daß sich die Zahl der Mitglieder des Ministerrats auf 23 reduzierte. Damit verbunden war die Freisetzung von rund 3 000 Beamten, die wohl nicht zuletzt dazu diente. Widerstand gegen die Reformen im Staatsapparat zu brechen. Ob sich mit dem Umbau der staatlichen Exekutive allerdings die erhoffte Dynamisierung des Staats-und Wirtschaftsapparats einstellen wird, bleibt abzuwarten. Skeptiker schließen jedenfalls nicht aus, daß sich in den Institutionen schrittweise eine Tendenz zur Wiederherstellung der alten Strukturen und Funktionen des „Zentrums“ entfalten wird Mit Sicherheit ist in der Bürokratie eine Neigung vorhanden, sich verbal zu den Reformen zu bekennen, sie in der Praxis aber zu unterlaufen. Auch der Erfolg der von Regierungsseite immer wieder propagierten Aktivierung der Nationalräte, also der „Parlamente“ auf Wojewodschafts-und lokaler Ebene, ist offen. Selbst wenn den National-räten in Zukunft größere Kompetenzen zugewiesen werden — wie in den Ende Januar 1988 vom Staatsrat zur „gesellschaftlichen Konsultation“ vorgelegten „Grundsätze“ zur Änderung des betreffenden Gesetzes von 1983 vorgesehen — und zudem unter den Mitgliedern dieser Räte Fachleute Initiativkraft entfalten sollten, so wird deren Handlungsspielraum doch durch die mangelnde finanzielle Ausstattung der Nationalräte sehr stark beschnitten sein. 2. Größere Autonomie des Parlaments und der Bündnisparteien Spürbar modifiziert hat sich in den achtziger Jahren das Verhältnis zwischen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) und den staatlichen Institutionen. Deren autonome Handlungsspielräume sind größer geworden, sie können ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen in stärkerem Maße wahrnehmen als früher. Besonders augenfällig ist dies beim Sejm. Er nimmt heute ein gewisses Mitspracherecht gegenüber der Regierung wahr. Dies betrifft zwar nicht die grundlegenden Optionen der Außenpolitik oder der militärischen Bündnisse. Aber im Bereich der internen, eher technokratischen Probleme, vor allem solcher sozio-ökonomischer Natur, hat der Sejm in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Zum Teil heftige Kritik an der Regierungspolitik und bisweilen zweistellige Zahlen von Gegenstimmen und Stimmenthaltungen — die freilich nie auch nur annähernd die Verabschiedung eines dem Plenum vorgelegten Entwurfs gefährden — belegen, daß der Sejm keine automatisch funktionierende „Abstimmungsmaschine“ mehr ist.

Das jüngste Beispiel hierfür lieferte die Diskussion über das Gesetz zum Haushalt für 1988, dessen Defizit aufgrund von Forderungen des zuständigen Sejm-Ausschusses um 100 Millionen Zloty verringert worden war. Trotzdem waren in der Diskussion das Unbehagen (selbst der PVAP-) Abgeordneten und auch Zweifel an der Fähigkeit der Regierung, die Wirtschaftsentwicklung in den Griff zu bekommen, unüberhörbar. Der modifizierte Entwurf wurde schließlich bei vier Gegenstimmen und 38 Enthaltungen angenommen Zwar wurden 1985 ganze 98 von 460 Abgeordneten wiedergewählt, so daß im neuen Sejm nur wenig personelle Kontinuität gegeben war und die Abgeordneten erst langsam in ihre Rolle fanden. Äußerst sensibel reagiert allerdings auch jetzt (wie schon 1980— 85) zumindest eine kleine Minderheit von Abgeordne-ten, wenn das Parlament faktisch vor vollendete Tatsachen gestellt wird

Aufgrund der Schwäche der PVAP konnten in den achtziger Jahren auch die beiden „Bündnisparteien“ ZSL (Bauernpartei) und SD (Demokratische Partei) ihren Spielraum erweitern. Bis 1956 waren sie der PVAP absolut untergeordnet gewesen und hatten danach — in einem je nach „politischer Konjunktur“ schwankenden Ausmaß — die Rolle von Interessenvertretern für ihre Klientel (ZSL für die Individualbauern, SD für das private Handwerk und die städtische Intelligenz) wahmehmen können. Die ZSL erzielte sichtbare Erfolge durch die Liberalisierung der Agrarpolitik, die ihren spektakulärsten Ausdruck in der Verfassungsänderung vom 21. Juli 1983 fand: Den Individualbauern wurde das Recht garantiert, ihren landwirtschaftlichen Besitz vererben zu können. Die SD konnte neben größeren Entfaltungsmöglichkeiten für die Privatinitiative in der Wirtschaft vor allem die Institutionalisierung des Verfassungstribunals als Erfolg verbuchen (s. u.).

Die Zusammenarbeit von ZSL und SD mit dem PVAP seit dem Herbst 1980 wird seit einiger Zeit in Teilen der polnischen Literatur als „koalitionsmäßige Art der Machtausübung“ und als originelle Anpassung des politischen Systems an die „Spezifik des Aufbaus des Sozialismus in Polen“ gefeiert ZSL und SD erkennen allerdings weiterhin den absoluten Führungsanspruch der PVAP an, so daß keineswegs von einem Bündnis gleichberechtigter Partner gesprochen werden kann. Beide Parteien bemühen sich jedoch sichtlich um stärkere Profilierung. So fordert insbesondere die SD eine weitere institutionelle Absicherung der Rechtsstaatlichkeit und im Hinblick auf die geplante Verfassungsänderung (s. u.) u. a. die Einführung des Amtes eines Staatspräsidenten. Zudem verlangt die SD die Gleichberechtigung des privaten Wirtschaftssektors mit dem staatlichen und die Aufwertung des verfassungsmäßigen Rangs der Intelligenz als sozialer Gruppe (neben Arbeiterklasse und Bauern).

Eine deutliche Differenzierung unter den politischen Parteien belegt auch eine Erhebung der poli-tischen Einstellungen, die das Zentrum für die Erforschung der öffentlichen Meinung (CBOS) im Herbst 1985 unmittelbar nach Abschluß der Wahl-kampagne unter 684 (von insgesamt 820) Wahlkreiskandidaten für die Sejmwahlen durchführte. Auf die Frage nach dem für Polen wünschenswerten Wirtschaftsmodell sprachen sich insgesamt 50. 2 Prozent für ein marktwirtschaftliches Modell aus. darunter allerdings nur 38, 2 Prozent der PVAP-Kandidaten, hingegen 53, Prozent der ZSL-und sogar 63, 2 Prozent der SD-Vertreter. Auch hinsichtlich der Frage, ob es keine Hindernisse auf dem Weg zur nationalen Verständigung gebe, war das Bild differenziert: 59, 5 Prozent der ZSL-und 57. 8 Prozent der PVAP-Kandidaten, aber nur 34, 2 Prozent Prozent der PVAP-Kandidaten, aber nur 34, 2 Prozent der SD-Bewerber sahen derartige Hindernisse nicht 6). 3. Die Stärkung der „sozialistischen Rechtsstaatlichkeit“

Eine größere Autonomie hat in den achtziger Jahren — nicht ohne Rückschläge und Verzögerungen — auch der Bereich des Rechts erhalten. Das Recht stellt in sowjetsozialistischen Staaten eines der wichtigsten Instrumente der Partei zur Durchsetzung ihres Führungsanspruchs dar und wird dementsprechend ggf. nach politischen Opportunitätskriterien funktionalisiert.

In Polen, wo nach 1956 die vorsozialistische Rechtstradition stärker betont, von der politischen Führung aber auch vielfach mißachtet wurde, wurde seit Mitte der siebziger Jahre vor den negativen Folgen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gewarnt. Die Rechtsstaatlichkeit — so wurde argumentiert — besitze nach der Stabilisierung der heutigen Staatsordnung einen anderen Stellenwert als zur Zeit des Klassenkampfes. Zu häufiges Ändern der Rechts-prinzipien könne zu einer Relativierung des Rechts-begriffs in der Gesellschaft führen 7).

Mit dem Abbau institutionalisierter Kontrollen und der Zentralisierung und Personalisierung von Entscheidungsprozessen Ende der siebziger Jahre wurden disfunktionale Mechanismen innerhalb des Staatsapparats so offensichtlich, daß kurz nach dem Sturz von Premierminister Piotr Jaroszewicz im Frühjahr 1980 das Gesetz über das Oberste Verwaltungsgericht verabschiedet wurde. Das Oberste Verwaltungsgericht nahm am 1. September 1980 seine Tätigkeit auf und hat seither eine Reihe grundsätzlicher Urteile gefällt, die die Rechtssicherheit des Individuums gegenüber staatlichen Instanzen beträchtlich erhöhen. Einer verschärften Kontrolle primär des Finanzgebarens von Staatsorganen diente eine Verfassungsänderung vom Herbst 1980, die der Obersten Verwaltungskammer (NIK) in etwa die Kompetenzen zurückgab, die sie vor 1976 besessen hatte. Weniger bewährt hat sich bisher die „Arbeiter-und Bauerninspektion", die 1985 nach dem Muster anderer sowjetsozialistischer Staaten eingeführt wurde.

Die Verhängung des Kriegszustands und insbesondere dessen unter Bruch der Verfassung in Kraft gesetzte Folgebestimmungen waren allerdings ebenso wie die Verschärfung des politischen Strafrechts während des Kriegszustands kaum dazu angetan. das Rechtsbewußtsein in der Bevölkerung zu festigen. Dennoch wurde bereits in den ersten Monaten des Kriegszustands unter dem Schlagwort „Fortsetzung der sozialistischen Erneuerung“ eine Verfassungsänderung beschlossen, die ein Staats-und ein Verfassungstribunal einführte.

Von Bedeutung ist dabei vor allem das Verfassungstribunal, dessen Richter vom Parlament auf acht Jahre gewählt werden. Es überprüft auf Antrag bestimmter staatlicher Institutionen oder gesellschaftlicher Organisationen die Verfassungsund Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsakten und die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Wird ein Gesetz für nicht verfassungskonform befunden, so kann allerdings das Parlament als Repräsentant der nationalen Souveränität den Beschluß des Verfassungstribunals überstimmen.

Um die Konstituierung dieser in sowjetsozialistischen Staaten einzigartigen Institution 8) gab es jahrelange Auseinandersetzungen, und es dürfte kein Zufall sein, daß das betreffende Ausführungsgesetz erst Ende 1985, also wenige Monate nach dem Amtsantritt von Parteichef Gorbatschow in der Sowjetunion, erlassen wurde. Das Verfassungstribunal hat Anfang 1986 seine Tätigkeit aufgenommen und seither mehrere zum Teil spektakuläre Urteile gefällt, in denen auch die Regierung — gegen den erkennbaren heftigen Widerstand ihrer Vertreter — verurteilt wurde. Aber auch weniger aufsehenerregende Urteile besitzen insofern Bedeutung, als das Gericht in seinen Urteilsbegründungen über den Einzelfall hinauswirkende verbindliche Normen für den Erlaß von Verwaltungsakten gesetzt hat. Das Verfassungstribunal, das nach allem Anschein weitgehend autonom entscheidet, trägt somit maßgeblich zur Erhöhung der Rechtssicherheit und des Niveaus der Rechtskultur in Polen bei.

Gleichfalls Neuland für sowjetsozialistische Staaten betrat Polen mit der nach jahrelangen Diskussionen Ende 1987 durch eine Verfassungsänderung be-schlossenen Einführung des Amtes des „Fürsprechers für Bürgerrechte“, einer Art Ombudsmann, dessen Aufgabe primär darin besteht, die Einhaltung der Individualrechte zu sichern und deren Garantien auszubauen. Der „Fürsprecher“, seiner Rechtskonstruktion nach ein eigenes Staatsorgan, hat einmal im Jahr dem Parlament einen Bericht über die Einhaltung bzw. die Verletzung der Bürgerrechte vorzulegen. Die erste Amtsinhaberin, die parteilose Jura-Professorin Ewa Eftowska, hat erst zur Jahreswende 1987/88 ihre Arbeit aufgenommen, so daß diese noch nicht beurteilt werden kann. Allein die Institutionalisierung eines Ombudsmanns zeigt indes, daß der propagierte „Ausbau der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit“ auch den Bereich der Individualrechte mit einschließt. Gremien mit dem Ombudsmann analogen Funktionen sollen auf Wojewodschaftsebene in Gestalt von „Bürgerkonventen“ bei den Vorsitzenden der Nationalräte entstehen. In die „Bürgerkonvente“ sollen auch Angehörige der „Opposition“ (s. u.) berufen werden können. Bislang sind allerdings erst wenige dieser Konvente gebildet worden.

Zu Beginn der achtziger Jahre wurden in Polen in einer lebhaft geführten Diskussion fehlende rechtliche Regelungen für das mangelhafte Funktionieren vieler Bereiche, für die zahlreichen Möglichkeiten zum persönlichen Machtmißbrauch und für andere Mißstände verantwortlich gemacht. Eine Konsequenz aus dieser Erkenntnis war in den achtziger Jahren eine Gesetzesflut, die tatsächlich etliche Lücken füllte. Viele Regelungen waren jedoch wenig durchdacht und machten nach kurzer Zeit Novellierungen erforderlich. Einige Gesetzesentwürfe wurden von der Regierung nach einer vernichtenden Kritik im zuständigen Sejm-Ausschuß zurückgezogen. Zur Inkonsistenz vieler gesetzlicher Bestimmungen (nicht nur) der achtziger Jahre kommt der im polnischen Schrifttum nun mehrfach betonte Umstand, daß die präzise Auslegung von Rechts-vorschriften, die seit 1980 das Oberste Verwaltungsgericht und jetzt auch das Verfassungstribunal vornehmen, kaum in Einklang zu bringen ist mit der in ihrem Kem aus dem Jahre 1952, also der stalinistischen Epoche, stammenden Staatsverfassung. Diese zeichnet sich nämlich durch viele sehr allgemein gehaltene Regelungen aus was der politischen Führung einen relativ großen Dispositionsspielraum beließ.

Der X. Parteitag der PVAP von 1986 faßte daher den Beschluß, die Verfassung nach Möglichkeit bis 1991 — also zum 200. Jahrestag der am 3. Mai 1791 verabschiedeten ersten schriftlichen Verfassung Polens — einer grundlegenden Überarbeitung zu un-terziehen. Ob dies in Form einer Revision der bestehenden Verfassung oder durch die Ausarbeitung eines gänzlich neuen Verfassungstextes geschehen soll, ist noch offen. Unter den polnischen Staatsrechtlern ist jedenfalls bereits eine lebhafte Diskussion im Gange

Als weitere Mängel der bisherigen Verfassung werden dabei u. a. genannt: die formale Behandlung der Repräsentativorgane sowie die Betonung der ökonomischen, nicht aber der rechtlich-institutionellen Garantien der Bürgerrechte. Wie weit für die neue Verfassung aus den Entwicklungen der achtziger Jahre tatsächlich grundlegende Konsequenzen gezogen werden — etwa bei einer eventuellen Neuformulierung der Führungsrolle der Partei —, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. 4. Größere Transparenz des öffentlichen Lebens Eines der zentralen Schlagworte der „sozialistischen Erneuerung“ lautet seit Anfang der achtziger Jahre: mehr Transparenz des öffentlichen Lebens. Diese Forderung zielt zum einen auf eine Effizienzsteigerung von Institutionen und Organisationen, insbesondere im Wirtschaftsbereich; zum anderen soll die Glaubwürdigkeit des öffentlichen Lebens und der veröffentlichten Meinung gestärkt werden.

Diesem Zweck diente das am 1. Oktober 1981 in Kraft getretene Gesetz über die Zensur, das auch nach der restriktiven Novellierung am Ende des Kriegszustands immer noch als relativ liberal gelten kann. Heute berichten Rundfunk und Fernsehen weitaus kritischer als früher, und in der Presse (auch in der legalen) finden sehr lebhafte, zum Teil ausgesprochen polemische Diskussionen statt, deren Angriffsziel bisweilen auch Vertreter der Regierung sind. Über Hebel wie die Zuteilung von Papier. Druckerschwärze etc. verfügen die staatlichen Instanzen freilich über Mittel, die es ermöglichen, daß ihnen weniger genehme Blätter keine der eigentlichen Nachfrage entsprechende Auflage erhalten Immerhin hat es in den letzten Jahren und Monaten auch bemerkenswerte Neugründungen von Zeitschriften gegeben, die die veröffentlichte (legale) Meinungsvielfalt belebt haben; darunter im Sommer 1987 die erste private, d. h. nicht von einer anerkannten Organisation herausgegebene und damit finanziell mit vollem unternehmerischen Risiko arbeitende „Res publica“, eine von jungen Konser-10 vativen sehr niveauvoll gemachte, gesellschaftlich-politischen. literarischen und historischen Fragen gewidmete Monatszeitschrift, deren Vorläufer vor einigen Jahren im Untergrund erschien.

Einen bemerkenswerten Beitrag zur „Transparenz“ der polnischen Gesellschaft leisten die zum Teil in der Tages-und Wochenpresse veröffentlichten Ergebnisse von Meinungsumfragen, insbesondere des 1982 gegründeten Instituts CBOS Mit den offensichtlich nach westlichen sozialwissenschaftlichen Standards durchgeführten Erhebungen erhält die politische Führung ein halbwegs realistisches Bild von der Stimmung in der Gesellschaft und kann ggf. gezielte Krisenprophylaxe treiben. Gleichzeitig verschafft die Publikation auch von Ergebnissen, die der Regierung sehr unangenehm sein müssen, nach innen eine gewisse Entlastung und erhöht wenigstens bis zu einem gewissen Grad die Glaubwürdigkeit der politischen Führung und ihrer Vorhaben. 5. Die neue Kaderpolitik Eines der wichtigsten Instrumente der Partei zur Durchsetzung ihres Führungsanspruchs über die Gesellschaft ist die Kaderpolitik. Die Partei(-führung) besitzt die Verfügungsgewalt über die personelle Besetzung aller Führungspositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (ausgenommen die Kirche). Fehler in der Kaderpolitik, insbesondere die Diskriminierung kompetenter Parteiloser bei der Berufung in Leitungsfunktionen, wurden in den Systemkrisen 1970/71 und vor allem 1980/81 auch in der Parteipresse offen kritisiert. 1983 wurden von der Parteiführung neue Grundsätze für die Kader-politikbeschlossen, die immerhin zur Folge hatten, daß der Anteil von Parteilosen unter den „Führungskadern“ bis 1986 auf rund 30 Prozent anwuchs Nicht bekannt gegeben wurde freilich die absolute Zahl der unter die „Nomenklatur“ fallenden Stellen. Für die siebziger Jahre schätzte Takayuki Ito ihre Zahl auf 150 000 bis 300 000 Diese Zahl soll sich in den achtziger Jahren mindestens verdoppelt haben, so daß sich als Grundstrategie der politischen Führung abzeichnen würde, Nomenklaturstellen zwar für Parteilose zu öffnen, die Zahl dieser Stellen aber gleichzeitig deutlich auszudehnen — und damit auch-die von der Partei personell kontrollierten gesellschaftlich relevanten Bereiche.

Offensichtlich ist auch die Umsetzung der neuen Grundsätze der Kaderpolitik nicht befriedigend, wie in den letzten Jahren mehrfach auf Plenen des Zentralkomitees festgestellt wurde. Ende Januar 1988 kritisierte auch der Konsultativrat beim Vorsitzenden des Staatsrats (s. u.) die Diskrepanz zwischen den Richtlinien und der Praxis der Kaderpolitik. Unzureichend seien Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Effizienz der Kaderpolitik. Insbesondere eine Chancengleichheit beim beruflichen Aufstieg „ohne Rücksicht auf Organisationszugehörigkeit“ sei nicht gewährleistet. Zur Beendigung der Diskriminierung von Parteilosen müßten einschneidende Veränderungen in der Praxis auf allen Ebenen der Wirtschafts-und Staatsverwaltung vorgenommen werden. Erforderlich sei femereine gezielte „Wachablösung“ der Generationen, u. a. um der Emigration hochqualifizierterjunger Menschen ins Ausland entgegenzuwirken

II. Die Rolle der neuen Gewerkschaften

Mehrere der genannten Reformen — z. B. das Gesetz über die Zensur — führt die Regierung als Beweis dafür an. daß sie sich um eine Einhaltung der „gesellschaftlichen Vereinbarungen“ vom Sommer 1980 bemühe, soweit die wirtschaftliche Lage dies erlaube. Daß die Gewerkschaft „Solidarität“ in ihrer Tätigkeit suspendiert wurde, wird mit ihren „zur Anarchie des Lebens in unserem Lande führenden Machenschaften“ begründet Den Anspruch, Erben des „August 1980“ zu sein, erheben nun die neuen Gewerkschaften, die im Dachverband OPZZ zusammengefaßt sind.

Waren die Gewerkschaften vor 1980 in erster Linie ein Transmissionsorgan der Partei, das zur Steigerung der Produktion und zur Disziplinierung der Arbeiter funktionalisiert wurde, so steht heute in der Praxis die Interessenvertretung der Arbeiter im Vordergrund, insbesondere das Bemühen, ein weiteres Absinken ihres Lebensstandards zu verhindern. Die neuen Gewerkschaften sehen sich einem erheblichen Legitimationsdruck ausgesetzt, da sie von der Bevölkerung und ganz besonders von den Arbeitern noch immer an der „Solidarno" gemessen werden.

Die Skepsis gegenüber der neuen Organisation drückt sich in einem sehr langsamen Wachstum ihrer Mitgliederzahlen aus. Von 12. 35 Millionen Beschäftigten, die 1986 in der sozialisierten Wirtschaft gezählt wurden, waren lediglich 5, 681 Millionen Gewerkschaftsmitglieder Inzwischen soll diese Zahl auf über 7 Millionen angestiegen sein, darunter jedoch über eine Million Rentner, so daß der Organisationsgrad der im sozialisierten Wirtschaftssektor Beschäftigten bei rund 50 Prozent liegt (vor 1980: fast 100 Prozent). Der Zustrom von Rentnern in die neuen Gewerkschaften erklärt sich daraus, daß diese über die Gewerkschaftsorganisation ihres früheren Betriebes leichteren Zugang zu dessen Sozialleistungen haben.

Der Anteil der Parteimitglieder unter den Gewerkschaftsmitgliedern lag 1985 bei etwa 25 Prozent d. h. trotz verschiedener Aufforderungen der Parteiführung waren noch nicht einmal alle PVAP-Mitglieder den neuen Gewerkschaften beigetreten. In deren Führungskadern sollen Parteimitglieder freilich überproportional hoch vertreten sein. Die Parteiführung soll es bisher allerdings nur einmal (1986) gewagt haben, bei einer Tagung von Gewerkschaftsdelcgicrten eine — nach dem PVAP-Statut mögliche — Bildung von Parteigruppen bei Gewerkschaftstagungen zu fordern. Diese Partei-gruppen müßten die Parteidisziplin wahren. Ein häufigeres Einfordern der „Parteilinie“ könnte aber ein nach den Statuten nicht gestattetes Abweichen größerer Teile der PVAP-Gewerkschaftsmitglieder zur Folge haben, was unabsehbare disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen würde

Umstritten war (und ist), ob der OPZZ-Vorsitzende — eb Prozent 19), d. h. trotz verschiedener Aufforderungen der Parteiführung waren noch nicht einmal alle PVAP-Mitglieder den neuen Gewerkschaften beigetreten. In deren Führungskadern sollen Parteimitglieder freilich überproportional hoch vertreten sein. Die Parteiführung soll es bisher allerdings nur einmal (1986) gewagt haben, bei einer Tagung von Gewerkschaftsdelcgicrten eine — nach dem PVAP-Statut mögliche — Bildung von Parteigruppen bei Gewerkschaftstagungen zu fordern. Diese Partei-gruppen müßten die Parteidisziplin wahren. Ein häufigeres Einfordern der „Parteilinie“ könnte aber ein nach den Statuten nicht gestattetes Abweichen größerer Teile der PVAP-Gewerkschaftsmitglieder zur Folge haben, was unabsehbare disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen würde 20).

Umstritten war (und ist), ob der OPZZ-Vorsitzende — ebenso wie die Gewerkschaftsvorsitzenden bis 1980 — Mitglied des Politbüros der PVAP sein sollte. Daß der jetzige Vorsitzende. Alfred Miodowicz. auf dem X. PVAP-Parteitag 1986 in das Politbüro gewählt wurde, dürfte dem Ansehen der Gewerkschaften unter den Arbeitern sowie der rungspositionen in den Gewerkschaften im Gegensatz zu denen anderer „Massenbewegungen“ wie den Jugendverbänden oder der Frauenliga nicht im Nomenklaturverzeichnis vom August 1986 enthalten sind 22). Dies stimmt mit dem Selbstverständnis der neuen Gewerkschaften überein, die zwar den Führungsanspruch der PVAP anerkennen, sich aber — wie die „Solidarität“ — ausdrücklich als „unabhängig“ und „selbstverwaltend“ bezeichnen.

Die tatsächliche Rolle der neuen Gewerkschaften läßt sich noch nicht eindeutig definieren. Offensichtlich ist allerdings, daß sie zumindest mit drei Problemen zu kämpfen haben. Noch immer bringt ihnen ein beachtlicher Teil der Arbeiter Mißtrauen und Ablehnung entgegen. Zudem sehen sie sich in den Betrieben häufig in einer latenten Konkurrenzsituation mit den Gremien der Arbeiterselbstverwaltung, wobei die Situation je nach Betrieb recht unterschiedlich sein kann 23) und auftretende Spannungen zum Teil auch mit unklaren Kompetenzabgrenzungen Zusammenhängen. Partei und Regierung unterstützen schließlich die Gewerkschaften in ihrer Arbeit offenbar keineswegs so eindeutig, wie dies zu vermuten wäre — etwa damit sich die OPZZ-Gewerkschaften durch Leistungsnachweise profilieren könnten.

Die in aller Öffentlichkeit — und in den letzten Wochen und Monaten in einer zum Teil sehr gereizten Atmosphäre — ausgetragenen Konflikte zwischen der Partei und den Gewerkschaften betreffen auch Grundfragen wie die Kriterien für eine Beurteilung der Wirtschafts-und Sozialpolitik 24). Im Ergebnis führt dies dann zu weit auseinanderliegenden Positionen wie z. B. im Falle des Teuerungsausgleichs für die ab 1. Februar 1988 in Kraft getretenen Preiserhöhungen. Die Gewerkschaften forderten 6 750 ZI. während die Regierung lediglich 1 750 Zt anbot 25). Daß die Gewerkschaften mit der Regierung schließlich einen „Kompromiß“ von 6 000 ZI aushandeln konnten, dürfte weniger in ihrer Stärke als in der Furcht der Regierung vor neuen Unruhen begründet liegen. In jüngster Zeit verstärken sich Aktivitäten der OPZZ auch dahin gehend, konkrete Probleme, die zu diffusem Unmut in der Gesellschaft beitragen, offen zu artikulieren und ansatzweise sogar etwas wie Interessengruppen zu formieren. So organisierte die OPZZ Mitte Januar 1988 in Warschau zur drängenden Wohnungsfrage einen „Kongreß der Menschen ohne (eigene) Wohnung“. Zu diesem Kongreß delegierten die Wojewodschaftsorganisationen der OPZZ über 600 Vertreter aus dem ganzen Land, die ihrem Unmut über die katastrophalen Engpässe im Wohnungsbau Luft machten und konkrete Vorschläge zur Abhilfe diskutierten

III. „Opposition“ im „real existierenden Sozialismus“

Politische Opposition ist in realsozialistischen Staaten — zumindest nach der in Polens Nachbarstaaten vorherrschenden „offiziellen“ Lehre — eigentlich axiomatisch ausgeschlossen. Für sie „existiert keine objektive soziale und politische Grundlage“ In Polen wird freilich seit einigen Jahren auch von der Regierung immer wieder von einer im Lande bestehenden Opposition gesprochen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Gruppen, die in Fundamentalopposition zum bestehenden politischen und sozio-ökonomischen System stehen und jede Mitarbeit in dessen Organisationsstrukturen ablehnen, und solcher Opposition, die sich zwar in ihren Wert-und Zielvorstellungen von der Partei unterscheidet, aber im Sinne einer schrittweisen Veränderung des Systems zu einer bedingten Zusammenarbeit mit den etablierten politischen Kräften bereit ist. Dabei sind auch in der zweiten Gruppe deutliche Abstufungen erkennbar. So weigern sich z. B. die mit dem Episkopat liierten katholischen Laien-gruppen. innerhalb von PRON (s. u.) mitzuwirken. Zumindest einzelne ihrer Mitglieder — keineswegs alle angesprochenen — haben sich, wenn auch zum Teil nicht ohne heftige interne Auseinandersetzungen zur Mitarbeit im Konsultivrat beim Vorsitzenden des Staatsrates (s. u.) bereit erklärt. Wenig problematisch ist hingegen das Neben-und Miteinander von PRON-Mitgliedem und episkopatloyalen Katholiken in informellen Diskussionsforen wie der Gruppe „Consensus“.

Mit der Gewerkschaft „Solidarität“ ist die heutige politische Opposition nur sehr bedingt gleichzusetzen. Die „Solidarno" der Jahre 1980/81 hat zwar das politische Bewußtsein der Polen nachhaltig verändert. Ihre Zielsetzungen — z. B. das Streben nach Authentizität der polnischen Gesellschaft — und ihre Nachwirkungen auf das gesellschaftliche Leben Polens werden von einer breiten Mehrheit positiv beurteilt. Die Identifizierung mit der im Untergrund wirkenden „Solidarität“ hat indes deutlich abgenommen wie sich auch an den sinkenden Zahlen derer ablesen läßt, die sie zu Demonstrationen an bestimmten Gedenktagen mobilisieren kann. Die „Solidarität“ hat inzwischen auf einer symbolischen Ebene einen festen Platz im Bewußtsein jedenfalls der breiten Mehrheit der Polen gefunden. und zwar als Symbol von Authentizität und kritischer Aktivität sowie als „Symbol des Glaubens an ein unabhängiges und demokratisches Polen“

In ihrer heutigen Gestalt weist die Opposition eine breite Vielfalt an Positionen und Meinungen — teilweise auch eine innere Zerrissenheit — auf, die ihren Ausdruck in legalen und insbesondere in zahlreichen ohne die Genehmigung der Zensur erscheinenden Publikationen findet» Diese gehören nach einer Art „stillschweigender Übereinkunft“ zwischen der Staatsmacht und der Opposition gewissermaßen zu deren „Besitzstand“. Die Behörden beschränken sich im wesentlichen auf Nadelstiche gegen die Untergrundpresse, ohne sie systematisch zu verfolgen. Das Kolportieren von Untergrundliteratur ist kein „harter“ Straftatbestand mehr, sondern wird unterhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit geahndet, allerdings mit ho-hen Geldstrafen und in etlichen Fällen mit der Konfiszierung von zum Transport verwendeten Autos -eine in Polen besonders empfindliche materielle Strafe.

Gemeinsamer Nenner in der Zielsetzung fast aller Gruppierungen der in sich differenzierten, aber organisatorisch nur wenig verfestigten Opposition ist es, ein autonomes Netz von Beziehungen innerhalb der Gesellschaft aufzubauen, das in der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht genügend Pressionsmöglichkeiten verschafft, um u, a. einen Pluralismus an Meinungen in der Gesellschaft durchzusetzen und auf die Einhaltung der verfassungsmäßigen Rechte zu dringen. Insofern ergibt sich eine direkte Linie zu den Forderungen der Oppositionsbewegung am Ende der siebziger Jahre. Heute bildet die Opposition eine so starke Kraft, daß die Regierung versucht, sie wenigstens in Teilen zu integrieren und den Rest zu dividieren und zu isolieren. Als geschickter Schachzug erwies sich die Amnestie für alle politischen Gefangenen vom Spätsommer 1986. Nach außen, insbesondere gegenüber dem Westen, gewann die politische Führung ein liberaleres Image und erfüllte zugleich eine der zentralen Forderungen der Reagan-Administration, die als Vorbedingung für eine Aufhebung der US-Sanktionen gegen Polen und eine Normalisierung der Beziehungen erhoben worden waren. Nach innen verschaffte sich die Regierung Entlastung dadurch. daß die zugkräftigste Forderung der Opposition gegenstandslos wurde und diese nun weniger leicht Unterstützung in breiteren Kreisen der Bevölkerung mobilisieren konnte. Zugleich war der Opposition ihr vielleicht wichtigster Kohäsionsfaktor genommen worden. Ihre mangelhafte Geschlossenheit und zum Teil auch ihre programmatischen Defizite wurden nun deutlicher sichtbar.

Allerdings wurde etwa von jenem Zeitpunkt an die Oppositionsbewegung von der Staatsmacht insofern de facto anerkannt, als die Behörden seither tolerieren, daß sich ausländische Staatsgäste „in privatem Rahmen“ mit bekannten Repräsentanten der Opposition treffen. Diese entstammen fast durchweg dem Führungspersonal der „Solidarität“ von 1980/81. kaum aber neuen Gruppen wie die 1985 gegründete Friedens-und Umweltbewegung „Freiheit und Frieden“ (WiP), die 1986 ein internationales Friedenstreffen unter Beteiligung westeuropäischer Gruppen organisierte und Wehrdienstverweigerer unterstützt.

Umstritten ist innerhalb der Opposition, ob es sinnvoll ist, bereits jetzt politische „Parteien“ zu bilden. In den letzten Monaten wurden die liberal-konservative „Bewegung der Realpolitik“ und die sozialistische PPS gegründet Kritiker innerhalb der Opposition setzen gegenwärtig eher auf eine Mitarbeit in den sich zur Zeit bildenden unabhängigen Verbänden und Klubs (s. u.)

IV. „Nationale Verständigung“ — in welchem Rahmen?

Schon bald nach der Verhängung des Kriegszustands suchte die politische Führung nach einem institutionellen Rahmen für die von ihr propagierte „nationale Verständigung“. Die Plattform par excellence hierfür sollte die „Patriotische Bewegung der Nationalen Wiedergeburt“ (polnische Abkürzung: PRON) bilden, die im Juli 1982 von der PVAP.den „Bündnisparteien“ ZSL und SD sowie den drei christlichen Gruppen ins Leben gerufen wurde, die mit kleinen Abgeordnetenzirkeln im Sejm vertreten sind. Später traten der PRON. die auch individuellen Mitgliedern offensteht, auch die neuen Gewerkschaften sowie weit über 100 andere Organisationen bei. Die PRON sollte das Forum für die Zusammenarbeit aller derjenigen sein, denen es um das Wohl Polens ging, ungeachtet politischer oder weltanschaulicher Unterschiede, sofern sie nur die bestehende Staats-und Gesellschaftsordnung grundsätzlich akzeptierten

Trotz eines großen Propagandaaufwands und ihr zugewiesener spektakulärer Aktionen — so war es jeweils die PRON, von der formal die Initiative für populäre Maßnahmen wie die Aufhebung des Kriegszustands 1983 oder die Verkündung von Amnestien ausging — konnte die PRON kaum einen größeren Rückhalt in der Gesellschaft gewinnen. Bei einer im Oktober 1984 durchgeführten repräsentativen Umfrage unter 1485 Bürgern aus ganz Polen zu der Frage, wie groß das Vertrauen zu den zehn wichtigsten Institutionen und Organisationen sei, belegte die PRON mit weitem Abstand hinter der Kirche (87, 5 Prozent), dem Militär (77, 2 Prozent), dem Sejm (72, 1 Prozent) und vier weiteren Instanzen mit 54, 2 Prozent den achten Platz, knapp vor der Partei (54, 1 Prozent) und Polizei sowie Sicherheitsdienst (38, 8 Prozent). Bei einer ähnlichen Umfrage im April 1987 gaben 18, 6 Prozent — also jeder sechste Befragte — an, nicht einmal zu wissen, was die PRON sei

Die ihr offenbar zugedachte Rolle einer Clearingstelle für gesellschaftliche Konflikte auf allen Ebenen (von der lokalen bis zur nationalen) konnte die PRON bisher nicht erfüllen. Dazu fehlt es ihr zum einen an einer festen organisatorischen Verankerung bis hinunter zur lokalen Ebene und zum anderen an einer klar umrissenen Aufgabenstellung für die einzelnen Ebenen. Der Intention nach ist sie zwar eine andere Organisation als die völlig diskreditierte und 1983 aufgelöste „Einheitsfront der Nation“ (FJN). Dennoch wurde sie im Bewußtsein vieler Polen schon dadurch mit der FJN assoziiert, daß sie 1983 nach einer Verfassungsänderung deren Platz im staatlichen Institutionensystem einnahm. Ein Pluralismus an politischen Meinungen innerhalb der PRON läßt sich zumindest auf der nationalen Ebene in etlichen kontroversen Diskussionen feststellen, die häufig in der PRON-Wochenzeitung „Odrodzenie" (Wiedergeburt) nachzulesen sind. Dies allein reicht angesichts des Meinungspluralismus in der polnischen Presse aber nicht aus, um der PRON ein größeres Ansehen in der Öffentlichkeit zu verschaffen, zumal Vorschläge für eine weitergehende Demokratisierung des öffentlichen Lebens — z. B. in der Debatte über die Änderung der Wahlgesetzgebung 1984/85 — im Rahmen der PRON zwar geäußert werden konnten, dann aber unberücksichtigt blieben. Symptomatisch für die wenig befriedigende Leistungsbilanz der PRON ist der rasche Wechsel im Amt ihres Generalsekretärs in den letzten Monaten

Wohl nicht zuletzt deshalb, weil die PRON die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte, der politischen Führung aber in Anbetracht der katastrophalen wirtschaftlichen Situation des Landes an einer Verminderung der gesellschaftlichen Spannungen gelegen sein muß und sie zugleich die „Solidarität“ als Gesprächs-oder gar Verhandlungspartner kategorisch ablehnt, wurde seit etwa 1986 auch von Regierungsseite immer offener die Frage diskutiert, wie die Opposition auch institutionell in das bestehende politische System eingebunden werden könne In diesem Kontext ist die Bildung des „Konsultativrats beim Vorsitzenden des Staatsrats“ zu sehen, der im Dezember 1986 erstmals zusammentrat. Dessen — zunächst 56 — Mitglieder wurden von General Jaruzelski persönlich ernannt. Rund 70 Prozent der Mitglieder des Konsultativrats sind parteilos. Unter diesen wiederum finden sich u. a. bekannte Gesellschaftswissenschaftler — auch solche, die mit dem katholischen Episkopat verbunden sind —, sowie Berater und ehemalige Funktionäre der „Solidarität“.

Der Konsultativrat.der seit seiner Gründung etwa alle zwei Monate getagt hat. bestimmt die Themen seiner Sitzungen selbst. Bisher standen heikle Fragen der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Polens im Mittelpunkt, von Erscheinungen „gesellschaftlicher Pathologie“ (s. u.) bis zur Kaderpolitik. Das Gremium besitzt zwar keinerlei Weisungsbefugnis, doch legte die politische Führung bei mehreren Maßnahmen, z. B. bei der 1987 verkündeten Liberalisierung der Paßbestimmungen für „illegal“ im Westen gebliebene polnische Staatsbürger. Wert auf die Feststellung, daß sie Empfehlungen des Konsultativrats folge. Über die Sitzungen des Konsultativrats berichtet die Tagespresse ausführlich. Unzensierte Wortprotokolle mit Beiträgen führender Vertreter der Opposition — wie des aus vielen politischen Prozessen bekannten Verteidigers Wladyslaw Sila-Nowicki — sind (als Sondernummern der Staatsrats-Zeitschrift „Rada Narodowa“) an den Zeitungskiosken erhältlich, doch stoßen sie anscheinend nur auf ein sehr begrenztes Interesse eines breiteren Publikums.

Urteilt man nach der bisherigen, rund einjährigen Praxis, so besitzt der Konsultativrat mehrere Funktionen. Er vermittelt General Jaruzelski, der den Beratungen nach übereinstimmenden Berichten stundenlang konzentriert zuzuhören vermag, „aus erster Hand“ — und nicht durch irgendwelche Instanzen gefilterte — Berichte über Problembereiche oder Problemgruppen innerhalb der Gesellschaft. Es ist dann freilich ausschließlich Sache der politischen Führung, darüber zu entscheiden, ob sie aufeinem bestimmten Feld Initiativen ergreifen will oder nicht. Ferner bindet der Konsultativrat zumin-dest Teile der Opposition quasi-institutionell in das bestehende politische System ein. Und schließlich kann erst nach einer ausreichenden Erfahrungszeit darüber entschieden werden, ob dieses Gremium ein ausbaufähiger Ansatz ist, auch von der politischen Führung abweichende Positionen stärker in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen.

V. Die Schwäche der Partei

Die nach der Verfassung „führende Kraft der Gesellschaft“, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. mußte in den achtziger Jahren mehrere schwere Schläge verarbeiten, etwa das Entstehen einer von der Partei unabhängigen Gewerkschaft 1980 oder die Verhängung des Kriegszustands Ende 1981. Die ideologische, auf dem Marxismus-Leninismus basierende Rechtfertigung für die Machtausübung der Partei war schon in den siebziger Jahren deutlich in den Hintergrund getreten In den achtziger Jahren ist dieser Legitimationspfeiler im Grunde völlig zusammengebrochen und tritt auch im Parteiprogramm von 1986 eher subsidiär auf.

Abgehoben wird nun primär auf die „geopolitische Lage“ Polens — was Rücksichtnahmen auf sowjetische Interessen impliziert —, auf die Tatsache, daß die Partei die Macht gegenwärtig innehat, sowie auf die (erst seit 1976 bestehende) verfassungsmäßige Begründung ihrer Führungsrolle Versuchte die politische Führung früher Legitimität in erster Linie unter dem Begriff „Sozialismus“ zu gewinnen, so steht heute das auf wesentlich breitere Schichten der Bevölkerung zielende Schlagwort „Patriotismus“ im Mittelpunkt ihrer Propaganda.

Sichtbaren Ausdruck fand die Schwächung der Partei in den achtziger Jahren auch in der Entwicklung von Zahl und Struktur ihrer Mitglieder. Der Mitgliederbestand ging von 3, 150 Millionen im Juli 1980 über 2. 327 Millionen Ende 1982 kontinuierlich bis auf 2, 115 Millionen Ende 1985 zurück und weist erst seit 1986 einen sehr bescheidenen Zuwachs auf (Ende 1986: 2, 129 Millionen). Am gravierendsten war der Einbruch in der Altersgruppe bis 29 Jahre, insbesondere bei den 18-bis 24jährigen. Hatten diese 1978 noch 227 848 Parteimitglieder gestellt, waren es Ende 1986 noch ganze 23 140 (1984 sogar nur 19 511). Bei den 25— 29jährigen konnten 1986 122 538 Parteimitglieder registriert werden. Acht Jahre zuvor hatte man in dieser Altersgruppe noch 460 254 Mitglieder der PVAP gezählt.

Die Partei, die laut ihrem Programm darauf bedacht ist, einen hohen Anteil an Arbeitern in ihren Reihen zu haben, wies 1979 unter ihren damals 3, 044 Millionen Mitgliedern 46, 2 Prozent Arbeiter aus. Nach dem August 1980 und der Verhängung des Kriegszustands Ende 1981 müssen die Arbeiter in Scharen die Partei verlassen haben. Seit 1982 werden Rentner nicht mehr als solche (oder in der Rubrik „Sonstige“) ausgewiesen, sondern nach ihrem ehemals ausgeübten Beruf. Dennoch waren 1986 nur 38,0 Prozent der 2, 129 Millionen Mitglieder Arbeiter; 51, 7 Prozent der Mitglieder werden als „Beschäftigte auf Nicht-Arbeiterstellen“ (d. h. Angestellte, Ingenieure, Lehrer u. a.) bezeichnet, 9, 0 Prozent als Bauern

Die Stagnation im Mitgliederbestand der Partei wird offen eingeräumt. Im Referat des Politbüros zum IV. ZK-Plenum 1987 wurde beklagt, daß über 40 Prozent der Grundorganisationen der Partei in den letzten beiden Jahren keinen einzigen Kandidaten für eine Parteimitgliedschaft aufzuweisen hatten. Besonders schmerzlich für die Parteiführung war, daß sich dieser Prozentsatz in den Industrie-betrieben sogar auf 55 Prozent belief. Auch auf dem Lande scheint die Partei organisatorisch kaum präsent zu sein.

Um den drohenden Zusammenbruch der Partei-herrschaft zu verhindern, übernahm das Militär mit der Verhängung des Kriegszustandes Ende 1981 die Macht. Nach seinem Selbstverständnis erfüllte es damit neben den nach außen (auf die Landesverteidigung) gerichteten in verstärktem Maße auch nach innen gerichtete Aufgaben, entsprechend den „konkreten Bedürfnissen des Landes“ Zwar haben die Militärs formell die Macht mit der Beendigung des Kriegszustands an die „zivile“ Partei zurückgegeben. Doch stehen sie weiter als eine Art „Eingreifreserve“ bereit. Mit der Umgestaltung des „Komitees für Landesverteidigung“ (KOK; Vorsitzender: General Jaruzelski) zu einem selbständigen Obersten Staatsorgan im November 1983 haben sie ein Instrument erhalten, im Bedarfsfall grundlegende zivile Kompetenzen an sich zu ziehen. Die Über-oder Unterordnung gegenüber der Regierung scheint dabei rechtlich nicht eindeutig geregelt zu sein. Es war wohl kaum Zufall, daß wenige Tage vor dem Referendum vom 29. November 1987 auch das KOK zusammentrat.

VI. Die unverändert hohe Bedeutung der Kirche

Noch gewachsen ist in den achtzigerJahren der Einfluß der katholischen Kirche im gesellschaftlichen Leben Polens. Der Auftrieb, den sie durch die Papstwahl von 1978 erhalten hat, schlägt sich u. a. in einer ständig steigenden Zahl von Priesterberufungen nieder — ein zumindest in Europa einzigartiges Phänomen, das die Position der Kirche in der polnischen Gesellschaft weiter festigt.

Meinungsumfragen aus den achtziger Jahren belegen die — nicht nur im europäischen Vergleich — enorm hohe kirchliche Bindung der Polen. Bei einer vom Meinungsforschungsinstitut CBOS im Juni 1985 durchgeführten gesamtpolnischen Umfrage erklärten 49, 5 Prozent der Arbeiter, 45, 5 Prozent der „Intelligenz“ und 67, 5 Prozent der Bauern, am vorangegangenen Sonntag die Messe besucht zu haben. Bei einer Umfrage desselben Instituts vom Dezember 1985 erklärten sich 23, 7 Prozent der Befragten für „tief gläubig“, 59, 9 Prozent für „gläubig“. 7, 8 Prozent für „indifferent“ und 7. 2 Prozent für „nicht gläubig“ -Trotz dieser Zahlen ist der Einfluß der Kirche auf das Sozialverhalten der Polen beschränkt, und zwar gerade in solchen Fragen, zu denen Kirche und staatliche Instanzen ähnliche Appelle erlassen — wie z. B. zu den Problemen des ungenügenden Arbeitsethos, des Alkoholkonsums oder des Schwangerschaftsabbruchs.

In zuvor nicht gekannter Zahl haben sich in den achtziger Jahren Intellektuelle und Künstler der Kirche genähert. Sie, die der Kirche früher zum Teil fernstanden, betonen nun die enge Verbindung von Christentum und Kultur insbesondere in Polen. Die Kirche ihrerseits bietet Künstlern, die sich aus primär politischen Gründen kaum einem größeren Publikum vorstellen können, oft buchstäblich ein Dach für Ausstellungen, Vorlesungen etc. und trägt damit zu einer Festigung des kulturellen Pluralismus bei. Während des Kriegszustands organisierte die Kirche zudem Hilfe für Internierte und ehemalige Aktivisten der „Solidarität“, die wegen ihrer früheren Tätigkeit beruflich diskriminiert wurden. Dennoch gab es — vor allem unter dem jüngeren Klerus — Kritik an der angeblich zu „staatstragenden“ Haltung von Kardinal Glemp. Inzwischen besitzt Glemp, der als Nachfolger des „Jahrtausendprimas“ Wyszyriski in einer denkbar schwierigen Zeit sein Amt angetreten hatte, jedoch das Vertrauen der überwältigenden Mehrheit der Polen

Die dritte „Pilgerreise“ des Papstes in seine Heimat im Juni 1987 bedeutete für die demokratische Oppositionsbewegung eine große moralische Stärkung, da Johannes Paul II. bei vielen Gelegenheiten Themen und Forderungen der Opposition auf-griff — von der Achtung der Menschenrechte bis hin zum Recht der Arbeiter auf „unabhängige und sich selbst verwaltende Gewerkschaften“. In Danzig bekannte er sich ausdrücklich zu den Zielsetzungen der „Solidarität“ und erklärte, das „Danziger Abkommen“ bleibe als Aufgabe bestehen Die politische Führung Polens war sichtlich verärgert, daß der Papst kaum lobende Worte für die Liberalisierungspolitik von General Jaruzelski fand und nur wenig Verständnis für deren Probleme angesichts der Wirtschaftsschwierigkeiten des Landes zeigte. Die Regierung hatte zudem offenbar die Hoffnung gehegt, der Papstbesuch könne bewirken, was sie selbst nicht hatte erreichen können, nämlich die Beseitigung der teilweise schon an gesellschaftliche Apathie grenzenden pessimistischen Grundstimmung in der Bevölkerung.

VII. Wachsende Spannungen in der Gesellschaft

In den achtziger Jahren sind in der polnischen Gesellschaft in großem Umfang Erscheinungen aufgetreten, die heute auch in den Massenmedien und im Parlament als „soziale Pathologie“ charakterisiert werden. Beklagt wird insbesondere die sinkende Arbeitsmoral. Diese ist u. a. darauf zurückzuführen. daß die Relation zwischen Arbeit und Lohn vielfach kaum mehr nachzuvollziehen ist und in immer größerem Umfang Geld-und Naturaleinkommen, die nicht am Arbeitsplatz erworben werden, an Bedeutung gewinnen: Zusatzarbeit auf eigene Rechnung oder für Privatbetriebe, Erträge aus Spekulation, aus dem Handel mit schwer erhältlichen Waren, aus dem Verkauf von im Ausland verdienten Devisen etc.

Die Verbindung zwischen Bildung und Arbeitseinkommen ist in den achtziger Jahren stark abgeschwächt worden; das durch die sozialistische Ideologie und in beträchtlichem Maße auch durch die Praxis der Nachkriegszeit gestaltete Motivationssystem wird zunehmend in Frage gestellt Die Folgen sind Geringschätzung der Arbeit und der Bildung. eine hohe Fluktuation der Arbeitskräfte, ferner ein Anwachsen der Kriminalität sowie zunehmender Alkohol-und Drogenmißbrauch Zudem ist die Befriedigung zahlreicher Konsumbedürfnisse im Polen der achtziger Jahre in hohem Maße von informellen Beziehungen abhängig. Mehr als dreiviertel aller Befragten erklärten in einer repräsentativen Umfrage von 1984, Schmiergelder, Bekanntschaften und Beziehungen seien eine „wichtige Erscheinung in unserem gesellschaftlichen Leben“

Angesichts dieser Entwicklungen sowie angesichts des für die breite Mehrheit der Bevölkerung in den achtziger Jahren spürbar gesunkenen Lebensstandards und der Ankündigung weiterer Preissteigerungen verwundert es kaum, daß die wirtschaftliche Entwicklung von der polnischen Bevölkerung immer pessimistischer eingeschätzt wird. Bei einer im November 1987 (zehn Tage vor dem Referendum) durchgeführten landesweiten Erhebung bezeichneten 70 Prozent der Befragten (Dezember 1984: 40 Prozent) die wirtschaftliche Lage Polens als „schlecht“ oder „Sehr schlecht“. 74 Prozent der erwachsenen Bevölkerung beurteilten ihre Einkommen als „schlecht“ oder „sehr schlecht“, nur 7 Prozent als „gut“. 83 Prozent der Familien klagten über die im Vergleich zum Vorjahr gesunkene Kaufkraft ihrer Einkommen. Fast die Hälfte der Befragten (1986: 17 Prozent) erwartete, daß das kommende Jahr noch schlechter als das vorhergehende werde. Ganze 7 Prozent glaubten daran, daß die Wirtschaftsreformen nach zwei bis drei Jahren zu einem Erfolg führen würden. 17 Prozent hielten dagegen einen Fehlschlag für unvermeidlich, und fast zwei Drittel hielten den Ausgang der Reformbemühungen für „in hohem Maße ungewiß“.

Ein deutliches Symptom für das Anwachsen von Spannungen in der Gesellschaft ist der hohe Prozentsatz (80 Prozent) derjenigen, die die Gefahr schwerwiegender sozialer Konflikte vorhersahen. Lediglich 18, 2 Prozent meinten, daß es für den Ausbruch solcher Konflikte in den nächsten Jahren keinen Grund gebe; nach Ansicht von 14 Prozent sind sie dagegen sogar unvermeidlich. Fast 90 Prozent kennzeichneten die Atmosphäre in der Gesellschaft mit den Stichworten „Furcht, Ungewißheit vor dem Morgen, allgemeine Unzufriedenheit, fehlender Glaube an irgendeine Verbesserung“

VIII. Das Referendum vom 29. November 1987

In Kenntnis der Stimmungslage in der Bevölkerung sowie der weiteren materiellen Einschränkungen, die für die Bevölkerung mit der Einführung der „zweiten Etappe“ der Wirtschaftsreform zunächst unweigerlich verbunden sind, entschied sich die politische Führung im Herbst 1987 relativ kurzfristig, ein Referendum zu den beabsichtigten Vorhaben durchzuführen. Zur politischen Entlastung der Re-gierung sollte die Bevölkerung den unpopulären Maßnahmen selbst zustimmen. Wohl um die Billigung der Pläne für die Wirtschaftsreform zu erleichtern. stellte die Regierung zudem auch eine Demokratisierung des politischen Lebens zur Abstimmung.

Am Referendum beteiligten sich 67, 32 Prozent der Stimmberechtigten von denen wiederum 66, 04 bzw. 69, 03 Prozent die von der Regierung vorgeschlagenen wirtschaftlichen und politischen Reformen befürworteten. Insgesamt hatten damit lediglich 44, 28 bzw. 46, 29 Prozent aller Stimmberechtigten ihre Zustimmung gegeben. Das Quorum von mehr als Prozent der Stimmberechtigten, das erforderlich gewesen wäre, um der Vorlage Gesetzeskraft zu geben, hatte die Regierung nicht erreicht.

Damit trat der Fall ein, vor dem mehrere Abgeordnete des Sejms bereits im Mai 1987 bei der Verabschiedung des Gesetzes über Referenden gewarnt hatten. Zu ihnen hatte auch Professor Mikolaj Kozakiewicz (ZSL) gehört, der sich in der ersten Sejm-Sitzung nach dem Referendum kritisch mit der'Quorumsregelung auseinandersetzte. Die Hürde eines hohen Quorums — so Kozakiewicz — sei errichtet worden, um die Staatsmacht bindende Entscheidungen der Gesellschaft zu erschweren — vor allem wohl dann, wenn die Initiative zu einer Vorlage „von unten“ ausgehe. Dieses Mißtrauen gegenüber der Gesellschaft habe mit dem Verfehlen des Quorums nun einen „Bumerang-Effekt“ bewirkt.

Daß die erforderliche Mehrheit knapp verfehlt wurde, lag wohl weniger an den wahltechnischen Ungereimtheiten des Referendums wie z. B.der umständlichen Formulierung der Fragen 50) oder dem höchst ungewöhnlichen Verfahren, die Alternativen nicht ankreuzen, sondern auskreuzen zu lassen (wer sein Kreuz bei „ja" machte, stimmte mit „nein“). Stärker ins Gewicht fiel wohl, daß die Bevölkerung erstmals seit Jahrzehnten zu einer „aktiven“ Stimmabgabe aufgerufen war, ihre Optionen auf dem Stimmzettel also kenntlich machen mußte. Wer — wie seit Anfang der fünfziger Jahre erwünscht und üblich — seinen Stimmzettel unverändert abgab, stimmte nicht zweimal mit „ja“, sondern zweimal ungültig und damit faktisch mit „nein“. Zwar waren nur 0. 4 Prozent der abgegebenen Stimmen ungültig, aber in mehr als 1. 1 Millionen Fällen (oder mehr als 6 Prozent der gültigen Stimmen) blieb eine der beiden Fragen auf den gültigen Stimmzetteln unbeantwortet.

Das „Nein“ zur Wirtschaftsreform dürfte eher in der Furcht vor den nicht absehbaren Folgen der angekündigten Preisreform und in etlichen sehr unpräzisen inhaltlichen Aussagen der Regierung begründet sein, die vor dem Referendum auch in der Presse kritisiert worden waren. Äußerst heterogen war wohl die Ablehnungsfront bei der zweiten Frage zusammengesetzt. Den Vorschlag politischer Reformen dürften sowohl Teile der konservativen Fraktion innerhalb der Partei (die sogenannten Betonköpfe), denen die Demokratisierung zu weit geht, als auch die Befürworter einer viel umfassenderen Demokratisierung abgelehnt haben, denen die vorgelegten vielfach vagen Pläne völlig unzureichend erscheinen mußten. Der hohe Anteil von Nein-Stimmen auf dem Lande soll — so polnische Sozialwissenschaftler — weniger mit dem verwirrenden Abstimmungsverfahren als mit der geplanten Verlagerung von Kompetenzen an die lokale Basis Zusammenhängen. Der Bauer wolle sich lieber Beschlüssen aus Warschau unterwerfen, wo die Zentrale entscheide, ohne daß Schmiergelder gezahlt werden müßten, als daß er sich von einer „politischen Clique“ im Dorf regieren lasse

Das Ergebnis des Referendums bedeutete eine Niederlage für die politische Führung. Diese verwies nun entschuldigend auf das hohe Quorum und betonte. die Zustimmung von 12 Millionen Bürgern zu der von ihr vorgezeichneten Politik sei eine gute Ausgangsbasis. Als Konsequenz aus dem Ergebnis des Referendums wurden die auf den Abbau der nicht mehr finanzierbaren Subventionen zielenden Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und öffentliche Dienstleistungen über einen längeren Zeitraum „gestreckt“. Sie sind aber immer noch drastisch genug: Seit dem 1. Februar 1988 sind z. B. Grund-nahrungsmittel um durchschnittlich 40 Prozent, seit dem 1. April Gas. Strom. Warmwasser. Zentralheizung um 100 Prozent und Kohle um 200 Prozent teurer.

Die Opposition, deren Haltung in den Wochen vor dem Referendum widersprüchlich gewesen war -man hatte geschwankt, ob man das Referendum boykottieren sollte oder nicht —, konnte die Niederlage der Regierung kaum als ihren Sieg feiern, zumal sie selbst kaum realistische Alternativen zum Regierungsprogramm vorlegen kann. In einem Punkt weist das Abstimmungsergebnis jedoch in die Zukunft. Die Beteiligung (67, 3 Prozent) war — wie schon bei den Wahlen zu den Nationalräten und zum Sejm 1984 und 1985 — weit von den früher üblichen 99 Prozent entfernt. Die Polen haben endgültig die Angst überwunden, einer Wahl oder Abstimmung femzubleiben. Dies wird die politische Führung bei der Ausrichtung der in diesem Jahr anstehenden Wahlen zu den Nationalräten zu berücksichtigen haben. Die Führung hat ihrerseits mit dem Referendum ihre Glaubwürdigkeit insofern gestärkt, als sie das offensichtlich authentische Ergebnis einer Abstimmung bekanntgab, die sie mit großem Propagandaaufwand vorbereitet hatte und bei der sie ihr Abstimmungsziel dennoch verfehlte — vor wenigen Jahren noch ein unvorstellbarer Vorgang.

IX. Perspektiven

Wie die Entwicklung in der überschaubaren Zukunft verlaufen wird, ist schwer vorherzüsagen. In Anbetracht der zutiefst pessimistischen Erwartungshaltung der Gesellschaft, wachsender sozialer Spannungen, wenig günstiger ökonomischer Ausgangsdaten und der angekündigten weiteren Preiserhöhungen ist der Ausbruch offener Konflikte nicht auszuschließen. In welche Richtung sie sich entwickeln würden, ist ebenfalls kaum abzuschätzen Sicher ist nur, daß sie die Lösung der drängenden Wirtschaftsprobleme kaum erleichtern würden.

Die wahrscheinlichere Variante ist indes, daß die politische Führung zur Minderung des gesellschaftlichen Drucks weitere Ventile innerhalb des soziopolitischen Systems öffnet. Sie dürfte dabei auch auf das Verständnis der sowjetischen Parteispitzen zählen können. Daß seit Gorbatschows Machtantritt auch in der Sowjetunion grundlegende Reformen propagiert wurden, hat der polnischen Führung die Durchsetzung von Liberalisierungsmaßnahmen gegen innere („Betonfraktion“) und äußere (Kritik aus „konservativen“ Schwesterparteien) Widerstände erleichtert. Wohl noch nie bestand eine so weitgehende politische Übereinstimmung zwischen den Spitzenpolitikern von PVAP und KPdSU wie seit Mitte der achtziger Jahre.

Einen formellen Anknüpfungspunkt für eine weitere Demokratisierung besitzt die polnische Führung in der eben auf diese Zielsetzung ausgerichteten abzielenden zweiten Frage des Referendums. Daß Reformen im Bereich politischer Mitbestimmung eine breite Unterstützung in der Bevölkerung finden würden, belegten Erhebungen von Mitte der achtziger Jahre, in denen Postulate wie Wahlen mit echter Parteienkonkurrenz, die Tätigkeit einer legalen Opposition im Sejm u. a. auf eine hohe Zustimmung stießen

Das erste nach dem Referendum vorgelegte Reformprojekt dieser Art — die „Grundsätze“ für die Änderung des Wahlrechts zu den Nationalräten, die vom Staatsrat für knapp drei Wochen zur „öffentlichen Konsultation“ gestellt wurden — löste allerdings Enttäuschung aus. Zwar wurde in dieser Vorlage das 1984/85 in der öffentlichen Diskussion vergeblich geforderte „aktive“ Wählen akzeptiert, d. h.der Wähler darf seinen Stimmzettel nicht unverändert abgeben, sondern muß seine Präferenz für einen oder ggf. für mehrere Kandidaten deutlich machen. Ferner sollen die Kandidaten nun auf dem Stimmzettel nicht mehr in einer Reihenfolge aufgeführt werden, die das Wahlergebnis wie bisher de facto vorwegnimmt (Plazierung auf den oberen „Mandats“ -bzw. unteren „Nichtmandatsplätzen“), sondern in alphabetischer Anordnung. Das entscheidende Recht der Kandidatennominierung verbleibt aber bei „politischen, gesellschaftlichen und Gewerkschaftsorganisationen“, so daß der Opposition nahestehende Kandidaten kaum nominiert werden dürften. Offensichtlich will die politische Führung auf ihr faktisches Monopol der Kandidatennominierung (noch?) nicht verzichten. Sprecher der „Solidarität“ haben inzwischen deutlich gemacht, daß die Opposition unter diesen Prämissen die Wahlen boykottieren werde Größere Hoffnungen weckt die angekündigte Novellierung der aus dem Jahre 1932 stammenden Verordnung zur Vereinsgesetzgebung. Es ist anzunehmen. daß die Bildung neuer Vereinigungen erleichtert wird und Diskussionszirkel wie die lockeren Gruppierungen „Consensus“ (s. o.), „Dziekania“ u. a. — die zur Zeit bei strenger Auslegung der Gesetze illegal tagen, von den Behörden aber toleriert werden — dann den Status juristischer Personen und damit größere Entfaltungsmöglichkeiten erhalten werden. Bereits jetzt haben sich zur Förderung der privaten Wirtschaft in Krakau eine (von den Behörden inzwischen anerkannte) „Industrievereinigung“ und in Warschau eine „Wirtschaftsvereinigung“ gebildet, die offen die Reprivatisierung von staatlichen Betrieben fordern. Damit differenzieren sich nicht nur die Stimmen in der öffentlichen Diskussion. Mittelfristig könnten mit solchen und weiteren Vereinigungen neue Instrumente entstehen, die den gesellschaftlichen Druck auf die politische Führung verstärken, aber auch kanalisieren können. Diese muß bereits heute in weit größerem Maße als früher Widerstände gegen einzelne ihrer Vorhaben berücksichtigen

Die Partei räumt nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Schwäche und des in der Systemkrise von 1980 offenkundig gewordenen Unvermögens, ihr Macht-monopol in allen Bereichen von Staat. Wirtschaft und Gesellschaft für die ökonomische und soziopolitische Entwicklung des Landes funktional wahrzunehmen, gesellschaftlichen Subsystemen seit einigen Jahren eine größere Autonomie ein. Eigenständige politische und gesellschaftliche Initiativen und Organisationen stoßen aber immer noch auf viele Grenzen. Die Partei(führung) tut sich schwer, das von ihr so häufig propagierte „Subjektsein“ der Gesellschaft und den in den letzten Jahren gekräftigten gesellschaftlichen Pluralismus mit allen Konsequenzen anzuerkennen und auf eine vielfach anzutreffende, bestenfalls als paternalistisch zu bezeichnende Grundhaltung gegenüber der Gesellschaft zu verzichten. Dies ist jedoch unabdingbar, wenn — angefangen auf der lokalen Ebene und in den Betrieben — gesellschaftliche Initiative und Kreativität gefördert werden sollen, ohne die letztlich auch die Wirtschaft nicht gesunden kann. In einer breiteren Perspektive macht dies eine Neubestimmung bzw. überhaupt erst einmal eine präzisere Bestimmung des Führungsanspruchs der Partei erforderlich — ein Problem, das gegenwärtig auch andere kommunistische Parteien Ost-und Südosteuropas beschäftigt.

Insgesamt hat sich die Entwicklung des sozio-politischen Systems der Volksrepublik Polen in den achtziger Jahren nach dem Motto „zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück“ langsam in Richtung Demokratisierung bewegt, und weitere Schritte scheinen möglich. Wenn allerdings führende PVAP-Politiker und vereinzelt sogar Vertreter der Opposition behaupten, das bisher Erreichte zeige, daß das System insgesamt grundsätzlich reformierbar sei, so erscheint dies angesichts der schwierigen Probleme Polens zumindest noch verfrüht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Klaus Ziemer, Polens Weg in die Krise. Eine politische Soziologie der „Ära Gierek“, Frankfurt/M. 1987, insbesondere S. 178 ff.

  2. So der Soziologe Jan Szczepartski in seiner Prognose für die Entwicklung Polens 1988, in: Przeglad Tygodniowy 1, vom 3. Januar 1988, S. 1.

  3. Vgl. Trybuna Ludu vom 22. Januar 1988.

  4. So protestierten auf der Sejm-Sitzung vom 19. November 1987 mehrere Abgeordnete dagegen, daß ihnen die Kandidatin für das Amt der „Fürsprecherin für die Bürgerrechte“ - an deren Person sie nichts auszusetzen hatten - erst einen Tag vor der Abstimmung vorgestellt wurde. Der parteilose Abgeordnete Ryszard Bender, Professor an der Katholischen Universität Lublin, nannte dies ein „Zeichen von Voluntarismus des Sejm-Präsidiums oder von jemandem aus den einflußreichen politischen Lobbies". Er klagte ferner, man dürfe „uns Abgeordnete nicht wie Bauern auf dem Schachbrett behandeln, die jeden Zug unterwürfig hinnehmen“; vgl. Lad vom 20. - 27. Dezember 1987, S. 25.

  5. So u. a. Henryk Groszyk, Marek 2migrodzki, Koalicyjny sposb sprawowania wtadzy (Die koalitionsmäßige Art der Machtausübung), in: Studia Nauk Politycznych, 4 (1987) 88, S. 7-17, hier S. 15.

  6. Piotr Kwiatkowski/Eugeniusz Smilowski. Poslowie IX kadencji o najwazniejszych problemach polityczno-gospodarczych (Die Abgeordneten der IX. Wahlperiode über die wichtigsten politisch-ökonomischen Probleme), in: Biuletyn Centrum Badania Opinii Spoecznej, 1 (1987) S. 67— 82. hier S. 73-76.

  7. Vergleichbar ist lediglich der Verfassungsrat in Ungarn, siehe Ferenc Majoros. Der ungarische Verfassungsrat und das polnische Verfassungstribunal im Vergleich. Bericht des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Nr. 18. Köln 1987.

  8. So u. a. Jerzy Kuciriski, Doskonalenie systemu politycznego potrzeba czasu (Die Vervollkommnung des politischen Systems — Ein Erfordernis der Zeit), in: Nowe Drogi, 9 (1987), S. 14— 29, hier S. 28.

  9. So war Ende 1987 die Jubiläumsnummer (500) der führenden Staatsrechtszeitschrift „Panstwo i Prawo“ (Staat und Recht) ausschließlich Fragen der Verfassungsreform gewidmet.

  10. Vgl. hierzu die Klagen des Chefredakteurs der führenden katholischen Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“, Jerzy Turowicz, in: Tygodnik Powszechny vom 19. April 1987; in größeren Auszügen in deutscher Übersetzung in: Osteuropa, 37 (1987) 12, A 681-685.

  11. Centrum Badania Opinii Spotecznej (Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung).

  12. Der Ausdruck „Nomenklatura“ ist — vermutlich durch den Amtsmißbrauch führender Politiker der siebziger Jahre — offenbar so belastet, daß er heute im offiziellen Sprachgebrauch vermieden wird.

  13. So das Referat des Politbüros für das VI. Plenum des ZK der PVAP. Beilage zu Trybuna Ludu vom 18. November 1987. S. XI.

  14. Takayuki Ito. Nomenklatura in Polen. Die Kontroverse um ein Hauptinstrument politischer Kontrolle der Gesellschaft. Sonderveröffentlichung des Bundesinstituts für ost-wissenschaftliche und internationale Studien. Köln 1983. S. 8.

  15. Vgl. die Berichterstattung von der Sitzung des Konsultativrats, in: Trybuna Ludu vom 30. /31. Januar 1988. S. 1.

  16. So im Regierungsbericht über die Verwirklichung der „gesellschaftlichen Vereinbarungen" anläßlich des Jahrestags ihrer Unterzeichnung 1987. in: Polens Gegenwart. 9 (1987). S. 38-51. hier S. 39.

  17. Rocznik Statystyczny 1987. S. 35.

  18. August Pradetto. Die neuen polnischen Gewerkschaften. Bericht des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und in-ternationale Studien. Nr. 11. Krün 1987. S. 22.

  19. Quelle: Gespräch des Autors mit einem führenden Funktionär der OPZZ. Warschau. Januar 1988.

  20. Vgl. hierzu den Hintergrundbericht von Marek Henzler. Jak liezvi i na co (Wie rechnen und wofür)?, in: Polityka vom 23. Januar 1988. S. 3.

  21. Vgl. Jerzy Baczynski, Cisnienie przez wentyl. Zjazd ludzi bez mieszkan (Druck durchs Ventil. Der Kongreß der Wohnungslosen), in: Polityka vom 23. Januar 1988. S. 6.

  22. Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 19866, S. 695.

  23. So mußte etwa der langjährige Vorsitzende des Warschauer „Klubs der Katholischen Intelligenz“ (KIK), Andrzej wicicki, entsprechend einem Beschluß der KIK-Mitglieder seinen Vorsitz nach Annahme der Mitgliedschaft im „Konsultativrat“ niederlegen, blieb aber KIK-Mitglied.

  24. Vgl. hierzu die die „Solidarität“ betreffenden Abschnitte des Berichts „Opinie Polaköw-Jesieri ’ 85“ (Die Meinungen der Polen — Herbst ’ 85), in: Franciszek Ryszka (Red.). Kultura polityczna spoeczestwa polskiego (Die politische Kultur der polnischen Gesellschaft) (1983— 1985), Teil I, Warszawa 1987, S. 233— 286, hier S. 278. Dabei stimmten den ersten beiden Feststellungen (Bemühen um Authentizität. positive Nachwirkungen) je rund 60 Prozent der Befragten zu. bei 20 bzw. 27 Prozent Unentschiedenen, während 55, 2 Prozent „entschieden“ oder „eher“ der Meinung waren, die Untergrund-„Solidarität“ repräsentiere nicht mehr dasselbe wie jene legale „Solidarität“ (14. 8 Prozent „entschieden“ oder „eher“ nein, 28, 8 Prozent „schwer zu sagen“).

  25. Wojtek Lamentowicz. Die kulturelle Erfahrung der „Solidamosc“. in: Europäische Rundschau, 1 (1987). S. 35— 44. hier S. 42 f.

  26. Die quantitative Dimension der Untergrund-Publikationen verdeutlicht die Zahl von 404 verschiedenen Zeitschriften. die Ende 1985 herausgekommen sein sollen, wovon 210 mindestens seit Ende 1983 erschienen sein sollen. Vgl. Jakub Karpiiiski. Polish Intellectuals in Opposition, in: Problems of Communism, 36 (1987) 4, S. 44— 57. hier S. 55. Karpinski beruft sich auf die führende Untergrund-Wochenzeitschrift „Tygodnik Mazowsze".

  27. Die PPS wurde im November 1987 von einer kleinen Gruppe Intellektueller in Warschau gegründet. Die traditionsreiche PPS war 1948 mit der kommunistischen PPR zur PVAP verschmolzen worden. An diese Partei will die Neugründungbewußt anknüpfen. Die PPS wurde von den Behörden zwar umgehend für illegal erklärt, doch bedarf die Gründung einer politischen Partei nach polnischem Recht keiner Genehmigung — selbst die PVAP ist keine juristische Person.

  28. Vgl. Jürgen Vietig, Der Rahmen des Regimes wird zu eng, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. Januar 1988, S. 10.

  29. Siehe hierzu Dieter Bingen. Die neue polnische Sammlungsbewegung PRON und die Reform des Wahlsystems, Bericht des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 38, Köln 1984.

  30. Quelle für alle genannten Zahlen; Malgorzata Czarzasty, PRON w opinii spoleczehstwa (Die PRON in der Meinung der Gesellschaft), in: Biuletyn CBOS. 3 (1987). S. 106— 121, hier: S. 106 f. und S. 114.

  31. Der Nachfolger des auf dem II. PRON-Kongreß im Mai 1987 abgelösten Generalsekretärs Jerzy Jaskiernia. Jerzy widerski, wurde bereits im Dezember zum Leiter der Abteilung Kaderpolitik des ZK der PVAP berufen. Der neue Generalsekretär. Stanislaw Ciosek. war seit Anfang der achtziger Jahre in verschiedenen Funktionen mit Gewerkschaftsfragen und sozialen Problemen befaßt gewesen. Vorsitzender des PRON-Landesrates ist seit dessen Konstituierung der parteilose (der Vereinigung PAX angehörende) Schriftsteller Jan Dobraczynski (Jahrgang 1910).

  32. Diese Problematik beschäftigt politisch engagierte Intellektuelle schon länger und nun zunehmend intensiver. So fand am 19. Januar 1988 in der Warschauer Universität eine Diskussionsveranstaltung der Gruppe „Consensus“ statt, an der rund 120 Professoren. Journalisten und andere Intellektuelle — von PVAP-Mitgliedern bis zu Vertretern der episkopatloyalen katholischen Laien und prominenten Mitgliedern der „Solidarität“ — teilnahmen. Themen der Diskussion waren die Zweckmäßigkeit und der Tätigkeitsbereich von Opposition unter den Bedingungen des Sozialismus sowie Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Opposition. Vgl. „Consensus“ o opozycji („Consensus“ zur Opposition), in: Odrodzenie vom 30. Januar 1988. S. 2.

  33. Vgl. K. Ziemer (Anm. 1). S. 65ff.

  34. Vgl. hierzu ausführlicher Wojciech Lamentowicz. Die Legitimation politischer Herrschaft in Polen seit 1944. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 23, Köln 1986.

  35. 1.3% Sonstige; Quelle für alle Zahlenangaben: Rocznik Statystyczny 1986. S. 34, und 1987, S. 33.

  36. Jerzy Muszyriski. Formacje zbrojne w systemie politycznym PRL (Die bewaffneten Formationen im politischen System der VRP). in: Panstwo i Prawo. 5 (1986) 483. S. 33— 45, hier S. 37.

  37. 1979 gab es 5 845 Seminaristen und 589 Priesterweihen, 1987 lauteten die Zahlen 9 038 und 1 009. Die Zahl der Geistlichen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 20 198 auf 23 432; vgl. Tygodnik Powszechny vom 17. Januar 1988, S. 7.

  38. Gleichzeitig erklärten 41. 4 Prozent, regelmäßig religiös zu praktizieren. 34. 3 Prozent gaben an. dies unregelmäßig zu tun. während 14. 0 Prozent nur bei Gelegenheiten wie Hochzeit oder Taufe und 7. 2 Prozent nie praktizieren; siehe Polska Agencja Prasowa. Redakcja Dokumentacji Prasowej. Przed III podr 2 Jana Pawla II do Polski. Kocio rzymskokatolicki i inne wspölnoty wyznaniowe w Polsce (Vor der III. Reise von Johannes Paul II. nach Polen. Die römisch-katholische Kirche und andere Bekenntnisgemeinschaften in Polen), o. O.. o. J. (Warschau 1986), S. 25 und S. 29.

  39. Jüngstes Beispiel ist die Rede des — der Kirche allerdings schon immer nahestehenden — Komponisten Krzysztof Pen~

  40. In einer im Herbst 1985 von Soziologen der Universität Warschau durchgeführten gesamtpolnischen Erhebung erklärten auf die Frage, ob sie zu folgenden Personen Vertrauen hätten, „entschieden ja“ oder „eher ja“: zum Papst 97. 4 Prozent der Befragten und zu Primas Glemp 86. 6 Prozent. zu General Jaruzelski 69. 2 Prozent, zu Lech Watsa 34. 4 Prozent. Siehe Opinie Polaköw - Jesie ‘ 85 (Anm. 29). S. 257.

  41. Vgl. die Auszüge aus den während der Papstreise gehaltenen Reden in deutscher Übersetzung in: Osteuropa. 37 (1987) 12, A 663- 680. insbesondere A 676. sowie die Einleitung von Karl Hartmann. Die dritte Papstreise nach Polen, in: ebd.. A 661-663.

  42. Vgl. hierzu im einzelnen Edmund Wnuk-Lipirtski (Red.), Nieröwnosci i uposledzenia w Swiadomo ci spolecznej (Ungleichheiten und Benachteiligungen im gesellschaftlichen Bewußtsein), Warszawa (PAN/IFis) 1987.

  43. Im April 1986 versammelte General Jaruzelski in seiner Eigenschaft als Staatsratsvorsitzender mehrere Dutzend Persönlichkeiten (Politiker, Soziologen, Mediziner, u. a.), um in aller Offenheit Probleme der „gesellschaftlichen Pathologie" zu erörtern. Die einzelnen, zahlreiche Beispiele für Mißstände enthaltenden Beiträge sind publiziert in dem Band: O kondycjf moraln spoleczenstwa (Zum moralischen Zustand der Gesellschaft), Warszawa 1986.

  44. Vgl. die Angaben in E. Wnuk-Lipiriski (Anm. 45),

  45. Alle Daten entstammen dem Artikel von Jerzy Baczyriski, Obnic 2ka przed podwyszk? Nastroje spoteczne wyraznie si pogorszyty (Senkung vor der Erhöhung? Die gesellschaftliche Stimmung hat sich deutlich verschlechtert), in: Polityka vom 9. Januar 1988, S. 3. wo die Umfrage von CBOS ausführlich referiert wird. — Der Leiter von CBOS, Oberst Dr. habil. Stanislaw Kwiatkowski, hatte im polnischen Fernsehen die Stimmungslage der Bevölkerung zur Jahreswende mit schwarzem Humor in Form eines in Warschau kursierenden Witzes wiedergegeben: Die Leute erwarteten. daß 1988 ein durchschnittliches Jahr werde, schlechter als 1987, aber besser als 1989.

  46. Die niedrigste Abstimmungsbeteiligung gab es in den Wojewodschaften Danzig (Gdansk) mit 56. 3 Prozent und Lodz mit 58. 7 Prozent, die höchsten in den Wojewodschaften Schneidemühl (Pila) mit 76. 55 Prozent und Siedlce mit 76. 6 Prozent; vgl. Rzeczpospolita vom 1. Dezember 1981. S. 3.

  47. Frage 1: Bist Du für eine volle Realisierung des vom Sejm vorgelegten Programms zur radikalen Sanierung der Wirtschaft. das darauf abzielt, die Lebensbedingungen der Bevölkerung deutlich zu verbessern, obwohl Du weißt, daß dies erfordert, eine zwei-bis dreijährige schwierige Periode rascher Änderungen zu durchlaufen? Frage 2: Befürwortest Du das polnische Modell einer tiefgreifenden Demokratisierung des politischen Lebens, die darauf abzielt, die Selbstverwaltung und die Bürgerrechte auszubauen und das Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung zu erweitern? — Erläutert wurden die Zielsetzungen kaum weniger umständlich in insgesamt zum Teil sehr allgemein gehaltenen „Thesen“.

  48. Alle diese Erklärungen des Abstimmungsverhaltens sind bisher mehr oder weniger plausible in Polen zu hörende Annahmen. Eingehendere empirische Untersuchungen polnischer Sozialwissenschaftler sind gerade erst in Angriff genommen worden.

  49. Nach ersten Veröffentlichungen des Statistischen Haupt-amts wuchs 1987 das erzeugte Nationaleinkommen langsamer als in den Vorjahren und als im Plan vorgesehen; die Löhne stiegen durchschnittlich um 21 Prozent, die Lebenshaltungskosten um rund 26 Prozent.

  50. Der Gewerkschafts-Vorsitzende Alfred Miodowicz erklärte, er sei überzeugt, daß es bei einer Einführung der radikalen Variante der Wirtschaftsreform (d. h. ohne die Modifizierungen nach dem Referendum) „Straßenlärm“ gegeben hätte, wobei es schwer zu sagen sei. ob dieser Lärm auf der Marszalkowska-Straße in Warschau aufgehört oder das ganze Land erfaßt hätte. Siehe Polityka vom 9. Januar 1988,

  51. Für die beiden genannten Forderungen: 65, 0 Prozent Ja-und 7. 3 Prozent Nein-Stimmen bzw. 59. 4 Prozent Ja-und 10, 1 Prozent Nein-Stimmen (Rest: „schwer zu sagen“). Siehe Opinie Polaköw — Jesie ‘ 85 (Anm. 29), S. 280.

  52. Der Hinweis von Regierungsseite, daß auch die „Bürgerkonvente“ bei den Vorsitzenden der Wojewodschaftsnationalräte das Recht erhalten sollten. Kandidaten zu benennen,

  53. So gab die Regierung im Herbst 1987 Pläne zur Novellierung des Zensurgesetzes auf. nach denen gegen Entscheidungen der Zensur nicht mehr der betroffene Autor, sondern nur noch seine Redaktion Widerspruch einlegen können sollte (was außer bei den katholischen Zeitschriften vermutlich nur wenige Redaktionen getan hätten). Zu der harten Kritik an diesen Plänen in der Öffentlichkeit siehe u. a. Stanislaw Po-demski. Nie do obrony (Nicht zu verteidigen), in: Polityka vom 7. November 1987. S. 7.

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