Das INF-Abkommen über eine Beseitigung der Mittelstreckenraketen ist auch ein europäischer Vertrag. Es besitzt nicht nur einen hohen politischen Symbolwert für die beiden Weltmächte und ihre künftige Abrüstungspolitik, es ist auch von nicht minder großer sicherheitspolitischer Bedeutung für Europa. Es handelt sich um das erste Abrüstungsabkommen auf der Grundlage asymmetrischer Reduktionen, umfaßt mehrere Kategorien von Waffen und ein recht weitgehendes Verifikationssystem. Es könnte damit Vorläufer für weitere Abrüstungsabkommen werden. Trotzdem wirft das Abkommen zumal für Europa schwierige Fragen auf: einmal über Motive und Ernsthaftigkeit der sowjetischen Abrüstungspolitik, sodann über seine Auswirkungen auf das westliche Bündnis und die Zukunft der amerikanischen Schutzgarantie für Europa und schließlich über den weiteren Kurs westlicher Abrüstungspolitik. Beim Fehlen eines gemeinsamen Konzepts schwanken die Meinungen über den nächsten Schritt: einer völligen Entfernung aller Nuklearraketen („dritte Null-Lösung“) oder konventioneller Abrüstung. In jedem Fall wird Europa jede weitere Abrüstung an zwei Bedingungen knüpfen müssen: an eine sorgfältige Abstimmung mit den Vereinigten Staaten und an die Bedingung, daß Abrüstung nicht die Optionen für einen politischen Wandel in Europa verengen darf. Um beides zu erreichen, werden die Europäer sich deshalb nicht nur verstärkt auf ihre eigene Verantwortung bei der Rüstung, sondern auch bei der Abrüstung besinnen müssen.
„Das INF-Abkommen ist nicht allein ein amerikanischer Vertrag. Es ist ein Vertrag für die Allianz — ein europäischer Vertrag.“ Diese Worte des demokratischen Mehrheitsführers im amerikanischen Senat. Robert C. Byrd, umschreiben recht genau Natur und Vieldeutigkeit des von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichneten Vertrages über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen längerer und kürzerer Reichweite (INF)
Es ist in der Tat ein Abkommen, das ein hohes Maß an politischem Symbolwert für die beiden Weltmächte und ein nicht minder hohes Maß an sicherheitspolitischer Bedeutung für Europa besitzt. Zum ersten haben sich Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow anläßlich ihres Treffens in Washington in schöner Einmütigkeit geäußert; über Gewicht und Bedeutung der sicherheitspolitischen Dimension sind sich die Europäer keineswegs so einig. Das dritte Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow botjedenfallsjenes nicht allzu häufige und daher um so bemerkenswertere Schauspiel. bei dem sich die rivalisierenden Weltmächte durch die doppelte Sorge über gegenseitige Aufrüstung und für gemeinsame Abrüstung einvernehmlich zusammengeführt und ihren jahrelangen Hader wie von Zauberhand weggewischt sehen.
Die übrige Welt, Europa zumal, verfolgt dieses seltsame Schauspiel mit Erleichterung und Skepsis zugleich: Erleichterung, weil sich hier Aufhellungen am weltpolitischen Horizont abzeichnen, die für die Zukunft hoffnungsvoller stimmen; Skepsis, weil dieser Sinneswandel der Großen sich so atemberaubend schnell vollzog und damit wohl auch genau so schnell wieder umschlagen kann; Skepsis aber auch, weil der Verzicht auf Mittelstreckenraketen weder vitale sowjetische noch amerikanische Sicherheitsinteressen. wohl aber solche von Drittländern berührt.
Zu diesen „Dritten“ gehört nun Europa in allererster Linie. Senator Byrd hat dies im positiven Sinne gemeint, als er den INF-Vertrag als einen „europäischen“ bezeichnete. In der Tat: Europa ist zugleich seine Bühne und sein Adressat. Es ist — oder war — Stationierungsort der numerisch geringeren amerikanischen und Ziel der unvergleichlich zahlreicheren sowjetischen Raketen; es ist — oder war — Ausgangspunkt der amerikanischen Raketen mit Ziel Sowjetunion, die ihrerseits den Hauptteil ihrer Raketen (die SS-20) auf eigenem Territorium stationiert hat. In dieser doppelten Asymmetrie von „Stationierungsgeographie“ und numerischer Diskrepanz liegen Bedeutung und Pferdefuß des INF-Abkommens zugleich.
Das INF-Abkommen
Der Inhalt des Abkommens läßt sich trotz seines Umfanges in einem Satz umschreiben: Die beiden Weltmächte wollen innerhalb von nur drei Jahren sämtliche ihrer Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km beseitigen und haben hierfür ein detailliertes Verifikationssystem sowohl auf ihrem eigenen Territorium wie auf jenem der europäischen Stationierungsländer vereinbart
Bedeutung und Problematik des INF-Abkommens werden sichtbar, wenn man es in den Gesamtzusammenhang sowohl der bisherigen wie der in Zukunft anvisierten Abrüstungsverhandlungen stellt. Das, was lange Zeit zwar nicht ganz korrekt, aber griffig als „eurostrategische Waffen“ (Reichweite von 1 000 bis 5 000 km) bezeichnet wurde, erhielt durch das Aufkommen der sowjetischen SS-20 (Reichweite bis zu 5 500 km) erst seine strategi-sehe und politische Dimension. Sie waren die eigentlichen „Grauzonen-Waffen“, die sich in die herkömmlichen Eskalations-Kategorien von konventionellen Streitkräften, taktischen Nuklearwaffen und strategischen Waffen nicht einreihen ließen. Denn das Besondere dieser SS-20 war, daß sie nicht allein Westeuropa, sondern weit darüber hinaus praktisch den ganzen eurasischen Kontinent und teilweise angrenzende Gebiete (wie das nördliche Afrika) abzudecken vermochten. In diesem Sinne verbanden sie erstmals den europäischen mit dem asiatischen Schauplatz und wurden dementsprechend auch von Ländern wie China und Japan als potentielle Bedrohung in gleichem Maße empfunden wie von den Westeuropäern.
Die SS-20 bildeten damit sowohl im geographischen wie im strategischen Sinn einen neuen Faktor. Nach westlicher Interpretation sollten sie der Sowjetunion jenes Drohpotential in die Hand geben, das die NATO aus Furcht vor einem globalen Nuklear-krieg vom Einsatz nuklearer Waffen in Europa abhalten sollte und damit der Sowjetunion die Chance eines entweder mit taktischen Nuklearwaffen oder mit konventionellen Streitkräften zu gewinnenden Krieges gegeben hätte Wie immer man auch — heute sozusagen „post festum“ — über Motive, waffentechnische Herkunft und strategische Einsatzdoktrin dieser SS-20 denken mag: Sie waren das auslösende Moment nicht nur für die gesamte westliche INF-Debatte sondern führten auch zu einer wenigstens zeitweiligen „Sicherheitsgemeinschaft“ Japans mit dem Westen. Diese fand ihren ersten und wichtigsten Niederschlag in der Erklärung der Staats-und Regierungschefs der sieben größten westlichen Länder in Williamsburg von 1983. In ihr solidarisierte sich der damalige japanische Ministerpräsident Nakasone mit der Sorge der Atlantikpakt-Staaten gegenüber diesem ständig anwachsenden Potential sowjetischer Raketen Diese schufen damit erstmals eine Globalisierung der Bedrohungsgefühle gegenüber anderen als strategischen Waffen und entsprechend ein auf Asien erweitertes Interesse an ihrer Beseitigung. Wenn diese einmal durchgeführt sein wird, dürfte sich das abrüstungspolitische Interesse der Japaner — und auch der Chinesen — wieder allgemeinen Abrüstungsproblemen zuwenden. Europas Sicherheitssorgen werden dann wiederum spezifisch europäisch.
Wahrscheinlich ist es gerade dieser „GrauzonenCharakter“, der den INF einen speziellen Platz in der bisherigen Abrüstungsgeschichte zuweist. Sie haben im Zusammenhang mit der „Nachrüstung“ — der Aufstellung amerikanischer INF-Waffen (Pershing-II und Marschflugkörper) in Europa -eine in ihrer Heftigkeit wohl einmalige Kontroverse über Rüstung und Verteidigung ausgelöst; sie haben den seit Jahren blockierten Verhandlungen über konventionelle und nukleare Abrüstung einen wesentlichen Anstoß gegeben.
Vor diesem Hintergrund ist der Stellenwert des INF-Abkommens, soweit dies heute schon möglich ist. zu bewerten. Was immer auch die Motive gewesen sein mögen, die beide Weltmächte schließlich zu einer Einigung geführt haben: Das Abkommen selber kann in mancher Weise als ein Durchbruch bezeichnet werden. Es bleibt abzuwarten, ob es zugleich auch ein Vorläufer oder gar Vorbild für weitere Abkommen werden wird.
Sicher ist jedenfalls so viel:
1. Es handelt sich um das erste Abrüstungs-Abkommen: Es werden Waffen nicht nur auf einem bestimmten Stand „eingefroren“ oder Höchstgrenzen gesetzt (wie dies bei den beiden Abkommen über eine Begrenzung der strategischen Waffen der beiden Weltmächte — SALT — der Fall war), sondern tatsächlich beseitigt.
2. Es wurde möglich durch die Bereitschaft beider Seiten zu asymmetrischen Reduktionen: Die Sowjetunion ist bereit, ihre wesentlich höheren Bestände an Trägerwaffen und Sprengköpfen abzubauen. Weshalb sie dies tat, wird noch/zu erörtern sein. In jedem Fall kommt die von Generalsekretär Gorbatschow auch in anderem Zusammenhang anerkannte Möglichkeit — wenn nicht gar Notwendigkeit — eines ungleichgewichtigen Abbaus von Rüstung oder Streitkräften hier erstmals zum Tragen. Dahinter steht — endlich — die Einsicht hüben und drüben, daß bei solchen Abrüstungsmaßnahmen nicht so sehr die Vergleichbarkeit oder gar Symmetrie in den Zahlen, sondern das angestrebte Endergebnis ausschlaggebend und richtungsweisend sein soll. Im Fall des INF-Abkommens war es die „doppelte Null-Lösung“.
Wie asymmetrisch dieser Abbau beider Kategorien von Raketen ist, zeigt zum einen die Übersicht (S. 5). zum anderen der Vertragstext. In ihm sind die genauen Stationierungs-. Versuchs-und Produktionsstandorte der abzubauenden Raketen aufgelistet. Bei den amerikanischen nimmt dies wenige, bei den sowjetischen eine Viehlzahl von Seiten ein.
3. Das Abkommen betrifft nicht nur eine, sondern mehrere Kategorien von Waffen, die ihrerseits Systeme mit sehr unterschiedlicher Reichweite und Wirkung umfassen. So lassen sich die mit je drei Sprengköpfen ausgerüsteten sowjetischen SS-20 mit einer Reichweite von bis zu 5 500 km nur schwer mit den amerikanischen Pershing-II Raketen vergleichen, die nur einen Sprengkopf und eine Reichweite von knapp 1800 km haben. Trotzdem werden sie. zusammen mit den reichlich alten sowjetischen SS-4 bzw. SS-5 und den hochmodernen landgestützten amerikanischen Marschflugkörpern („Ground-launched Cruise Missile“, GLCM) der gleichen Kategorie von „Mittelstrecken-Raketen mit längerer Reichweite“ zugerechnet.
Ähnliches gilt für die Raketen kürzerer Reichweite, zu denen auf sowjetischer Seite die modifizierten SS-12 und die SS-23, auf amerikanischer Seite die 72 in der Bundesrepublik stationierten überholungsbedürftigen Pershing 1A gehören. Ihre Beseitigung soll dann zur „zweiten Null“ führen.
4. Das eigentliche Novum des Abkommens ist aber wohl das erstaunlich weitgehende, wenn auch sicher längst nicht vollkommene Verifikationssystem. Beide Seiten akzeptieren die Anwesenheit von einigen hundert Inspektoren auf ihrem Territorium für die Dauer von mindestens dreizehn Jahren. Sie akzeptieren Kontrollen nicht nur bei der Zerstörung der Raketen, sondern in der unmittelbaren Umgebung der Produktionsstätten Kontrollen, die mit sehr kurzen Voranmeldezeiten verlangt werden können. Die Überwachung wird sich — ebenfalls eine „Premiere“ — auch auf Drittstaaten ausdehnen, in denen Mittelstreckenraketen stationiert sind. Dies betrifft die Bundesrepublik. Großbritannien. Italien und Belgien auf westlicher, die DDR und die Tschechoslowakei auf östlicher Seite. Die Niederlande haben — nach langen innenpolitischen Auseinandersetzungen — einer Stationierung von Marschflugkörpern schließlich zwar zugestimmt, aber damit noch nicht begonnen.
Selbst die Amerikaner haben diese weitgehende Art einer Verifikation vor Ort nur ungern akzeptiert. Die Vorstellung, sowjetischen Experten Einsicht in strategisch und technologisch empfindliche Bereiche nehmen zu lassen, ist auch ihnen zumindest ungewohnt, wenn nicht gar sichtlich unangenehm. Wieviel schwieriger muß der Entschluß zu solcher Verifikation der Sowjetführung gefallen sein! Worauf die Amerikaner stets gepocht und woran sie wohl selber nicht ernsthaft geglaubt haben, wurde unter Gorbatschow Tatsache: Die Sowjetunion hat ihren bisher fast hermetisch abgeschlossenen militärischen Sektor für bestimmte und örtlich begrenzte Inspektionen geöffnet. Wie ungewohnt, ja eigentlich sträflich dies für sowjetische Funktionäre gewesen sein muß, beweist die Bemerkung eines sowjetischen Unterhändlers in Genf, der seinem amerikanischen Kollegen Angaben über Raketen seines Landes mit der Bemerkung überreichte: „Wenn ich das vor zwei Jahren getan hätte, wäre ich erschossen worden.“
5. Zusätzliche Sicherheitsventile für die Einhaltung des Abkommens bilden einmal eine speziell eingesetzte „Sondernachprüfungskommission“ („Special Verification Commission“) und die kürzlich in den beiden Hauptstädten errichteten „Zentren für die Verminderung des nuklearen Risikos“ („Nuclear Risk Reduction Centers“). Insofern findet das Abkommen also auch eine institutioneile Abstützung. Dieses Verifikationssystem wird seine Feuerprobe erst noch zu bestehen haben. Es wird letztlich nur so gut oder so schlecht sein wie das Interesse der beiden Mächte an der Einhaltung des Abkommens. Trotzdem schafft es einen Präzedenzfall für weitere Abkommen. Es liegt nicht zuletzt am Westen, seine wesentlichen Elemente aufzunehmen, fortzuentwickeln und bei der nächsten Gelegenheit den neuen Erfordernissen anzupassen. Der Westen wird allerdings dann auch nicht um die Frage her-umkommen, wieweit er willens ist, solche sich erweiternden Verifikationsbestimmungen bei sich selber zu tolerieren.
Fragezeichen zu INF
Kein Zweifel: Das nunmehr geglückte INF-Abkommen, dessen Ratifikation durch den amerikanischen Senat derzeit als ziemlich gesichert erscheint, wirkt wie ein Frühlingsregen auf die erfolgsmagere Abrüstungslandschaft. Sie schafft Bewegung und Antrieb — auch neue, wahrscheinlich übertriebene Hoffnungen. Jedenfalls haben sich Reagan und Gorbatschow in Washington zugesagt, ihre Verhandlungen über einen fünfzigprozentigen Abbau ihrer strategischen Arsenale zu beschleunigen. Sie haben dafür bereits ziemlich eingehende Zielvorgaben gemacht, die heikle Frage des Verhältnisses zwischen diesem Abrüstungsziel und den strategischen Defensivwaffen aber offen gelassen Beide möchten ein solches zweites Abkommen anläßlich des Gegenbesuches von Reagan in Moskau im Frühsommer unter Dach und Fach bringen.
In Europa drängen, je nach Stimmungs-und Erwartungslage, Regierungen und öffentliche Meinung ebenfalls auf weitere Verhandlungen. Auf ihrer Traktandenliste stehen aber andere Themen: Neben einem Verbot der chemischen Waffen sind es vor allem ein Abbau der konventionellen Rüstung und die Beseitigung der noch verbleibenden Kurz-Strecken-Raketen, also das, was die „dritte NullLösung“ genannt wird.
Hier nun setzen die Meinungsverschiedenheiten ein: über Dringlichkeit und Priorität des einen oder anderen Abrüstungsschrittes, über dessen Wünschbarkeit und institutioneile Zuordnung, über Verhandlungsraum und Verhandlungsmethode sowie über das, was letztlich mit einer solchen Abrüstung und Rüstungskontrolle über das rein Sicherheitspolitische hinaus für Europa und das Ost-West-Verhältnis eigentlich erreicht werden soll. In diesem Sinne beginnt jetzt erst jene INF-Debatte, die sich in dem kurzen Jahr seit dem „Vorgipfel“ von Reykjavik dank des beschleunigten Tempos der beiden Weltmächte und deren mehr oder weniger sanftem Druck auf die Verbündeten so recht gar nicht hatte entfalten können.
Reykjavik war. trotz oder vielleicht sogar wegen seines Scheiterns, der eigentliche Auslöser der nun einsetzenden Debatte. Hier umriß Gorbatschow die Konturen sowjetischer Konzessionsbereitschaft, hier überraschte Reagan die Welt und seine Verbündeten mit dem Vorschlag eines vollständigen Abbaus aller strategischen Waffen, und hier fanden sich die beiden Staatschefs in der Vision einer von Nuklearwaffen befreiten Welt. Bei all dem — von SDI zu Irangate, von Tschernobyl bis Glasnost oder von Reykjavik bis Washington — sah sich Europa als atem-und sprachloser Zuschauer, der die vielfältigen Wandlungen und Kehrtwendungen der beiden Großen zwar mitverfolgen, aber nicht mitgestalten konnte Die Schockwirkung blieb nicht aus. und das Erkennen neuer Realitäten für Europa folgte ihr auf dem Fuße; Europa wird nicht mehr um die Beantwortung der Frage herum-kommen. was INF für seine Sicherheit bedeutet, was ihm folgen soll und welches seine. Europas. Rolle und Beitrag dabei sein sollen.
Was immer man auch über die weder politisch noch strategisch sehr glückliche „Nachrüstung“ (also die nach schwierigen Kämpfen und Kontroversen durchgesetzte Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern) sagen mag — eines wird heute weithin anerkannt: Sie hat auf sowjetischer Seite genau jenes Interesse an Verhandlungen und dann auch Zugeständnissen geweckt, das den Boden für das INF-Abkommen vorbereitete. Man kann nachdenklich und wehmütig darüber philosophieren, warum ein in jeder Beziehung so aufwendiger Umweg zu dem Abkommen nötig war. Es ist letztlich auch unerheblich, ob die am stärksten umkämpften Pershing-II Moskau wirklich hätten erreichen können oder nicht. Ausschlaggebend war. daß sie auf sowjetischer Seite in vielfachem Sinne als eine ebenso ungewohnte wie direkte Bedrohung empfunden wurden: Sie standen in empfindlicher Nähe und zudem auf deutschem Boden. Vor allem aber drohten sie genau jenen Vorteil der Sowjetunion gegenüber Europa zu unterlaufen, der den sowjetischen Mittelstrecken-Raketen erst eigentlich ihren militärpolitischen Sinn gab — nämlich die Möglich-keit, die europäischen Verbündeten der Vereinigten Staaten mit einem Nuklearschlag zu bedrohen, ohne daß letztere sich unmittelbar und zwangsläufig zu einem nuklearen Gegenschlag gezwungen gesehen hätten.
Mit der Beseitigung der Pershing-Raketen weicht nun dieser drohende Schatten, sicher zur Erleichterung der politischen und militärischen Führung in Moskau. Selbst wenn die Militärs sich nur ungern von den SS-20 Raketen trennen werden, so können sie es mit der beruhigenden Gewißheit tun, daß sie dank des noch verbleibenden nuklearen und konventionellen Potentials keine sicherheitspolitischen Optionen aufgegeben haben. Die Sowjetunion verfügt — mit anderen Worten — nach wie vor über jenes Rüstungspotential, das sie zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen auf dem Kontinent als unentbehrlich betrachtet. Die Amerikaner ihrerseits gewinnen hinsichtlich des Einsatzes ihres Nuklearpotentials wiederum eine größere Handlungsfreiheit zurück. Mit dem Rückzug ihrer Mittelstreckenwaffen aus Europa gehen nämlich die europäischen Verbündeten ihres Mitbestimmungsrechtes über deren Einsatz und damit ihrer Einflußnahme auf amerikanische nukleare Entscheidungen verlustig.
Wandel in Moskau?
Diesen eher pessimistischen Betrachtungen wird man entgegenhalten, daß sie — wenn überhaupt — nur teilweise berechtigt sind, der „Wende“ in der sowjetischen Abrüstungspolitik aber nicht gerecht werden. Dieser Einwand verdient Beachtung. Es ist kaum zu bestreiten, daß bereits Andropow und dann erst recht sein Schützling und indirekter Nachfolger Gorbatschow ihr Land aus einer zunehmend sterilen außenpolitischen Isolierung herausführen wollten, in die es sich im Zuge der Nachrüstungskontroverse selber hineinmanövriert hatte. Gorbatschow ist dies denn auch dank einer Reihe abrüstungspolitischer Initiativen und erstaunlicher diplomatischer Beweglichkeit gelungen. Beides sollte nicht unterschätzt, sondern vielmehr zugunsten eines möglichst fruchtbaren, der gegenseitigen Sicherheit dienlichen Dialoges benutzt werden.
Dennoch bleibt Vorsicht angezeigt. Noch steht nicht fest, wie weit Gorbatschows „neues Denken“ repräsentativ für den erhofften Sinneswandel in der sowjetischen Führungselite ist und wie tief er dort greift, wo sowjetrussische Traditionen und Verhaltensweisen berührt werden. Nirgends ist der Spielraum für Wandlungen und Neuorientierungen enger als im Bereich des traditionell überbewerteten Begriffs nationaler Sicherheit. Das gilt sowohl für seine innere wie äußere Komponente. Es ist richtig — und nur zu begrüßen —, daß Gorbatschow den Stellenwert militärischer Macht in der sowjetischen Außen-und Weltpolitik zugunsten anderer, nicht-militärischer Elemente zurückstufen möchte. Das wird aber nur gelingen, wenn diese nicht-militärischen Bereiche — sprich: Wirtschaft, Technologie, Mobilisierung der brachliegenden geistig-intellektuellen Reserven — eine breit fundierte und dauerhafte Verstärkung erfahren. Ein Langzeitprogramm also im besten Fall, hinter dessen Erfolgschancen viele Fragezeichen gesetzt werden müssen.
Aber selbst im Falle eines Gelingens bleiben ein unverhältnismäßig hoher Sicherheitsbedarf für das Regime im Inneren und die belastende Hypothek einer Kontrolle über Osteuropa hinreichende Gründe für übergewichtige militärische Stärke.
Dies führt zurück zu den eher bescheidenen Auswirkungen des INF-Abkommens auf die strategischen Optionen der Sowjetunion. Die Feststellung trifft sicher zu, daß die „doppelte Null-Lösung“ noch kein besonders gutes Beispiel dafür ist, „daß Gorbatschow zu substantiellen Entlastungen des prekären Gleichgewichts bereit oder fähig ist“ Der Test für eine solche Bereitschaft ist erst noch zu bestehen. Für Europa liegt er dabei weniger bei den derzeit laufenden Verhandlungen über eine fünfzig-prozentige Reduktion der strategischen Waffen. Das ist primär eine Angelegenheit der beiden Weltmächte, und beide verfügen hierbei über hinreichend „kritische Masse“.
Europas Test wird vielmehr da anstehen, wo es um weitere Abrüstungsschritte auf dem europäischen Kontinent selber geht. Sie werden nämlich nur dann langfristig sinnvoll und stabilisierend sein können. wenn sie von einer Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen der Ost-West-Beziehungen begleitet und gestützt werden. Das haben die westlichen und neutralen Staaten an der KSZE-Folgekonferenz in Wien richtig erkannt. Dem von Moskau sichtlich forcierten Marschtempo im Abrüstungsbereich (Korb 1) konnten die beiden anderen „Körbe“. Wirtschaft und humanitäre Fragen, bisher nicht folgen. Zumal im Bereich der Menschen-rechte gibt sich die Sowjetunion recht spröde. Und dennoch: Sie alle bilden Teile eines Ganzen, ausgerichtet auf das gemeinsame Fernziel einer europäischen Friedensordnung. Hier liegt in der Tat noch eine lange Wegstrecke vor uns und zumal vor der Sowjetunion. Denn wie stets hängen Fortschritt und Gangart dieser Prozesse in entscheidendem Maße von ihrer eigenen Fähigkeit zum Wandel ab.
Geringe Verhandlungsmarge
Vor diesem Hintergrund sind Chancen und Grenzen der Abrüstung in Europa nach dem INF-Abkommen abzuwägen. Paradoxerweise wird das Abkommen (von der Verifikationsfrage einmal abgesehen) künftige Verhandlungen kaum erleichtern. Fast das Gegenteil scheint der Fall: Es hat den Spielraum verengt, in dem ohne Risiko für die westliche Sicherheit über weitere Reduktionen des militärischen Potentials verhandelt werden kann. Anders ausgedrückt: Es fehlt an der „kritischen Masse“, die von westlicher Seite in die Verhandlungen eingebracht und als Gegengewicht oder, wenn man so will, als „Gegengabe“ für selbst großzügige sowjetische Zugeständnisse angeboten werden kann. Über Natur und Gewichtung dieser „Asymmetrie“ gibt es begreiflicherweise nicht nur Meinungsverschiedenheiten zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der Allianz. Auch auf die Gefahr einer Verallgemeinerung hin läßt sich aber doch sagen, daß der Warschauer Pakt mit der Führungsmacht Sowjetunion im konventionellen wie im taktisch-nuklearen Bereich nicht nur zahlenmäßig überlegen ist, sondern dank Organisation und Bewaffnung dieser Streitkräfte über eine Invasionsfähigkeit verfügt, zu der die NATO allein schon aus politischen Gründen weder fähig noch willens ist Zu der bereits erwähnten Asymmetrie der Zahlen und der Geographie kommt damit hinzu eine solche der strategischen Optionen. Eine vierte Asymmetrie ergibt sich aus der Tatsache, daß die amerikanischen Streitkräfte in der NATO nur elf v. H. (ohne Spanien und die Türkei 16 v. H.), die sowjetischen Streitkräfte im Warschauer Pakt westlich des Urals dagegen 46 v. H. ausmachen. Bei den nuklearen Kurzstrecken-Raketen kann auf amerikanischer Seite kaum von „kritischer Masse“ gesprochen werden: 70 „Lance-Raketen (Reichweite 110 km) stehen weit über tausend sowjetische Raketen (FROG-7, Scud B und SS-21) gegenüber. Allein schon diese sehr unterschiedliche Ausgangslage zeigt, wie eng die westliche Marge bei den jetzt anlaufenden Verhandlungen über eine „dritte Null-* Lösung“ und/oder eine konventionelle Abrüstung ist — was immer auch zeitlich vorgezogen wird. Behält man im Auge, daß auf sowjetischer Seite das bei den INF-Verhandlungen wohl ausschlaggebende Motiv — die Bedrohung sowjetischen Territoriums. einschließlich Moskaus, durch die Pershing-II — weggefallen ist, so ist ein unmittelbares Interesse der Sowjetführung an einseitigen Konzessionen nur schwer ersichtlich. Bei den nuklearen Waffen könnte dies allenfalls die Einsicht sein, daß mit ihnen kein Krieg zu führen und politischer Einfluß nicht zu gewinnen ist, dagegen aber die von vielen Europäern so gefürchtete „Entnuklearisierung“ des Kontinents der Sowjetunion viel von ihrem traditionellen konventionell-militärischen Gewicht zurückgeben würde.
Kein Wunder also, daß innerhalb der Allianz die Ansichten über Wünschbarkeit und Dringlichkeit der dritten „Null-Lösung“ auseinandergehen. Sie findet in der von diesen Waffen besonders bedrohten Bundesrepublik verständlicherweise mehr Sympathie als etwa in Frankreich oder Großbritannien. Deren Nuklearstreitkräfte sähen sich nach einem weiteren Abbau der amerikanischen ungewollt in die vorderste Linie der Abschreckung gestellt -und damit in ihrer Glaubwürdigkeit sichtlich überfordert. Frankreich würde darüber hinaus zu etwas gedrängt, was es bisher ebenso sorgfältig wie erfolgreich vermieden hat, nämlich eine gezieltere Abstimmung und Koordination seiner Nuklearstrategie mit jener der Allianz. Und nur hinter vorgehaltener Hand wird in Paris, London und wohl auch anderswo das dritte Argument gegen eine baldige dritte „Null-Lösung“ vorgebracht: die Furcht, die Bundesrepublik könne auf der Suche nach „neuer" Sicherheit auf dem Wege über die nukleare Abrüstung allmählich in einen Neutralismus abrutschen oder zu einem Sonderarrangement mit Moskau verführt werden.
Nun ist bedauerlicherweise die Alternative zur dritten „Null-Lösung“, die konventionelle Abrüstung, keineswegs einfacher. Auch hier müßte die Sowjetunion aufgrund ihrer großen Überlegenheit auch auf diesem Sektor stärker zur Kasse gebeten werden als das westliche Bündnis. Und hier besteht für sie noch weniger Anlaß zu substantiellen einseitigen Konzessionen als bei den Nuklearwaffen. Denn hier geht es nicht nur um Zahlen und Optionen, sondern um den Kern sowjetischer Militärmacht und das Rückgrat sowjetischer Hegemonie in Osteuropa Mit welchen Größenrelationen westliche Kreise hier rechnen, geht aus einer kürzlich veröffentlichten Studie der RAND-Corporation hervor Danach würde erst eine asymmetrische Kürzung der konventionellen Streitkräfte in Europa im Verhältnis 4: 1, besser noch 5: 1 zulasten der Sowjetunion und des Warschauer Paktes zu einem sicherheitspolitisch annehmbaren Kräfteverhältnis führen. In diese Berechnung fließen sichtlich nicht nur — und nicht einmal vorrangig — rein zahlenmäßige Vergleiche, sondern auch solche Faktoren wie Struktur. Angriffsfähigkeit aus dem Stand, Bewaffnung und Mobilisierungspotential mit ein.
Selbst wer die Asymmetriespanne geringer ansetzt, wird anerkennen, daß es hier um mehr als nur um prozentuale Kürzungen geht, wie sie bei den seit 1973 laufenden Verhandlungen über einen beiderseitigen Truppenabbau in Wien (MBFR) oder sogar noch im Budapester Appell der Warschauer Pakt-staaten im Juni 1985 immer wieder — und immer wieder vergeblich — anvisiert wurden. Es bleibt abzuwarten, wie viel erfolgreicher die neugeschaffene Gruppe sämtlicher 23 Bündnismitglieder von NATO und Warschauer Pakt sein wird. Sie ist durch ihre Größe, durch die erstmalige Beteiligung Frankreichs und durch die Tatsache „vorbelastet“, daß sie als Teil der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) sich deren schwerfälligem Schrittmaß anpassen muß.
Aussichten
DerFragen und Hindernisse auf dem Wege zu einer weiteren Abrüstung in Europa sind also viele. Genau besehen, werden sie für die Europäer erst jetzt aktuell und sichtbar. „Europäisch“ am INF-Abkommen ist. um das eingangs zitierte Wort Senator Byrds noch einmal aufzugreifen, all das, was jetzt kommen soll. Europa wird sich also Klarheit darüber schaffen müssen, wohin die Abrüstungsreise eigentlich gehen soll.
Man wird sich die Antwort hierauf nicht zu einfach machen dürfen. Weniger Waffen bedeuten nicht unbedingt mehr Sicherheit, und ein Gleichstand der Rüstung zwischen Ost und West ist noch nicht gleichbedeutend mit Stabilität. Gorbatschows Formel von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ — dessen genaue Konturen zu beschreiben er bis jetzt seltsamerweise unterlassen hat — bildet keine Grundlage, auf die unbesehen zu bauen ist. Denn ihr Ausgangspunkt ist die strategisch und verhandlungspolitisch vorteilhaftere Position der Sowjetunion. Ihr hat ein von Amerika geographisch getrenntes und oft an widersprüchlichen National-interessen orientiertes Westeuropa nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Selbst eine durch „Perestroika“ und „Glasnost“ geläuterte Sowjetunion wird immer aus der Tiefe des russischen Raumes und aus alleiniger strategischer Kompetenz, also ohne Rücksicht auf Verbündete, heraus operieren können. Daran wird auch eine noch so abgewogene Abrüstung nichts zu ändern vermögen.
Europa wird deshalb jede weitere Abrüstung an mindestens zwei Grundbedingungen knüpfen müssen: Die erste geht davon aus. daß Abrüstung und Rüstungskontrolle wichtige, aber nicht die einzigen Pfeiler europäischer Stabilität sind. Abkommen in diesem Bereich dürfen nicht Optionen für einen politischen Wandel in Europa, für eine Annäherung zwischen Ost und West, für Veränderungen in Osteuropa und Fortschritte in der deutschen Frage erschweren oder gar verbauen. Dies muß in erster Linie Ziel und Aufgabe der weit mehr als mit bloßer Abrüstung betrauten KSZE, aber auch der Europäischen Gemeinschaft und der Neutralen bleiben. Die zweite Grundbedingung liegt in der Notwendigkeit einer sorgsamen abrüstungspolitischen Abstimmung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Die Allianz bleibt hierbei Rückgrat und Anlaufstelle. Wie sehr man sich auch eine „Europäisierung Europas“ — was immer das heißt — wünschen mag: In den Bereichen von Sicherheit und Abrüstung kann sie mangels „kritischer Masse“ auf Seiten Europas bis auf weiteres nicht stattfinden. Das schließt eigene Vorstellungen und Konzepte nicht aus. Im Gegenteil. Aber sie müßten aufeinander abgestimmt und aufs gleiche Ziel gerichtet sein.
Davon ist man derzeit recht weit entfernt Es gibt keinen gemeinsam ausgearbeiteten und verab-schiedeten Vorschlag der Allianz, geschweige denn ihrer europäischen Mitglieder. Es gibt auch nur sehr allgemeine Vorstellungen über ein politisch wie strategisch stichfestes Verhandlungsziel. Daran dürfte sich bis zum Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten kaum viel ändern. Was erreicht werden soll und wie — darüber bestehen mehr oder weniger unverbindliche, aber, soweit absehbar, keine gemeinsame Konzepte. Das rührt nicht nur von Meinungsverschiedenheiten her über die formale Zuordnung und die inhaltliche Reihenfolge der anstehenden Verhandlungen — seien es solche über strategische oder chemische, konventionelle oder taktisch-nukleare Waffen. Es hat vielmehr mit der letztlich entscheidenden Frage zu tun. welches optimale Minimum an Rüstung ein optimales Maximum an Sicherheit zu gewährleisten imstande ist — eine Sicherheit, die zugleich jene Basis bildet, auf der sich ein schrittweiser Abbau des Ost-West-Gegensatzes ohne Krisen und Gefährdungen vollziehen kann.
Die Versuchung, zunächst einmal mit der Einführung neuer und der Modernisierung bestehender Waffen die aus Europa abziehenden Mittelstrekken-Raketen zu kompensieren, ist groß. Beide Seiten werden ihr wohl in verschiedener Weise nachgeben. Alle wichtigen Rüstungskontroll-Abkommen waren bisher stets vom Ruf nach solchen „Kompensationen“ in anderen Rüstungsbereichen begleitet; in den Vereinigten Staaten wurde sogar ihre Ratifikation davon abhängig gemacht. Vieles deutet darauf hin, daß das INF-Abkommen von dieser Regel keine Ausnahme machen wird.
Die Sowjetunion könnte bereits heute die von den SS-20 oder SS-12 abgedeckten Ziele in Westeuropa mit konventionellen oder möglicherweise anderen Nuklearwaffen erreichen. Ihre — mobilen — SS-24 Raketen beispielsweise ließen sich nach westlicher Beurteilung mit gewissen Modifikationen auch zu Einsätzen über kürzere als interkontinentale Reichweiten einsetzen. Auf Seiten der NATO haben sowohl der frühere wie der jetzige Oberkommandierende in Europa, Rogers und Galvin, entsprechende Vorschläge gemacht Sie zielen vor allem auf eine Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen hin. Es sind also jene zur untersten Stufe der Abschreckung gehörenden Systeme, in denen sich die Allianz besonders verletzlich und im Blick auf mögliche Verhandlungen mit der Sowjetunion auch deutlich unterlegen fühlt. Zugleich soll mit einer solchen Modernisierung signalisiert werden, daß Nuklearwaffen — in welcher Zahl und Konstellation auch immer — bis auf weiteres ein fester Bestandteil westlicher Abschreckung und damit europäischer Stabilität bleiben werden und bleiben müssen. Von amerikanischer Seite wird zudem betont, daß ohne solche Nuklearwaffen ein Verbleiben der amerikanischen Streitkräfte in Europa nicht mehr gesichert wäre. Von einer „Entnuklearisierung“ Europas kann also bis aufweiteres nicht gesprochen werden.
Modernisierung und Umgestaltung der Rüstung sind allerdings kein Ersatz für politische Konzepte. Noch weniger sind sie eine Entschuldigung für das sicherheitspolitische „Leistungsdefizit“ Europas. Wie groß dieses Defizit ist, wurde erst richtig erkennbar, als es nicht mehr um Rüstung, sondern um Abrüstung ging. Europa, das jahrelang bequemer, wenn auch richtigerweise diese Abrüstung den beiden Weltmächten überließ, muß sich nun der Gretchenfrage stellen, wie es selber zur Abrüstung steht. Das zeitigt offenbar mindestens so viele Kontroversen und Divergenzen wie das Gerangel um Beiträge zur gemeinsamen Verteidigung. Aber auf weitere Sicht sollte dies doch zu konstruktiveren Antworten und Formen der Zusammenarbeit führen. Man soll die Bedeutung des INF-Abkommens für Europa nicht überbewerten, aber auch nicht unterschätzen. Denn das Abkommen könnte Europa endlich dazu bringen, sich auf seine eigene Verantwortung nicht nur bei der Rüstung, sondern auch bei der Abrüstung zu besinnen.
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