1. Die Dritte Welt als „Kriegsschauplatz“ der Gegenwart
Betrachtet man die gegenwärtige Welt, so zeigt sich, daß es offensichtlich eine regional ungleiche Verteilung von Krieg und Frieden gibt. Im Bereich der Industrieländer hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges keinen größeren kriegerischen Konflikt mehr gegeben, so daß sich die Menschen dort zumindest eines negativen Friedens (im Sinne von Nicht-Krieg) erfreuen können, wie immer man diesen auch charakterisieren (als Drohfrieden, organisierte Friedlosigkeit, Abschreckungsfrieden, unsicheren Waffenstillstand, Atempause vor einem weiteren Dritten Weltkrieg) und seine gesellschaftlichen Kosten in Rechnung stellen mag. Anders nehmen sich die Dinge jedoch in den Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aus — der so-genannten Dritten Welt. Dort fanden (und finden) zeitgleich mit dem Frieden im Bereich der Industrieländer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges weit über 150 Kriege statt. Hier ist kriegerische Gewaltanwendung also noch weit verbreitet und stellt eine alltägliche, existentielle Bedrohung für Millionen von Menschen dar. Krieg scheint hier noch weithin als akzeptierte Institution von Gesellschaft und als ein rationales und legitimes Mittel von Politik und Konfliktaustrag zu gelten.
Auf der Grundlage der Kriegsstatistik oder „Kriegsbuchhaltung“ kann man die Dritte Welt als „Kriegsschauplatz“ der Gegenwart bezeichnen Empirischen Erhebungen zufolge wurden von 1945 bis Ende 1984 insgesamt 159 Kriege in der Welt geführt, davon nur neun in Europa, 150 jedoch in den Regionen der Dritten Welt Damit hat sich der Krieg unserer Zeit von Europa fort in die außer-europäischen Räume der Südhalbkugel der Erde verlagert, dem ungarischen Friedensforscher Istvan Kende zufolge eine sehr wichtige Umwälzung in der Geschichte des Krieges: „Vor dem Zweiten Weltkrieg . . . war Europa das Epizentrum fast aller wichtigen und besonders der weltpolitisch wichtigen Kriege, und zwar seit einigen Jahrhunderten. Nach 1945 hingegen wurde Europa ein Kontinent fast ohne Krieg. Mit anderen Worten: der Haupt-schauplatz der Kriege unserer Zeit wurde die soge-nannte Dritte Welt. . ,“ Doch gab es nicht nur eine regionale Verlagerung des Krieges, sondern zugleich auch eine typologische Veränderung des Krieges. Der Haupttyp der Kriege in der Dritten Welt ist nicht mehr der „klassische“ (europäische) Krieg zwischen Staaten, sondern der innerstaatliche Krieg oder Bürgerkrieg (knapp 60 Prozent aller festgestellten Kriege). Den geringeren Anteil der Kriege machten Dekolonisationskonflikte und zwischenstaatliche Kriege aus. Das häufige Vorkommen von Bürgerkrieg verweist „allein schon auf den engen Zusammenhang zwischen dem Einsatz militärischer Gewalt und den aus Entwicklungsprozessen sich ergebenden politischen, sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Instabilitäten“ in der Dritten Welt
In militärischer Hinsicht reicht das Spektrum der Kriegführung in der Dritten Welt von mehrheitlich „unkonventionellen“ oder „irregulären“ Kriegen, das heißt Guerillakriegen (und Anti-Guerilla-Kriegen) bis hin zu „konventionellen“ oder „regulären“ Kriegen zwischen Staaten der Dritten Welt (z. B. Golfkrieg zwischen Iran und Irak. Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien). Für beide Arten der Kriegführung lassen sich einige allgemeine Merkmale und Trends erkennen — Infolge der Rüstungsdynamik in der Dritten Welt und insbesondere der „technologischen Revolution“ bei den nichtatomaren Waffen ist ein Trend zur Intensivierung der Kampfhandlungen unverkennbar. Die Kriege werden immer „materialintensiver“ und zu „high fire power wars“; die Anwendung moderner Militärtechnologie (z. B. Artillerjie, Raketen, Brandwaffen, Streu-und Splitterbomben, chemische Waffen) hat das Tötungs-und Zerstörungspotential der militärischen Operationen um ein Vielfaches gesteigert und vor allem die Zivilbevölkerung verstärkt in Mitleidenschaft gezogen. — Mit diesem Trend der waffentechnologischen Intensivierung und Modernisierung geht eine verstärkte Professionalisierung der Kriegführung in der Dritten Welt einher. Kriege werden von immer besser ausgerüsteten, ausgebildeten und geführten Kämpfern ausgefochten, seien es reguläre Soldaten und Armeen oder irreguläre Partisanen und Guerillaverbände. — Schließlich zeichnet sich noch ein deutlicher Trend zur Mißachtung und Verletzung der Regeln des Kriegsvölkerrechtes ab Dies gilt insbesondere für die zahlreichen Bürger-und Guerillakriege in der Dritten Welt, die Völker-und menschen-rechtlich weitgehend „enthegt" als „Schmutzige Kriege“ geführt wurden und werden, aber auch für die vom Völkerrecht eigentlich traditionell „gehegten“ zwischenstaatlichen Konflikte.
Die Gesamtzahl der Kriegstoten in der Dritten Welt seit 1945 dürfte verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 16 und 25 Millionen liegen. Deutlich ist. daß die Tötung in den Kriegen der Dritten Welt zunehmend „vergesellschaftet“ wird, indem vermehrt Zivilisten den Kampfhandlungen zum Opfer fallen Waren dies im Ersten Weltkrieg noch „nur“ fünf Prozent und im Zweiten Weltkrieg ca. 50 Prozent, so im Koreakrieg bereits 84 Prozent, im Vietnamkrieg zwischen 70 und 90 Prozent und im Libanonkrieg bereits 90 Prozent der Kriegstoten. Zu den Kriegstoten in der Dritten Welt müssen noch Millionen von Verwundeten und Versehrten gerechnet werden, will man die „Humankosten“ von Krieg erfassen. Darüber hinaus trägt Krieg zu vielfältigen sozialen und psychischen Schäden an Sozialgebilden, Gruppen und Personen bei und führt oftmals zu Entwurzelung, Massenflucht. Hunger und Krankheit. Dies gilt besonders für die „Kinder des Krieges“, die auf doppelte Weise in die bewaffneten Konflikte einbezogen werden: als Kämpfer und Kriegführende einerseits sowie als Zivilisten und Opfer andererseits Ökonomisch gesehen, stellt Krieg in der Dritten Welt eine gigantische Fehl-Allokation und unproduktive Verschwendung von Ressourcen dar, die oftmals ganze Volkswirtschaften ruiniert und zerrüttet haben Bei „industrialisierter“ und „ökologischer“ Krieg-führung (wie vor allem der US-amerikanischen Kriegführung in Vietnam) bringt Krieg in der Dritten Welt auch schwerwiegende und langanhaltende Umweltschädigungen mit sich
Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen modern geführter Kriege in der Dritten Welt beschreibt eindrucksvoll der Palme-Bericht „Seit 1945 herrscht in Europa und Nordamerika Frieden, doch wurden praktisch alle Gebiete der Dritten Welt von den verheerenden Auswirkungen konventionell geführter Kriege betroffen . . . Für die Bewohner dieser vom Kriege heimgesuchten Gebiete wird das Leben oft unerträglich. Ihre Dörfer werden bombardiert und durch Regierungstruppen, die nach Aufständischen suchen, vollends verwüstet; ihre Nahrungsmittel, ihr Besitz, ihre Verdienstmöglichkeiten, ja manchmal sogar ihre Kinder werden ihnen von aufständischen Gruppen weggenommen, und so bleibt den Bewohnern kaum eine andere Wahl als zu fliehen und die unbekannten Gefahren für das eigene Leben in ausländischen Notlagern gegen die bekannten Schrecken eines konventionellen Krieges im eigenen Land zu vertauschen . . . Kriege an sich sind schon schrecklich genug. Doch ihre unmittelbare Hinterlassenschaft, nachdem das Töten aufgehört hat. ist zumindest ebenso entsetzlich: Ganze Völker sind entwurzelt, das traditionelle Gemeinschaftsleben ist zerstört, und die Gesellschaft sieht sich außerstande, mit den ökonomischen und politischen Turbulenzen ringsum fertig zu werden. Nur wenige vom Krieg heimgesuchte Gesellschaften entgehen der Geißel einer Hungers-not. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind die Auswirkungen einer Hungerkatastrophe noch lange spürbar, nachdem die Menschen wieder genug zu essen haben . . . Was die sozialen Auswirkungen . . . betrifft, so sind sie ungleich verheerender. Es dauert Jahrzehnte, bis der Puls des Lebens wieder im normalen Rhythmus schlägt.“ 2. Eurozentrik: „Wenn hinten, weit in der Türkei ..."
Die Problematik der Gleichzeitigkeit von kriegerischer Gewalt in der Dritten Welt und Gewaltabstinenz in den Industriestaaten, die man auf die Formel „Kriege im Frieden“ oder „Krieg den Hütten — Friede den Palästen“ bringen könnte, ist in den Industrieländern kaum hinreichend reflektiert worden. Im Alltagsbewußtsein wird der Krieg vielfach verdrängt. Erinnerungen an den letzten Weltkrieg sind noch vorhanden, und neue Ängste vor einem möglichen Dritten Weltkrieg kommen auf. Doch sorgt man sich offenbar mehr um einen künftigen „Krieg der Sterne“ als um den gegenwärtigen „Krieg auf Erden“ (nämlich den in der Dritten Welt). Allenfalls nimmt man mit kopfschüttelndem Erstaunen, Unverständnis, einem gewissen Erschrecken und mit Besorgnis sowie mit einem Schuß exotischer Neugier hin und wieder zur Kenntnis, „wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen“. Dennoch wird in Europa, wie der Friedensforscher Egbert Jahn bemerkte, „leichtfertig von einer Sicherung oder Bewahrung des Friedens gesprochen, so als ob er schon existiere für die Völker, die . . . häufig durch Krieg bedroht sind“ Dies gilt auch für große Teile der westlichen Friedensbewegungen, denen man den Vorwurf des Eurozentrismus kaum ersparen kann. Denn sie sind vorwiegend auf den großen Krieg, auf die Kriegs-und Friedensproblematik in Europa fixiert, von „apokalyptischen Ängsten“ geplagt. doch sehen sie gleichzeitig nur allzu oft an der alltäglichen „profanen Gewalt“ in Gestalt von Krieg in der Dritten Welt vorbei Im Hinblick auf die Dritte Welt stellt sich für die Friedensbewegungen auch die Frage nach der Bewertung von Gewalt und das Problem eines „selektiven“ oder „gespaltenen“ Pazifismus Kann man in Europa Radikal-Pazifist sein (Formel: „Nie wieder Krieg!“) und außerhalb Europas möglicherweise für revolutionäre Gewalt eintreten und Befreiungsbewegungen unterstützen? Die in den Industriegesellschaften weit verbreitete Indifferenz gegenüber den Kriegen in der Dritten Welt läßt sich wohl, abgesehen von den bekannten Abstumpfungs-und Gewöhnungseffekten sowie Verdrängungsmechanismen im Hinblick auf das Leid und die Nöte anderer Menschen, letztlich auf verschiedene Distanzen zum außereuropäischen Kriegsgeschehen zurückführen: auf räumlich-geographische Distanzen („weit hinten, in der Türkei“). auf kulturelle Distanzen (unterschwelliger Rassismus?) und auf politische Distanzen (scheinbar nur geringe Betroffenheit der eigenen Interessen; begrenzte Einsichtsfähigkeit in die internationalen Zusammenhänge von Krieg und Frieden). Doch womöglich sind auch noch tieferliegende Gründe von Bedeutung. Vielleicht gibt es trotz der grundsätzlichen Infragestellung der instrumentellen Funktion von Rüstung und Krieg im Nuklearzeitalter doch weiterhin eine verdeckte, unterschwellige Bereitschaft zur kollektiven Gewaltanwendung, die sich vor allem auf die Dritte Welt bezieht. Hier scheint das instrumentelle Verhältnis zur kriegerischen Gewalt noch ungebrochen zu sein, hier kann Gewaltanwendung noch akzeptiert, toleriert oder stillschweigend zur Kenntnis genommen werden.
Am ehesten im Zusammenhang mit Gefahren für den „Weltfrieden“ ließe sich eine breitere Öffentlichkeit für das Kriegsgeschehen in der Dritten Welt interessieren. Die in den letzten Jahren von Wissenschaftlern, Politikern und Friedensbewegten wiederholt vorgetragene Befürchtung, ein Dritter Weltkrieg könnte womöglich vermittels einer Kriseneskalation in der Dritten Welt ausgelöst werden (sog, „Sarajewo-Effekt“), ließ allenthalben aufhorchen. Eine solche sicherheits-und friedenspolitische Bedrohungsvorstellung (die „Kriegsgefahr aus dem Süden“) ist zwar, wie der Kriegsursachenforscher Klaus Jürgen Gantzel schreibt, „zweifellos ein sehr eurozentrisches Motiv dafür, die Aufmerksamkeit auf die Dritte-Welt-Kriege zu richten, doch trotzdem vielleicht ein wirkungsvolleres, wenn das anspruchsvolle universalistische Moralpostulat . Liebe nicht nur deinen Nächsten, sondern auch den Fernsten'nicht ausreichen sollte“ 3. Friedensforschung: Die Wiederentdeckung der kriegerischen Gewalt Angesichts der Häufigkeit von Kriegen in der Dritten Welt, ihrer verheerenden gesamtgesellschaftlichen Kosten und Folgen sowie der internationalen Spannungen, die manche von ihnen mit sich brachten. ist es erstaunlich und eigentlich unverständlich, daß diesen Kriegen in den vergangenen Jahrzehnten nur relativ geringe Aufmerksamkeit von Seiten der Forschung geschenkt wurde. Weder hat die politikwissenschaftliche Entwicklungs(länder) forschung (in den sechziger Jahren) noch die Friedens-und Konfliktforschung (in den siebziger Jahren) auf systematische und umfassende Weise das Studium der außereuropäischen Kriege betrieben. Nur wenige Forscher widmeten sich — wie der Ungar Istvän Kende — kontinuierlich der vergleichenden Untersuchung dieser Kriege So blieben sowohl der Zusammenhang von Entwicklung oder vielmehr Unterentwicklung und Krieg als auch das Problem der Ursachen und Dynamik von kriegerischen Konflikten in der Dritten Welt weithin vernachlässigt
Unter dem Eindruck des ost-westlichen Entspannungsprozesses in den siebziger Jahren, des in der Debatte um die „Neue Weltwirtschaftsordnung“ sich manifestierenden Nord-Süd-Gegensatzes und unter dem Einfluß des (das Modernisierungs-Paradigma ablösenden) Dependenz-Paradigmas sowie des Galtungschen Begriffes der „Strukturellen Ge-walt“ (und des „Positiven Friedens“) ging der Hauptstrom der auf die Dritte Welt bezogenen Friedensforschung an der Untersuchung von „direkter Gewalt“ (Krieg) und den Bedingungen des „negativen Friedens“ vorbei. Der Schwerpunkt der Forschung lag deutlich auf der polit-ökonomischen Analyse von strukturellen Gewaltverhältnissen in den Nord-Süd-Beziehungen (Studien zu „Abhängigkeit“ und „Unterentwicklung“) und aufder Konzipierung von „alternativen Entwicklungsstrategien“ zur Überwindung von Unterentwicklung, in der man zugleich auch die Ursachen direkter, kriegerischer Gewalt verwurzelt glaubte.
Erst gegen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wandte sich die Friedensforschung nunmehr auch den Phänomenen direkter Gewalt in der Dritten Welt zu. Der Niedergang des Nord-Süd-Dialoges und der Entspannungspolitik, die Verschärfung des Ost-West-Konflikts („Neuer Kalter Krieg“) und die Kriege im Südlichen Afrika, am Hom von Afrika, in Südostasien, im Libanon, zwischen Iran und Irak, um die Falklands/Malwinen sowie in Mittelamerika trugen hierzu sicherlich bei. Auch der Nachrüstungsstreit und die aufkommende Friedensbewegung erhöhten die Sensibilität der Forschung für Probleme direkter Gewalt. Zudem kam die Befürchtung auf. ein großer, atomarer Krieg könnte aus kleinen, konventionellen Kriegen in der Dritten Welt entstehen (Sarajewo-Effekt). Die Strategieforscher, die sich spätestens seit der Energiekrise von 1973/74 intensiver mit der außereuropäischen Welt befaßten, erkannten in den dortigen Kriegen neuartige Probleme für die „Internationale Sicherheit“ und den „Weltfrieden“. Es ließ sich nicht länger bestreiten, daß den Kriegen in der Dritten Welt „eine Tendenz zur Globalisierung inne-wohnt. . Wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen', kann das heute niemandem mehr gleichgültig sein. Sehr rasch erhält jeder Konflikt, auch wenn ersieh an rein lokalen Umständen entzündet, internationale Bedeutung und Tragweite.“ Zugleich wuchs auch die Erkenntnis, daß direkte Gewalt nicht einfach ein abgeleitetes Phänomen struktureller Gewalt darstellte, sondern ein Problem sui generis mit eigener Dynamik war Aus theoretischer Perspektive allerdings schien „eherdie Ausnahme — der Friede in der nördlichen Hemisphäre — erklärungsbedürftig ... als die Regel — der Krieg in der Dritten Welt“ Doch auch in der Dritten Welt herrschte und herrscht nicht überall und immer, flächendeckend und gleichzeitig Krieg. Denn Länder wie beispielsweise Mexiko oder die Elfenbeinküste haben im Vergleich zu kriegsgeschüttelten Staaten in der gleichen Region wie etwa El Salvador und Nicaragua oder der Tschad weder innerstaatliche noch zwischenstaatliche Kriege geführt. Diese Tatsache verweist auf die Notwendigkeit einer typologischen Differenzierung von Kriegs-und Friedensursachen, die neben strukturellen Gemeinsamkeiten von Drittweltländern (u. a. gleichartige koloniale Vergangenheit. Unter-entwicklung. Weltmarktabhängigkeit) zugleich auch deren spezifische Unterschiede regionaler und lokaler Art (u. a. im Sozialgefüge, im politischen System und in der politischen Kultur) berücksichtigt. Vergegenwärtigt man sich die Simultaneität von Krieg in der Dritten Welt einerseits und Frieden in Europa andererseits sowie auch innerhalb der Dritten Welt, so ist eine Theorie mittlerer Reichweite gefragt, welche „die Konzentration spezifischer bewaffneter Konflikte auf bestimmte Länder und Regionen empirisch abgesichert“ klären müßte, „um daraus die Zukunft des Krieges und seine Verhütung ableiten zu können. Eine derartige Theorie existiert gegenwärtig nicht, und es ist zweifelhaft. ob es sie je geben wird.“
II. Zu den Ursachen der Kriege in der Dritten Welt
1. Probleme der Kriegsursachenforschung Die zentrale Annahme der quantitativ-empirischen, meist auf historische Kriege in der europäischen Staatenwelt zurückgreifenden, vergleichenden Kriegsursachenforschung ist, daß in jedem Krieg trotz aller Besonderheiten immer auch verallgemeinerbare Ursachen zu finden sind. Ihr Ziel ist daher die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten und die Formulierung einer allgemeinen Kriegsursachentheorie unabhängig von Zeit und Raum. Folgt man nun neueren Bestandsaufnahmen zu dieser Forschung, so scheint die bisherige Erkenntnis über die Ursachen von Kriegen weder besonders groß noch gesichert zu sein — Skepsis ist hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit von Kriegsursachen angebracht. Denn hier wird „eine Stabilität von Wirkungszusammenhängen über Zeit. . . . eine Konstanz im kollektiven Sozialverhalten . . . unterstellt. Die Veränderungen im internationalen System und in den Gesell-schäften selbst lassen aber erhebliche Zweifel an dieser unterstellten Invarianz aufkommen“
— Der Begriff der „Ursache“ scheint anzudeuten, daß es sich bei dem Ausbruch von Kriegen um Gesetzmäßigkeiten handelt, die man als eindeutige, lineare Ursache-Wirkung-Beziehung erkennen kann. Möglicherweise jedoch stellt Kausalität hier ein irreführendes Konzept dar; die Verursachung von Kriegen könnte vielleicht eher als ein komplexes Netzwerk subtiler Wechselwirkungen begriffen werden. „Die Faktoren, die Kriege — und generell soziale Phänomene — bestimmen, sind so vielfältig, daß man von Ursachen im strikten naturwissenschaftlichen Sinne kaum sprechen kann“
— Dieser vermutbaren Komplexität des Kriegsursachenproblems ist die Forschung bislang jedoch noch kaum gerecht geworden. Zwar gilt es mittlerweile als selbstverständlich, sich nicht mit monokausalen Erklärungsansätzen zu begnügen, doch ist damit allein das Problem der Wahl und Gewichtung von Analyse-Ebenen (Mensch, Staat und Internationales System) und von Einflußfaktoren (politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Art) noch nicht gelöst.
— Im Hinblick auf die Dritte Welt ist zu beachten, daß viele Ansätze. Konzepte und Begriffe der Kriegsursachenforschung speziell zur Klärung von Problemen der abendländischen (industrialisierten) Staatenwelt entwickelt wurden und demgemäß nur einen auf diesen Teilbereich internationaler Beziehungen und Gesellschaft abgestimmten historischen Erfahrungshorizont widerspiegeln. Aus diesem Grunde ist vor einer unkritischen Übertragung dieser Forschung auf die Dritte Welt zu warnen und für eine verstärkte Expertise von Kolonialhistorikern, Ethnologen. Entwicklungssoziologen und Kulturwissenschaftlern zu plädieren, die in der Lage sind, das vorkoloniale und koloniale Erbe mit in die Analyse von außereuropäischen Konflikten einzubeziehen.
— Das Problem der Verfügbarkeit und Verläßlichkeit von Daten stellt sich in der Dritten Welt noch weitaus schärfer als in den Industriegesellschaften. Für eine quantitativ ansetzende Forschung scheint dies eine allzu brüchige Grundlage zu sein, so daß sich die Frage stellt, ob eine eher qualitativ verfahrende Forschung, die sich detaillierter, informationsreicher und differenzierender, komparativer Fallstudien bedient, zur Untersuchung von Kriegs-ursachen in der Dritten Welt nicht angemessener und sinnvoller wäre.
— Schließlich müßte vermutlich, da die Gesellschaften Asiens. Afrikas und Lateinamerikas sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig stark außenabhängig waren und sind (Kolonialismus. Imperialismus. Weltwirtschaft und Weltpolitik. Interventionen von Seiten der Industrieländer), internationalen Einflußfaktoren im Kontext der globalen Nord-Süd-und Ost-West-Konfliktformation besondere Beachtung geschenkt werden: „Prinzipiell finden sich in der Dritten Welt keine anderen und neuen Konfliktursachen, wenn man diese mit den aus europäischer Entwicklungsgeschichte bekannten vergleicht“, so bemerkte Dieter Senghaas. „doch ... ist die Entwicklung der Dritten Welt . . . weit mehr mit internationaler Politik vermittelt als dies in den vergangenen Jahrhunderten in Europa der Fall war.“ 2. Globale Ursachenfaktoren In Anknüpfung an den letztgenannten Punkt wäre zuallererst auf das Erbe des Kolonialismus zu verweisen. Zum einen wurden hin und wieder vorkoloniale Konflikte im Zuge der Auferlegung kolonialer „Friedensordnungen“ gleichsam „konserviert“, die jedoch später mit dem Ende der Kolonialherrschaft wieder aufbrachen (z. B. Beendigung der feindseligen Kontakte zwischen Nord-und Südsudanesen durch England, Stop der vietnamesischen Südexpansion durch Frankreich). Zum anderen führte die Kolonialpolitik oftmals zu ungleichgewichtigen ökonomischen Modernisierungs-und sozialen Wandlungsprozessen, in deren Gefolge einige Landesteile und Bevölkerungsgruppen begünstigt und privilegiert, andere dagegen vernachlässigt und diskriminiert wurden. Damit trug der Kolonialismus vielfach zur Schaffung von strukturellen Ausgangslagen bei, die nachkolonial den Ausbruch von gesamtgesellschaftlichen Verteilungskonflikten um politische Macht und ökonomische Ressourcen nachgerade begünstigten (so z. B. im Sudan und im Tschad entlang der Nord-Süd-Achse). Schließlich wäre dem Kolonialismus auch noch die Übertragung des national-und zentralstaatlichen Modells politischer Herrschaft auf die Gesellschaften der Dritten Welt anzulasten, das dort, wie vor allem Ekkehart Krippendorfbehauptet zu vielfältigen Grenz-und Territorialkonflikten sowie Separations-und Sezessionskriegen geführt habe. Über das koloniale Erbe hinaus wären noch weitere. gegenwärtig für die Dritte Welt konfliktträchtige. internationale Faktoren anzuführen. Dies gilt etwa für den weltwirtschaftlich bedingten Anteil der Armut, Abhängigkeit und Unterentwicklung in seinen Auswirkungen auf die politische Situation in Entwicklungsgesellschaften. So hat z. B.der Preisverfall für Zucker auf dem Weltmarkt etwas mit dem Anwachsen der kommunistischen Guerilla auf der verarmenden philippinischen Zuckerinsel Ne-gros zu tun; auch lassen sich Zusammenhänge zwischen der weltwirtschaftlichen Rezession in den siebziger Jahren und dem Ausbruch von Bürgerkriegen in Mittelamerika herstellen. Doch bleibt der Erklärungsfaktor „Weltwirtschaft“ letztlich zu wenig spezifisch und in seiner Wirkung zu unbestimmt. um mit ihm das konkrete Vorkommen von Kriegen zu begründen. Nicht allgemeine weltwirtschaftliche Abhängigkeits-und Ausbeutungsmechanismen scheinen in der Dritten Welt Kriege hervorgerufen zu haben, sondern jeweils ganz spezifische, meist lokal und regional bestimmte Bündel von Wirkfaktoren. Denn würde allein das Ausmaß an außeninduzierter wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung „über die politische Stabilität oder die Geneigtheit der Bevölkerung zur Revolte entscheiden, müßte die ganze Dritte Welt in Flammen stehen“
Auch globale Faktoren wie die „Weltmilitärordnung“ und der „Ost-West-Konflikt“ scheinen für sich genommen keine wirklich tragfähigen Erklärungen für die Kriege in Asien. Afrika und Lateinamerika abzugeben. Weder können diese Kriege einfach als Ausfluß außenbestimmter Militarisierungsprozesse noch als reine „Stellvertreterkriege“ im Interesse der Industrieländer aus Ost und West (miß-) verstanden werden. Wie die Faktoren „Kolonialismus“ und „Weltwirtschaft“ haben auch die letztgenannten Einflußfaktoren für die Erklärung kriegerischer Konflikte in der Dritten Welt durchaus eine gewisse analytische Kraft und Plausibilität, doch bleiben sie meist zu pauschal, simplifiziert und zu wenig konkret und spezifisch in ihren Wirkungszusammenhängen. Oftmals werden die kriegerischen Konflikte in Asien, Afrika und Lateinamerika mit dem Austrag des Ost-West-Konflikts in Verbindung gebracht; sie seien „Ersatz-oder Ventilkriege“ bzw. „Stellvertreterkriege“ für den infolge der Atomwaffen nicht mehr unmittelbar ausfechtbaren Konflikt zwischen den verfeindeten Machtblöcken oder würden zumindest durch diesen globalen Konflikt beeinflußt, verschärft, verlängert und instrumentalisiert, kurzum, sie seien gleichsam die „Süddimension“ des Ost-West-Konflikts Diese weitverbreitete und populäre Sicht der Dinge ist gleichwohl etwas fragwürdig. Denn angesichts des fortschreitenden Prozesses relativer Macht-Diffusion im internationalen System, der Ausbreitung von Nationalismus. Rüstung und eigenständiger Sicherheitspolitik in den Regionen der Dritten Welt scheinen selbst die Supermächte einen gewissen Verlust an Gestaltungs-, Kontroll-und Steuerungsfähigkeit hinnehmen zu müssen. Vor diesem Hintergrund scheint es fragwürdig, die Kriege in der Dritten Welt pauschal als außengesteuerte, extern bestimmte „Stellvertreterkriege“ zu bezeichnen. Das populäre Bild vom „Stellvertreterkrieg“ unterstellt einen Gleichklang der Interessen von „Stellvertreter“ und Interventionsmacht, eine massive materielle Abhängigkeit des ersteren von letzterer sowie eine ausreichende Fähigkeit der fremden Macht zur Kontrolle und Steuerung des „Stellvertreters“ Doch ist die reale Welt kein „Marionetten-Theater", in dem willfährige „Marionetten-Regime“ und „Satelliten-Staaten“ als Kriegsparteien für fremde Mächte kämpfen. So dürfte es vermutlich schwerfallen, in der Vielfalt kriegerischer Konflikte in der Dritten Welt echte und eindeutige „Stellvertreterkriege“ auszumachen. Wenn also von der „Süddimension“ des Ost-West-Konflikts die Rede ist, so sollte man dabei wohl eher die komplexen Verflechtungen mancher lokaler/regionaler Kriege mit diesem Konflikt sowie die Interessenlagen, Wahmehmungsraster und Verhaltensmuster der Supermächte im Blickfeld haben als eine oftmals pauschal unterstellte Einordnung solcher Kriege in die west-östliche Blocklogik.
Wird die Bedeutung globaler Faktoren zu absolut gesetzt, geraten leicht die lokale und regionale Eigendynamik von Konflikten und deren komplizierte Wechselwirkungen mit externen Einflüssen aus dem Blickfeld. Für den akuten Ausbruch von Kriegen bedarf es offensichtlich noch zusätzlich ganz konkreter und spezifischer innergesellschaftlicher und regionalpolitischer Anlässe und Bedingungen, die jeweils in ihrer historischen Besonderheit untersucht werden müssen. Solche typischen lokalen und regionalen Ursachen inner-und zwischenstaatlicher Kriege in der Dritten Welt sollen im folgenden kurz erörtert werden. 3. Regionale/Lokale Ursachenfaktoren Allgemein läßt die auffällige Häufung von Bürgerkriegen in der Dritten Welt vermuten, „daß die gewaltsamen Konflikte in den Strukturdefekten der Entwicklungsgesellschaften begründet sind. Offenbar besteht ein enger Zusammenhang zwischen ungelösten wirtschaftlichen oder ethnisch-kulturellen Modernisierungskonflikten, mangelnder politischer Konsolidierung und der Anwendung militärischer Gewalt“ Wesentlicher Ausgangspunkt der Ursachen-Analyse von sozial-revolutionären Bürgerkriegen (etwa in Mittelamerika) ist die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen. Vermögen und Lebenschancen in einer Gesellschaft, die in den politisch-sozialen Strukturen dieser Gesellschaft begründet ist und damit strukturelle Ungleichheit bzw. strukturelle Gewalt darstellt. Durch Androhung bzw. Anwendung von staatlicher Repression wird dieser gesellschaftliche Status quo aufrechterhalten. Doch kann nun unter bestimmten Bedingungen die strukturelle, staatlich institutionalisierte und „von oben“ abgesicherte Gewalt eine „von unten“ her sich formierende und organisierende personale. direkte „Gegengewalt“ in Form vo’n revolutionären Massen-und Guerillabewegungen produzieren und provozieren. Im Zuge von wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozessen, vor allem bei wachsender Verstädterung, vermehrter Bildung und verdichteter Kommunikation, kommt es in der Regel bei den Mittelschichten, aber auch bei Teilen der Unterschichten, zu erhöhten Einkommenserwartungen. politischen Partizipationsund sozialen Statusansprüchen. Können die Erwartungen und Ansprüche dieser gesellschaftlichen Gruppen infolge knapper Mittel, der Verweigerung oder Unfähigkeit der Herrschenden nicht eingelöst werden, so fühlen sich die unzufriedenen Gruppen gegenüber den Bessergestellten in der Gesellschaft relativ benachteiligt und organisieren den bewaffneten Aufstand gegen das ungerechte und unterdrückerische Regime. Sind die Machthaber nicht bereit oder unfähig, „die politische und ökonomische Partizipation und Mitwirkung“ der Unzufriedenen „zu institutionalisieren, müssen deren Versuche der Interessenartikulation notwendigerweise einen illegalen und gewaltsamen Charakter annehmen“
Die Analyse der Ursachen von Separations-und Sezessionskriegen in der Dritten Welt verweist vor allem auf die besondere Struktur von Vielvölkerstaaten Namentlich in Asien und Afrika ist der vorherrschende Staatstyp eine künstliche, vom Kolonialismus produzierte „Staatsnation“, jedoch kein historisch gewachsener „Nationalstaat“ wie in Europa. Die Gesellschaften dieser Staaten sind im Regelfall durch ethnische Vielfalt und Unterschiedlichkeit sowie durch kulturellen Pluralismus gekennzeichnet und bestreiten oft — zumindest in wichtigen Teilen der Bevölkerung — die Legitimität des Staates und seiner Herrschaftsgruppen. Diese Gruppen wiederum, die eine „Nationenbildung“ betreiben wollen, können sich dabei meist nur eines „territorialen Nationalismus“ auf der Grundlage kolonialer Grenzen und Verwaltungseinheiten bedienen. Zwar verstärkte vielfach der gemeinsame antikoloniale Kampf die nationale Identifikation, doch erwies sich dieser Konsens in der nachkolonialen Ära meist als zu wenig tragfähig. Bei dem nunmehr einsetzenden Konkurrenzkampf um die Besetzung des Staatsapparates und der damit verbundenen Einfluß-und Statuspositionen sowie um die Verteilung von knappen Ressourcen brachen vielfältige ethnisch, religiös und kulturell geprägte Konflikte auf. Separatistisch-sezessionistische Bestrebungen bedrohten dabei nicht nur die territoriale Integrität des Staates, sondern darüber hinaus auch die Legitimität der Regime und die Autorität des staatlichen Machtapparats. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen Staat und Nation bzw. die Nichtlösung fundamentaler Probleme nationaler Identität und Selbstbestimmung haben in Teilen Asiens und Afrikas zu einigen der hartnäckigsten und gewaltintensivsten Bürgerkriege der letzten Jahrzehnte geführt (u. a. Sezessionskrieg Ost-Pakistans, des heutigen Bangladesh. Libanon. Biafra/Nigeria, Sudan. Tschad. Äthiopien/Eritrea).
Zwischenstaatlichen Kriegen in der Dritten Weit liegt zumeist ein Zusammenwirken von innergesellschaftlichen und regionalpolitischen Bedingungen zugrunde. Hier wären zunächst das Machterhaltungs-und Machtausbau-Interesse von Herrschaftsgruppen gegenüber auswärtigen Herausforderungen zu nennen (wie wohl das des irakischen Baath-Regimes gegenüber der Bedrohung durch die fundamental-islamische Revolution im Iran) ferner die Ableitung innerer Spannungen gegen einen Außenfeind. um internen Problemdruck zu verringern (wie es wohl die argentinische Militär-Junta im Falkland-Malwinen-Krieg gegen Großbritannien handhabte) und schließlich die politischen und/oder ökonomischen Gewinn-Interessen von einflußreichen Bevölkerungsgruppen (wie etwa derartige Interessen somalischer Clan-Gruppen im Grenzkonflikt zwischen Somalia und Äthiopien) Darüber hinaus müssen aber auch kulturell-psychologische Faktoren wie überkommene Feindbilder und militante Nationalismen angeführt werden sowie schließlich politische Krisenentscheidungsprozesse. die oftmals mit kriegsauslösenden Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen der potentiellen Gegner und der regionalen und globalen Umwelt verbunden sind (wie beispielsweise im Golfkrieg auf irakischer Seite, im Falkland/Malwinen-Krieg vor allem auf argentinischer, aber auch auf britischer Seite, und im Ogadenkrieg auf somalischer Seite). Des weiteren muß auf die im Vergleich zu Europa noch mangelnde territoriale Konsolidierung und machtpolitische Ausdifferenzierung des peripheren Staatensystems verwiesen werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg ging es im europäischen Staatensystem mehr um die Sicherung territorialer Besitzstände als um territorialen Zugewinn, weniger um eine Veränderung der Grenzen als um deren exakte Delimitierung und Demarkierung. Die klassischen Nationalismus-und Minderheitenprobleme verloren an relativer Bedeutung, und die Blockbildung entlang der Ost-West-Achse formalisierte und stabilisierte die politischen Einflußzonen der Supermächte. Im Bereich der Dritten Welt war und ist jedoch eine solche staatlich-territoriale Konsolidierung noch nicht zu beobachten. Unklare koloniale Grenzziehungen, vielfältige Nationalismus-und Minderheitenprobleme sowie vorkolonial begründete, wieder aufbrechende Gebietsansprüche führten dort bereits zu etlichen Grenzstreitigkeiten und zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen. Dies geschieht insbesondere da, wo in entlegenen und bisher kaum erschlossenen Grenzregionen wertvolle Rohstoffe entdeckt wurden, so daß sich oftmals Grenz-und Territorialkonflikte mit Ressourcenkonflikten verbinden.
Hinzu kommt die sich bereits vollziehende und in der Zukunft weiter anhaltende ökonomische und machtpolitische Differenzierung und Hierarchisierung des peripheren Staatensystems. Die zunehmende Herauskristallisierung von konfligierenden „Nationalinteressen“ sowie die verstärkte Ausbildung von konkurrierenden regionalen Mittel-oder Vormächten, die aufgrund ihrer demographischen, ökonomischen und militärischen Potentiale innerhalb der Dritten Welt eine Sonderstellung beanspruchen und einnehmen werden, machen ebenfalls neue und vermehrte Grenz-und Territorial-sowie Hegemonie-und Ressourcenkonflikte wahrscheinlich Wie Wolf Grabendorff treffend bemerkt hat, werden solche Konflikte „zumeist durch ein komplexes Zusammenwirken von Grenzstreitigkeiten, historischen Feindbildern, wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen, System-gegensätzen, rüstungstechnischen Ungleichgewichtigkeiten und Großmachteinflüssen virulent“ Als typische Beispiele für solche Konflikte seien genannt die Kriege zwischen Iran und Irak (Golfkrieg), zwischen Indien und Pakistan, zwischen Somalia und Äthiopien (Ogadenkrieg) sowie zwischen Israel und den arabischen Staaten.
III. Zur Kriegsverhütung und Friedenssicherung in der Dritten Welt
Doch auch für die Dritte Welt ließe sich die Frage aufwerfen, ob Krieg als rationales und wirksames Mittel von Politik überhaupt noch „lohnt“. Vor allem zwei Argumente scheinen eindeutig für eine negative Beantwortung dieser Frage zu sprechen: zum einen das ethisch-moralische Argument, das auf die inhumanen Kosten von Krieg verweist und zum anderen das politische Argument, das die Frage stellt, „ob Krieg wirklich noch eine rationale Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln . . .sein kann, selbst unterhalb der Schwelle zum atomaren Krieg, und ob gewaltlose Verteidigungs-. Widerstands-. Aufstands-und Befreiungsstrategien nicht nur menschlicher sind, sondern auch effizienter wären“ Skeptisch äußern sich auch Kidron/Smith: „Die Ergebnisse eines Krieges sind oft zweifelhaft, in der Regel produziert er keinen Gewinn, sondern nur Verluste. Und wenn ein Krieg einen erkennbaren Gewinn für eine Seite produziert hat. so um einen Preis, daß dieser häufig nur durch weitere Kriege verteidigt werden muß“ Dem empirischen Befund für die Jahre von 1945 bis Ende 1984 zufolge wurden von 129 abgeschlossenen Kriegen nur 39 Konflikte mittels Verhandlungen beendet, 90 Konflikte jedoch mit militärischen Mitteln aus-gekämpft Die friedliche Beilegung von kriegerischen Konflikten scheint eher die Ausnahme, der gewaltsam-kriegerische Konfliktaustrag dagegen eher die Regel zu sein. Diesem unerfreulichen Befund entspricht in gewisser Weise auch der Stand der Friedensforschung, die zwar intensive „Kriegsursachenforschung“ betreibt, weniger jedoch auch eine „Friedensursachenforschung“. Weithin hat sie es versäumt, konkret-empirische Untersuchungen über erfolgreiche bzw. gescheiterte Friedensbemühungen in Vergangenheit und Gegenwart anzustellen oder aber den Hintergründen von „Beinaheund Nicht-Kriegen“ nachzuforschen 1. Negativer Frieden: Ansätze und Probleme friedlicher Konfliktregelung Das Bemühen um Kriegsverhütung und friedliche Konfliktregelung obliegt vor allem den unmittelbaren Konfliktparteien selbst. Ob dieses Bemühen erfolgreich ist oder scheitert, scheint in der Regel von einer Vielzahl von Einflußfaktoren abhängig zu sein von der Art des kriegerischen Konflikts, seinen Ursachen, seiner Komplexität und seinem Verlauf, von der Binnenstruktur der Konfliktparteien, namentlich ihrer vorherrschenden bzw. widerstreitenden Interessenlagen und Zielorientierungen. etwa zwischen kriegstreibenden Parteien („Falken“) und kriegsverhütenden-bzw. -dämpfenden Parteien („Tauben“), ferner von Allianz-und Bündnisbeziehungen sowie von der Rolle des regionalen und internationalen Umfeldes, namentlich der interessierter dritter Parteien. Gelingt es den unmittelbaren Konfliktparteien jedoch, unter günstigen Rahmenbedingungen einen Prozeß friedlicher Konfliktregelung in Gang zu setzen, so lassen sich die wesentlichen Elemente und Sequenzen dieses Prozesses idealtypisch standardisieren und beschreiben Zunächst werden gewisse „Präliminarien“ eingeleitet und offene oder geheime „Friedensfühler“ ausgestreckt, um Verhandlungsbereitschaft und Verhandlungsspielräume auszuloten sowie Modalitäten und Prozeduren von Verhandlungen vorzuklären (u. a. Ort, Zeit und Agenda offener oder geheimer Gespräche, Zahl und Art der Teilnehmer, einschließlich der Hinzuziehung einer dritten Partei als Vermittler).
Den Präliminarien folgt sodann eine Regelung der akuten militärischen Probleme des Konfliktes, die zumeist eine Feuereinstellung, einen Waffenstillstand, die Schaffung von entmilitarisierten Zonen sowie Kontroll-und Überwachungsmaßnahmen beinhaltet (im Falle von Bürgerkriegen speziell den Rückzug der Kriegsparteien auf bestimmte Gebiete, die Demobilisierung von Rebellentruppen und deren Integration in die regulären Streitkräfte, ferner Garantien bzw. Amnestien für ehemalige Guerillakämpfer sowie Schutzvorkehrungen für Personen und Sachen in den früheren Kampfzonen).
Dieser Regelung der militärischen Probleme schließt sich die Klärung der politischen Fragen an: Bei zwischenstaatlichen Konflikten geht es hierbei um die Regelung territorialer Fragen (z. B. Grenz-Ziehung, Delimitierung und Demarkierung von Grenzen, Festlegung der Zugehörigkeit bestimmter Gebietsteile zu bestimmten Staaten; etwa die Kaschmirfrage zwischen Indien und Pakistan, die Ogadenfrage zwischen Somalia und Äthiopien, die Palästinafrage zwischen Israel und den arabischen Staaten), um die Gewährung von Sicherheitsgarantien (z. B.demilitarisierte Zonen entlang der Grenzen, Nichtangriffspakte), um die Klärung personenbezogener Fragen (z. B. Rückführung von Flüchtlingen. etwa aus Pakistan und Iran nach Afghanistan. aus Somalia nach Äthiopien; ferner Gefangenenaustausch, Wiederbelebung des Grenzverkehrs), um die Normalisierung der Beziehungen (z. B. diplomatischer Verkehr, wirtschaftliche Zusammenarbeit). um die Kontrolle und Überwachung der getroffenen Vereinbarungen (z. B. durch gemischte nationale oder internationale Beobachter und Kommissionen) sowie gegebenenfalls um die Auferlegung von Sanktionen und Strafen (z. B. Reparationszahlungen, wie sie etwa der Iran vom Irak fordert sowie die iranische Forderung, den irakischen Staatschef Hussein als Kriegsverbrecher abzuurteilen).
Bei Bürgerkriegen müssen andere Elemente der politischen Konfliktregelung und Problemlösung berücksichtigt werden. Im Falle von Kriegen, in denen es um das Machtmonopol und das Überleben einer Regierung sowie um die weitere Existenz eines bestimmten gesellschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Systems geht, fällt eine Regelung politischer Fragen außerordentlich schwer. Zur Debatte stehen hier im wesentlichen die Machtbeteiligung der aufständischen Kriegspartei und die Durchführung subtantieller Reformen, oftmals einer Landreform. Das Beispiel des Bürgerkrieges in El Salvador soll dieses Problem verdeutlichen. Hier wurde der (bislang vergebliche) Versuch unternommen.den Krieg zu „verhandeln“ Nach zwei ergebnislosen Gesprächsrunden unter Vermittlung der katholischen Kirche im Herbst 1984 gingen ab Juni 1986 die Streitparteien wieder aufeinander zu. Die Regierung Duarte forderte von der Guerilla jedoch zunächst die Niederlegung der Waffen und dann eine Beteiligung an Wahlen, was die Guerilla jedoch, so Gutierrez. Mitglied der Verhandlungskommission der FMLN. als Forderung nach bedingungsloser Kapitulation empfand: „Duartes Vorschlag bedeutet, daß wir die Waffen strecken und uns dann in das eingliedern, was er einen demokratischen Prozeß nennt. Das ist weder seriös noch realistisch . . . Wenn wir die Waffen niederlegen, hören wir automatisch auf, an der Politik teilzuneh-men.“ Demgegenüber forderte die Guerilla einen Waffenstillstand, die Beteiligung an einer Übergangsregierung und die Eingliederung ihrer Kämpfer in die regulären Streitkräfte. Letztendlich scheiterten die Gespräche im Herbst 1986 jedoch wohl an inhaltlichen Fragen der Reformpolitik: „Wir wollen Frieden und keine Befriedung. In El Salvador ist der Kampf für Frieden unlösbar mit dem Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit. Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit verbunden. Eine Beendigung des Krieges ohne das Erreichen dieser Ziele käme einer Befriedung gleich, und eben das schlägt Duarte uns vor.“
Doch auch Separations-und Sezessionskonflikte lassen sich meist nur sehr schwer politisch verhandeln. Zwar stellt sich in solchen Konflikten die Überlebensfrage des Regimes nicht so unmittelbar, doch haben auch sie gewichtige Auswirkungen auf die Machtbasis und Legitimationsgrundlage einer Regierung, ferner auf die territoriale Integrität eines Staates sowie möglicherweise auch auf dessen ökonomische Reproduktionsfähigkeit. Darüber hinaus sind solche Konflikte in der Regel hochgradig emotionalisiert, weil in ihnen meist Fragen ethnischer und nationaler Identität und Loyalität mit im Spiele sind, die den jeweiligen Konfliktparteien kaum als kompromißfähig gelten. Letztlich stehen hierbei Idee und Konzept des autoritär-zentralistischen. entwicklungsdiktatorischen und unitarischen Nationalstaates europäischer Prägung in der Dritten Welt auf dem politischen Prüfstand. Wie könnten. müßten und sollten sozio-ökonomisch und ethnisch-kulturell gleichermaßen zerklüftete Gesellschaften der Dritten Welt (namentlich die großflächigen) politisch organisiert sein, wie sich die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie gestalten, wie die ökonomischen Verteilungs-und politischen Partizipationsmuster beschaffen sein, um Separations-und Sezessionskonflikte entweder zu verhüten oder aber friedlich beizulegen?
Stichwortartig ließen sich hier Ansätze und Konzepte der Autonomie, der administrativ-staatlichen Dezentralisierung, des Föderalismus und des Minderheitenschutzes anführen. Als Musterbeispiel für einen halbwegs und zumindest zeitweilig gelungenen Versuch der friedlichen Beilegung eines Separations-und Sezessionskonfliktes kann das Autonomie-Statut von 1972 im Sudan gelten Hier gelang es. einen langjährigen Bürgerkrieg zu beenden und für etwa zehn Jahre einen relativen (negativen)
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Frieden herzustellen und aufrechtzuerhalten. Andererseits war diese Friedensregelung offensichtlich nicht stabil genug, um den Ausbruch eines neuerlichen Bürgerkrieges seit etwa 1983 zu verhindern. Unter günstigen innen-und regionalpolitischen Bedingungen (gleichlaufendes Interesse sowohl des Numeiri-Regimes als auch der Rebellen unter Joseph Lagu an einer Beendigung des Konflikts; Vermittlung durch Äthiopien in Gestalt des Kaisers Haile Selassie) kam es im Frühjahr 1972 zwischen den Streitparteien zum Abschluß des Abkommens von Addis Abeba. Dieses Abkommen sah u. a. regionale Selbstregierung und -Verwaltung des Südens in politischen und sonstigen Bereichen vor. die nicht nationaler bzw. gesamtstaatlicher Natur waren (wie z. B. Außenpolitik, nationale Verteidigung und Entwicklungsplanung). Der Süden erhielt seine eigene Regierung (High Executive Council) und sein eigenes Parlament (People’s Regional Assembly). Den ehemaligen Rebellen wurde volle Amnestie gewährt, sechstausend ihrer Guerillas wurden in die nationale Armee des Landes integriert; der Süden behielt eigene Streitkräfte, die allerdings zur Hälfte außerhalb der Region rekrutiert wurden. Ferner wurden die Sprachenfrage geregelt (im Süden Englisch neben Arabisch) und die Flüchtlinge in den Süden repatriiert. Die Grenzen des Abkommens zeigten sich jedoch bei dessen Implementierung. Das historisch gewachsene, fundamentale wirtschaftliche und politische Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd konnte durch das Abkommen nicht beseitigt werden; es fand keine Reallokation der Ressourcen und kein wirklicher politischer Machttransfer zugunsten des Südens statt, auch belastete tiefsitzendes Mißtrauen auf beiden Seiten der ehemaligen Kriegsgegner eine konstruktive Zusammenarbeit im Gesamtstaat. Seit 1983 lebte daher der Bürgerkrieg erneut auf und hält bis heute unvermindert an. Kennern des Konflikts zufolge liegt eine dauerhafte Lösung des Nord-Süd-Problems im Sudan letztlich in einem verfassungsmäßig abgesicherten Föderalismus 2. Positiver Frieden: Überwindung des Krieges durch Entwicklung?
Sind Entwicklung und Frieden kontradiktorisch oder kompatibel? Johan Galtung löst diese schwierige Frage einfach auf. indem er Frieden und Entwicklung schlicht gleichsetzt und das eine durch das andere definiert Entwicklung beseitigt strukturelle Gewalt und begründet damit positiven Frieden. Doch droht durchaus die Gefahr einer Tauto-12 logie, wenn mit derart umfassenden, kaum eindeutig bestimmbaren und operationalisierbaren Begriffen und Konzepten wie Frieden und Entwicklung so gradlinig umgegangen wird Mit Lothar Brock muß zur Kenntnis genommen werden, „daß Entwicklung — definiert in herkömmlichen Kategorien der komplexen Industrialisierung — bislang keinesfalls gleichbedeutend gewesen ist mit einer Verstärkung von Abrüstungsbereitschaft. Entwicklungspolitik im herkömmlichen Sinne ist also auch nicht gleichbedeutend mit Friedensstiftung“ Dennoch scheint es mit Blick auf die gegenwärtige (west-) europäische Situation zumindest wahrscheinlich, daß Demokratisierung, mehr soziale Gerechtigkeit, Prosperität und starke wirtschaftliche Verflechtung sich langfristig doch in vergleichsweise friedlichen inner-und zwischenstaatlichen Beziehungen niederschlagen Andererseits sollte man aber auch nicht leichtfertig erwarten, daß ähnliche Entwicklungsprozesse in der Dritten Welt sich rasch und ungebrochen in demokratischem und friedfertigem Verhalten dortiger Regime manifestieren denn „ein positiver Frieden als Prozeß der Demokratisierung in Richtung auf zunehmende soziale Gerechtigkeit und abnehmende politische Herrschaft über Individuen“ stellt selbst „eine immense friedenspolitische Herausforderung“ dar, „deren gewaltlose Bewältigung (in einer weithin nichtdemokratischen Umwelt) als keineswegs ausgemacht gelten kann“
Der komplizierte Zusammenhang von Abrüstung und Entwicklung soll noch einmal verdeutlichen, daß es keine schlicht gradlinige Verbindung von Frieden und Entwicklung gibt. Die Umschichtung der Mittel von Rüstung zu Entwicklung wird kaum automatisch funktionieren Zwar könnte die Verbindung von Abrüstung und Entwicklung zumindest theoretisch einen Prozeß der Demilitarisierung. Entwicklung und Beseitigung von Kriegsursachen in Gang setzen, doch sollte man sich auch davor hüten, „den Bogen der Erwartungen zu weit zu spannen! Solange wir keine rechte Vorstellung von dem haben, was eine vernünftige Entwicklungspolitik ist, kann auch die Vermehrung von Hilfsgeldern nicht alle Probleme lösen“ Auf diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage nach den Konturen und Substanzen einer „vernünftigen“ Entwicklung bzw. nach einer „friedens-intensiven“
Entwicklungsstrategie, die bislang jedoch noch nicht zu beantworten ist Daher noch einmal: „Es gibt keine problemlose positive Beziehung zwischen sinnvollen Entwicklungsprozessen und der Existenz inneren und äußeren Friedens. Denn jeder Entwicklungsprozeß, selbst ein ausgeglichener, führt zu Umbrüchen und ist deshalb mehr oder weniger konfliktgeladen. Dennoch lassen sich die innere Krisenanfälligkeit und die Gefahr einer Internationalisierung innerer Konflikte in der Folge breitenwirksamer Entwicklung begrenzen.“ 3. Krieg und Frieden in der Dritten Welt in historischer Perspektive Die Analyse der Kriege in der Dritten Welt darf nicht auf den Zeitraum seit Ende des Zweiten Weltkrieges begrenzt werden. Dies wäre eine historisch verkürzte Betrachtungsweise, die wichtige vorkoloniale und kolonialzeitliche Bestimmungsfaktoren gegenwärtiger Konflikte außer acht ließe. Dem gewaltsam auferlegten „Kolonialfrieden“ gelang es oft nur. ältere, bereits vorkolonial virulente Konflikte stillzulegen, nicht jedoch, die strukturellen Gründe für diese zu beseitigen. Modifiziert und verschärft durch den Kolonialismus brachen spätkolonial bzw. nachkolonial solche Konflikte dann wieder auf. Alte und neue Konfliktpotentiale verbanden, vermischten und potenzierten sich; der Kolonialismus löste, besonders infolge von Industrialisierung und moderner Staatlichkeit, enorme soziale Wandlungsprozesse aus, die wiederum große Spannungen freisetzten. Dem Historiker Imanuel Geiss erscheinen diese kriegsträchtigen Spannungen in der Dritten Welt, gerade im Vergleich mit Europa, so zynisch es auch klingen mag, „historisch sozusagen normal: Industrialisierung, Modernisierung, nationale Unabhängigkeit und Aufbau neuer nationaler Gesellschaften . . . sind gewaltige Veränderungen, ja Umwälzungen, die in der Geschichte bisher noch stets mit ungeheuren Spannungen und gewaltsamen Konflikten verknüpft waren.“ Auch wenn die stärker auf die Gegenwart fixierte Kriegsursachenforschung den empirischen Befund erbracht hat, „daß das Hauptproblem die innerstaatlichen Kriege in der . . . Dritten Welt sind“, dann kommt darin ebenfalls „der enorme gesellschaftliche Wandel zum Ausdruck, der sich dort vollzieht und unter den gegebenen Herrschaftsbedingungen wie sozioökonomischen Deformationen allzu häufig gewaltsame Formen annimmt“ Im Bereich Europas und der (westlich-demokratischen) Industriegesellschaften ist dieser umfas-sende Modernisierungsprozeß der Neuzeit erst nach schmerzlichen historischen „Lernkosten" in Form von revolutionärer Gewalt, Bürgerkrieg und Krieg heute einigermaßen ausgereift und konsolidiert. Im Zuge von demokratischer Machtteilung, wirtschaftlicher Prosperität und zunehmender sozialer Gerechtigkeit entfalteten sich relativ stabile Gesellschaften und konsolidierte Nationalstaaten mit einer Vielzahl von national-und sozialintegrativen Einrichtungen und Verfahren zur friedlichen Konfliktregelung und -minderung. Dies war letztlich die Folge eines langwierigen „Prozesses der Zivilisation“, bei dem vermittels eines sozialen Konkurrenz-und Monopolmechanismus allmählich eine Monopolisierung von Gewalt und höhergradige Verflechtung von Gesellschaft stattfand
In der Dritten Welt ist es jedoch weithin noch nicht einmal zu einer innerstaatlichen Konsolidierung gekommen. geschweige denn zu einer Konsolidierung des dortigen Staatensystems insgesamt. Hier finden gegenwärtig die uns aus der europäischen Entwicklungsgeschichte vertrauten innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Machtrivalitäten und Hegemoniekonflikte statt, jedoch meist ohne „zivilisierende“ gesellschaftliche Verflechtungsprozesse. Möglicherweise deshalb, weil dort moderne Staatlichkeit nicht wie in Europa organisch gewachsen, sondern aus europäischem, kolonialistischem Erbe gleichsam künstlich aufgesetzt ist? Ekkehart Krippendorf zufolge wurden die neuen Staatseliten der Dritten Welt „so in Strukturen sozialisiert, in denen die Repression gegen die eigene, in der Regel alles andere als national-homogene Bevölkerung ebenso vorprogrammiert war wie der militärische Anspruch auf institutioneile Verkörperung von Effizienz, Rationalität und Staatsvernunft. Religions-. Stammes-, Bürger-und Sezessionskriege . . . waren damit ebenso unvermeidlich geworden wie solehe um ethnisch zu Recht umstrittene Grenzen“ Doch muß Krippendorf zunächst entgegengehalten werden, daß es auch schon vor der kolonialen Aufstülpung des modernen, europäischen Staatsmodells Kriege in den Regionen der heutigen Dritten Welt gab, und zwar im Zuge der eigenständigen Herausbildung von staatlich verfaßten Gesellschaftsformationen. Krippendorfs flüchtige Rekonstruktionen und Projektionen möglicher historischer und künftiger Alternativen (z. B. Pan-Bewegungen, nichtstaatlich verfaßte Gesellschaften als Ergebnis revolutionärer Befreiungskämpfe) zu staatlich organisierter Herrschaft bleiben allzu unscharf und spekulativ. Auch vermag er nicht überzeugend darzulegen, daß diese Alternativen weniger gewalt-und kriegsträchtig (gewesen) sein würden. Doch könnte es den Gesellschaften der Dritten Welt nicht möglich sein, im Bereich von Krieg und Frieden auf schmerzliche historische „Lernkosten“ und eine „nachholende Entwicklung“ zu verzichten?
Hierzu bedürfte es jedoch der engagierten Mithilfe der entwickelten Staatenwelt, in der Krieg heute zum Anachronismus geworden ist. Diese Staaten-welt ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder auf vielfältige Weise (als direkte Kriegspartei. als Interventionsmacht, als Waffenlieferant usw.) und aus vielerlei Gründen (Herrschafts-und Interessenwahrung, Rohstoffsicherung usw.) kriegerisch in Asien, Afrika und Lateinamerika tätig geworden und hat dadurch die dortigen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit initiiert, geschürt, ausgeweitet und ausgenutzt. Zumindest dies zu unterbinden, wäre heute die historische Aufgabe und Verpflichtung jener gesellschaftlichen Kräfte und Staaten, aufderen Wirken in der Vergangenheit die Entstehung der Dritten Welt überhaupt erst zurückgeht.