Die Volksrepublik Albanien ist nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland in höherem Maße Gegenstand öffentlichen Interesses geworden, wobei naturgemäß Fragen nach den Möglichkeiten wirtschaftlicher Kooperation im Vordergrund stehen: Albanien ist als Produzent einiger wichtiger Rohstoffe, vor allem einiger „strategischer“ Mineralien, von potentieller Bedeutung, wenn auch die hier bestehenden Möglichkeiten sowohl hinsichtlich ihres quantitativen Umfanges als auch bezüglich des für eine sinnvolle Realisierung wirtschaftlicher Kooperation erforderlichen Zeitraumes oft überschätzt werden.
Demgegenüber wird die politische, insbesondere regionalpolitische Bedeutung, die Albanien mittelfristig zuwachsen könnte, seltener thematisiert. So gut wie überhaupt nicht werden die sicherheitspolitischen Konzeptionen, auf denen das Außenverhalten der Volksrepublik Albanien beruht, diskutiert. Das mag seinen Grund einmal darin haben, daß das sicherheitspolitische Denken der albanischen Führung Reflex komplizierter sozialer, wirtschaftlicher und sogar kulturgeschichtlich-ethnischer Sachverhalte ist. die lange Zeit nur von einem sehr kleinen Kreis von Spezialisten berücksichtigt worden sind. Zum anderen erschwerten die ungünstige Quellen-lage. das Fehlen zuverlässiger Daten und die starke Introvertiertheit der albanischen Führung eine seriöse Hypothesenbildung.
Aus diesen Gründen können die nachfolgenden Gedankengänge nur Erklärungsangebote sein. die. ohne über strenge „Beweis“ -Kraft zu verfügen, die möglicherweise in Zukunft verstärkt einsetzende politikwissenschaftliche Diskussion hier und da mit Richtungsweisern versehen können.
I. Die innenpolitische Dimension der Sicherheitspolitik
Die albanische Sicherheitspolitik ist in höherem Maß als Reflex auf innere Legitimationsprobleme zu verstehen denn als Konsequenz der Perzeption äußerer Bedrohung. Am 28. November 1944 zog die „demokratische Regierung“, das oberste Exekutivorgan der kommunistisch dominierten „Nationalen Befreiungsbewegung“ (Levizja Nacional-Clirimtare). in Tirana ein. Vorausgegangen waren Jahre des Guerillakampfes, erst gegen italienische und deutsche Truppen, vor allem aber gegen konkurrierende nicht-marxistische Widerstandsgruppierungen Die Gründe dafür, warum sich die Partisanen der Kommunistischen Partei Albaniens (KPA) letztlich in diesen Auseinandersetzungen durchsetzen konnten, waren neben einer konse-quenteren militärischen Strategie, klareren Zielvorstellungen, besserer Organisation und Disziplin vor allem die Unterstützungen, die die kommunistischen Partisanen nicht etwa von der Sowjetunion, sondern von den westlichen Alliierten, vor allem den Engländern, erhielten. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß die Herstellung voller diplomatischer Beziehungen zwischen Albanien und der Sowjetunion erst 1953, also fünf Jahre nach dem Kominformstreit, erfolgte. Stellt man die Frage, warum ausgerechnet die Partisanen der KPA westliche Hilfe erhielten, so stößt man auf die lapidare Aussage ehemaliger westlicher Verbindungsoffiziere. die berichten, daß die Kommunisten die Deutschen wesentlich nachdrücklicher bekämpften als andere Gruppierungen und deshalb mehr Hilfe erhielten. Sucht man nach Hypothesen, warum das so war. so bietet sich folgende Erklärung an:
Neben den kommunistischen Partisanen sind nur noch zwei Gruppierungen für die Geschichte des Widerstandes gegen die Besetzung während des Zweiten Weltkrieges von Bedeutung: der im Süden. in der Region Vlora entstandene „Baili Kombetar“ (Nationale Front) und der vorwiegend im Norden operierende „Legaliteti". Die erste Organisation war eine mehr politische, weniger militärisch ausgerichtete, sehr lockere Verbindung vor allem südalbanischer Honoratioren. Militärisch ernster zu nehmen war neben den kommunistischen Partisanen aber nur der „Legaliteti“.der seine Basis vor allein bei den mittel-und nordalbanischen gegisehen Stämmen hatte. Diese Stämme hatten sich jahrhundertelang, das heißt auch während der Zeit derosmanischen Herrschaft, einer faktischen Autonomie erfreut, die auch von der deutschen Wehrmacht klugerweise meist nicht angetastet wurde. Es gab allerdings vereinzelte Übergriffe des SD, die dann jeweils zu gefährlichen Spannungen führten. Die gegischen Stämme, deren Siedlungsgebiet etwa bis zum Fluß Shkumbi reicht, hatten mehrheitlich mit den Deutschen eine Art Friedensvertrag oder Burgfrieden, nach ihrem Gewohnheitsrecht „Besa“ genannt, abgeschlossen. Damit aber war auch der Erwerb einer Art Gastfreundschaft verbunden, die nicht nur die militärische Bekämpfung ausschloß, sondern sogar gewisse Schutzpflichten implizierte. Es hatte also etwas mit der Verfaßtheit der gegischen Stammesgesellschaft und ihres Gewohnheitsrechtes zu tun, daß die Aktionsmöglichkeiten des „Legaliteti" auf nur punktuelle Reaktionen nach punktuellen Übergriffen beschränkt waren. Mit solchen Einschränkungen waren die Aktivitäten der kommunistischen Partisanen dagegen nicht belastet. Die KPA und ihre militärischen Gruppierungen wurzelten ausschließlich im toskischen Bevölkerungsteil, das heißt sie entwickelten sich in dem Teil des Landes, in dem die traditionelle Stammeskultur seit langem in Auflösung begriffen war. Dem Fehlen fester „Spielregeln“ für Krieg und Frieden in der toskischen Gesellschaft entsprach die ungleich größere operative Flexibilität der toskischkommunistischen Partisanen, ein Vorteil, der schließlich die Unterstützung durch die Alliierten und damit den innenpolitischen Erfolg brachte.
Dieser Erfolg ermöglichte dennoch keine echte Kontrolle vor allem der gegischen Siedlungsgebiete. Die Herrschaft einer vorwiegend toskischen Partei über ein Land, dessen Bevölkerung zu fast 60 Prozent einem anderen soziokulturellen Bezugsrahmen verpflichtet war, mußte und muß ein gravierendes und für die innere Stabilität gefährliches Legitimationsdefizit mit sich bringen. Diese Zusammenhänge erklären zu einem wesentlichen Teil die Introvertiertheit der albanischen Sicherheitspolitik.
II. Die sozialpolitische Komponente der Sicherheitspolitik
Dementsprechend hat „Sicherheitspolitik“ im albanischen Kontext eine Bedeutung, die umfassend auf soziale Kontrolle abhebt und bei welcher die militärische Komponente nur eine vergleichsweise begrenzte Funktion besitzt. In dem Maß, in dem der toskisch-kommunistische Herrschaftsanspruch, das heißt vor allem der Anspruch des Zentralismus in einem ethnisch, sozial und religiös vergleichsweise heterogenen Land, eingelöst werden sollte, wuchs der Widerstand, insbesondere in den nördlichen Landesteilen. Es hat dort seit 1944 bis heute immer wieder auch bewaffneten Widerstand gegen Tirana gegeben, so daß von einer landesweiten Absicherung des Herrschaftsanspruches der kommunistischen Partei nie die Rede sein konnte. Vielmehr legt die für die albanische Parteirhetorik so typische Unermüdlichkeit der Beschwörung der „stählernen Einheit von Partei und Volk“ geradezu den Schluß nahe, daß gar nicht existiert, was so nachdrücklich apostrophiert wird „Sicherheitspolitik“ schließt vor diesem Hintergrund für die Partei der Arbeit Albaniens (PAA) deshalb unter anderem alle jene Maßnahmen ein, die geeignet erscheinen, dem gegischen Regionalismus und dem traditionellen gegischen Autonomismus die Grundlagen zu entziehen. Neben Versuchen, in den unsicheren Gebieten die Parteiorganisationen auszubauen, neben kulturpolitischen Offensiven, etwa der Verbreitung einer auf dem Toskischen beruhenden Amtssprache, bemühte sich die PAA vor allem mittels „Kollektivierung der Berggegenden“, wie der auf den ersten Blick unverfängliche Terminus technicus heißt. jene Sozialstrukturen zu ändern, deren praktisch-politische Implikationen in Widerspruch zu dem nationalistischen Sozialismus der PAA stehen bzw. aus denen das gegische Autonomiestreben erwächst. So oft man in offiziellen Erklärungen die Forderung nach „Kollektivierung der Berggegenden“ finden kann — zuletzt in der Rede von Ramiz Alia vor dem 9. Parteitag am 3. November 1986 —, so sehr wird auch deutlich, daß dieses Ziel immer noch nicht in einem dem Sicherheitsbedürfnis der Partei entsprechenden Maß erreicht ist.
An diesem Punkt muß auch die albanische Bündnispolitik erwähnt werden, die nicht zuletzt über lange Zeit als unveräußerliche Absicherung der Unterdrückung von Regionalismus und Autonomie-streben verstanden werden kann: Ohne die fast bis zum Anschluß gehende Liaison mit Jugoslawien, die 1948 mit dem Sieg der nationalistischen Gruppe um Enver Hoscha beendet wurde, wäre die Herrschaft der PAA in den nördlichen Landesteilen kaum zu halten gewesen. Die jugoslawische Armee kontrollierte die nördlichen Grenzgebiete und unterband „Los-von-Tirana!“ -Aktionen schon deshalb, weil man im Zuge des geplanten Anschlusses Albaniens einen albanischen Zentralismus ohnehin als historisch überholt und Widerstand gegen einen solchen als unnötig störend ansah.
Der Bruch mit Jugoslawien 1948 und die Hinwendung zum nächsten „Paten“, der Sowjetunion, verhinderte die Eingliederung Albaniens in den jugoslawischen Staat, wodurch die faktische Stärkung des gegischen Elementes durch die in einem solchen Fall erfolgte Vereinigung des Kosovo mit Albanien verhindert wurde. Darüber hinaus wurde Jugoslawien dann zunehmend als Bedrohung empfunden. als man dort nach 1950 mit Dezentralisierung und Arbeiterselbstverwaltung zu experimentieren begann: In den Ausstrahlungen jugoslawischer Dezentralisierungskonzeptionen mußten die Führer der PAA eine gefährliche Ermunterung des Regionalismus im eigenen Land sehen. Als deshalb die Sowjetunion nach einem kurzen „Zwischenfrost“ im Gefolge des Ungarnaufstandes die Wiederaufwertung Jugoslawiens betrieb, mußte man einen neuen Partner suchen. Die enge Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China dauerte etwa von 1960 bis 1976. Das Leitmotiv dieser Partnerschaft, wie es die Albaner sehen wollten, war bereits in einem in „Zeri i Popullit" erschienenen Artikel vom 1. Oktober 1958 formuliert: „Die Kommunistische Partei von China und das chinesische Volk kämpfen mit Entschlossenheit für die Bewahrung der Reinheit des Marxismus-Leninismus vor den verzweifelten Anschlägen der jugoslawischen Revisionisten.“ Beendet wurde die Zusammenarbeit 1976, als die Chinesen auf eine Öffnung Albaniens gegenüber Westeuropa drängten. Man fürchtete seitens der Albaner das schwer kontrollierbare Einströmen von Informationen in ein durch die genannten Legitimationsprobleme ohnehin eher instabiles System. Schwerwiegender aber mußte die in einer Hinwendung zu Westeuropa angelegte Abkehr von der so nützlichen „Zwei-Welten-Theorie“ Shdanow-Stalinscher Prägung empfunden werden: Wenn man glaubt, mit aller Kraft den Deckel auf einen „Dampfkochtopf" pressen zu müssen, dann erscheinen „Zusatzhalterungen“ eines streng dualistischen Politikverständnisses nützlicher für eine Legitimierung.
Die Geschichte der albanischen Bündnispolitik ist wesentlich die Geschichte des Versuches, die im obigen Sinn zentrifugalen Kräfte einzudämmen. Tatsächlich waren aber echte militärische Bedrohungen von außen von sehr geringer realer Bedeutung: Tito konnte es 1948 mit Blick auf die Sowjetunion keinesfalls wagen, „seiner“ Fraktion innerhalb der PAA militärisch beizustehen. Eine sowjetische Militäraktion, etwa 1964, als die Albaner den Hinauswurf der sowjetischen Berater mit der Einkassierung der bei Vlora stationierten U-Boote krönten, war dagegen deshalb nicht möglich, weil die sowjetische Führung der Volksrepublik China keinen Gesichtsverlust zumuten wollte, da man immer noch auf eine Wiedereinbindung hoffte. Außerdem erwartete man seitens des Kreml früher oder später ohnehin einen prosowjetischen Umsturz. und schließlich war Albanien noch Mitglied des Warschauer Paktes. Eine Aktion wie die von 1968 gegen die Tschechoslowakei, wurde zwar später diskutiert aber auf Grund militärstrategischer Probleme fallengelassen: Eine „brüderliche Hilfe“ für Albanien hätte einen größeren Flottenaufmarsch an der schmälsten Stelle der Adria erforderlich gemacht, da Jugoslawien keine Durchmarsch-genehmigung erteilt hätte. Außerdem hätte ein solcher Flottenaufmarsch zu schweren Spannungen mit der NATO geführt, ganz abgesehen von der verheerenden Wirkung in der Dritten Welt, deren politische Durchdringung auf der Liste sowjetischer Prioritäten ganz oben stand, vor allem auch vor dem Hintergrund der sowjetisch-chinesischen Rivalität. Eine militärische Bedrohung seitens der Sowjetunion bestand für Albanien nur für den Fall eines Angriffes auf Jugoslawien. Sonstige militärische Bedrohungen im Zeitraum 1948 bis 1976 sind zu vernachlässigen, wenn man von gelegentlichen albanisch-jugoslawischen Grenzscharmützeln und dem wortreich, aber tatenarm vorgebrachten Anspruch Griechenlands auf den „Nordepirus“ einmal absieht. Nur die latente innere Destabilisierung ließ die Sicherung Albaniens durch eine Schutzmacht und damit die Ausnutzung durch eine größere Macht notwendig erscheinen.
III. Der Antagonismus der Supermächte und die Sicherheit Albaniens
Die heutige albanische Sicherheitspolitik, wie sie sich seit dem Abbruch der engen Kooperation mit der Volksrepublik China, also etwa seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre herausbildete, lebt letztendlich vom Gegensatz der Supermächte und der zwischen diesen bestehenden strategischen Parität. Eine echte Entspannungsphase, die eine Ausdünnung der militärischen Potentiale in Europa einschließt — damit würde auch kleineren Ländern wieder mehr Eigendynamik verliehen —. würde die albanische Sicherheitspolitik vor neue Probleme stellen, deren Behandlung auch Konsequenzen für den innenpolitischen Status quo haben müßte.
Bis etwa 1976 basierte die albanische Sicherheitspolitik auf den Garantien der jeweiligen Schutzmacht. Von dieser Grundlage begann man sich in dem Maß zu entfernen, im dem die nachlassende Ausstrahlung des „jugoslawischen Modells“ zentrifugale Bestrebungen in Albanien nicht mehr verstärkten.
Grundlage der heutigen albanischen Sicherheitspolitik ist der Glaube, daß die zwischen den Supermächten bestehende strategische Parität diese dazu veranlassen wird, jedes Stochern in „Grauzonen“ als gefährlichen Akt sofort zu unterbinden. Diese Sicht ist nicht unrealistisch: Der Nutzen einer außengesteuerten Veränderung in Albanien ist auf keinen Fall die damit verbundenen Risiken wert. Sowohl die UdSSR als auch die USA sind deshalb an der Bewahrung der albanischen Blockfreiheit interessiert. Die Albaner wissen das, auch wenn sie gerne die „wilde Einkreisung durch Sowjetrevisionisten und US-Imperialisten“ beschwören.
Welche konkreten Bedrohungsszenarien spielen im militärischen Denken der Albaner dann eigentlich eine Rolle? Im Falle des Versagens der reziproken Neutralisierung der Supermächte hat die albanische Armee den Auftrag, gegen den Angreifer solange Widerstand zu leisten, bis sich die jeweils andere Supermacht doch noch auf ihr Interesse an einer Erhaltung des Status quo besinnt.
Wäre die albanische Armee in der Lage, in einem solchen Fall hinreichend Widerstand zu leisten? Zweifel sind angebracht. Aufgrund der geographischen Gegebenheiten käme seitens eines potentiellen Angreifers wahrscheinlich nur eine kombinierte See-Luftlandeaktion in Frage. Das Rückgrat der albanischen Marine bilden dreißig chinesische Tragflügelboote, die vor allem für den Torpedoeinsatz bestimmt sind. Diese Boote müßten dicht an der Küste operieren, um nicht feindlichen Luftstreitkräften zum Opfer zu fallen. Ein Schutz durch die albanische Luftwaffe ist kaum vorstellbar: Emstzunehmen wären allenfalls die ca. 30 Mig 19 und 20 chinesische F 7. Die übrigen ca. 20 Mig 15 (nicht allwettertauglich) und 30 Mig 17 stellen keinen wesentlichen Verteidigungsbeitrag dar. Die Einsatzbereitschaft der Luftwaffe liegt nach Schätzung von Fachleuten außerdem permanent bei unter 50 Prozent. Grund dafür sind in erster Linie Ersatzteilmängel, die bisher nur unzureichend, vor allem durch nordkoreanische Importe, ausgeglichen werden konnten. Die Luftabwehr besteht neben Flak vom Kaliber 37, 57, 85 und 100 mm aus einigen SAM 2 Batterien. Sie ist also nach heutigen Maßstäben kaum in der Lage, Luftangriffe einer Supermacht auch nur kurzfristig zu behindern. Ähnliches gilt für das 30 000 Mann-Heer, das in einem solchen Fall wohl kaum die Zeit hätte, sich durch die vorhandenen ca. 100 000 Reservisten zu verstärken.
Die „Stolperdraht“ -Hypothese ist auch unter albanischen Militärs höchst umstritten. Der in jenes Konzept passende Bau von Tausenden von Mini-bunkern wurde inzwischen auch gestoppt. Die in den letzten Jahren wiederholt geführte Kampagne gegen das „Spezialistentum“ in der Armee bzw. die Absolutheit, mit der der Vorrang der politischen Führung betont wird, deutet auf eine sehr bescheidene Selbsteinschätzung der militärischen Fähigkeiten der Armee hin. Heute wird die Hauptaufgabe der Armee vor allem in ihrer Funktion als antiregionalistischer Schmelztiegel und als Mittler zwischen Volk und Partei gesehen.
Diesem Ziel dient die Durchführung militärischer Übungen in der Schule (durchschnittlich ca. ein Monat pro Jahr), an der Hochschule (ca. ein Monat pro Jahr) und im Betrieb: Bis zum Alter von 40 Jahren beteiligen sich berufstätige Frauen in der Regel sieben Tage im Jahr an militärischen Übungen, Männer bis 50 Jahre 12 Tage und die „Intelligenz“ neun Tage pro Jahr. Die Wehrpflicht dauert zwei Jahre und kann nicht verweigert werden.
Eine solchermaßen „introvertierte“ Armee macht nur dann Sinn, wenn die Führung durch die Partei absolut gesichert ist. Eine Leitung durch apolitische Militärfachleute würde den Zweck dieser Armee verfehlen. Soweit die Armee doch auch einen militärischen Auftrag hat, bezieht sich dieser auf die Garantie des Machtanspruches der PAA. Vor dem Eingreifen der Armee, wie seit 1944 wiederholt geschehen, um Subversion zu unterbinden, sind Aktionen der paramilitärischen Einheiten des Innenministeriums (ca. 5 000 Mann) geschaltet, die in enger Koordination mit dem Sicherheitsdienst („Sigurimi“) arbeiten.
Albanische Sicherheitspolitik heißt also Absicherung des Herrschaftsanspruches der PAA im Inneren und Vertrauen darauf, daß das Patt der Supermächte keine regionalen Verschiebungen zuläßt. Albanische Sicherheitspolitik besteht deshalb auch im Unterlassen von Maßnahmen, die den internationalen Status quo ändern könnten, wie zum Beispiel der Teilnahme an multilateralen Verhandlungen der Balkanstaaten zum Zweck überregional relevanter Abmachungen und Abrüstungsfragen. Mit dieser Interpretation der eigenen Sicherheit bleibt der politische Spielraum sehr klein: Er wird zu jedem Zeitpunkt der „Grundfläche“ der Machtbasis der PAA im Land entsprechen. Ob der Amtsantritt des Gegen Ramiz Alias den Versuch andeutet, die Basis im Inneren zu erweitern, um damit jenen außenpolitischen Spielraum zu gewinnen, der Voraussetzung anstehender Modernisierung ist, wird abzuwarten sein.
Der zwischen den Supermächten in Gang gekommene Abrüstungsprozeß gibt Anlaß zu interessanten Spekulationen hinsichtlich der weiteren Entwicklung des albanischen Sicherheitsdenkens: Wenn ein Abbau der nuklearen Arsenale in Europa erfolgt, dann könnte die Wahrscheinlichkeit, daß kleinere regionale Gegensätze zu begrenzten militärischen Auseinandersetzungen führen, wachsen. Bei aller Monstrosität der „strategischen Parität“ hat diese die Supermächte bisher dazu gezwungen, regionale Gegensätze in einem möglichst frühen Stadium zu beruhigen und jede Eskalation zu vermeiden. Dieser Zwang schwindet mit einer Ausdünnung der nuklearen Potentiale, wenn nicht gleichzeitig Konsultationsmechanismen für das Management regionaler Krisen installiert werden.
Was bedeutet das für Albanien? Albanische Diplomaten sehen heute Jugoslawien als einzig möglichen Ausgangsort für eine militärische Aktion gegen Albanien an. Wenn eine tiefe Krise des jugoslawischen Staatsverbandes mit einer weiteren Zuspitzung der Situation im Kosovo zusammenfallen sollte, würde ein „ablenkender“ Schlag gegen angebliche Drahtzieher in Tirana einigen jugoslawischen Militärs und Politikern durchaus zuge-37 traut werden. Wenn die albanische Sicherheit in dieser Situation nicht mehr auf der schmalen, aber festen Schneide einer nuklear „eingefrorenen“ Supermächte-Parität gegründet wäre, müßten mögliche negative Auswirkungen einer aus dem Ruder laufenden Krise Jugoslawiens anders abgefangen werden als durch eine Politik der Isolation. Dann gälte es, das Netz der Außenbeziehungen so dicht zu knüpfen, daß es im Fall einer Bedrohung echte Abstützung geben könnte. Sind diese Überlegungen richtig, dann besitzen die vorsichtigen Öffnungsversuche Albaniens nicht nur die oft zitierte wirtschaftlich-technologische, sondern auch eine sicherheitspolitische Dimension. Das wiederum spräche für Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Öffnungspolitik.