I.
Zu Beginn des Jahres 1987 faßte das jugoslawische Staatspräsidium den Beschluß, das förmliche Verfahren zur Änderung einiger Bestimmungen der Verfassung von 1974 einzuleiten. Vorausgegangen war eine mehrmonatige Debatte unter den Vertretern der sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen (s. Karte, S. 12), bis die widerstreitenden Meinungen aufeinander abgestimmt waren und ein Konsens erzielt wurde. Geändert werden sollten die Beziehungen zwischen der Republik Serbien und ihren Provinzen (Vojvodina und Kosovo), die Verhältnisse in der jugoslawischen Föderation, insbesondere die Zuständigkeit einzelner Organe der Föderation, sowie Verfassungsfragen ökonomischer Natur (gesellschaftliches Eigentum, Markt, Banken).
Nach Ablauf eines Jahres zeigt sich, daß der vermeintlich erzielte Kompromiß nicht trägt. Die Republiken und Provinzen haben ihre ursprünglichen Zweifel und Vorbehalte erneut artikuliert, die Meinungsunterschiede sind unüberbrückbar. Nun kann ein Streit über Verfassungsfragen sehr fruchtbar sein, selbst wenn er sich über längere Zeit hinzieht. Wenn die Partner jedoch nach anderthalb Jahren auf ihren um kein Jota modifizierten Anfangspositionen beharren. muß der politische Entscheidungsprozeß zumindest als langwierig, wenn nicht als schwerfällig bezeichnet werden. Verantwortlich dafür ist die Vorherrschaft der Teilrepubliken über die Föderation, die in Jugoslawien mit dem Schlagwort „polyzentrischer Etatismus“ umschrieben wird.
Die übermächtige Stellung der Republiken und Provinzen, die besonders nach Titos Tod zum Ausdruck kam. beruht auf Art. 286 der jugoslawischen Verfassung. Er bestimmt, daß der Rat der Republiken und Provinzen durch einstimmige Entscheidung den Gesamtplan der SFRJ sowie jene Bundesgesetze verabschiedet, durch die die Verhältnisse auf folgenden Gebieten geregelt werden: dem monetären System und der Geldemission, dem Devisensystem.den Geld-und Devisenreserven, den Schutzzöllen, der gesellschaftlichen Preiskontrolle sowie der innerjugoslawischen Entwicklungshilfe. Das Prinzip der Einstimmigkeit wurde in der politischen Praxis, entgegen der Verfassung, auf nahezu alle anderen Sachgebiete ausgedehnt.
Durch ihr faktisches Vetorecht hat jede einzelne Republik oder Provinz eine starke Position bei allen politischen Entscheidungen. Sie kann gesamtjugoslawische Lösungen bremsen und in der Zwischenzeit die ihren Interessen entsprechende Lösung vorantreiben. Das Ergebnis ist oftmals eine Lähmung des politischen Entscheidungsprozesses. Jüngstes Beispiel für eine derartige Blockade durch einander ausschließende Bedingungen der Republiken und Provinzen ist das Plandokument für 1988. Jugoslawien ging 1988 zum ersten Mal in seiner Geschichte ohne Plan und damit ohne Budget und Leistungsbilanzprojektionen ins laufende Haushaltsjahr. Die beiden hochentwickelten Republiken Slowenien und Kroatien lehnten die Verabschiedung des Plans für 1988 ab und brachten so ihren Unwillen darüber zum Ausdruck, daß ein längst überfälliges neues Devisengesetz noch immer nicht beschlossen wurde
In den letzten Jahren hat sich die Tendenz verstärkt. daß auf den Ratssitzungen lediglich die einander zumeist widersprechenden Standpunkte der einzelnen Republiken vorgetragen werden. Diskutiert wird in der Regel nicht, da niemand die Hoffnung hegt, den anderen zu überzeugen. Die Repräsentanten der Republiken kommen mit strikten Anweisungen in den Rat. Ihnen ist vorgeschrieben, wie lange sie an bestimmten Standpunkten festhalten sollen, wie und wann sie nachzugeben haben, damit der schließlich erreichte Konsens das durch sie vertretene Partialinteresse befriedigt. Jede Delegation verfügt über einen sogenannten Koordinator, der in Kontakt mit der Heimatrepublik steht und von dort weitere Instruktionen erhält. Die Möglichkeit, aus den unterschiedlichen Standpunkten eine Synthese zu bilden, ist gewöhnlich nicht gegeben.
Schon vor zwei Jahren übte der Belgrader Politologe Rado Smiljkovic scharfe Kritik am Konsensprinzip: „Wenn eine Minderheit eine Beschlußfassung auf Mehrheitsbasis blockieren kann, so führt das zur Tyrannei der Minderheit. Wir sind Zeugen der Einführung des Prinzips der mehrheitlichen Entscheidung in den Organen der Europäischen Gemeinschaft. Dabei weiß man, wie sehr die einzelnen Mitgliedsstaaten auf ihre Selbständigkeit bedacht sind. Sie sind einfach früher als wir zur Über-zeugung gelangt, daß die weitere Existenz der Gemeinschaft unmöglich wird, wenn die Anwendung des Konsensprinzips nicht eingeschränkt wird. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß der Konsens unter unseren Verhältnissen den Bürokratien in den Republiken und Provinzen am meisten zusagt . . . Notwendig jedoch ist die Einführung des Mehrheitsprinzips.“
Wie die jüngste Entwicklung gezeigt hat, ist an die Einführung des Mehrheitsprinzips nicht zu denken. Inzwischen ist sogar ein qualitativ neues Stadium erreicht, da die Spaltung zwischen den entwickelten westlichen Republiken und den unterentwickelten Teilgebieten der Föderation noch nie derart kraß zum Ausdruck kam. Positiv ist zu vermerken, daß man diesmal nicht zu der bereits aus ähnlichen Fällen sattsam bekannten Lösung griff, ein Dokument zu verabschieden, das so weit von allen Sachgehalten gereinigt ist, daß es von allen Teilrepubliken bedenkenlos unterzeichnet werden kann.
Der Konflikt wurde bloßgelegt. Slowenien und Kroatien haben unmißverständlich klargemacht, daß sie eine Wirtschaftspolitik, die primär an den Interessen der armen und unterentwickelten Republiken orientiert ist. nicht länger hinnehmen wollen. Die Desintegrationstendenzen auf staatlicher Ebene kommentiert die Belgrader Politika mit folgenden Worten: „Kann eine Gemeinschaft überhaupt existieren, in der ihre Mitglieder nur dem zustimmen, was ihnen zusagt, ihre Zustimmung aber allem verweigern, was nicht ganz und gar in ihrem Interesse, jedoch Grundbedingung des gemeinsamen Lebens ist?“
Die völlige Blockade oder Teillähmung des politischen Entscheidungsprozesses, die seit Beginn der achtziger Jahre zum politischen System der SFRJ gehört — wenngleich die rechtlichen Grundlagen schon 1974 gelegt wurden — hat wesentlich zur Vertiefung und Verschärfung der wirtschaftlichen Dauerkrise Jugoslawiens beigetragen. Wegen der äußerst langwierigen parlamentarischen Prozedur konnten viele Entscheidungen auf Bundesebene erst getroffen werden, nachdem der Zug längst abgefahren war. Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen waren dementsprechend.
Trotz offenkundig schwerer Nachteile wird auch in Zukunft am Konsensprinzip nicht gerüttelt werden. Es ist die feste Überzeugung der meisten Spitzenpolitiker auf regionaler Ebene, daß starke Republiken und Provinzen nur in einem schwachen Jugoslawien möglich sind. Das erlaubt dann den Umkehrschluß. daß ein starkes Jugoslawien nur auf schwachen Republiken und Provinzen errichtet werden kann Gerade in den kleineren Republiken und in den autonomen Provinzen herrscht eine geradezu pathologische Angst vor „Zentralismus und Unitarismus“, die ihre Wurzel in bitteren Erfahrungen der Vorkriegszeit, aber auch in den stalinistisch geprägten Nachkriegsjahren hat. Die separatistische Zergliederung Jugoslawiens in acht konkurrierende Staats-und Wirtschaftsverbände scheint diesen Kräften weitaus eher erträglich als eine Rückkehr zum zentralistischen System der Vergangenheit.
II.
Auch der Bund der Kommunisten Jugoslawiens blieb von Desintegrationsentscheidungen keinesfalls verschont. Er soll laut Verfassung der „grundlegende Initiator und Träger der politischen Aktivität“ sowie die „organisierte und führende Kraft der Arbeiterklasse“ sein. Es ist jedoch unverkennbar, daß er dieser Aufgabe seit dem Ende der Tito-Ära nicht mehr gerecht werden kann. Auch die Partei ist föderalisiert, das heißt, in rivalisierende Führungen der einzelnen Republiken und Provinzen gespalten. Die Führungsgremien — Präsidium und Zentralkomitee des BdKJ — sind ein getreues Spiegelbild der inneren Zerrissenheit und Aufspaltung in regionale Interessen. Selbst Spitzenfunktionäre räumen ein, daß in der Bundespartei von effizienter Arbeit nicht mehr die Rede sein kann. Auf dem 11. ZK-Plenum Anfang Dezember 1987 stellte Ivan Brigic, Mitglied im Parteipräsidium, fest: „In der Periode seit dem XIII. Kongreß (Sommer 1986) haben sich ideologische Schwankungen, mangelnde Aktionseinheit und ungenügende Bereitschaft zur Konkretisierung und effizienten Verwirklichung der beschlossenen Politik gezeigt. Der Einfluß des BdKJ als der führenden ideologisch-politischen Kraft in der Gesellschaft sinkt, was zur Erosion des Vertrauens in den BdKJ, besonders in seine Spitzengremien, führt. Seit dem XII. Kongreß sind zu vielen wichtigen Fragen ZK-Beschlüsse ergangen, sie haben die Lage jedoch nicht wesentlich beeinflußt, da sie nicht durchgeführt wurden.“
Die hier formulierten Erkenntnisse sind keineswegs neu. Bereits vor zwei Jahren hieß es im theoretischen Organ des BdKJ, Komunist, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens handle nach wie vor wie eine klassische Partei; er treffe Entscheidungen und verabschiede Resolutionen, leite sie an die unteren Parteiorganisationen weiter und mache die Öffentlichkeit mit ihnen bekannt. Die wichtigste Aufgabe, nämlich die Durchsetzung einmal getroffener Beschlüsse, werde nicht mehr wahrgenommen. Apathie, Desinteresse und Passivität bei der Parteimitgliedschaft seien die Folge. Die Führungsgremien trügen selbst dazu bei. die eigene Autorität zu untergraben
In der Nach-Tito-Ära hat es keinesfalls an verbalen Versuchen gefehlt, den zunehmenden Autoritätsverfall des BdKJ zu stoppen. Der jüngste Schritt in diese Richtung ist der Änfang Dezember vergangenen Jahres gefaßte Beschluß, im März 1988 eine Parteikonferenz abzuhalten. Grundlegendes Thema dieser Konferenz, die das höchste Beschlußgremium zwischen zwei Kongressen ist. wird die „führende Rolle und die Einheit des BdKJ“ sein, aber auch die Verantwortung der Partei für die soziale und wirtschaftliche Krise. Auf je 5 000 Mit-glieder des BdKJ wird ein Delegierter für die Parteikonferenz gewählt werden. Die Wahl soll erstmals geheim sein. Wie es heißt, sollen sich im Prinzip (!) mehrere Kandidaten um einen Delegierten-platz bewerben Doch schon jetzt zeichnet sich ab. daß die mit großem Aufwand angekündigte Parteikonferenz nur ein paradeähnlicher Aufmarsch wird, der sich in bloßer Rhetorik und einem rituellen Umgang mit den Problemen erschöpft. Wer die politische Entwicklung in Jugoslawien seit Beginn der achtziger Jahre verfolgt hat. erinnert sich an zahllose Ankündigungen „radikaler Änderungen“, an „historische Wendepunkte“, „Umbrüche und grundlegende Reformen“, die in Konfrontation. Konfusion und letztlicher Perspektivlosigkeit endeten. Allein die Tatsache, daß man sich zu einer Parteikonferenz entschieden hat, deren Kompetenzen ungleich geringer sind als die eines außerordentlichen Parteitags, läßt befürchten, daß es zu einer erneuten Manifestation der „Ohnmacht auf Bundesebene“ kommen wird.
Das dem Buchstaben nach noch immer gültige Prinzip des demokratischen Zentralismus — das die „breiteste Demokratie beim Auffinden der politischen Linie, aber auch die festeste Einheit bei ihrer Durchführung“ vorsieht — ist völlig ausgehöhlt. Die Pflicht der Minderheit, die Entscheidungen der Mehrheit zu respektieren, steht ebenso nur noch auf dem Papier wie die Pflicht der untergeordneten Organe, die Entscheidungen der übergeordneten Organe durchzuführen. Gültigkeit besitzt der demokratische Zentralismus nur noch innerhalb einer Republik-oder Provinzorganisation des BdKJ. Die Bundespartei selbst ist zu einer labilen Koalition der Republik-und Provinzorganisationen geworden. Auch hier scheinen die Spitzenpolitiker auf der regionalen Ebene der Überzeugung zu sein, daß es starke Republikparteien nur geben kann, wenn die Bundespartei möglichst schwach ist.
Das Prinzip des demokratischen Zentralismus wird vom amtierenden Parteichef des BdKJ. Bosko Krunie. auf eigenwillige Weise interpretiert: „Im Zusammenhang mit dem demokratischen Zentralismus erhofft man sich viel zu oft eine Einheit, die monolithisch und ideal konzipiert sein sollte . . . Ich glaube, daß der Weg zur Einheit über die Unterschiede führt. Das ist ein wesentliches Charakteristikum unseres politischen Lebens und der Verhältnisse in der Gesellschaft, und erst recht in der Föderation, und auch der BdKJ muß das respektieren . . . Man muß den demokratischen Zentralismus einfach in der Richtung entwickeln, daß man die Denkweise der Minderheit vor Disqualifikationen schützt, um demokratische Verhältnisse im BdK und in der Gesellschaft zu wahren . . . Der Bund der Kommunisten hat nicht die Rolle des obersten Schiedsrichters, das gehört nicht zum System der sozialistischen Selbstverwaltung. Der BdK ist weder der Advokat des allgemeinen, föderativen, aber auch nicht des besonderen, partikularen Interesses einer Republik oder Provinz.“ 8)
Aus diesen Äußerungen wird ersichtlich, daß das auf der staatlichen Ebene herrschende Konsensprinzip längst auf die Bundespartei übertragen worden ist. Auch im BdKJ hat sich die Macht eindeutig auf die Republik-und Provinzorganisationen verlagert. Bosko Kruni, ein Serbe aus der Vojvodina, macht keinen Hehl daraus, daß er als Chef der Bundespartei mit einjähriger Amtszeit keineswegs die Stärkung des BdKJ gegenüber den Republikparteien anstrebt. Er hat dieses Amt als Repräsentant des BdK Vojvodina erhalten und sieht die eigene Rolle nicht zuletzt darin, darüber zu wachen, daß der Einfluß der Regionalparteien nicht geschmälert wird.
Die Desintegrationserscheinungen sind auf staatlicher Ebene und auf der Ebene der Partei so weit fortgeschritten, daß die bundesstaatlichen Organe ebenso wie der BdKJ nur noch begrenzt als Träger eines gesamtstaatlichen Willens angesehen werden können. Wenngleich hierüber auf Parteiveranstaltungen und in der Presse zahlreiche Klagen geführt werden, kann die Tatsache nicht übersehen werden, daß diese Entwicklung von den Republikführungen bewußt gesteuert wurde. Der Preis für den Ausbau ihrer Selbständigkeit liegt in der erheblichen Reduzierung gesamtstaatlicher Handlungsfähigkeit.
III
Spricht man von der inneren Entwicklung in den Teilgebieten der Föderation, so ist die zu Serbien gehörende autonome Provinz Kosovo an erster Stelle zu nennen. Nach Angaben der Informationskommission des BdKJ hat die jugoslawische Presse zwischen April und September 1987 nicht weniger als 5 397 Artikel über Kosovo veröffentlicht Besonders die Belgrader Zeitungen wurden nicht müde zu betonen, Kosovo stelle das wichtigste Problem des heutigen Jugoslawiens dar; an dieser Frage werde sich die Zukunft Jugoslawiens entscheiden. Die zu achtzig Prozent von muslimischen Albanern bewohnte Provinz, die im Frühjahr 1981 Schauplatz blutiger nationalistischer Unruhen war. ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Im Gegenteil, der Graben zwischen den anderthalb Millionen Albanern und ihren knapp 200 000 slavischen Mitbürgern hat sich vertieft.
Trotz zahlreicher Resolutionen und einer Reihe praktischer Maßnahmen gelang es der politischen Führung in Belgrad nicht, das ihrer Meinung nach zentrale Problem — die Abwanderung der Serben und Montenegriner — zu stoppen. Zwischen 1981 und 1987 verließen mehr als 22 000 Serben und Montenegriner Kosovo, der slavische Bevölkerungsanteil sank in diesem Zeitraum von 14, 9 auf 13, 5 Prozent. Von insgesamt 1 445 Ortschaften und dörflichen Siedlungen in Kosovo sind jetzt 650 „ethnisch rein“, das heißt, die Bevölkerung besteht zu 100 Prozent aus Albanern
Mit besonderer Verbitterung wird in Belgrad registriert, daß die serbischen Abwanderer aus Kosovo nicht nur aus jungen Fachleuten bestehen, die anderswo bessere Arbeits-und Lebensbedingungen gefunden haben, sondern daß darunter auch Staats-und Parteifunktionäre sind, die ihre Berufung in Bundesorgane dazu nutzen, ihre ganze Familie in die Hauptstadt auszusiedeln. Angesichts der fortschreitenden Albanisierung Kosovos fühlt sich die slavische Minderheit in ihrem Bestand bedroht und neigt daher mehr und mehr zu emotionalen, zum Teil aggressiven Reaktionen. Aufgeputscht durch Agitatoren, die nicht immer aus Kosovo selbst stammten, begaben sich in den vergangenen beiden Jahren immer wieder mehrere hundert Mann starke Züge von Serben und Montenegriner nach Belgrad, um dort gegen Diskriminierung und gewaltsame Übergriffe der albanischen Mehrheit zu protestieren. Radikale Gruppen unter ihnen forderten die Auflösung der Provinz Kosovo und ihre Umwandlung in serbisches Territorium. Nur so sei ein wirksamer Schutz der hier lebenden Serben möglich.
Auch in Städten und Dörfern Kosovos selbst kam es immer häufiger zu „spontanen“, auffällig gut organisierten Protestveranstaltungen serbischer Bürger, die damit drohten, kollektiv aus der Provinz auszusiedeln oder sogar Waffengewalt anzuwenden. Angesichts einer drohenden Konfrontation zwischen serbischen Extremisten und albanischen Separatisten faßte die jugoslawische Bundesregierung „mit Rücksicht auf die gespannte Sicherheitslage“ Ende Oktober 1987 den Beschluß, eine 400 Mann starke Eliteeinheit der Polizei, die direkt dem Innenministerium untersteht, in die unruhige Provinz zu entsenden. Mit ausschlaggebend für diese aufsehenerregende Aktion war die Erinnerung an die Vorgänge in Kosovo Polje im Frühjahr 1987. Damals kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen 15 000 demonstrierende Serben und Montenegriner vor, die Menge wehrte sich mit Steinwürfen. Es gab mehrere Dutzend Verletzte. Die gewaltsame Demonstration, die am frühen Abend begonnen hatte, dauerte bis zum Morgen an. Mindestens 20 Personen wurden festgenommen Die vom jugoslawischen Fernsehen gezeigten Bilder einer hilflosen Polizei, die vor der wütenden Menge zurückweichen mußte, dürften ihre Wirkung auf die verantwortlichen Politiker nicht verfehlt haben
Doch auch die albanischen Nationalisten gaben der Zentrale in Belgrad genügend Anlaß zu Besorgnis.
Seit 1981 wurden 89 illegale Gruppen und neun separatistische Organisationen entdeckt. Strafrechtlich verfolgt wurden 1 200 Personen, während sich 4 000 wegen nationalistischer Vergehen verantworten mußten. Nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafen wurden 70 Prozent der Täter rückfällig. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden zeigen die unentdeckten Reste zerschlagener illegaler Gruppen eine ausgeprägte Neigung zu terroristischen Aktivitäten. Auch die Ordnungskräfte in Kosovo selbst sind unterwandert. Von 1981 bis 1987 mußten 240 Polizisten wegen „feindlicher Tätigkeit“ oder „inakzeptabler Standpunkte“ aus dem Dienst entlassen werden. Ein Strafverfahren wurde gegen 49 Polizisten eröffnet Derjugoslawische Verteidigungsminister Branko Mamula erklärte im September vergangenen Jahres, in der Volksarmee seien seit 1981 nicht weniger als 216 illegale albanische Gruppen mit 1 435 Angehörigen entdeckt worden
Wegen der Nationalitätenpolitik in Kosovo war es im vergangenen Jahr zu einem parteiinternen Machtkampf in Serbien gekommen. Die orthodoxe Fraktion, die nachdrücklich für eine Politik der harten Hand in Kosovo plädierte, wurde von Parteichef Slobodan Miloevi angeführt. Sein Gegenspieler und Führer der gemäßigten Fraktion war der serbische Staatspräsident Ivan Stambolic. Erstes Opfer im Zweikampf der beiden „starken Männer“ wurde der Parteichef von Belgrad. Dragisa Pavlovi. Der Politiker hatte der Parteiführung der Republik vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen. Während sie gegenüber serbischen Nationalisten in Kosovo eine kaum zu überbietende Milde und Nachsicht an den Tag lege, beantworte sie jede Regung des albanischen Nationalismus mit massivem Druck. Nach einer Marathonsitzung wurde Pavlovi mit großer Mehrheit aus der Parteiführung der Republik ausgeschlossen; seinen Posten als Belgrader Parteichef mußte er ebenfalls aufgeben. Die Begründung lautete, Pavlovic habe die Parteilinie verlassen und den demokratischen Zentralismus mißachtet
Slobodan Miloevi, früher einmal Sekretär seines Gegenspielers Ivan Stambolic, ist seit anderthalb Jahren Parteichef von Serbien. Er gilt als orthodoxer Kommunist, der keinesfalls davor zurückschreckt. alle nationalistischen Emotionen zu mobilisieren, die mit der Kosovo-Frage verbunden sind. Zu diesem Zweck sicherte er sich als Sprachrohr zunächst die angesehene Belgrader Zeitung „Politika“, die bis dahin liberal geprägt und für ihre ausgewogene Berichterstattung bekannt war. Durch Umbesetzung auf den vier wichtigsten Posten wurde die innenpolitische Berichterstattung der Zeitung auf Milosevic-Kurs getrimmt. Auch das Nachrichtenmagazin NIN erhielt eine neue Redaktionsleitung. Inoffiziell verlautet, daß beinahe 100 Belgrader Journalisten der Gleichschaltungs-kampagne zum Opfer gefallen sind. Sie wurden zwar nur in seltenen Fällen entlassen, jedoch durch Abschiebung auf weniger wichtige Posten „neutralisiert“. Mit Hilfe der Presse gelingt es Miloevi nun. die nationalen Emotionen in Serbien aufzuputschen. Berichte über Plünderungen, Brandstiftungen und Vergewaltigungen in Kosovo dienen als Argument, ein rücksichtsloses und hartes Vorgehen der jugoslawischen Föderation zu fordern. Anfang Dezember 1987 wurde Serbiens Staatspräsident Ivan Stamboli, der in der Kosovo-Frage immer einen gemäßigten Kurs vertreten hatte, zum Rücktritt gezwungen. An seine Stelle trat der Hardliner Petar Graüanin. Die nach Machterweiterung strebende Führung Serbiens versuchte, ihren Einfluß in den autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina entscheidend zu verstärken. Vehikel hierzu sollte eine Reform der serbischen Verfassung sein, die die Autonomie der Provinzen praktisch beseitigt hätte. Serbien wollte sich die Gewalt über die Volksverteidigung. Staatssicherheit, internationale Zusammenarbeit und das Gerichtswesen in den Provinzen sichern. Aus dem Parlament der Vojvodina war ein schroffes Nein zu hören, dem sich die anfänglich eingeschüchterte Führung Kosovos schließlich anschloß. Nach diesem Veto sind die legalen Möglichkeiten zur Machtübernahme Serbiens in den Provinzen erschöpft
Es ist bemerkenswert, daß es in der Vojvodina gerade die Serben sind, die die Autonomie gegenüber Belgrad verfechten. Auch die Serben aus Bosnien und Kroatien sind nicht auf Miloevi-Kurs. Montenegro wurde von der Belgrader Führung wegen seiner angeblich laxen Haltung in der Kosovo-Frage kritisiert. In Mazedonien, das selbst erhebliche Probleme mit seiner albanischen Minderheit hat, stößt Serbiens neuer Kurs nicht auf Zustimmung. Mit Abstand härtester Kritiker Serbiens ist jedoch die Republik Slowenien mit Parteichef Milan Kuan an der Spitze.
Im Oktober vergangenen Jahres betonte Kuan bei einer Pressekonferenz mit ausländischen Journalisten nachdrücklich, Serbien könne nicht allein den Kurs gegenüber Kosovo bestimmen, dies sei Sache der ganzen Föderation. Mit einem „energischen Vorgehen“ gegen die Albaner könne man Jugoslawien in den Libanon Europas verwandeln. Die kritische Lage in Kosovo könne weder durch ein Diktat noch durch das Eingreifen der Armee bereinigt werden. Eine für alle Seiten akzeptable Lösung müsse durch demokratisches Vorgehen gefunden werden. Kutan bemerkte zudem, die Gerichte in Kosovo, vor denen sich albanische Nationalisten zu verantworten hätten, seien nicht in jedem Falle unabhängig und hätten sich als manipulierbar erwiesen. Um die kritische Distanz zu seinem serbischen Amtskollegen Miloevi deutlich zu machen, betonte Kutan, ihm sei es nicht gleichgültig, wenn ihn jemand als Stalinisten bezeichnete. Miloevi hatte im Frühjahr 1987 erklärt, er empfinde eine derartige Charakterisierung seiner Person nicht als beleidigend Seitdem ist eine slowenisch-serbische Pressefehde in Gang gekommen, die wohl noch eine Weile anhalten dürfte
Bereits im Frühjahr 1987 war Slowenien in offenen Gegensatz zu den übrigen Landesteilen geraten, die der nördlichen Republik ihre allzu liberale Politik vorhielten. Damals hatte Milan Kutan die Ansicht vertreten, im jugoslawischen Gesamtstaat existiere offenbar eine Art von „Slowenensyndrom“. Den Hintergrund für diese Äußerung bildete die heftige Kontroverse um die „Beiträge zu einem slowenischen Nationalprogramm“, die in der Zeitschrift „Nova Revija“ (Ljubljana) veröffentlicht worden waren. Hier beklagten namhafte slowenische Wissenschaftler, ihre Heimatrepublik werde innerhalb der jugoslawischen Föderation politisch benachteiligt, obwohl sie mit Abstand das höchste wirtschaftliche Entwicklungsniveau aufweise. Einer der Beiträge forderte die „Republikanisierung“ der serbisch dominierten Volksarmee, das heißt, daß in jeder Republik nur Soldaten der dort lebenden Nationen stationiert werden sollten. Unter den gegenwärtigen Umständen gleiche Slowenien einem „von einer national fremden Armee okkupierten Land“. Slowenische Soldaten müßten wie zur Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft „in einer fremden Umgebung und unter fremdem Kommando“ Dienst leisten. Ein anderer Beitrag stellte die führende Rolle der kommunistischen Partei ebenso in Frage wie ihre historische Legitimität. Ein dritter Aufsatz forderte die Bildung einer formal-rechtlich sanktionierten intellektuellen und politischen Opposition
Die heftige Kritik, die in allen Landesteilen, besonders jedoch in Serbien, am „Slowenischen National-programm“ geübt wurde, veranlaßte Milan Kuan zu der Äußerung, in Jugoslawien sei es ohnehin schwer. Slowene zu sein, noch schwerer habe man es jedoch als slowenischer Kommunist. Die Forderung nach Einführung einer legalen Opposition, also eines Mehrparteiensystems, wurde im vergangenen Jahr mehrfach erhoben. Die stereotype Begründung der Ablehnung einer solchen Idee wurde von führenden Funktionären wie folgt gegeben: Derartige Parteien würden sich ausschließlich auf regionaler und nationaler Basis organisieren und die ohnehin gegebenen Spaltungen und Gegensätze im Lande auf unerträgliche Weise vertiefen. Auf den ersten Blick scheint dieses Argument plausibel. Ebenso gut könnte man allerdings sagen, daß sich die Einführung eines Mehrparteiensystems mittlerweile erübrigt, da der Bund der Kommunisten Jugoslawiens eine allerdings sehr labile Koalition aus acht Parteien darstellt. In Jugoslawien selbst ist zu hören, die Unterschiede zwischen den einzelnen „nationalen“ Parteien seien größer als zwischen den Demokraten und Republikanern in den Vereinigten Staaten.
IV.
Angesichts der seit Jahren schwelenden Wirtschaftskrise.des drastischen Rückgangs des Lebensstandards und der galoppierenden Inflation ist es nicht erstaunlich, daß der Bund der Kommunisten Jugoslawiens erheblich an Ansehen verloren hat. Jüngste Umfragen haben ergeben, daß die Parteimitglieder in dem Ruf stehen, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und um ihre persönliche Karriere zu kümmern Seit drei Jahren nimmt die Anzahl der BdK-Mitglieder stetig ab. vor allem Arbeiter und junge Leute kehren der Partei den Rücken. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder ist erheblich höher als das der Gesamtbevölkerung. Im Laufe des Jahres 1986 nahmen 71 Prozent der Grundorganisationen des BdK kein einziges neues Mitglied mehr auf. Wie eine in Novi Sad durchgeführte Untersuchung ergab, dominiert die Gruppe der 28— 35jährigen bei den Mitgliedern, die aus der Partei austreten. Von der Mitgliederliste gestrichen werden in der Hauptsache (28, 7 Prozent aller Fälle) Studenten und Schüler im Alter bis zu 27 Jahren
Selbstkritische Funktionäre äußern sich besorgt darüber, daß der BdK in erster Linie die gutsituierten Bevölkerungsschichten anspricht. Wissenschaftler. Techniker. Ärzte. Rechtsanwälte und selbständige Gewerbetreib Jahren 21).
Selbstkritische Funktionäre äußern sich besorgt darüber, daß der BdK in erster Linie die gutsituierten Bevölkerungsschichten anspricht. Wissenschaftler. Techniker. Ärzte. Rechtsanwälte und selbständige Gewerbetreibende sind in der Partei überproportional vertreten. Eine umfassende Untersuchung in ganz Jugoslawien hat ergeben, daß die BdK-Mitgliedschaft in drei Gruppen zerfällt: Ein Drittel sind politisch völlig inaktive „Karteikommunisten“. ein weiteres Drittel nimmt an den Versammlungen teil, verhält sich dort aber passiv; erst das letzte Drittel bildet den aktiven Kern, der die Versammlungen nicht nur besucht, sondern dort eine aktive Rolle spielt. Als besonders unbefriedigend wird die Tatsache angesehen, daß nur 5 Prozent aller Diskutanten jünger sind als 27 Jahre, wenngleich der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtmitgliedschaft bei 16 Prozent liegt 22).
Die junge Generation stellt — vornehmlich in den nordwestlichen Landesteilen — das Selbstverständnis des sozialistischen Jugoslawiens offen in Frage. An den Universitäten und in den Jugendverbänden distanzieren sich die jungen Leute von Partisanen-mythos und Titoverehrung. Sie orientieren sich immer weniger an den von der Partei vorgegebenen Idealen, sondern an politischen Ideen, die ihren Ursprung im Demokratieverständnis westlicher Gesellschaften haben. Aktionen von Umweltschützem und Gruppen der Friedensbewegung geraten in die Schlagzeilen. In Slowenien hat sich die ökologische und pazifistische Richtung fest im sozialistischen Jugendverband etabliert. Dieser hat seinen 12. Kongreß (1986) zum Zeichen des Protests gegen den Bau von Kernkraftwerken in Krko, dem Standort des ersten jugoslawischen Atommeilers, abgehalten 23). Die Friedensbewegung ist außerhalb Sloweniens vor allem in Zagreb. Belgrad und Novi Sad aktiv.
Die Forderung, in Jugoslawien das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einzuführen, offenbart, daß die junge Generation auch vor Tabu-Themen nicht zurückschreckt. Orthodoxe Kräfte sind dadurch sichtlich verunsichert und legen harsche oder auch bizarre Reaktionen an den Tag. So wurden Umweltschützer verdächtigt, eine neue Partei gründen zu wollen, und die Forderung, den Zivildienst anstelle des Dienstes mit der Waffe zuzulassen, wurde als „antikommunistisch“ und „konterrevolutionär“ gebrandmarkt. Verbale Ausfälle einzelner Funktionäre gegen die Jugend sind sicher nicht das geeignete Mittel, junge Menschen für die Partei zurückzugewinnen. Wie gering der Rückhalt des BdKJ bei der jüngeren Generation ist, läßt sich daran ablesen, daß der Anteil der Mitglieder bis 27 Jahre zwischen 1976 und 1986 um mehr als ein Drittel zurückgegangen ist 24).
Doch gerade bei dieser Altersgruppe registrieren die Religionsgemeinschaften einen erheblichen Zulauf. Zwischen 1968 und 1985 ist der Anteil junger Menschen — zumeist Studenten —, die sich selbst als religiös einstufen, von 33 auf 52 Prozent gestiegen 25). Im Februar 1986 erklärte Radovan Samardi, früher Regierungsbeauftragter für Religionsfragen. Schwäche und Uneinigkeit der Partei hätten nicht wenig dazu beigetragen, daß die Kirchen wieder erstarkt seien und gerade unter der Jugend großen Anklang fänden. Eine Umfrage im traditionell katholischen Zagreb ergab, daß 43 Prozent der Befragten erklärten, sie schickten ihre Kinder zum Religionsunterricht 26).
Die etwa 4, 5 Millionen Kroaten und die 1, 8 Millionen Slowenen sind überwiegend römisch-katholisch, ebenso wie die mehr als 400 000 Ungarn in Jugoslawien. Mehr als 8 Millionen Serben. 1, 4 Millionen Mazedonier und 600 000 Montenegriner stehen zumindest in der Tradition des orthodoxen Glaubens. Die ca. vier Millionen Muslime in der SFRJ machen in jüngster Zeit nicht nur durch den Bau prunkvoller Moscheen von sich reden. Die Behörden führen darüber Klage, daß Bosnien sich zu einer „Bastion des Islam“ entwickelt habe und daß gerade junge Leute zu fanatischen Anhängern dieser Religion geworden seien. In der montenegrinischen Stadt Ivangrad klagen lokale Parteifunktionäre darüber, daß der islamische Religionsunterricht in voller Blüte stehe, während der Marxismus-unterricht kein Interesse fände 27). Im August vergangenen Jahres brachte die kroatische Zeitung Vjesnik einen Artikel mit der Über-schrift „Schüler studieren Marx, denken aber an Gott“. Eine Umfrage unter 14 000 Schülern in der mazedonischen Hauptstadt Skopje hatte ergeben, daß mehr als 75 Prozent der Befragten angaben, ihre Familien begingen regelmäßig religiöse Feiertage. Genannt wurden der islamische Festtag Bairam, sowie Weihnachten und Ostern, die von Katholiken und orthodoxen Christen gefeiert werden Am Heiligen Abend 1986 durfte der Erzbischof von Ljubljana sich erstmals über das Radio an die Gläubigen wenden und ihnen seine Weihnachtsbotschaft verlesen. Obwohl dieses Zugeständnis der slowenischen Kommunisten außerhalb ihrer Republik auf wenig Verständnis stieß, wurde auch im vergangenen Jahr so verfahren. Bisher gelang es nicht. Weihnachten zu einem Feiertag wie Neujahr zu machen. Auch in Slowenien müssen die Gläubigen für das Weihnachtsfest einen Urlaubstag opfern. Zur Weihnachtsbotschaft des Erzbischofs im Rundfunk von Ljubljana erklärte der slowenische Spitzenpolitiker Franc Setinc: „Wir alle sind viel zu sehr politisiert. Die Kirche ist bei uns tatsächlich vom Staat getrennt, jedoch nicht von der Gesellschaft isoliert. Einige sind dennoch der Meinung, das sei alles zu schnell gegangen. Gestern hatten wir nicht den Willen oder den Mut. das Wort Weihnachten auszusprechen, heute aber überträgt das Radio die Grußbotschaft des Erzbischofs. Doch ich frage mich, was sein wird, wenn der Papst seinen eigenen Satelliten hat und die Messen und Predigten in jedes Haus Eingang finden, wo immer dies gewünscht wird ... Es muß unsere grundlegende Haltung sein, daß wir eine Spaltung der Menschen in religiöse und nichtreligiöse gar nicht erst zulassen.“
Besonders negativ wurde in Jugoslawien vermerkt, daß in einigen slowenischen Orten während der Weihnachtszeit der sechszackige Stern, Symbol der Vaterländischen Front, durch das Kreuz ersetzt worden war. Dieser „Mißbrauch des Weihnachtsfestes als Symbol des Antikommunismus“ dürfe, wie es hieß, nicht toleriert werden. Der Parteichef Kroatiens. Ivica Raan, stellte mit Bedauern fest, die religiösen ‘Kräfte seien, besonders unter den jungen Menschen, in die Offensive gegangen. Er erklärte, die Partei müsse derartige Tendenzen in ganz Jugoslawien effektiver kontrollieren Nicht übersehen werden darf, daß nicht immer tiefe Religiosität dahintersteckt, wenn jugoslawische Jugendliche regelmäßig die Kirche oder die Moschee besuchen. Zuweilen ist dies Ausdruck einer Protesthaltung gegenüber Staat und Partei, wie sie von Jugendlichen in Polen bekannt ist.
Eine spektakuläre Protestaktion gegen das Establishment im Bund der Kommunisten und im jugoslawischen Gewerkschaftsbund soll Ende November vergangenen Jahres in der bosnischen Stadt Zenica stattgefunden haben. Die Weltpresse meldete. bosnische Stahlwerker hätten hier eine unabhängige Gewerkschaft und die Zelle einer neuen kommunistischen Partei Jugoslawiens gegründet. In Wirklichkeit handelte es sich um einen sehr geschickt inszenierten Coup einer wahrscheinlich winzigen Gruppe, die auf die Verwicklung bestimmter Politiker der bosnischen Staats-und Parteiführung in den Agrokomerc-Skandal aufmerksam machen wollte. Dieser bosnische Konzern, der 13 500 Mitarbeiter beschäftigte, hatte ungedeckte Wechsel in der Höhe von mehreren hundert Millionen US-Dollar ausgestellt und war in Konkurs gegangen. Der aus Bosnien stammende frühere Vizepräsident und designierte Präsident der SFRJ, Hamdija Pozderac, mußte ebenso zurücktreten wie sein Bruder Hakija und weitere Funktionäre und Wirtschaftsführer, die in den Skandal verwickelt waren. Die Meldung über die Gründung einer neuen Gewerkschaft und Partei stammte zunächst aus der Belgrader Zeitung „Veernje Novosti“, die sich jedoch auf die slowenische Jugendzeitschrift „Mladina“ berief. Hier verlief sich die Spur im Sande, und es stellte sich heraus, daß nicht mehr als eine kunstvoll eingefädelte Protestaktion im Spiel war. Eine unabhängige Gewerkschaft wie die Solidarno in Polen gibt es in Jugoslawien nur auf dem Papier von Abend-oder Jugendzeitungen.
Der drastische Rückgang des Lebensstandards in Jugoslawien, der soziologischen Untersuchungen zufolge den Stand von 1967 erreicht hat. gäbe genügend Anlaß zu spektakulären Protestaktionen. Das Durchschnittseinkommen liegt gegenwärtig bei ca. 250 DM, die Inflationsrate beträgt 170 Prozent. Nach einer im vergangenen Sommer durchgeführten Untersuchung des Zagreber Zentrums für Marketing können vier von insgesamt 6, 7 Millionen jugoslawischen Haushalten ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr aus den regulären Einkünften dekken. Sie müssen auf Schwarzarbeit. Überweisungen aus dem Ausland oder andere Quellen zurückgreifen. Nebenerwerbslandwirtschaft oder zumindest verwandtschaftliche Beziehungen zum Dorf sind nicht selten die einzige Möglichkeit, sich über Wasser zu halten. 95 Prozent der Jugoslawen gaben bei der Umfrage an, sie könnten von den regulären Einkünften nicht normal leben, und 50 Prozent erklärten, ihr Lebensstandard sei unter das Existenzminimum gefallen
Zu Beginn des vergangenen Jahres wurde im jugoslawischen Bundesministerium für Arbeit eine Tabelle der minimalen Lebensbedürfnisse für eine vierköpfige Familie erstellt. Danach benötigte die Familie im März 1987 154 085 Dinar pro Monat, um das Existenzminimum zu erreichen. Der Durchschnittslohn betrug damals 116 738 Dinar, die Zahl der Beschäftigten pro Haushalt lag bei 1, 04, woraus sich ergab, daß statistisch die gesamte jugoslawische Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle lebte. Die bittere Ironie bestand darin, daß die Tabelle nach dem in entwickelten Ländern üblichen Schema zur Berechnung der Höhe der Sozialhilfe erstellt worden war
Natürlich gibt es. was den Lebensstandard anbelangt. erhebliche regionale Unterschiede in Jugoslawien. Zur Aufrechterhaltung des Existenzminimums genügten im letzten Jahr in Slowenien 86 Prozent des Durchschnittslohns, im unterentwickelten Kosovo hingegen lag die entsprechende Zahl bei 134 Prozent. Doch nicht nur regional betrachtet, sondern auch abhängig von der sozialen Schichtung sind die Einkommensunterschiede in Jugoslawien erheblich. Die Inhaber von Führungspositionen im Staats-und Parteiapparat geben an, daß ihre Einkünfte zum Leben voll ausreichen, nur 8, 9 Prozent dieser Gruppe verweisen auf zusätzliche Einkünfte. Von der Arbeiterschaft geben nur 16 Prozent an. sie hätten genug zum Leben, mehr als die Hälfte aller Arbeiter fühlt sich in ihrem Lebensstandard bedroht Diejenigen, die unter der Krise leiden, haben also keine Macht und diejenigen. die Macht haben, leiden nicht unter der Krise. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Tatsache, daß die vor fünfJahren feierlich beschlossene Wirtschaftsreform ebensowenig durchgeführt wurde wie die vor zwei Jahren vereinbarte Reform des politischen Systems.
Innerhalb der Arbeiterklasse geben die ungelernten und angelernten Arbeiter als zahlenmäßig stärkste Gruppe den Ton an, die ihre Unzufriedenheit häufig mit Hilfe einer „negativen Demonstration“ zum Ausdruck bringt. Hierzu gehören passiver Widerstand. Fernbleiben von der Arbeit, aber auch spontane Streiks. Im letzten Jahr blieben im Durchschnitt täglich 600 000 Arbeitnehmer, das sind 10 Prozent aller Beschäftigten, der Arbeit fern Ein Berufstätiger ist trotz einer minimalen Anzahl von Feiertagen durchschnittlich fünf Monate im Jahr wegen Krankheit, Nebentätigkeiten, Nachbarschafts-und Familienhilfe oder fehlender Arbeitsmotivation nicht an seinem Arbeitsplatz
Nach offiziellen Angaben kam es im vergangenen Jahr in Jugoslawien zu fast 1 500 Streiks, an denen 250 000 Arbeiter beteiligt waren. Das 1976 verabschiedete Gesetz über die assoziierte Arbeit sieht wie die übrigen Rechtsnormen kein Streikrecht vor, Arbeitsniederlegungen werden aber auch nirgends ausdrücklich verboten. Wenngleich zahlreiche, jugoslawische Theoretiker den Streik inzwischen befürworten und betonen, das Recht dazu habe sich die Arbeiterklasse bereits im Kapitalismus erkämpft, ist die Praxis nicht ganz so fortschrittlich. Streiks werden in manchen Landesteilen noch immer als „feindlicher Akt“ betrachtet, der mit Kündigung sanktioniert wird. Am häufigsten gestreikt wird im hochentwickelten Slowenien, allerdings herrscht hier auch das liberalste Klima. Der Exekutivsekretär des slowenischen Parteipräsidiums, ivko Pregl, erklärte anläßlich des Massenstreiks im Betrieb „Litostroj“ (Ljubljana), realistisch betrachtet müsse man mit einer Zunahme derartiger Streiks rechnen. Weder die Partei noch die Gewerkschaft dürfe sich von einem berechtigten Streik distanzieren, bestimmte Streiks müßten sogar von der Partei initiiert werden
Einige Streiks des vergangenen Jahres gerieten zu Protestveranstaltungen und politischen Demonstrationen. Am 17. und 18. November 1987 zogen 9 000 Arbeiter und Einwohner durch die mazedonische Hauptstadt Skopje und protestierten gegen das gerade verabschiedete Austerity-Programm der Regierung. Bergleute im kroatischen Labin streikten im Frühjahr 1987 33 Tage lang und drohten damit, das Bergwerk zu besetzen. Proteste gab es auch gegen den jugoslawischen Gewerkschaftsbund.dem 93 Prozent aller Beschäftigten des gesellschaftlichen Sektors als Zwangsmitglieder angehören. In den letzten drei Jahren sind 8 503 Mitglieder aus der Gewerkschaft ausgetreten. Daß die Unzufriedenheit unter der Arbeiterschaft nicht stärker um sich greift, liegt auch an der zersplitterten und atomisierten Wirtschaftsstruktur Jugoslawiens.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Dissens zwischen Partei und Bevölkerung größer geworden ist. Daß die Geduld der jugoslawischen Arbeiter nicht unerschöpflich ist. zeigt die Tatsache. daß sich die Anzahl der Streiks zwischen 1982 und 1987 um das 22fache gesteigert hat.
V.
Die mit Beginn der achtziger Jahre einsetzende Wirtschaftskrise und die zunehmenden Desintegrationstendenzen in Staat und Partei waren wichtige Gründe für eine weitgehende außenpolitische Abstinenz der Nachfolger Titos. Die Probleme im Innern absorbierten die politische Energie in hohem Maße, für Kontroversen um die Außenpolitik blieb wenig Zeit. Eine grundsätzliche Frage stellte sich jedoch in den vergangenen Jahren immer wieder und ist auch heute von höchster Aktualität: Sollte Jugoslawien in vollem Umfang an seiner außenpolitischen Doktrin der Blockfreiheit festhalten? Die hierdurch gebotene enge politische und wirtschaftliche Kooperation mit der Dritten Welt stieß mehr und mehr auf Hindernisse.
In der Blockfreienbewegung fand Jugoslawien keine verläßlichen Partner mehr, um den Kampf gegen den radikalen Flügel mit Kuba an der Spitze zu führen. Zudem gibt es innerhalb der Blockfreien wichtige Gruppierungen, denen Jugoslawien aus objektiven Gründen nicht angehören kann. Hier sind die ASEAN-Länder ebenso zu nennen wie die islamischen Staaten oder die Länder der Organisation für afrikanische Einheit (OAU). Als europäisches Land gelang es Jugoslawien nicht, eine Gruppe um sich herum zur Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen zu" schaffen. Die geographische Isolierung von den meisten blockfreien Ländern erwies sich als kaum zu überwindendes Handicap. Auch der immer wieder geforderte Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern der Dritten Welt scheiterte, weil er die tatsächlichen wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten der SFRJ als europäisches Schwellenland bei weitem überschritt. Mit einem Wort, es erwies sich, daß der von Tito geschneiderte außenpolitische Anzug dem kleinen Balkanland einige Nummern zu groß war.
Die postulierte Solidarität Jugoslawiens mit den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ließ sich aufgrund objektiver Gegebenheiten nicht immer aufrechterhalten. Wenn Belgrad gemeinsam mit den Ländern der Dritten Welt höhere Preise für Kaffee. Kautschuk und Baumwolle forderte, verstieß es damit gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Mit Blick aufdie weltweiten Aktivitäten Titos läßt sich heute konstatieren, daß sich die jugoslawische Außenpolitik „re-europäisiert" hat. Der schwindende Einfluß in der Blockfreienbewegung ist der Preis, den Belgrad für die Rückbesinnung auf Europa zu zahlen hat.
Auch bei diesem notwendigen Prozeß des Umdenkens spielt Slowenien die Rolle des Vorreiters. In Ljubljana wird offen der Wunsch nach der Aufnahme Jugoslawiens in den Europarat geäußert. Diesem Vorhaben steht zunächst das Fehlen eines Mehrparteiensystems in der SFRJ entgegen. Ein Beitritt zur EFTA wird in den jugoslawischen Medien ebenfalls offen erörtert. Dieser Schritt gilt als vielleicht letzte Möglichkeit, doch noch auf Umwegen zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu kommen. Für orthodoxe Anhänger der Doktrin der Blockfreiheit sind dies ungeheuerliche Gedankengänge, denn die bis jetzt gültige außenpolitische Doktrin verbietet die Zugehörigkeit zu einem Wirtschaftsblock ebenso wie die Einreihung in eine politische Gemeinschaft. Der Journalist Aleksandar Prlja setzte sich in der Belgrader Politika über derartige Bedenken einfach hinweg. Er schrieb: „Vielleicht könnten wir schon jetzt dem Europarat in Straßburg beitreten. Dann würde vor dem Angesicht Europas und der ganzen Welt deutlich sichtbar, wo wir als Land unsere Zukunft sehen. Die polemische Auseinandersetzung über diese Fragen hat die Führungsgremien in Jugoslawien schon längst erfaßt, ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung. Hier hört man schon lange. daß wir weder anderen noch uns selbst helfen können, wenn wir nicht auf den letzten Zug nach Europa aufspringen. Wenn uns auch dieser Zug davonfährt, dann wird uns Europa an den provinziellen Rand verbannen, und von dort wird es vielleicht keinen Eingang nach Europa mehr geben.“
Die hier artikulierten Befürchtungen einer Isolierung in Europa erscheinen nicht unberechtigt. Schließlich könnte Jugoslawien bei Fortsetzung seines traditionellen außenpolitischen Kurses zwischen alle Stühle geraten. Im Dezember vergangenen Jahres tagte in Brüssel zum sechsten Mal der Kooperationsrat EG-Jugoslawien. Derartige Tagungen sind eigentlich Routinetreffen, bei denen bilaterale Beziehungen und Probleme erörtert werden. Auf Drängen Jugoslawiens wurde diesmal eine „Erklärung über die zukünftigen Beziehungen“ verabschiedet, in der der gegenseitige Wille zur erweiterten und vertieften Kooperation festgehalten wird
Vor allem slowenische Politiker stellen sich die Frage, ob man die mit einer Annäherung an Westeuropa verbundenen ökonomischen Vorteile aufgrund ideologischer Vorurteile einfach ausschlagen sollte. Joe Smole. Vorsitzender der Sozialistischen Allianz von Slowenien, erklärte im Oktober vergangenen Jahres: „Jugoslawiens Außenpolitik ist zu wenig nach Europa ausgerichtet und befaßt sich mehr damit, ob Jugoslawien einen Beobachterstatus auf der Konferenz Islamischer Länder bekommen kann als mit den Beziehungen zu den europäischen Ländern.“ Diese Äußerung impliziert eine kaum verhüllte Kritik am jugoslawischen Außenminister Raif Dizdarevic.der als bosnischer Muslim besonderen Wert auf die Pflege der Beziehungen zur islamischen Welt legt und zudem ein eifriger Verfechter der jugoslawischen Blockfreiheit ist. Dizdarevic vertritt den Standpunkt, eine eventuelle Bindung Jugoslawiens an die EG würde die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der SFRJ in Frage stellen und das Land in ein „ökonomisches und politisches Anhängsel der EG“ verwandeln Allerdings sind die Tage von Dizdarevic als Außenminister gezählt, da er im Mai 1988 jugoslawischer Staatspräsident werden wird.
Selten wird in der Presse die Frage erwogen, ob die EG an einem Mitgliedsland Jugoslawien überhaupt interessiert wäre, und welche demokratischen Transformationen die SFRJ durchlaufen müßte, damit sie von den übrigen Staaten der EG akzeptiert würde. Die hohen Hindernisse auf einem derartigen Weg sind wohl nur wenigen jugoslawischen Politikern bewußt. Bemerkenswert ist, daß Regierungschef Branko Mikuli die Meinung äußerte, eine EG-Mitgliedschaft komme für Jugoslawien schon deshalb nicht in Frage, weil das Land dann der NATO beitreten müßte
Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch offen, ob es den slowenischen Politikern im Verein mit einigen ihrer Kollegen aus Kroatien gelingt, die immer wieder geforderte Annäherung an Westeuropa tatsächlich durchzusetzen. Bei diesen Bemühungen dürfte ihnen entgegenkommen, daß die Blockfreienbewegung nicht mehr — wie zu Titos Zeiten — die große Bühne jugoslawischer Außenpolitik ist. Belgrad muß sich damit abfinden, daß seine Meinung bei den Ländern Asiens und Afrikas längst nicht mehr so gefragt ist wie einst.