I. Die Entwicklung bis zum Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre
Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Jahre 1945 blieb — wie die anderen großen Kodifikationen — das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 in allen vier Besatzungszonen in Kraft. Der Alliierte Kontrollrat für Deutschland hob nur die typisch nationalsozialistischen Veränderungen dieses Gesetzbuchs auf. Allerdings führte bereits der Befehl Nr. 160 der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland vom 3. Dezember 1945 in der sowjetischen Besatzungszone die sowjetischen Staatsverbrechen der „Diversion“ und „Sabotage“ ein und drohte hierfür die Todesstrafe an. Auch wurden gemeinsame Bestimmungen des Kontrollrates in der sowjetischen Besatzungszone bald einseitig zum Schutz des dort angestrebten politischen Systems eingesetzt. So erfuhr der altväterliche Straftatbestand der „Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit“ eine unerwartete Neubelebung. Auch die Kontrollratsdirektive Nr. 38 gegen Nationalsozialismus und Militarismus wurde zum Schutz des in der sowjetischen Besatzungszone errichteten politischen Systems eingesetzt. Die Wirtschaftsstrafverordnung von 1948 schützte nicht nur die zentrale Verwaltung der Wirtschaft, sondern diente auch mit den Nebenstrafen der Einziehung des gesamten Vermögens und der Anordnung der Treuhandverwaltung von beteiligten Betrieben der Zerschlagung des Privateigentums. Nach der Gründung der DDR wurde Art. 6 der Verfassung gegen die „Boykotthetze“ als politisches Strafgesetz benutzt, nach welchem alle Angriffe gegen das politische System der DDR — und was man dafür hielt — mit hohen Strafen abgeurteilt wurden. Im Jahre 1951 erließ auch die Bundesrepublik ein sehr strenges politisches Strafrecht, das die Tätigkeit der KPD weitgehend unter Strafe stellte. 1952 führte das „Gesetz zum Schutze des Volkseigentums“ nach sowjetischem Vorbild in der DDR eine Aufspaltung der Eigentumsstraftaten ein. In dieser Phase gab es nur wenige gemeinsame Entwicklungen im Strafrecht der beiden deutschen Staaten. Hierzu gehört die Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung in der DDR 1952 und in der Bundesrepublik 1953. Der Tod Stahns und der sogenannte „Neue Kurs“ nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatten nur einen vorübergehenden Einfluß auf das Strafrecht der DDR. Das Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957 faßte statt der angekündigten Erleichterungen praktisch die gesamte bisherige politische Strafjustiz in Gesetzesform. Auch auf dem Gebiet des allgemeinen Strafrechts lehnte sich die DDR an die UdSSR an. Die führenden Rechtswissenschaftler der DDR stemmten sich zwar gegen die Übernahme der Ersetzung von Repressionsmaßnahmen durch Erziehungsmaßnahmen aus der UdSSR und wiesen auch den Vorschlag zurück, bei den Straftätern zwischen „Freunden“ und „Feinden“ der DDR zu unterscheiden. Anfang der sechziger Jahre gab die DDR indes diesen Widerstand auf. In zwei umfangreichen Erlassen von 1961 und 1963 ordnete der kurz zuvor geschaffene Staatsrat der DDR im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe und die verstärkte Anwendung erzieherischer Maßnahmen an. Diese neue Konzeption führte schließlich im Jahre 1968 zur Aufhebung des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 und zur Schaffung eines eigenen Strafgesetzbuchs der DDR.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte auch die Bundesrepublik schon achtzehn, zum Teil umfangreiche Änderungsgesetze zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 erlassen. Nach der Aufhebung des Reichs-strafgesetzbuchs in der DDR nahm die Bundesrepublik in den Jahren 1969 bis 1975 weitere grundlegende Änderungen des Reichsstrafgesetzbuchs vor und ersetzte insbesondere den gesamten Allgemeinen Teil durch einen neuen.
Die Aufhebung der formellen Strafrechtseinheit hat — und das gilt, teilweise mit geringfügigen Zeit-verschiebungen. auch für die anderen Rechtsgebiete — zu einer Neuorientierung der Forschungen zum DDR-Recht geführt. Während sich der Blick vorher naturgemäß auf die zunehmenden Abweichungen des Rechts der DDR von dem der Bundesrepublik konzentrierte, setzte nun die Suche nach dem noch verbliebenen Gemeinsamen und damit die Phase der innerdeutschen Rechtsvergleichung ein Das umfassendste Werk in dieser Richtung, die „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1972“, gibt eine Gesamtdarstellung des damaligen
Rechtszustands in den beiden Teilen Deutschlands. Die Aufhebung der formellen Strafrechtseinheit hat zu einer geringeren Differenz geführt, als zu befürchten war. Eine ganze Reihe von Neuerungen im Strafgesetzbuch der DDR von 1968 erfolgte parallel zu entsprechenden Änderungen in der Bundesrepublik. Fast gleichzeitig wurden in der Bundesrepublik und in der DDR die Straftaten der untersten Kategorie, nämlich die sogenannten Übertretungen, aus dem Strafrecht herausgenommen und zu bloßen Ordnungswidrigkeiten herabgestuft. Damit wurde der Bereich der Kriminalisierung reduziert. Aber auch in dem verbleibenden Bereich erfolgten beiderseits Abmilderungen, vor allem eine Reduzierung der Anwendung der Freiheitsstrafe. Hierzu wurde in beiden Staaten die Strafaussetzung zur Bewährung stark erweitert. In der Bundesrepublik können Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 56 StGB). In der DDR erfolgt zwar kein Ausspruch einer Freiheitsstrafe mit Aussetzung des Vollzuges zur Bewährung, sondern eine sogenannte Verurteilung auf Bewährung mit der Androhung einer Freiheitsstrafe für den Fall der Nichtbewährung; die hierbei mögliche Höchstandrohung von zwei Jahren Freiheitsstrafe deckt sich jedoch im Ergebnis genau mit der Regelung in der Bundesrepublik. Bei der Ausgestaltung der Strafaussetzung zur Bewährung bzw.der Verurteilung auf Bewährung bestanden und bestehen allerdings erhebliche Unterschiede: Während in der Bundesrepublik eine ziemlich lockere Beaufsichtigung durch einen Bewährungshelfer erfolgt, der schon wegen seiner durchschnittlich 50 Klienten kaum eine effektive Aufsicht ausüben kann, erfolgt in der DDR in aller Regel eine Unterstellung unter die Bürgschaft eines sogenannten Kollektivs, d. h. in der Regel der Brigade im Umfang von 25 bis 30 Personen. Das Kollektiv verpflichtet sich, die Erziehung des Rechtsverletzers zu gewährleisten (§ 31 StGB-DDR) und übt dementsprechend beträchtlichen Druck aus. Im übrigen liegt das Schwergewicht der nichtfreiheitsentziehenden Sanktionen in der Bundesrepublik auf der Geldstrafe, die zu diesem Zweck auf das Tagessatzsystem umgestellt worden ist: Sie wird in Form von 5 bis 360 Tagessätzen verhängt, die nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters errechnet werden. In der DDR liegt das Schwergewicht der nichtfreiheitsentziehenden Sanktionen dagegen auf der Verhandlung vor einem sogenannten Gesellschaftsgericht, das vornehmlich eine moralische Einwirkung im mikrosozialen Bereich bezweckt, während die von ihm verhängten Sanktionen in den Hintergrund treten. Neben den Unterschieden in den Ersatzsanktionen ist das Ausmaß der Ersetzung der Freiheitsstrafe durch andere
Sanktionen in der DDR hinter dem der Bundesrepublik weit zurückgeblieben. Während in der Bundesrepublik der Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen an allen Strafen ungefähr neun Prozent beträgt, erreicht er in der DDR nach wie vor 25 bis 30 Prozent.
Unterschiede in dem Ausmaß der Sanktionierung blieben insbesondere im Jugendstrafrecht. Die DDR läßt die Vergünstigungen des Jugendstrafrechts nur für Täter bis zum Erreichen des 18. Lebensjahrs zu, die Bundesrepublik dagegen bis zum 21. Lebensjahr. Während das Höchstmaß der Strafe für Jugendliche in der Bundesrepublik zehn Jahre Jugendstrafe beträgt, war es in der DDR zunächst die lebenslange Freiheitsstrafe. Auch die Strafmündigkeit von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren wird in der DDR noch erweiternd ausgelegt. Eine gewisse Übereinstimmung im Strafrecht der beiden deutschen Staaten hatte sich auch insofern ergeben, als weltanschaulich umstrittene Kriminalisierungen wie die Sexualdelikte, die Abtreibung und die Gotteslästerung weitgehend auf ein unerläßliches Minimum zurückgeschnitten wurden.
Wesentliche Unterschiede bestanden allerdings nach wie vor im politischen Strafrecht. Hier war in der Bundesrepublik im Jahre 1968 eine weitgehende Reduzierung erfolgt, die insbesondere auch die politische Betätigung im Sinne der von der DDR vertretenen Ideologie ermöglichte; seitdem kann die DKP in der Bundesrepublik unbehelligt agitieren. In der DDR blieb dagegen auch nach der Reform von 1968 die rücksichtslose Bekämpfung jeder abweichenden politischen Ansicht erhalten. Besonders unbillig erscheint dabei, daß die DDR dem politisch Andersdenkenden nicht einmal den Ausweg läßt, das Gemeinwesen zu verlassen. Sie zwingt ihn vielmehr mit harten Strafgesetzen zu bleiben und bekämpft gleichzeitig seine politische Gesinnung. Zum politischen Strafrecht rechnen dabei nicht nur die Vorschriften gegen die Gegnerschaft gegenüber dem System, sondern auch die gegen bloße politische Renitenz. Hierzu gehört die Strafbarkeit der „Mißachtung der Gesetze“ nach § 214 StGB, der „groben Belästigung gegenüber Personen“ als sogenanntes „Rowdytum“ nach §§ 215, 216 StGB, der Gründung von oder Betätigung in Zusammenschlüssen von Personen, um gesetzwidrige Ziele zu verfolgen (§ 218 StGB), der Kontaktaufnahme zu Einrichtungen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der DDR gerichtete Tätigkeit zum Ziele setzen (§ 219 StGB), der Verächtlichmachung der staatlichen Ordnung und gesellschaftlicher Organisationen oder auch nur von deren Tätigkeit oder Maßnahmen (§ 220 StGB).
II. Die Entwicklung seit 1969/1975 in der Bundesrepublik
Seit dem Inkrafttreten des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes und des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch am 1. Januar 1975 sind dreizehn Jahre vergangen. In dieser Zeit erfolgten 28 Änderungen des Strafgesetzbuchs.
1. Weitere Abmilderung der Sanktionen Bei dem Versuch, aus diesen zahlreichen Änderungen Grundtendenzen herauszudestillieren und diese zu der vorausgegangenen Entwicklung in Beziehung zu setzen, läßt sich zunächst feststellen, daß die Tendenz zur Abmilderung der Strafen trotz des seinerzeit erreichten weitgehenden Standes noch weiter fortgesetzt worden ist. Hatte die Bundesrepublik schon bei ihrer Entstehung im Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft, so wurde durch das 20. Strafrechtsänderungsgesetz von 1981 auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts auch die lebenslange Freiheitsstrafe noch insofern abgemildert. als die Möglichkeit einer bedingten Aussetzung des Strafrestes nach 15jähriger Verbüßung eingeführt wurde (§ 57 a StGB). Durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz von 1986 wurde die allgemeine Rückfallschärfung (§ 48 StGB) aufgehoben. Außerdem wurde die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung und der Aussetzung des Strafrestes erweitert. Bei ersterer wurde die Möglichkeit der Aussetzung von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren erweitert, bei letzterer die Möglichkeit der Strafaussetzung bereits nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe. Außerdem wurde die Möglichkeit des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung eingeschränkt.
2. Neukriminalisierung Was den Bereich des mit Strafe bedrohten Verhaltens anbetrifft, so ist freilich nicht zu übersehen, daß die Entkriminalisierungseuphorie der sechziger Jahre völlig verflogen ist und einer deutlichen Neukriminalisierung Platz gemacht hat Allerdings beruhte diese Neukriminalisierung nicht auf einer unbegründeten Lust am Strafen bzw. am Verbieten. sondern auf dringenden praktischen Bedürfnissen. Dabei sind vier Schwerpunkte zu erkennen. a) Der erste Schwerpunkt der Strafrechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1975 ist die Erweiterung des Wirtschaftsstrafrechts. Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976 hat für den Subventionsbetrug und den Kreditbetrug auf das Erfordernis eines Vermögensschadens verzichtet und den Tatbestand des Wuchers verschärft, die Konkursstraftatbestände allerdings von präziseren Voraussetzungen abhängig gemacht. Das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15. Mai 1986 hat mehrere Straftatbestände zur Bekämpfung des Mißbrauchs von Computern und der Bereicherung mit Hilfe von Computern eingeführt (§§ 202 a, 263 a, 269, 270, 303 a, 303 b). Zudem hat es den Mißbrauch von Schecks und Kreditkarten sowie die Fälschung von entsprechenden Vordrucken (§§ 266 b. 152 a StGB), den Kapitalanlagebetrug (§ 264 a StGB) und das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266 a StGB) unter Strafe gestellt. b) Der zweite Schwerpunkt der Entwicklung des Strafrechts in der Bundesrepublik seit 1975 ist das Umweltstrafrecht. Das 18. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. März 1980 hat einen neuen Abschnitt „Straftaten gegen die Umwelt“ mit elf sehr umfangreichen Paragraphen in das Strafgesetzbuch eingefügt (§§ 324— 330 d). Diese betreffen u. a. die Verunreinigung von Gewässern. Luftverunreinigung und Lärm, die umweltgefährdende Abfallbeseitigung.den unerlaubten Umgang mit Kernbrennstoffen. das Betreiben entsprechender Anlagen und die Gefährdung schutzbedürftiger Gebiete. c) Der dritte Schwerpunkt der Neukriminalisierung ist die Bekämpfung des Terrorismus. Das 14. Strafrechtsänderungsgesetz vom 22. April 1976 erweiterte die Bedrohungstatbestände der öffentlichen Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) und der Bedrohung (§ 241 StGB) jeweils um die Alternative der Vortäuschung von anderen ausgehender Bedrohungen und den Tatbestand der Vortäuschung einer Straftat (§ 145 d StGB) um die Alternative der Vortäuschung einer bevorstehenden Straftat. Bei der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) wurde außerdem der Katalog der einschlägigen Straftaten erweitert. Auch der Katalog der Straftaten.deren Belohnung oder öffentliche Billigung strafbar ist (§ 140 StGB), wurde erweitert. Schließlich wurden noch angesichts der zahlreichen, in der sogenannten Alternativliteratur verbreiteten Rezepte für die Herstellung von Molotow-Cocktails diese und ähnliche Anleitungen zu Straftaten sowie deren Befürwortung unter Strafe gestellt (§§ 88 a. 130 a. StGB). Die letztgenannten Vorschriften wurden allerdings von progressiven Schriftstellern als so unerträgliche Beschneidung der Kunstfreiheit dargestellt, daß sie schon fünf Jahre später, also 1981. durch das 19. Strafrechtsänderungsgesetz wieder abgeschafft wurden. Den Anhängern dieser Vorschrift wurde die Abschaffung groteskerweise dadurch erleichtert, daß sie bereits bei dem Erlaß durch zahlreiche penible Einschränkungen praktisch wirkungslos gemacht worden waren. Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs.der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes.der Bundesrechtsanwaltsordnung
und des Strafvollzugsgesetzes vom 18. August 1976 wurde der Tatbestand der Bildung von oder der Beteiligung an terroristischen Vereinigungen (§ 129a, StGB) eingeführt. Hierbei handelte es sich allerdings um eine bloße Strafschärfung, da die Bildung krimineller Vereinigungen bereits seit 1951 strafbar ist (§ 129 StGB). Man kann insofern auch nicht von einer Annäherung an das Strafrecht der DDR sprechen, da dort — wie dargelegt — völlig unspezialisiert bereits der Zusammenschluß zur Verfolgung jeglicher gesetzwidriger Ziele mit derselben Strafe bedroht wird wie bei uns die Bildung terroristischer Vereinigungen. Die Hauptbedeutung des § 129 a StGB liegt in seiner Funktion als Anknüpfungspunkt für eine Reihe von gerichtsverfassungsrechtlichen und strafprozessualen Bestimmungen. Das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19. Dezember 1986 hat den Tatbestand des § 129 a StGB verschärft und einen neuen § 305 a StGB (Zerstörung von technischen Arbeitsmitteln von wesentlicher Bedeutung für die Errichtung von gemeinschaftswichtigen Anlagen oder Unternehmen sowie von Kraftfahrzeugen der Polizei oder der Bundeswehr) eingeführt. Außerdem wurde der 1976 eingeführte, 1981 wieder abgeschaffte § 130 a in geringfügig modifizierter Form abermals eingeführt. d) Ein letzter, erst in der jüngsten Zeit hervorgetretener Schwerpunkt liegt in der Bekämpfung gewalttätiger Demonstrationen. Nach der Auffassung des Bundesinnenministers besteht ein kriminologischer Zusammenhang zwischen diesen Demonstrationen und dem Terrorismus, da die Terroristen signifikant aus Gewalttätern bei Demonstrationen hervorgegangen seien. Unsere Unterteilung soll eine voreilige Festlegung auf diese Zusammenfassung vermeiden, schließt sie allerdings nicht notwendig aus. Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Versammlungsgesetzes vom 18. Juli 1985 wurde die Nichtbefolgung einer Aufforderung zum Ablegen von Schutzwaffen oder Vermummungen in gewalttätigen Menschenmengen unter Strafe gestellt (§ 125 Abs. 2 StGB). Durch das 22. Strafrechtsänderungsgesetz vom 17. Juli 1985 wurde die Verfolgung von Sachbeschädigungen bei besonderem öffentlichen Interesse vom Antrag des Verletzten unabhängig gemacht (§ 303 Abs. 3 StGB). Der Sinn dieser minimalen Änderung besteht darin, der möglichen Angst von Opfern von Sachbeschädigungen vor der Stellung eines Strafantrages zu begegnen.
III. Die Entwicklung seit 1968 in der DDR
In der DDR sind seit 1968 nur drei Strafrechtsänderungsgesetze ergangen. Anders als früher bemüht sich die DDR heute um eine möglichst seltene Änderung ihrer Gesetze. Diese drei Anderungsgesetze hatten allerdings einschneidende Veränderungen zur Folge. Mit den Entwicklungstendenzen in der Bundesrepublik ergaben sich dabei kaum Übereinstimmungen. 1. Verschärfung der Sanktionen im allgemeinen Die weitere Abmilderung der Sanktionen im allgemeinen wurde von der DDR nicht mitvollzogen. Es ist vielmehr zu einer durchgängigen Verschärfung der Sanktionen gekommen. Damit hat sich der schon Anfang der siebziger Jahre bestehende Unterschied im Strafenniveau noch weiter vergrößert. So ist die einschneidende Möglichkeit, eine Verurteilung auf Bewährung oder Entlassung auf Bewährung zu widerrufen, im 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1974 noch erweitert worden 3). Für Fahrlässigkeitstaten mit schweren Folgen oder Gefährdungen wurde der Strafrahmen auf acht Jahre Freiheitsstrafe erhöht. Besonders drastisch waren die Strafschärfungen für Rückfalltäter. Nach Bestrafung wegen eines Verbrechens, d. h. wegen einer politischen Straftat, einer vorsätzlichen Tötung oder mit Freiheitsstrafe über zwei Jahren (§ 1 Abs. 3 StGB-DDR). zieht jede weitere vorsätzliche Straftat eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr nach sich (§ 44 StGB-DDR)! Auch die Möglichkeit der Polizeiaufsicht über Vorbestrafte wurde stark erweitert. Die Möglichkeit der Haftstrafe, die nach dem Gesetzeswortlaut zur unverzüglichen und nachdrücklichen Disziplinierung des Täters erfolgt (§ 41 StGB-DDR), wurde erheblich erweitert; darüber hinaus wurde ihre Höchstdauer von sechs Wochen auf sechs Monate erhöht.
Wenn durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979 auch das Höchstmaß der Geldstrafe von bis dahin 100 000 M auf 500 000 M erhöht wurde (§ 49 Abs. 3 StGB-DDR). so liegt hierin eine gewisse Annäherung an die Entwicklung in der Bundesrepublik. wo das Höchstmaß allerdings 6 Mio. DM beträgt. Bemerkenswerterweise wurde schon Anfang der siebzigerJahre eine verstärkte Anwendung des Strafbefehlsverfahrens angeordnet, für das vornehmlich die Geldstrafe in Frage kommt Die Geldstrafe wird in der DDR immerhin bei 20— 25% aller Straftaten angewendet Interessant ist hierbei. daß die Geldstrafe bei der Reform von 1979 vornehmlich für Delikte politischer Renitenz wie Rowdytum und Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit eingeführt worden ist. Anscheinend hat man eingesehen, daß bei diesen Tätern gesellschaftliche Erziehungsmaßnahmen verhältnismäßig sinnlos sind. Übrigens hat sich auch der Anteil der Geldbußen an den von den gesellschaftlichen Gerichten verhängten Sanktionen erhöht er beträgt gegenwärtig ca. 57% aller Erziehungsmaßnahmen Damit zeigt sich, daß die lange Zeit als typisch kapitalistisch verhöhnte Geld-sanktion auch im sogenannten Sozialismus zunehmend heimisch wird und die Bedeutung des Geldes als kondensierte Freiheit erkannt wird.
Nur eine einzige Abmilderung ist im Sanktionensystem der DDR zwischen 1968 und 1986 erfolgt: Die Möglichkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Jugendliche, also für 14— 18jährige, wurde 1977 abgeschafft. Hierbei handelt es sich allerdings um die längst überfällige Abschaffung einer ausgesprochenen Barbarei. Dennoch sind immer noch 15 Jahre Freiheitsstrafe für 14— 18jährige möglich!
Als exemplarisch für die alttestamentarisch harte Bestrafungspraxis kann der folgende, vor kurzem vor dem Obersten Gericht der DDR entschiedene Fall dienen In einem VEB verhielt sich ein Wäscher nach dem Genuß von sechs Flaschen Bier während der Arbeitszeit undiszipliniert, indem er seine Arbeitsaufgaben nicht erfüllte. Daraufhin übertrug ihm die Werkleiterin eine andere Tätigkeit. Als er auch diese Arbeitsaufgabe, die vermutlich nicht angenehmer gewesen sein dürfte als die vorherige, nicht erfüllte, wurde er von der Werkleiterin aufgefordert, den Betrieb zu verlassen. Hierüber geriet der Angeklagte in Wut und schlug mit den Fäusten auf die Werksleiterin ein. Sie erlitt Prellungen am Kopf und am rechten Arm und war arbeitsunfähig, allerdings offensichtlich nur für kürzere Zeit. Mit der für unsere Begriffe hohen Strafe von vier Monaten Freiheitsstrafe ohne Aussetzung zur Bewährung gab sich der Präsident des Obersten Gerichts der DDR nicht zufrieden. Er erhob gegen das bereits rechtskräftige Urteil einen Kassationsantrag, woraufhin der fünfte Strafsenat des Obersten Gerichts das Urteil aufhob und die Angelegenheit an das Instanzgericht zurückverwies mit der Auflage, auf eine Freiheitsstrafe nicht unter acht Monaten zu erkennen!
2. Neukriminalisierung und Verschärfung einzelner Sanktionen a) Im Wirtschaftsstrafrecht hat die DDR in ihrem 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1974 den Tatbestand der „Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums“ (§ 161a StGB-DDR) eingeführt. Die
entsprechenden Verhaltensweisen waren schon davor überwiegend als „Vertrauensmißbrauch“ nach § 165 StGB-DDR strafbar gewesen. Die Reform bezweckte offensichtlich vor allem eine Abgrenzung der eigennützigen Delikte von bloßen Schädigungen der Volkswirtschaft. Daß damit der letzte inhaltliche Unterschied zwischen den im Strafgesetzbuch getrennt aufgeführten „Straftaten gegen das sozialistische Eigentum“ und den „Straftaten gegen das persönliche und private Eigentum“ beseitigt wurde, sei hier nur am Rande vermerkt. Im übrigen beschränkte sich das 1. Strafrechtsreformgesetz der DDR im Bereich der Wirtschaftskriminalität darauf, einige Strafdrohungen der „Straftaten gegen die Volkswirtschaft“ („Vertrauensmißbrauch“. „Verletzung der Preisbestimmungen“, „Verkürzung von Steuern und Abgaben“) zu verschärfen. Die meisten der in den Gesetzen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität der Bundesrepublik vorgesehenen Tatbestände sind in der Tat für die DDR wegen der andersartigen Wirtschaftsordnung völlig irrelevant. Wenn die DDR aber bisher keinerlei Vorschriften gegen die Computerkriminalität geschaffen hat. so bezeugt das eine Rückständigkeit ihrer Gesetzgebung, denn angesichts der zunehmenden Ausstattung der DDR mit Computern müßte sich das Problem ihres Mißbrauchs schon jetzt stellen
b) Den Umweltschutz hat die DDR sogar schon zwei Jahre vor der Bundesrepublik, nämlich 1977. in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Diese Regelung ist aber mit ihren zwei Paragraphen nicht nur äußerlich sehr viel knapper als die der Bundesrepublik. Auch inhaltlich werden nur Boden, Wasser und Luft vor Verunreinigung geschützt. Damit fehlen der Lärmschutz und der Schutz vor gefährlichen Handlungen wie Abfallbeseitigung oder der Betrieb von umweltschädigenden Anlagen. Gewässer werden nur vor Verunreinigung, nicht indes auch vor sonstiger Veränderung, also insbesondere Erwärmung. geschützt (§§ 191a, 191b StGB-DDR). c) Was den Terrorismus anbetrifft, so hat die Sowjetunion von Anfang an jede Gegenwehr gegen ihre eigenen politischen Gewaltmaßnahmen als „Terror“ zu diffamieren versucht und einen entsprechenden Straftatbestand eingeführt. Dementsprechend enthielt auch bereits das Strafgesetzbuch der DDR von 1968 zwei Tatbestände gegen den „Terror“ (§§ 101, 102). Es ist aberbemerkenswert, daß durch das 3. StÄG von 1979 in den Tatbestand des „Terrors“ die Begehungsweisen des bewaffneten Anschlags und der Geiselnahme sowie die Absicht, „Unruhe hervorzurufen", eingefügt wurden. Schon vorher war mit dem 2. StÄG von 1977 ein Tatbestand „Androhung von Gewaltakten und Vortäuschung einer Gemeingefahr“ (§ 217a) neu geschaffen worden. Der erste Teil dieses Tatbestan-
des entspricht im wesentlichen dem § 126 des StGB der Bundesrepublik. Es fehlt die Vortäuschung des Bevorstehens von Straftaten, die in der Bundesrepublik sowohl bei der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) als auch bei der individuellen Bedrohung (§ 241 StGB) und schließlich auch bei der Fehlleitung der polizeilichen Kapazität (§ 145d StGB) erfaßt wird. Auf der anderen Seite geht die Erfassung der Vortäuschung einer Gemeingefahr über das Recht der Bundesrepublik hinaus. In der Tat ist es in den siebziger Jahren in der DDR zu einer Reihe von durch Gruppen begangenen Gewaltakten bzw. diesbezüglichen Vorbereitungen gekommen. Diese hatten allerdings eine andere Stoßrichtung als in der Bundesrepublik. Mitte der siebziger Jahre kam es auf der internationalen Gartenbauausstellung in Erfurt zu Angriffen Jugendlicher auf das Militär. In Weimar versprühten Jugendliche auf öffentlichen Toiletten Tränengas. Ebenfalls in Weimar wurde 1981 nach dem Vorbild aus der Bundesrepublik eine „Wehrsportgruppe Hoffmann“ gegründet, die für den Fall bewaffneter Auseinandersetzungen Sprengungen von Verkehrsverbindungen um Weimar zur Behinderung der sowjetischen Truppen plante. Die Tatbestandsmerkmale des bewaffneten Anschlags und der Geiselnahme im Tatbestand des „Tenors“ dürften nicht zuletzt auf Fluchtversuche von Grenzsoldaten gemünzt sein. d) Die Verhinderung von Gewalttaten bei Demonstrationen brauchte von der DDR nicht in ihr Gesetzgebungsprogramm aufgenommen zu werden, weil von ihr bereits jegliche friedlichen Ansammlungen kriminalisiert werden. Auch dieses weitgehende Demonstrationsstrafrecht wurde jedoch durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979 noch verschärft. Für das Nichtverlassen einer Ansammlung von Personen trotz Aufforderung durch die Sicherheitsorgane wurde die Freiheitsstrafe, und zwar bis zu zwei Jahren, eingeführt. Für die Organisatoren oder Anführer wurde die Höchststrafe von fünf auf acht Jahre Freiheitsstrafe erhöht. Auch die Strafe für die sogenannte „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“. worunter schon die Beeinträchtigung der Tätigkeit staatlicher Organe durch Drohungen und die Begründung einer Mißachtung der Gesetze fällt, wurde von zwei auf drei Jahre Freiheitsstrafe, in schweren Fällen von acht auf zehn Jahre Freiheitsstrafe erhöht (§ 216 StGB-DDR).
In diesen Zusammenhang gehört offensichtlich auch die Erhöhung der Höchststrafe für das unberechtigte Eindringen in öffentliche Gebäude auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, bei Begehung durch mehrere Personen auf Freiheitsstrafe bis zu fünfJahren (§ 134 Abs. 2. 3 StGB-DDR). Da nicht bekannt ist, daß in der DDR jemals Punkerbanden die Rathäuser gestürmt hätten, zielt diese Bestimmung offensichtlich auf Personen, die Anträge stellen und Eingaben machen wollen, die den Behörden nicht genehm sind.
e) War schon für den Ausgangspunkt des Vergleichs, nämlich das Jahr 1968, für das politische Strafrecht eine weitgehende Diskrepanz zwischen dem Recht der Bundesrepublik Deutschland und der DDR festgestellt worden, so hat sich diese Diskrepanz bedauerlicherweise in der Zwischenzeit noch erheblich vergrößert. Die DDR hat ihr politisches Strafrecht in einer wohl auch für nicht rechtsstaatliche Staaten einmaligen Weise ausgedehnt.
Dabei versucht die DDR vor allem, die Äußerung jeglicher kritischer Meinungen brutal zu unterdrükken. Durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979 wurde die Strafdrohung für die sogenannte „staatsfeindliche Hetze“, die jegliche „Diskriminierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, Repräsentanten oder anderer Bürger der DDR wegen deren staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit erfaßt (§ 106 StGB-DDR), von fünf auf acht Jahre Freiheitsstrafe heraufgesetzt. Auch die Strafdrohung gegen die sogenannte öffentliche Herabwürdigung. die die Herabwürdigung der staatlichen Ordnung oder staatlicher Organe, Einrichtungen oder gesellschaftlicher Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen erfaßt — jede Maßnahme irgendeiner Organisation wird damit vor „Herabwürdigung“ geschützt —. wurde von zwei auf drei Jahre erhöht. Außerdem wurde eine neue Strafdrohung gegen die Verbreitung oder Zugänglichmachung von Schriften geschaffen, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen (§ 220 Abs. 2 StGB-DDR). An diesem Tatbestand ist alles vage: die „Beeinträchtigung“ der staatlichen oder öffentlichen Ordnung, die „Störung“ des sozialistischen Zusammenlebens, die bloße „Eignung“ hierzu. Das „Zugänglichmachen“ erfaßt nicht nur jede Leihe, sondern auch die bloße Gewährung der Möglichkeit der Einsichtnahme.
Noch schärfere Strafdrohungen hat die DDR für den Fall eingeführt, daß ihre Bürger sich gegenüber Personen oder Institutionen außerhalb der DDR äußern und Mißstände in der DDR an eine auswärtige Öffentlichkeit gelangen lassen. So zieht die „staatsfeindliche Hetze“ bei Zusammenwirken mit Organisationen, Einrichtungen oder Personen, deren Tätigkeit gegen die DDR gerichtet ist, eine Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren nach sich (§ 106 Abs. 2 StGB-DDR). Die „öffentliche Herabwürdigung“, also die Herabwürdigung der staatlichen Ordnung oder von staatlichen Organen. Einrichtungen oder gesellschaftlichen Organisationen oder von deren Tätigkeit oder Maßnahmen, im Ausland kann mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden (§ 220 Abs. 4 StGB). Auch der übliche Schutz von Staatsgeheimnissen ist von der DDR bei der Strafrechtsreform von 1979 auf eine Unterdrückung jeglicher Nachrichten über die Zustände in der DDR erweitert worden. Denn seitdem ist nicht mehr nur der Verrat an gegnerische Geheimdienste, Organisationen, Einrichtungen. Gruppen oder Personen oder deren Vertreter oder Helfer strafbar, sondern auch der Verrat an fremde Mächte oder an ausländische Organisationen sowie deren Helfer (§§ 97— 100 StGB-DDR). Die Bedeutung dieser Ausweitung wird ersichtlich, wenn man bedenkt, daß nicht nur der Verrat strafbar ist, sondern schon die Sammlung oder die sonstige Zugänglichmachung. Darüber hinaus ist das Objekt derartiger Handlungen — das, was nicht verraten, gesammelt oder sonst zugänglich gemacht werden darf — jeglichen materiellen Elements entkleidet worden. Geschützt sind einfach „Nachrichten oder Gegenstände, die geheimzuhalten sind“. Schließlich hat die DDR noch das kuriose Novum eines „Verrats“ von „der Geheimhaltung nicht unterliegenden Nachrichten“ geschaffen (§ 99 StGB). Damit wird die Absicht offenkundig: Mit Strafe bedroht ist jede Mitteilung von für die DDR nachteiligen Tatsachen an irgendwelche Personen oder Institutionen außerhalb der DDR!
Die genannten Vorschriften enthalten jedenfalls noch das Erfordernis „zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik“. Das in der deutschen Rechtssprache aus der Formulierung „zum“ folgende Absichtsmerkmal wollen diese Vorschriften freilich kaum postulieren; immerhin verlangen sie aber wohl einen tatsächlichen Nachteil für die Interessen der DDR. Selbst über dieses minimale einschränkende Erfordernis hilft aber noch § 219 Abs. 2 StGB-DDR i. d. F.des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes hinweg. Danach wird die Verbreitung oder das Verbreitenlassen (!) von Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden, im Ausland mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht! Es genügt sogar die Herstellung von Aufzeichnungen zu diesem Zweck. Auch die Lieferung von Schriften, Manuskripten oder anderen Materialien, die den Interessen der DDR schaden könnten, an Organisationen. Einrichtungen oder Personen im „Ausland“ fällt unter diese Strafdrohung. Diese Vorschrift ist vor allem als Drohung gegen kritische Schriftsteller verstanden worden. Indessen geht der Anwendungsbereich mit der Erfassung von Schriften oder anderen Materialien viel weiter. Jegliche Übergabe oder auch das Übergebenlassen von „Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden“, wird mit Strafe bedroht.
Aber nicht nur die Mitteilung von geheimen und nicht geheimen Tatsachen ist mit Strafe bedroht, sondern schon der bloße Kontakt, und zwar nicht etwa nur zu fremden Geheimdiensten, sondern auch zu allen Einrichtungen oder Vertretern fremder Mächte, ausländischen Organisationen sowie deren Helfern. Hat der Kontaktsuchende die Absicht, die Interessen der DDR zu schädigen, so erfolgt Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren (sogenannten landesverräterische Agententätigkeit. § 100 StGB-DDR). Hat der Kontaktwillige Kenntnis davon, daß seine Kontaktpartner ihre Tätigkeit gegen die DDR richten, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Verurteilung auf Bewährung oder Geldstrafe (sogenannte ungesetzliche Verbindungsaufnahme, § 219 StGB-DDR).
Das System der Unterdrückung von Äußerungen, das die DDR in der hier zu besprechenden Periode, insbesondere in ihrem 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979, errichtet hat, ist für einen modernen Industriestaat einmalig. Verboten werden nicht nur kritische Meinungen, sondern sogar alle Äußerungen von Tatsachen, die der DDR nicht genehm sind. Die DDR ist hierbei in einen ausgesprochenen circulus vitiosus geraten. Statt der verbreiteten Kritik an den in ihr herrschenden Zuständen durch eine Verbesserung dieser Zustände entgegenzutreten, versucht sie, jegliche Informationen über diese Zustände zu unterdrücken; sie merkt anscheinend nicht, daß sie diese Zustände dadurch noch unerträglicher macht.
Das hypertrophe System zur Unterdrückung von Meinungs-und Tatsachenäußerungen führt zu einer juristisch kaum noch zu bewältigenden Überschneidung zahlloser Tatbestände. Schreibt jemand an seine Tante im Westen, er halte es in der DDR nicht mehr aus, so ist dies nach dem Strafrecht der DDR: 1. die Verbreitung einer Nachricht, die geeignet ist.den Interessen der DDR zu schaden, mit der Folge von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder Geldstrafe (§ 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR); 2. die Übergabe einer Schrift, die geeignet ist.den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, an eine Person im Ausland mit den gleichen Straffolgen (§ 219 Abs. 2 Nr. 2 StGB); 3. das Zugänglichmachen einer Schrift, die geeignet ist. die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, und zwar im Ausland. mit den gleichen Straffolgen (§ 220 Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 StGB); 4. eine Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR mit der Folge einer Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 StGB); 5. die Verbreitung einer Schrift zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit den gleichen Straffolgen (§ 106 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Setzt sich der Verwandte mit dem ZDF oder dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen
in Verbindung, so greifen damit zusätzlich folgende Vorschriften ein: 1. Zusammenwirken zur Durchführung des Verbrechens nach § 106 mit Organisationen, Einrichtungen oder Personen, deren Tätigkeit gegen die DDR gerichtet ist. mit der Folge von Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren (§ 106 Abs. 2 StGB); 2. Zugänglichmachen einer der Geheimhaltung nicht unterliegenden Nachricht zum Nachteil der Interessen der DDR an den Helfer einer ausländischen Organisation mit der Folge von Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren (§ 99 StGB); 3. Aufnahme von Verbindungen zu einem derartigen Helfer, um die Interessen der DDR zu schädigen, mit der Folge von Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren (§ 100 StGB); 4. Zugänglichmachen einer Nachricht, die geheim zu halten ist. zum Nachteil der Interessen der DDR gegenüber einem Helfer einer ausländischen Organisation mit der Folge von Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (§ 97 StGB).
Diese rigorosen Strafbestimmungen lassen von dem Menschenrecht der Meinungsfreiheit nichts mehr übrig. Dieses Recht umfaßt nach Art. 10 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und Art. 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte die Freiheit, ohne Rücksicht aufStaatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift und Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen. zu empfangen und weiterzugeben. Die aufgeführten Strafbestimmungen sind zugleich massive Verstöße gegen die Schlußakte von Helsinki und den Grundlagenvertrag.
In der Praxis läßt sich die Fülle der relevanten Tatbestände schon aus Gründen der Arbeitskapazität gar nicht ausschöpfen. Berichte ehemaliger Untersuchungshäftlinge aus der DDR zeigen allerdings, daß die Strafverfolgungsbehörden die regelmäßig gegebene Alternative zwischen einer schwereren und einer leichteren Strafdrohung in raffinierter Weise dazu benutzen, den Beschuldigten in zermürbender Ungewißheit zu halten und ihm mit dem Angebot der Anwendung der leichteren Strafdrohung Zugeständnisse abzupressen.
Die Tatbestände des politischen Strafrechts überschneiden sich nicht nur, so daß die Justiz nicht jeweils alle einschlägigen Tatbestände zur Anwendung bringen kann, sondern sie sind auch so weit, daß die Justiz gar nicht alle Personen verfolgen kann, die sich eigentlich nach diesen Tatbeständen strafbar gemacht haben. Nach der Reform von 1979 sollen selbst Juristen der DDR das politische Strafrecht als „Willkür in Gesetzesform“ bezeichnet und darauf hingewiesen haben, daß sich von zehn DDR Bürgern acht permanent strafgesetzwidrig verhalten Was jedoch aus der Sicht des Legalitätsprinzips als Mangel erscheint, ist aus der Sicht der Herrschaftstechnik durchaus ein Vorteil. Denn dadurch wird die Bevölkerung in Unsicherheit gehalten; über acht von zehn DDR-Bürgern schwebt ständig das Damokles-Schwert einer Verfolgung aus politischen Gründen, und die Verfolgungsbehörden können sich mehr oder weniger willkürlich ihnen passende Fälle für die Verfolgung heraussuchen.
Gleichzeitig mit dieser verstärkten Unterdrückung der Meinungs-und Tatsachenäußerungsfreiheit hat die DDR auch noch die Strafbarkeit der Flucht und Fluchthilfe verstärkt und damit den Zwang zum Verbleiben in ihrem System erhöht. Neu unter Strafe gestellt wurden die nicht rechtzeitige Rückkehr in die DDR und die Verletzung staatlicher Festlegungen über den Auslandsaufenthalt (§ 213 Abs. 2 StGB-DDR). Für „schwere Fälle“, die schon bei „Ausnutzung eines Verstecks“ gegeben sind und im übrigen vom Gericht nach Gutdünken bejaht werden können, wurde das Höchstmaß der Freiheitsstrafe von fünf auf acht Jahre erhöht.
f) Aus der Sowjetunion hat die DDR bereits 1961 den Straftatbestand der „Arbeitsscheu“ übernommen und diesen Tatbestand auch in ihr Strafgesetzbuch von 1968 übernommen (§ 249). Die DDR hat zwar hierfür nicht den in der Sowjetunion ver-• wendeten, aus der Zoologie stammenden Begriff des „Parasitismus“ übernommen; ihre Bezeichnung „asoziale Lebensweise“ erinnert jedoch fatal an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Im Volksmund der DDR sind die sogenannten „Asis“ ein feststehender Begriff.
Auch dieser „Tatbestand“ ist laufend verschärft worden. Durch das 2. Strafrechtsänderungsgesetz von 1977 wurde die Sanktion der „Arbeitserziehung“ aufgehoben. Wenn dies auch offensichtlich geschah, um dem Verbot der Zwangsarbeit in den internationalen Menschenrechtspakten Genüge zu tun. so wurde doch damit die Kriminalisierung der bloßen Asozialität offenkundig. Durch das 3. Strafrechtsreformgesetz von 1979 wurde in den Tatbestand die neue gefährliche Generalklausel der „Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch eine asoziale Lebensweise“ eingeführt. In der Rechtstheorie gibt es das bisher für absurd gehaltene Denkmodell des „Schurkenparagraphen“: man könnte sich das ganze Strafgesetzbuch sparen und sich auf einen einzigen Paragraphen beschränken mit dem Wortlaut: „Jeder Schurke wird bestraft“. Die Strafdrohung gegen jede „asoziale Lebensweise“ in der DDR kommt
diesem absurden Denkmodell bedenklich nahe. Auch die vorbeugenden Maßnahmen zur „Erfassung kriminell gefährdeter Bürger“ wurden verstärkt. g) Die DDR hat nicht nur trotz der verstärkten Unterdrückung der Meinungs-und Tatsachenäußerungsfreiheit den Zwang zum Verbleiben in ihrem System verstärkt, sondern auch noch die Unterwerfung des einzelnen unter den Strafvollzug verschärft. Es ist aus vielen Berichten bekannt, daß der Strafvollzug in der DDR zu dem Härtesten gehört, dem Menschen ausgesetzt werden können, und zwar weniger durch physische Quälereien als durch
ein System der Tristesse und von Maßnahmen, die auf die Brechung der Persönlichkeit abzielen. Durch das 3. Strafrechtsreformgesetz von 1979 ist nun der Widerstand gegen Vollzugsmaßnahmen selbst wieder zu einer neuen Straftat erklärt worden. so daß dem Gefangenen, will er überhaupt jemals die Strafanstalt verlassen, nichts anderes übrig bleibt, als die oft schikanösen Anordnungen ohne Murren zu befolgen. Selbst aus Verzweiflung und Haftpsychose resultierender passiver Widerstand wie z. B. ein Hungerstreik wird hierdurch zu einer Straftat, der mit neuer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft werden kann (§ 236 StGB-DDR).
IV. Entwicklungstendenzen
Die vorliegende Darstellung hat für die letzten 15 bis 20 Jahre eine stetige Auseinanderentwicklung des Strafrechts in den beiden deutschen Staaten ergeben. Es wäre allerdings unrichtig, diese Entwicklungslinien in die Zukunft zu verlängern und dementsprechend für die Zukunft eine weitere Auseinanderentwicklung zu prognostizieren. Denn in der DDR zeigen sich an zahlreichen Punkten Ansätze zu einem baldigen Wandel. So finden sich im Schrifttum der DDR in der letzten Zeit immer häufiger Stimmen, die vor „ungerechter Bestrafung“, vor „überhöhtem Strafzwang“, vor „über die angemessene und gerechte Reaktion auf das strafbare Handeln hinausgehenden und damit den sozialen Integrationsprozeß störenden Nebenwirkungen“ warnen sowie auf die verminderte Steuerungsfähigkeit und damit eingeschränkte Schuld sozial desintegrierter Täter hinweisen Dabei wird insbesondere darauf hingewiesen, daß der von der Rechtsprechung so gern verwandte Begriffder „Täterpersönlichkeit" im Gesetz gar nicht vorkomme und zu einer falschen Identifizierung von Straftat und Persönlichkeit verleite. Bemerkenswerterweise sind es vor allem jüngere Wissenschaftler, die derartige Kritik vorbringen. Es hat danach den Anschein, daß in der DDR eine neue Strafrechtswissenschaftlergeneration heranwächst, die der bisher noch herrschenden Vorstellung von der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit strenger Strafen skeptischer gegenübersteht.
Hierher gehört auch, daß der Staatsrat der DDR mit Beschluß vom 17. Juli 1987 die Todesstrafe abgeschafft hat. Die unmittelbare Wirkung dieser Maßnahme ist zwar gering, da die DDR die Freiheitsstrafe außerordentlich bedrückend und abschreckend ausgestaltet hat, so daß die Selbstmord-rate unter Strafgefangenen hoch ist. In der Abschreckungswirkung ist daher kaum noch eine Steigerung möglich; die Todesstrafe ist denn auch in der
DDR seit längerer Zeit nicht mehr verhängt worden Wie die Erfahrungen in der Bundesrepublik zeigen, entfaltet die Abschaffung der Todesstrafe aber eine erhebliche Schubkraft, da die lebenslange Freiheitsstrafe nunmehr als Höchststrafe erscheint und dem Täter nicht mehr als großzügiges Absehen von der Höchststrafe dargestellt werden kann.
Ein weiterer Ansatz ergibt sich aus neueren Forschungen über die psychischen Eigenschaften der kriminellen Asozialen. Ende der siebzigerJahre hat ein Mitarbeiter des Lehrstuhls Forensische Psychologie der Sektion der Kriminalistik der Humboldt-Universität in Ost-Berlin 127 wegen krimineller Asozialität Verurteilte und als kriminell gefährdet Erfaßte auf psychopathologische Merkmale untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren offensichtlich so bestürzend, daß sie erst 1985 einer größeren Öffentlichkeit unterbreitet wurden
Danach ergaben sich bei den Asozialen bei zehn von elf Merkmalen signifikante Mittelwerterhöhungen. Als erhöht erwies sich die hypochondrische Zuwendung zum eigenen Körper, gepaart mit Selbstmitleid, Hadem mit dem eigenen Geschick, „Pechvogel-Allüren“ und Flucht in die Krankheit. Signifikant erhöht seien ferner ein gestörtes Selbstwertgefühl sowie eine pessimistische Grundhaltung bis hin zu Suizidgedanken. Die häufig zu beobachtende Unaufrichtigkeit und mangelnde Vertrauenswürdigkeit beruhten nicht nur auf Verlogenheit und Täuschung, sondern auch auf Selbsttäuschung und Verdrängung. Gefährdete glauben häufig selbst an ihre guten Vorsätze und seien später über ihr Ver-sagen ebenso enttäuscht wie diejenigen, die ihnen Hilfe geboten hätten. Asoziale fühlten sich ständig ungerecht behandelt und schikaniert; dieser Argwohn führe zu einer sozialen Isolierung und zur Entwicklung einer Außenseiterideologie. Das eigene Versagen stehe den Gefährdeten deutlich vor Augen, jedoch suchten sie die Gründe dafür bei anderen. Sie übernähmen Aufgaben wenig zupakkend und resigniert, so daß der Mißerfolg schon jeweils vorprogrammiert sei.
Die Untersuchung mußte zwangsläufig dazu führen, das gesamte System der Reaktionen auf die Asozialität in der DDR als gescheitert anzusehen. Nicht nur erscheint ein Strafvollzug sinnlos. Was sollen die Kollektive anfangen mit Menschen, die häufig selbst an ihre guten Vorsätze glauben und später über ihr Versagen ebenso enttäuscht sind wie diejenigen, die ihnen Hilfe geboten haben, mit Menschen, denen das eigene Versagen deutlich vor Augen steht, die aber die Gründe dafür nicht bei sich selbst suchen?
Die genannte Publikation hat in der DDR eine Reihe von weiteren Stellungnahmen zum Problem der „integrationsgestörten“ Täter ausgelöst. Dabei wurde bald der enge Bereich der Bestrafung wegen Asozialität verlassen Schon die Ausgangsuntersuchung hatte darauf hingewiesen, daß die hypochondrische Zuwendung zum eigenen Körper infolge der Außenreizverarmung unter Haftbedingungen eine allgemeine Erscheinung sei, die als Gewohnheitshaltung auch nach der Haftentlassung zu einem gewissen Grade erhalten bleibe. Die mangelnde Übung führe zu einem freiwilligen Verzicht auf Reizaufnahme und schließlich zur Unfähigkeit dazu und zeitige damit das gleiche Ergebnis wie die Reizarmut im Einschluß, nämlich hypochondrische Tendenzen.
Die Analyse der Asozialen hat somit zu erheblichen Zweifeln an dem „Hurra-Erziehungs“ -Pathos im Strafvollzug der DDR geführt. Wie weit es allerdings gelingen wird, die Geister, die die DDR mit ihrer Einspannung von kollektiver moralischer Überheblichkeit und Sündenbock-Projektion in die Strafrechtspflege gerufen hat. wieder zu verscheuchen, bleibt abzuwarten. Neuerdings hat der renommierte Strafrechtswissenschaftler Erich Buchholz von der Humboldt-Universität für vermindert zurechnungsfähige Rückfalltäter nachdrückliche Strafmilderungen bzw. zumindest die Nichtanwendung der für Rückfalltaten vorgesehenen drastischen Strafverschärfungen vorgeschlagen Diese auf den ersten Blick sehr spezielle Thematik ist offensichtlich kein Zufall: Anscheinend erkennt die DDR immer mehr, daß der
Rückfalltäter häufig nicht der hartgesottene, unbelehrbare Gewohnheitskriminelle im Sinne früherer Vorstellungen ist, sondern der haltlose, „integrationsgestörte“ Täter, dessen Unbeeinflußbarkeit durch harte Sanktionen eher für eine gestörte Fähigkeit zur Selbstbestimmung spricht. In seinem Gesetzgebungsplan für den Zeitraum bis 1990 hat der Ministerrat der DDR denn auch gerade eine Revision der Bestimmungen über die Rückfallstrafbarkeit angekündigt Zudem werden ein Ausbau der Grundsätze des sozialistischen Strafrechts hinsichtlich der weiteren Erhöhung von Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit, eine bessere Differenzierung der rechtlichen Veranwortlichkeit für Rechtsverletzungen im unteren Kriminalitätsbereich sowie die weitere Ausgestaltung der Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit angekündigt. Ferner wird eine Reform des Wirtschaftsstrafrechts beabsichtigt, bei der insbesondere die Computer-kriminalität erfaßt und damit ein Rückstand gegenüber dem Strafrecht der Bundesrepublik beseitigt werden sollen. Dazu kommt in der jüngsten Zeit eine grundsätzliche Kontroverse um die Ursachen der Kriminalität in der DDR. Nach Marx und Engels beruht die Kriminalität auf dem Privateigentum und sollte daher eigentlich unter dem Sozialismus von selbst wegfallen. Die Tatsache, daß es auch nach dem angeblichen Übergang zum „Sozialismus“ in den ost-und mittelosteuropäischen Staaten immer noch Kriminalität gibt, wurde bisher in der DDR damit erklärt, daß es sich um „Rudimente“ der alten Ausbeutergesellschaft handle. Das offizielle Lehrbuch der Kriminologie von 1983 brachte hier eine Neuorientierung: Die Ursachen der Kriminalität könnten nur in konkret-historischer Analyse gefunden werden. In der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ könnten die Relikte der alten Gesellschaft nicht mehr die gleiche Rolle spielen wie früher. „Die entwickelte sozialistische Gesellschaft ist keine bloße Vereinigung von unreifem Kommunismus und Muttermalen des Kapitalismus.“ Die Kriminalität beruhe auf grundlegenden Widersprüchen der sozialistischen Gesellschaft selbst Diese Auffassung führte zur Aufgabe eines Allgemeinbegriffs der Kriminalität und zur Unterscheidung zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Kriminalität.
Diese Thesen stießen in der DDR auf einen zwar wie üblich verklausulierten, für den Eingeweihten aber unverkennbaren erbitterten Widerstand. Er kam von dem Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, Erich Buchholz, der von der Mitarbeit an dem neuen Lehrbuch offensichtlich nicht ohne Grund ausgeschlossen worden war. In mehreren Zeitschriftenartikeln erklärte er. die Hauptursache der Kriminalität seien die Arbeitsteilung, die Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Ausbeutung und die Klassengegensätze. Daher sei nicht nach irgendwelchen „neuen“ Ursachen der Kriminalität in den sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen zu suchen, sondern danach zu fragen, welche sozialen Bedingungen die hinreichend erkannte eigentliche sozialökonomische Hauptursache der Kriminalität immer wieder hervorbrechen ließen. „Die Kriminalität ist ein Wurmfortsatz der Vergangenheit.“ Die Hauptursache der Kriminalität wirke auf die DDR von außen und aus der Vergangenheit!
Nun schlug John Lekschas.der 1961 gegen die Aufgabe der Klassenkampftheorie der Kriminalität zu Felde gezogen war, inzwischen aber offensichtlich zum Paulus geworden ist, massiv zurück: „Man mag den Ausdruck . Wurmfortsatz der Vergangenheit'noch für nur unglücklich gewählt halten. Widerspruch muß aber einsetzen, wenn man das für die Ausbeutergesellschaften gültige soziale Wesen der Kriminalität nun auch dem Sozialismus zuschreibt, indem erklärt wird, daß unbeschadet aller Differenziertheit die Kriminalität in dem prinzipiellen Wesen eine einheitliche Erscheinung bleibt. Es wird fast zwanghaft beständig nur auf das Privateigentum als . Urgrund von Kriminalität und Strafe'abgehoben. das qualitativ andere Wesen der Kriminalität unter den Bedingungen des Sozialismus aber wird vernachlässigt“ 20).
Kurz darauf wurde Lekschas noch deutlicher. Man solle sich mit der Erklärung, die sozialökonomische Hauptursache von Kriminalität in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hinreichend erkannt zu haben, zurückhalten. Der soziale Determinationszusammenhang von Privateigentum und Kriminalität sei „doch recht fiktiv geworden“. Die subjektiven Ursachen der Kriminalität lägen nicht so sehr in dem Einfluß von bürgerlichen oder anderen sozial rudimentären ideologischen Positionen als in der Gesellschaftsblindheit, vor allem von Minderjährigen. als sozialem Phänomen 21).
Buchholz’ Antwort war sehr gewunden. Er versuchte sich als Sieger darzustellen, da Lekschas mit der Charakt
Buchholz’ Antwort war sehr gewunden. Er versuchte sich als Sieger darzustellen, da Lekschas mit der Charakterisierung der Kriminalität als „spontan-anarchische und sozial-destruktive Widerspruchslösung“ wieder einen Allgemeinbegriff der Kriminalität anerkannt habe. Auch die Widersprüche und Mißstände im realen Sozialismus seien letztendlich historisch mit den ökonomischen Gründen für die Vereinzelung des Individuums und für sein durch Eigentumsverhältnisse bestimmtes Verhalten verbunden; sie gehörten zu dem über Generationen transportierten und modifizierten Erbe, das Marx mit dem Ausdruck „Muttermal“ bildhaft illustriert habe Inzwischen hat Buchholz eine Arbeit der bekannten sowjetischen Kriminologin Kusnezowa kritisiert, da die in letzter Instanz ausschlaggebenden Ursachen der Kriminalität — auch im Sozialismus — in den materiellen Lebensverhältnissen der Gesellschaft, den sozialökonomischen Verhältnissen gefunden werden müßten
Wenn auch die theoretischen Verrenkungen, zu denen die Autoren in dem ideologischen Prokrustesbett geraten, den westlichen Betrachter vielfach komisch anmuten, so darf doch nicht übersehen werden, daß die Auffassung vom Wesen und den Ursachen der Kriminalität in der DDR wichtige Auswirkungen auf die Praxis des Strafrechts und der Strafverfolgung hat. Ebenso wie die Erklärung der Kriminalität mit dem Klassenkampf brutale Härte gegenüber dem Straftäter, die Erklärung von Straftaten durch den Hinweis auf kapitalistische Rudimente im Bewußtsein des Straftäters ein penetrantes Umerziehungskonzept zur Folge hatten, so muß die Zurückführung der Kriminalität auf Widersprüche im Sozialismus selbst zu einer neuen Einstellung gegenüber den Straftätern führen. Besonders bemerkenswert erscheint darüber hinaus, daß der gegenwärtige Streit um das Wesen und die Ursachen der Kriminalität in der DDR offen ausgetragen wird. Damit spiegelt sich Lekschas’ Hinweis auf objektive Widersprüche im Sozialismus gewissermaßen auf wissenschaftlicher Ebene wider. Seit der Kontroverse von 1961 wurde dagegen in der Strafrechtswissenschaft der DDR das Bild einer heilen, konfliktlosen Welt gepflegt. Wissenschaftliche Kontroversen sind jedoch die unabdingbare Voraussetzung für theoretische und dann auch praktische Entwicklungen.
Es bestehen also zahlreiche Ansätze und Anzeichen für einen Wandel des Strafrechts der DDR, der insbesondere auf eine Abkehr von dem strengen Repressionssystem hinzielt. Möglicherweise wird ein Vergleich des Strafrechts in den beiden deutschen Staaten in wenigen Jahren deutlich mehr Gemeinsamkeiten erbringen, als sie für die Entwicklung der letzten 15 bis 20 Jahre festgestellt werden konnten.