I. Kollektive Selbstbilder und Standortfragen
„Schwerenöter“ 1) — der neue Roman von Hanns-Josef Ortheil — skizziert ein Gesamtbild der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Das Thema Deutschland ist Kulisse und Bühne in einem. Traditionelle Stereotype über die Deutschen finden in der prägnanten Metapher der beiden gegensätzlichen Brüder ihre Wiederkehr: Der eine melancholisch-gedankenvoll, auf der Seite des Geistes, der andere praktisch, wendig, aufder Seite der Macht — eben gespalten deutsch. Nicht die angeblich unbeeinflußbare und abstrakt-ferne internationale Politik, sondern die Innenansichten der Republik stehen im Mittelpunkt. Der Roman reiht sich ein in die Revue der Bilanzierungen zu dem nunmehr fast vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik. Der Rückblick ist Dokument eines gewachsenen „Wir-Bewußtseins" der Bundesbürger; er ist gleichzeitig ein Psychogramm des bundesrepublikanischen Bewußtseins, eine Darstellung der . Suchbewegung'nach einer eindeutigeren, in sich ruhenden Selbstbeschreibung deutscher Identität.
Mit diesen drei Indikatoren: dem Deutschland-thema.den Identitätsfragen und der . Suchbewegung'avanciert der Roman aus politikwissenschaftlicher Sicht zu einer Zeitgeistchronik, die das Profil der Republik mit all ihren Bruchlinien literarisch aufarbeitet. Wenn demnach das Deutschlandthema die sensiblen Zonen des Zeitgeistes erneut prägt, dann bleibt zu fragen, ab wann und in welchen Akzentuierungen sich dies abzeichnet. Im folgenden soll eine Galerie von Deutschlandbildern seit 1972 aufgereiht werden. Es handelt sich dabei nicht um in Archiven gespeicherte, auf Zelluloid fixierte Bilder
Der Mensch denkt und handelt in Bildern. Sein Verhalten wird offenbar weitgehend bestimmt durch diese Wahrnehmung über Bilder, denn unser Bewußtsein ist bestimmt durch ein sprachlich verfaßtes Bild von der Welt und von uns selbst
Deutschlandbilder sind vor diesem Hintergrund die Summe der Vorstellungen, die in der Bundesrepublik Deutschland sowohl über den eigenen wie über den anderen Teil Deutschlands geäußert werden; es sind somit geistig-politische Standort-Bilder
Die inhaltliche Ausgestaltung spezifischer Deutschlandbilder entsteht vor allem in der intellektuellen Öffentlichkeit. Als Merker. Meinungsmacher, Moralisten artikulieren die Intellektuellen neue Bewußtseinslagen und schaffen sie auch mit immer neuen Leitbegriffen und Leitformeln. Versucht man die zentralen intellektuellen Deutschlandbilder zum geistig-politischen Standort der Deutschen durch eine Analyse politisch-kultureller Zeitschriften, Zeitungen und Bücher herauszufiltern, dann fällt auf, daß sich die Standortfragen an jeweils spezifischen Themenfeldern . festmachen'lassen.
Die in ihnen sich entfaltenden spezifischen Argumentationsfiguren und Topoi sollen anschließend kurz dargestellt werden, angefangen mit dem Jahr 1972, weil in diesem Jahr durch die Unterschrift unter den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR neue nationale Rahmenbedingungen der Politik gesetzt wurden, und weil seit dem zweiten Bericht des Club of Rome als unübersehbares Signal des Glaubensverlustes an einen ungehemmten Fortschritt 1972 auch neue internationale Rahmenbedingungen der Politik zu beobachten sind. Von 1972 bis zur Mitte der achtziger Jahre lassen sich neun zentrale Deutschland-bilder nachzeichnen. Die einzelnen Konfigurationen überlappen sich, liegen zeitlich dicht nebeneinander und charakterisieren keinesfalls abgeschlossene zeitgeschichtliche Phasen. Es ist der Versuch einer Typenbildung. Die neun Deutschlandbilder, die anschließend nur in ihren Schwerpunkten skizziert werden können, lauten:
1. Selbstanerkennung 2. Tendenzwende 3. Der . häßliche'Deutsche 4. Die nationale Frage 5. Friedensdiskussion 6. Die Identitätssuche 7. Die unruhigen Deutschen 8. Das . andere'Deutschland
II. Versuch einer Typologie von Deutschlandbildern .
1. Selbstanerkennung: Fragen nach der Nation Mit dem Ablauf des Jahres 1972 endet die Zeit der großen Aufbruchstimmung, des Reformklimas und des strategischen Nachdenkens über die Deutschland-und Ostpolitik. Die Diskussionen zum geistig-politischen Standort kreisen bis 1974 zentral um Fragen nach der Nation als Selbstanerkennungsfragen. Die Begrifflichkeit der deutschen Frage hat sich dabei verändert: Anerkennung, statusrechtliche Probleme. Bezeichnungen des zweiten Staates in Deutschland oder die Wiedervereinigung sind nicht mehr Debattengegenstand nach 1972. Im Zentrum stehen Versuche einer weitgehend historisch abgeleiteten und zwischen der Bundesrepublik und der DDR gegensätzlichen Begriffsbestimmung der deutschen Nation sowie empirische Darstellungen des Standes des nationalen Zusammengehörigkeitsbewußtseins 9). Die Nation wird zum Zentralbegriff dieser Zeit. Definitions-und Kategorisierungsbemühungen zum Stand der Kultur-und Bewußtseinsnation ergänzen die Debatte. Hinzu kommen in diesem Kontext neben dem Zusammengehörigkeitsbewußtsein auch die Fragen des System-Wettbewerbs und des zwischendeutschen Vergleiches. Die Problematik der Vergleichbarkeit beider Gesellschaftssysteme in Deutschland verursacht eine, heftige Grundsatzdebatte zum Thema zwischendeutscher Vergleich und deutsche Frage als Frage nach dem Systemgegensatz
Die Autoren der umfangreichen empirischen Studien dieser Zeit konstatieren, daß sich die Bundesrepublik Deutschland als Staatsnation etabliert hat. Die Bundesbürger haben danach zu Beginn der siebziger Jahre die Selbstanerkennung vollzogen. Diese ist jedoch nicht frei von Widerspiegelungen der Instabilitäten des Selbstbewußtseins. So läßt sich die ambivalente Selbstanerkennungsproblematik nicht nur an der Nationsdebatte, sondern auch im Umfeld der Bundestagswahlen 1972 und an den inszenierten Selbstdarstellungen wie den Olympischen Spielen in München und dem 25jährigen Jubiläum der’ Bundesrepublik 1974 verdeutlichen. Anthologien deutscher Selbstreflexion haben Konjunktur
„ . . . nicht also, wirsind wieder wer. Sondern: wer sind wir wieder?“
Diese Fragen sind weitgehend losgelöst von der unmittelbaren Verfaßtheit des politischen Systems, eher schwebend und von kulturkritischen Strömungen begleitet. Die deutsche Frage wird ventiliert durch diese individuellen Wahrnehmungsmuster und ist ausschließlich auf die bundesrepublikanische Gesellschaft ausgerichtet. Es sind inhaltlich Innenansichten und strukturell Suchbewegungen nach Gemeinschaftsbindungen, nach Ankerpunkten in der Vergangenheit
Bezeichnenderweise gibt es erstmals 1974 in der Bundesrepublik gleich zwei Kunstausstellungen, die im Titel mit dem Identitätsbegriff operieren — der jedoch im Ausstellungskatalog noch lexikalisch erläutert werden muß — und ihn inhaltlich mit spezifischen Sehnsuchtsbildern verknüpfen: „Die verlorene Identität: Die Gegenwart des Romantischen“ sowie „Identität. Versuche bildhafter 15 Selbstdefinition". Die neuen Bindungsoptionen sind im Kern Fluchtbewegungen aus der als häßlich empfundenen Gegenwart. Das gedachte Deutschland mit romantischen Deutschlandbildern wird dabei zur geistigen Flucht aus der Moderne. 3. Der , häßliche* Deutsche: Innere Sicherheit Der Extremistenbeschluß, die Sympathisanten-Kampagne und die terroristischen Gewalttaten sind die Kulissen der neuen Standortbeschreibung. Parallel zur Tendenzwende mit einem Höhepunkt 1977 finden sich neu akzentuierte Bilder. Die Süddeutsche Zeitung erklärt 1977 zum „Jahr des häßlichen Deutschen“
Der Rekurs auf traditionelle Images der Deutschen
Gerade in dieser Zeit entpuppen sich die Selbstbilder auch als Reaktion auf die internationalen Fremdbilder über die Deutschen. So zeigt eine Analyse dieses internationalen Fremdbildes, daß zwei negative Deutschlandbilder um das Jahr 1977 herum aktualisiert sind:
— Die Bundesrepublik als ein regressiver, autoritätsgläubiger Polizei-und Obrigkeitsstaat; — die Bundesrepublik als eine von Totalitären unterwanderte und terrorisierte Demokratie
Quantitativ kann sogar festgestellt werden, daß die Debatte um die innere Sicherheit in der Bundesrepublik etwa dem Umfang der Publikationen zum Deutschlandbild im Ausland Mitte der siebziger Jahre entspricht. Das deutsche Image draußen ist Gegenstand sensibler Beobachtungen: „Betroffen reiben wir uns die Augen. Aus dem Spiegel, den uns das Ausland neuerdings vorhält, grinst uns eine Fratze an: Die des häßlichen Deutschen.“
4. Die nationale Frage wiederaufgelegt: Renaissance des Nationalgefühls?
Die geistig-politische Standortdiskussion der Deutschen wird seit 1977 wieder verstärkt unmittelbar und explizit durch die deutsche Frage bestimmt. Nachdem sich die Standortdiskussion im Kontext der Auseinandersetzungen zur Tendenzwende und zur inneren Sicherheit mehr indirekt mit der deutschen Frage beschäftigt hat, tritt nun die Standort-debatte um ein zeitadäquates, angemessenes Deutschlandbild der Deutschen in das politische Gegenwartsbewußtsein. Formuliert wird die deutsche Frage jetzt als Frage nach uns selbst. Die deutsche Frage, Deutschland, die Nation werden intensiv Gegenstand der Auseinandersetzung.
Seit dieser Zeit setzt eine deutliche Phase der kritischen Reflexion zur Nation ein. die viel grundsätzlicher nach dem eigenen bundesrepublikanischen Selbstverständnis fragt, ohne unmittelbar die Teilungsproblematik mit zu reflektieren. Der Topos Nation und seine begrifflichen Derivate tauchen inflationär auf. Umfangreiche Grundsatzartikel und Aufsätze an zentralen Stellen, Themenhefte, Sammelrezensionen, Schlägzeilen über angeblich spektakuläre Umfrageergebnisse zum Nationalbewußtsein. Tagungsaktivitäten politischer und kirchlicher Akademien sowie Filme des Neuen Deut-sehen Kinos sind die Indikatoren
Die zentralen Argumentationsfiguren und prägenden Debattenschwerpunkte kreisen um ein verändertes . Wir-Bewußtsein‘ mit drei differenzierten Varianten:
a) Bundesrepublikanisches und/oder gesamtdeutsches Bewußtsein?
b) Verfassungspatriotismus: Ein Beschreibungsversuch der Qualität und Intensität der Gemeinschaftsorientierung der Bundesbürger. Konkret stellt sich im Umfeld der von Dolf Sternberger 1979 initiierten Diskussion die Frage, ob der Verfassungspatriotismus als Identifikationsmöglichkeit genutzt werden kann. Das Deutschlandbild des Verfassungspatriotismus reduziert sich auf die Bundesrepublik. c) Jubiläum — 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland: Die im Tenor resignative Leistungsbilanz fällt wesentlich umfangreicher aus als bei vorhergehenden Jahrestagen. Für die Dichotomie zwischen objektiver Stabilität und der Labilität des subjektiven Bewußtseins werden die Traditionslinien der deutschen Frage mit verantwortlich gemacht. Der geistig-politische Standort der Deutschen wird als Frage nach uns selbst explizit gestellt
Die Substanz der drei Deutschlandbild-Varianten zielt primär auf Bewußtseinsprofile der Deutschen und nicht auf die deutschlandpolitische Alltagsrealität. Es sind drei Stufen eines veränderten, auf das Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland ausgerichteten Wir-Bewußtseins, ohne jedoch darüber hinausgehende Deutschlandbilder grundsätzlich auszuklammern. 5. Friedensdiskussion: Sicherheitspolitische Anfragen Friedensbewegung und Nachrüstungsdebatte sind die Katalysatoren dieser neuen Deutschlandbilder, deren Ausprägungen besonders intensiv im Jahre 1981 liegen. Die Standortdebatte ist damit Reflex auf die veränderte internationale Lage nach dem Abflauen des Entspannungsklimas. Die national bestimmten Begründungszusammenhänge der Friedensdiskussion, die weit über die Friedensbewegung hinauswirken, kreisen um die besondere Gefährdung Deutschlands und die gesamtdeutsche Verantwortung, die Zugehörigkeit zum Westen sowie um deutschlandpolitische Denkmodelle. So tauchen erstmals seit Beginn der siebziger Jahre wieder deutschlandpolitische Alternativkonzepte auf, die auf zwei Denkmodelle rekurrieren und Deutschland-mit Europabildern verknüpfen:
— Das Ausscheren aus dem geteilten Europa durch National-Neutralismus
— Die Tendenz, eine Lösung der deutschen Frage in ihrer Europäisierung zu suchen bei Akzeptanz deutscher Zweistaatlichkeit
Unzufriedenheit mit dem politischen Status quo der deutschen Frage führt zu einer Standortsuche als Suche nach einem neuen, friedenspolitisch geprägten Selbstverständnis. Die voluntaristische Sehnsucht nach Veränderung des Zustandes der deutschen Nation bleibt einigende Zielbestimmung auf dem extrem linken und rechten politischen Spektrum. Frieden kann danach nur durch die Nation erreicht werden.
Die deutsche Frage wird explizit im Zeichen der Entideologisierungsdiagnose nicht mehr als Systemfrage diskutiert. In der öffentlichen Problem-Wahrnehmung haben die sicherheitspolitischen Anfragen das Freiheitsparadigma überlagert
Wenn die Selbst-und Fremdbilder der Deutschen wachsende Unsicherheit des geistig-politischen Standortes beschreiben, dann ist die zunehmende Konjunktur des Identitätsbegriffs im Kontext der deutschen Frage verständlich. Identität ist schon sprachimmanent ein zeitgerechter Sammelbegriff für Such-und Orientierungsbewegungen. Buch-und Aufsatztitel zur politischen Kultur der Deutschen und zur deutschen Frage bevorzugen auch vor diesem Hintergrund Fragezeichen oder infrage-stellende Adjektive. Die Konjunktur des Identitätsbegriffs resultiert somit nicht nur aus schlagzeilen-trächtigen Zufallsprodukten, sondern Identität ist Chiffre des Zeitgeistes und ein Signal für empfundene Identitätsdefizite
Die gesuchte Identität als das spezifisch unverwechselbare eigene ist gleichzeitig Gegenbegriff zu modernen Entfremdungssyndromen
Die Identitätssuche kreist damit um kulturelle Phänomene. die mit nationaler Einheit, mit Nation als Hauptargumentationsstrang wenig verbindet. Die Nation dient nur als Vorwand
Neue deutsche Sonderwege Der geistig-politische Standort der Deutschen erhält zu Beginn der achtziger Jahre seine spezifische Akzentuierung auch durch eine von außen, von Ausländern angeregte Selbstverständnisdebatte innerhalb der Bundesrepublik. Friedensdiskussion und Suche nach Identität geben die Impulse für eine breite Perzeption ausländischer Fremdbilder. Im Mittelpunkt der Deutschlandbilder steht das Bild des unruhigen Deutschen. Dabei ist unseren Nachbarn offenbar unklar, was die Deutschen eigentlich wollen nach drei Jahrzehnten der Beruhigung. Wohin gehen die wandelbaren Deutschen diesmal?
Zentrale Interpretationskategorie ist dabei der deutsche Sonderweg. Er wird direkt als wissenschaftliche Kontroverse erörtert
— eine geschichtswissenschaftliche Debatte um Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte
— eine politikwissenschaftliche Debatte um die politische Funktionalisierung des Sonderwegsgedankens
— eine Debatte um das .deutsche Problem'der Ideologisierung eines eigenen deutschen Weges zwischen West und Ost. ein Deutungsmuster für die Denkfigur des Sonderbewußtseins
Leiden an Deutschland „Einzig die Dichter wüßten noch, was deutsch zu nennen sich lohne. Sie hätten die deutsche Sprache als letztes Band geknüpft. Sie seien das andere, das wahrhaftige Deutschland.“
Auffallend sind jedoch nicht nur die direkt-explizite Verarbeitung der Teilungsproblematik, wie jüngst bei Walsers Spionage-Novelle „Dorle und Wolf“
Diese Entdeckungsreise in die DDR ist eine Beschreibung der DDR aus eigener Größe, unabhängig davon, wie man sie beurteilt, jenseits von Lobes-hymnen und pauschalen Verdammungen. Die DDR bleibt Vergleichsgesellschaft
Nachweisbar sind diese Deutschlandbilder der Rückblenden am Umgang mit politischen Gedenktagen. Sie sind offenbar Katalysatoren von Selbstverständnisdebatten in zunehmend hoher Intensität. Aber auch die Nachfragen nach der Funktion von Geschichte dokumentiert den Trend, neue, historisch begründete Deutschlandbilder zu entwerfen. In Teilbereichen gibt es auch nationalistische Tendenzen in Form des Versuchs der Funktionalisierung von Geschichte, zur Wiederbelebung nationaler Geschichtsbilder und zur Konsolidierung eines Geschichtsbewußtseins auf der Basis des nunmehr Erreichten
III. Politische Kultur der deutschen Frage
Die für die Zeit seit 1972 herauskristallisierten neun Deutschlandbilder sind in ihrer Substanz ein Mosaik aufeinanderbezogener Selbst-und Fremdbilder. Diese Bilder sind als Bewußtseinsstrukturen individuell unterschiedlich ausgeprägt. Ihre jeweilige Intensität etwa als Leitbilder hängt von aktuell bedingten Anforderungen ab. Sie sind damit immer situativ und kontextbezogen. So ist seit etwa 1977 eine deutliche Umdimensionierung unserer Wahrnehmungsfelder analysierbar, die Topoi Nation, Deutschland bzw.deren semantisches Umfeld sind in den Vordergrund gerückt. Zusammenfassend lassen sich folgende Akzentuierungen der deutschen Frage festhalten:
1. Der zeitliche Längsschnitt zeigt Variationen der deutschen Frage als geistig-politische Standortfra-gen. Leitmotivisch geht es um Suchbilder nach Deutschland und gleichzeitig um den Versuch, sich selbst zu begreifen. Selbstdefinition und Fremdabgrenzung sind für die Bundesbürger nach dem Grundlagenvertrag offenbar noch vager geworden. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand steigen sogar die Nachfragen nach geistig-politischen Standortbeschreibungen. 2. Die Debattenschwerpunkte und Argumentationsfiguren verweisen schon sprachlich auf die Variationen der deutschen Frage in der intellektuellen Öffentlichkeit. Anerkennung und Selbstanerkennung. statusrechtliche Probleme. Fragen des Systemgegensatzes wandeln sich zu Selbstverständnis-debatten und Identitätsnachfragen. Die deutsche Frage wird so seit Mitte der siebziger Jahre stärker als vorher subjektiviert. personalisiert und entpolitisiert, wenn das geringe Interesse an Fragen des Systemwettbewerbs mit berücksichtigt wird. Im Vordergrund stehen subjektive, individuelle und kollektive Dispositionen. Die Argumentationsmuster verlaufen unter Bezugnahme auf subjektive Lebensformen, Werte, Bedürfnisse, Identitätsansprüche. 3. Diese moderne Fassung der deutschen Frage ist eingebettet in übergeordnete Zeitströmungen seit Mitte der siebziger Jahre. Die Neigung zur Binnen-orientierung, die Rückkehr auf die eigenen, inneren Probleme kennzeichnet die Signatur der siebziger. Die deutsche Frage ist integriert in diese Klimaveränderungen. Sie stellt sich deshalb als Thema unserer politischen Kultur, als Frage nach den Werten. Orientierungen, Einstellungen, nach dem Selbstverständnis der Deutschen heute. Dabei ist nach einem ökologisch-friedenspolitisch und deutsch-deutschen, historisch-kulturell geprägten Selbstverständnis gefragt. Hierin läßt sich die Aktualität der deutschen Frage nachweisen. Die Nation dient dabei häufig nur als Vehikel für andere Ambitionen nach konkreter Sinnerfüllung.
4. Die DDR ist dabei noch immer Teil unseres Selbstverständnisses. Das gewachsene Interesse an der DDR hat sich jedoch entsprechend den neuen Anforderungen und Ausprägungen der deutschen Frage gewandelt. Dahinter stecken sowohl ein Bedürfnis nach Information vor allem über den Alltag der DDR wie historisch-kulturell gefärbte gesamtdeutsche Bewußtseinsprofile. Sie legen die Erinnerungsspuren an die gemeinsame Vergangenheit neu offen und provozieren gleichzeitig in der Kategorie der neuen Betroffenheit eine ganze Palette neuer deutsch-deutscher Gemeinsamkeiten vom ökologischen bis friedenspolitischen Engagement.
5. Die aktuelle Brisanz der deutschen Frage, ihre Qualität als Zeitgeist-Chiffre hängt mit dem Identitätsbegriff zusammen. Identität bündelt zeit-adäquat die drei Problem-Dimensionen der deutschen Frage:
— die historisch-politische, als Frage nach den Traditionslinien deutscher Standortsuche, nach dem stets strittigen Geltungsbereich und vorrangigen Bezugspunkt der Deutschlandbilder;
— die politisch-strategische, als Frage nach den West-Ost-Koordinaten der Bundesrepublik zwischen Westbindung, Ostverbindung und Mittel-lage; die Problematik, fester Bestandteil des demokratischen Westens zu sein ohne gleichzeitig zu leugnen, daß wir als Deutsche einer Nation angehören. die in zwei Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen aufgeteilt ist;
— die politisch-kulturelle, als Frage nach den normativen Bindungen der westdeutschen Demokratie. nach der Spannung zwischen Zugehörigkeit zum Westen bei gleichzeitiger Suche nach antiwestlicher Eigenart, nach den spezifischen Verarbeitungsmustern von Modernitätserfahrungen in Deutschland.
Die Ursachen für die skizzierten Akzentverlagerungen der deutschen Frage seit 1972 sind vielschichtig — sie sind international und national bedingt. Nach dem Vierteljahrhundert eines unvergleichbaren Wirtschaftswachstums war die Zeit nach 1972 eine Zeit der Rückschläge und des Zweifelns, eine Mischung aus Protest und Populismus. Manche der Schocks der siebziger Jahre erwiesen sich als wenig dauerhaft. Aber sie hinterließen Narben. Der Verlust sichernder Leitbilder und stabiler Prognosen hat dabei offenbar das Bedürfnis nach trans-rationalen Verankerungen. nach einer tiefer grundierten Identität und sogar nach kollektiv vermittelter Sinn-stiftung wachsen lassen.
Die intellektuellen Deutschlandbilder markieren mit ihren Portraits, Profilen und Prognosen, wie sehr die deutsche Frage heute mit Grundfragen des Sebstverständnisses und der politischen Kultur der Bundesrepublik verknüpft ist. Als Suchbilder nach Deutschland und Sinnfragen an die moderne Industriegesellschaft sind sie stets bestimmt durch zwei ambivalente Grundgefühle: den Rückblick auf das, was wir waren, aber nicht sein wollten, und die Besinnung auf das, was wir sein könnten, aber nicht sind.