„Neuer Saft in den Graswurzeln“, schrieb Gunther Hoffmann über seinen Leitartikel in der „Zeit“ vom 30. Mai 1986. Mit „Graswurzeln“ sind Basisbewegungen gemeint, die sich in allen Bereichen der Gesellschaft entwickeln: • Umweltschützer, Friedensgruppen, Mieterinitiativen, Frauenhausvereine Auch beim Blick in die Vergangenheit bewegt sich das Wurzelwerk: Mit dem Anspruch, „Geschichte von unten“ zu betreiben, schließen sich in Städten und Dörfern historisch Interessierte und Historiker zu „Geschichtswerkstätten“ zusammen. Für den Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann repräsentieren Geschichtswerkstätten „derzeit vermutlich den am schnellsten wachsenden Bereich kultureller Tätigkeit“ — eine bemerkenswerte Beobachtung, wenn man bedenkt, daß noch vor zehn Jahren solche Initiativen gänzlich unbekannt waren.
I. Geschichtswerkstätten: Kulturinitiativen und Bildungsmaßnahmen
Erste Ansätze zur Gründung von Geschichtswerkstätten waren Ende der siebziger Jahre zu verzeichnen. In Konstanz gründeten rund 20 historisch Interessierte und Historiker im Januar 1979 den „Arbeitskreis Regionalgeschichte“. Den Anstoß dazu hatte die Projektgruppe „Regionale Sozialgeschichte“ an der Universität Konstanz gegeben. Diese Gruppe hatte im Jahr zuvor eine umfangreiche Studie über die Industrialisierung der Region vorgelegt Obwohl sie mit diesem Buch gezielt in die Diskussion über die heutige politische und wirtschaftliche Entwicklung der Region eingreifen wollte, nahm kaum jemand von der Arbeit Notiz. Die Historiker überdachten daraufhin die Formen, mit denen Geschichte vermittelt wird. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß Bücher allein nicht ausreichen, um historische Forschungsergebnisse zu verbreiten. Deshalb gründeten sie den Arbeitskreis, der sozial-geschichtliche Stadtführungen anbietet. Broschüren herausgibt und Ausstellungen veranstaltet. Neben den Wissenschaftlern schlossen sich dem Arbeitskreis, der heute etwa 100 Mitglieder hat. Lehrer. Archivare und andere historisch Interessierte, vor allem aus den Bildungs-und Sozialberufen. an
Aus dem Interesse an „einer nicht an den akademischen Wissenschaftsbetrieb gebundenen Arbeitsweise“ heraus gründete eine sozial und altersmäßig gemischte Gruppe im Herbst 1980 die „Berliner Geschichtswerkstatt“, die sich zunächst in dem vor allem von Alternativprojekten genutzten Mehringhof niederließ. Seit Oktober 1982 betreibt die Gruppe einen eigenen Laden in Schöneberg. Die Berliner Geschichtswerkstatt hat mittlerweile 110 Mitglieder und einen aktiven Kern von 20 bis 30 Leuten. Die Gruppe ist aus der alternativen Bewegung und Wissenschaftskritik hervorgegangen. Die Mitglieder erforschen Stadtteilgeschichte, sammeln Materialien alternativer Bewegungen und arbeiten in einigen Heimatmuseen in den Berliner Bezirken mit. Im Rahmen der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 hat die Geschichtswerkstatt drei Ausstellungen zur Stadtteilgeschichte durchgeführt
In Hamburg sind eine ganze Reihe von Geschichtsgruppen aktiv. Bereits im Frühjahr 1980 wurde das Stadtteilarchiv Ottensen als „Sammelstelle für Geschichte und Geschichten“ gegründet Diese größte und aktivste Hamburger Gruppe hat im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Hamburger Senats eine ehemalige Nagelfabrik gekauft, die sie zu einem Zentrum historischer Kulturarbeit ausbauen möchte. Die Hamburger Kulturbehörde hatte 1983 ihre Stadtteilkulturaktion unter das Motto „Lebendige Stadtteilgeschichte“ gestellt und damit die Geschichtsarbeit in den Stadtteilen gefördert. An dieser Aktion hatten sich über 15 Gruppen beteiligt
In Hannover schlossen sich 1984 schon länger aktive historische Arbeitskreise aus den Arbeiter-Freizeitheimen mit Arbeitsgruppen und Wissenschaftlern der Universität zur „Geschichtswerkstatt Hannover“ zusammen, die sich als Dachverband der verschiedenen Projekte versteht.
Viele weitere solcher Beispiele lassen sich aufzählen. Geschichtswerkstätten arbeiten in Marbach und in Solingen, in Darmstadt. Göttingen und Regensburg. ja, selbst in kleinen Landgemeinden wie etwa im niedersächsischen Wustrow (Kreis Lüchow-Dannenberg) hat man intensiv mit der Aufarbeitung der lokalen wie regionalen Wirtschafts-und Sozialgeschichte begonnen. In rund 50 Städten und Gemeinden bestehen derartige Geschichtsgruppen, die sich oft auch themenzentriert gebildet haben, wie beispielsweise der „Verein zur Geschichte der Glasindustrie und ihrer Arbeiter in Oldenburg“ oder der „Förderverein Historische Spinnerei Gartetal" (bei Göttingen), der eine alte Spinnerei als aktives Museum in Betrieb nehmen möchte
Neben diesen Kulturinitiativen gibt es seit Mitte der achtziger Jahre in einer Reihe von Städten Geschichtswerkstätten. die als Bildungsmaßnahmen von Volkshochschulen. Kulturämtern und anderen Bildungseinrichtungen ins Leben gerufen wurden. Oft betreut von Mitgliedern der Kulturinitiativen, erforschen hier vor allem ältere Menschen die Geschichte ihres Stadtteils oder ihres Dorfes. Sie betreiben mit diesen sehr konkreten Erkundungen so etwas wie Werkstattarbeit. So erforschten beispielsweise in Singen (Hohentwiel) 1987 Geschichtswerkstätten die Geschichte zweier dörflicher Stadtteile, eine weitere Geschichtswerkstatt erkundete die Geschichte der Arbeiter in einem früheren Arbeiter-viertel und gestaltete einige Tafeln für den neu angelegten „Singener Geschichtspfad“
Zwei dieser „Bildungsmaßnahmen“ im Ruhrgebiet sind in letzter Zeit durch bemerkenswerte Bücher hervorgetreten: Eine auf Initiative von Kulturamt und Volkshochschule in Recklinghausen entstandene Gruppe von Bergarbeitern legte einen großen Bildband zur Geschichte ihrer Zechensiedlung Hochlarmark vor. Bezeichnender Titel des Bandes: „Kohle war nicht alles“ — es geht also um die Verbindung von Arbeitsleben. Haushalt und Freizeit. Gleichfalls über die Geschichte ihrer Zeche Gneisenau und der dazu gehörenden Siedlung arbeitete eine Gruppe der Volkshochschule Dortmund: „Leben mit Gneisenau, hundert Jahre . . .“ heißt ihr 1986 erschienenes Buch In den beiden Zechensiedlungen ist aus der Bildungsmaßnahme eine Kulturinitiative entstanden: Die Mitglieder der Geschichtsgruppe in Hochlarmark berichten, daß sie nach der Arbeit an dem Bildband und der damit verbundenen Ausstellung im Stadtteil „ihre Siedlung mit anderen, bewußteren Augen sehen“ und sich stärker mit Fragen der künftigen Entwicklung beschäftigen. In Dortmund entstand aus der Volkshochschulgruppe eine Initiative, die sich dafür einsetzt, die inzwischen geschlossene Zeche in ein Museum umzuwandeln.
Bei den Bildungsmaßnahmen von Volkshochschulen und Kulturämtem treffen wir eher ältere Leute an. Aus dem Thema und aus der Sozialstruktur des Ortes ergibt sich die soziale Zusammensetzung: In der Geschichtswerkstatt der Zechensiedlung überwiegen Bergleute bzw. ehemalige Bergleute. Bei den Kulturinitiativen machen hingegen vor allem jüngere Leute mit: Studenten, junge Wissenschaftler, Angehörige freier Berufe, arbeitslose Akademiker. Angestellte im öffentlichen Dienst und in Sozialberufen; gewerbliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hingegen eher selten. Damit ähneln die Geschichtswerkstätten in ihrer sozialen Zusammensetzung den anderen Initiativen und „Graswurzeln“: den neuen sozialen Bewegungen
Sind die „Bildungsmaßnahmen“ in der Regel nur aufein örtliches Thema konzentriert und oft zeitlich begrenzt, so haben sich die Kulturinitiativen schon 1983 zu einem lockeren überregionalen Verbund, der Geschichtswerkstatt e. V., zusammengeschlossen.
II. Die bundesweite Geschichtswerkstatt e. V.
Anfang 1981 wandte sich eine Gruppe von Historikerinnen und Historikern aus Hannover an befreundete Wissenschaftler anderer Universitäten. Die Gruppe wollte eine neue Zeitschrift gründen, um neueren Ansätzen in der Geschichtswissenschaft wie Alltagsgeschichte, mündliche Geschichtsforschung oder der Geschichte der Psyche stärker Gehör zu verschaffen. Von Wissenschaftlern aus Konstanz und aus Göttingen erhielt die Gruppe zur Antwort, daß man grundsätzlich zwar an einem neuen Diskussionsforum interessiert sei. dieses aber seine Grundlage in örtlichen Geschichtsinitiativen haben müsse. Bei einem Treffen im November 1982 in Göttingen einigten sich die 70 Historikerinnen und Historiker darauf, baldmöglichst einen überregionalen Zusammenschluß von Geschichtsinitiativen und Wissenschaftlern, die „Geschichtswerkstatt e. V.“ zu gründen. Diese Gründung erfolgte im Mai 1983 bei einem zweiten Treffen in Bochum
Die neu gegründete Geschichtswerkstatt e. V.organisiert von diesem Zeitpunkt an jährlich bundesweite Treffen, auf denen praktischer Erfahrungsaustausch, theoretische Diskussion und gemeinsame kulturelle Aktivität ermöglicht werden sollen. Diese Treffen werden „Geschichtsfeste“ genannt, um damit den über klassische Tagungen hinausreichenden kulturellen Anspruch der Werkstätten zu verdeutlichen. Das erste Geschichtsfest fand Ende Mai 1984 in Berlin statt. 300 Teilnehmer wurden erwartet, fast 1 000 kame Die nächsten Geschichtsfeste fanden in Hamburg, in Dortmund und 1987 in kleinerem Umfang in Konstanz statt. Das Geschichtsfest 1988 wird Anfang Juni in Hannover durchgeführt.
Die Geschichtswerkstatt e. V. gibt dreimal im Jahr ein Mitteilungsheft mit dem Namen „Geschichtswerkstatt“ heraus, das im Wechsel von den lokalen Gruppen redigiert wird. Zum Erstaunen vieler Skeptiker gelang das basisdemokratische Experiment wechselnder Redaktionen. Das Heft erscheint regelmäßig und hat sich inzwischen zu einer stattlichen Zeitschrift gemausert, in der sich Berichte von örtlichen Gruppen und Projekten neben theoretischen und methodischen Diskussionsbeiträgen finden Die Idee der Hannoveraner Gruppe, eine Zeitschrift zu gründen, ist so in veränderter Form Wirklichkeit geworden.
Die Geschichtswerkstatt e. V. möchte die lokalen Initiativen vernetzen, Diskussionsmöglichkeiten schaffen und die Bildung neuer Gruppen unterstützen. Dem Vergleich zwischen den erforschten Städten und Regionen sowie dem Erfahrungs-und Meinungsaustausch dienen neben den jährlichen Geschichtsfesten überregionale Arbeitsgruppen, die sich bislang beispielsweise mit Themen der frühen Neuzeit, zum Widerstand, zur Nachkriegsgeschichte, zur Museumsarbeit und zum „Historiker-Streit“ befaßten. In den Geschichtswerkstätten geht es also hinter dem . lokalen Horizont'durchaus noch weiter.
III. Hintergründe: Geschichte im Aufwind
Geschichtsarbeit besonderer Art soll ausgerechnet in der Atomruine Zwentendorf geleistet werden. Hier möchte ein erfolgreicher Kärtner Bauunternehmer das erste „History-Land“ der Welt errichten. In der kleinen niederösterreichischen Gemeinde soll ein Erlebnispark mitteleuropäische Geschichte als spannendes Abenteuer vermitteln. Bis eine Volksabstimmung im Jahr 1978 den Betrieb des bereits fertiggestellten Atommeilers in Zwentendorf untersagte, stand der Name der Gemeinde in der Nähe Wiens für den atomaren Forschritt. Jetzt sollen dort mit Geschichte Geschäfte gemacht werden
Auch ohne dieses symbolträchtige Beispiel zu strapazieren. zeigt ein Blick in Fernsehprogramme, Verlagsprospekte und selbst Kneipeneinrichtungen. daß sich die Geschichte im Aufwind befindet „Im Kontext von Modernisierungskrise und Postmoderne, Fortschrittszweifel und Zivilisationskritik werden Aspekte und Ursachen dieses Klima-wandels diskutiert“, schreibt Jürgen Kocka und Jörn Rüsen meint, daß „die neue Zuwendung zur Vergangenheit ... in einem problematischen Verhältnis zu Zukunftsängsten“ stehe
Das Thema . Angst'ist dem „Spiegel“ im Herbst 1987 zwei große Artikel wert gewesen — Angst Vor der drohenden Wirtschaftskrise. Angst vor atomaren Katastrophen. Angst vor AIDS, Angst hat sich in den letzten Jahren über den Blick in die Zukunft gelegt: „Während die Zukunftsbilder der späten 60er Jahre Utopien waren, geraten solche Bilder heute zu Apokalypsen. Die weitgreifenden Reformentwürfe von damals sind Szenarien des drohenden Untergangs gewichen“, meint der Psychologe Jörg Bopp in einem Aufsatz über „Angst vor der Endzeit“ 20). Angst stellt Fortschrittsoptimismus in Frage — wer im Blick nach vorne keine Sicherheit mehr findet, möchte sich wenigstens in der Geschichte seiner selbst vergewissern oder mit Hilfe der Geschichte Lösungen für die Probleme der Gegenwart finden.
Die tieferliegenden Hintergründe dieser Ängste beschrieb Alexander Mitscherlich als Entfremdung in der Arbeitswelt und als „Spaltungsvorgang sozialen Lebens“. Unsere Gesellschaft hätte bisher von der Substanz an Sicherheit und Geborgenheit gelebt, die in den relativ gleichbieibenden sozialen Erfahrungen vor der Indutrialisierung angesammelt worden sei -Diese Substanz ist jetzt aufgezehrt. „Risiken und Unsicherheiten bestimmen heute das Lebensgefühl vieler“, stellen Joachim Hirsch und Roland Roth in ihrer Studie über das „neue Gesicht des Kapitalismus“ fest. Die „Erschütterung traditionsgeleiteter Sicherheiten“ konnte „in Zeiten beschleunigten Wachstums durch individuelle und kollektive Sicherungssysteme (von der Privatversicherung bis zum Sozialstaat) sowie gesteigerte Zuwachserwartungen kompensiert werden“. Dies sei in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur-krise nicht mehr möglich Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung, aber auch der spürbarer werdende Nord-Süd-Gegensatz zwischen reichen und armen Ländern sowie die Angst vor zunehmender staatlicher Überwachung und sozialer Kontrolle vergrößern die Unsicherheiten, welche die Waren-beziehungen in der Alltagswelt, das anonyme Leben in den Großstädten und entfremdete Berufsarbeit ohnehin mit sich bringen. Aus Unsicherheiten und Zukunftsängsten heraus wächst das Interesse an Geschichte.
Die Folgen dieses gestiegenen Interesses sind unterschiedlich. Sie reichen von der Nostalgie im Alltag über den Neohistorismus in der Architektur bis zu nationalen Gedenkstätten und Nationalmuseen. „Für Werkstätten anstelle von Gedenkstätten“ plädieren Hilmar Hoffmann und der Frankfurter Kulturwissenschaftler Dieter Kramer. Sie haben dabei die Geschichtswerkstätten im Auge, aus denen Werkstätten für eine humane Zukunft werden sollen
Das Entstehen der Geschichtswerkstätten läßt sich jedoch genausowenig wie die anderen Tendenzen linear aus den skizzierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tendenzen ableiten. Gegen eine solche unmittelbare Ableitung spricht beispielsweise. daß in der DDR mit ihrer anders organisierten Wirtschaft ähnliche Erscheinungen zu beobachten sind: Auch dort nimmt das Interesse an der Geschichte allgemein und besonders an lokaler Alltagsgeschichte spürbar zu. Das äußert sich vor allem in den Ortsgruppen der 1979 innerhalb des „Kulturbunds der DDR“ gegründeten „Gesellschaft für Heimatgeschichte“. Als Hintergrund werden aber auch dort Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung angegeben, so beispielsweise die „Anforderungen an die Individuen, die die innere Dynamik des Sozialismus, der Übergang zu intensiven Entwicklungsmodellen stellt“. Wie in der Bundesrepublik trifft auch in der DDR das neue Geschichtsinteresse zusammen mit einer wachsenden „Sensibilität für ökologische Gefahren“. Desgleichen ist eine kritische kultur-und gesellschaftspolitische Stoßrichtung vorhanden: Als Bezugspunkt wird „eine vom Sozialismus als Weltanschauung und sozialer Praxis getragene Kritik an empirischkonstatierbaren Kultur-und Lebensformen“ angegeben. „Der Rückgriff auf das Erbe dient als Reflexions-und Problematisierungsmedium zeitgenössischer Kulturzustände.“
In beiden Ländern entdecken wir also gesellschaftliche Hintergründe des gewachsenen Geschichtsinteresses. In der Bundesrepublik führten einige besondere wissenschaftliche und politische Anstöße dazu, daß die Geschichtswerkstätten-Bewegung als eine der vielfältigen Reaktionen auf dieses Interesse entstanden ist.
IV. Wissenschaftliche und politische Anstöße der „neuen Sozialgeschichte“
Politische Anstöße für den neuen Zugang zur Geschichte ergaben sich daraus, daß die Hoffnungen der siebziger Jahre, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, gescheitert sind. Die sozialliberale Reformeuphorie erstarb im wirtschaftlichen Gegen-wind der Mitte der siebziger Jahre einsetzenden weltweiten Krise. Ebenso erwiesen sich die aus der Studentenbewegung hervorgegangenen reformerischen und revolutionären Hoffnungen als unrealistisch. Dieses Scheitern machte auch die Theorien, von denen die politische Praxis der Reformer und der Revolutionäre ausgegangen war, fragwürdig. Das in der Modernisierungstheorie angelegte Vertrauen auf eine kontinuierlich fortschreitende Reform der Gesellschaft schwand. Der orthodoxe Marxismus-Leninismus, der beanspruchte, den gesetzmäßigen Gang der Geschichte schon vorab zu kennen, verlor nach einer kurzen Blüte wieder viele seiner Anhänger
Man entdeckte, daß — wie auch Jürgen Habermas einräumt — „in die Entwicklung der Moderne strukturelle Selbstgefährdungen eingebaut sind“. Um der „Komplexität und Ambivalenz" des Modernisierungsprozesses (Habermas) auf die Spur zu kommen, interessierten sich Alltagshistoriker und Geschichtswerkstätten daher genauso für Maschinenstürmer wie für die Modernisierer. Sie fragten nicht mehr nur nach Klassen und objektiven Strukturen, sondern auch nach den subjektiven Erfahrungen und Mentalitäten. Diesen Versuch. Strukturen und Erfahrungen, positive und negative Folgen der Modernisierung zu erforschen, hat Roger Fletcher als „new social history" (neue Sozial-geschichte) bezeichnet
In der Wissenschaft konnten solche Fragen jedoch erst gestellt werden, nachdem die Vertreter eines Konzepts von Geschichte als historischer Sozialwissenschaft den Blickwinkel der deutschen Historiker hin zu Wirtschaft und Gesellschaft erweitert hatten — Bereiche, die in der traditionell staats-und politikfixierten deutschen Geschichtswissenschaft bis in die sechziger Jahre hinein unterbelichtet geblieben waren Was führte nun dazu, daß diese aus der historischen Sozialwissenschaft und der seit Anfang der achtziger Jahre aufkeimenden Alltagsgeschichte hervorgegangene „neue Historie“ (Becher/Bergmann) mehr Menschen dazu gebracht hat, „sich selbsttätig mit der für sie wichtigen Vergangenheit auseinanderzusetzen als je eine andere Historie in Deutschland“?
V. Geschichte aus den Graswurzeln
1973 wurde auf Anregung des Bundespräsidenten Gustav Heinemann der Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte“ ins Leben gerufen. Heinemann wollte damit die Erforschung der verschütteten und oft verdrängten demokratischen Traditionen in der deutschen Geschichte fördern. Seither haben sich mehrere tausend Schulklassen aufgemacht, um diesen demokratischen Traditionen nachzuspüren. In den letzten Jahren ging es vor allem um die Geschichte des Alltags: Alltag im Nachkriegsdeutschland. die Veränderungen von Feierabend und Freizeit oder Wohnen im Wandel Aus dieser breiten Basisbewegung heraus entstanden etliche der Geschichtswerkstätten. Bestehende Arbeitskreise, wie beispielsweise in Konstanz, arbeiten mit den Schülergruppen zusammen, veröffentlichen deren Ergebnisse und ermuntern zur Teilnahme an diesem Wettbewerb.
Vor dem beschriebenen Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krisenerscheinungen bildeten sich auch in Parteien und Gewerkschaften zahlreiche Geschichtsarbeitskreise. Gerade als der Stern der Sozialdemokratie wieder zu sinken begann. sollte die Beschäftigung mit der Geschichte Kraft für die aktuellen Auseinandersetzungen bringen. Waren über Jahre hinweg in der praktischen Politik scheinbar nur noch geringe Unterschiede zwischen Sozialdemokraten und Konservativen festzustellen, so sollte das Herausarbeiten historischer Traditionslinien den Mitgliedern und Anhängern der SPD die Identität verschaffen, die sie aus der sozialdemokratischen Regierungspolitik und aus der „sozialpartnerschaftlichen" Orientierung der Gewerkschaften nicht mehr beziehen konnten. In der Krise dieser „alten“ sozialen Bewegungen wurde die Geschichtsarbeit eher noch verstärkt. Man hatte sie als Kraftquelle entdeckt und festgestellt. daß das historische Interesse in der Mitglieder-und Anhängerschaft zunimmt. Geschichte soll auch dazu beitragen, die Fragen und Probleme der gegenwärtigen Politik zu lösen
Auch aus den „Graswurzeln“ heraus floß Kraft in die historische Kulturarbeit: Angefangen von der Volkshochschule im Wyhler Wald, über Frauen-gruppen bis hin zur Friedensbewegung verbreiterte sich das Interesse an früheren „Graswurzel“ -Protesten, Widerstandsformen und Selbsthilfeinitiativen. Die eigene Bewegung, die oft unter dem Verdacht politischer Kurzlebigkeit steht, soll mit Hilfe des Nachweises langer historischer Kontinuitäten an Stabilität gewinnen. Viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geschichtswerkstätten sind selber in den neuen sozialen Bewegungen aktiv — sei es bei Umweltschützern, Frauengruppen, in der Friedensbewegung, in Alternativprojekten oder in Jugendhausinitiativen. Mit ihrer Geschichtsarbeit wollen sie dazu beitragen, die Ziele dieser Bewegungen zu erreichen
Die zunehmende Arbeitslosigkeit unter Geschichtslehrern, Historikern und anderen Sozialwissenschaftlern trug dazu bei. daß ein ausgebildetes Potential für die Geschichtswerkstättenarbeit bereitstand. Arbeitslose Historiker können darauf hoffen, mit Hilfe der Geschichtswerkstätten Projekte von Städten und Verbänden zu realisieren, mit denen sie auch ihre eigene Existenz wenigstens kurzfristig sichern. Dabei bleiben sie im erlernten Berufsfeld tätig und qualifizieren sich durch Praxis-erfahrungen weiter. Allerdings können sich dabei Probleme ergeben, wenn sich der aufklärerische Ansatz der Geschichtswerkstätten-Arbeit nicht mit den Zielen der Auftraggeber in Einklang bringen läßt
Die bundesdeutschen Geschichtsinitiativen brauchten mit ihrer Tätigkeit nicht bei Null anzufangen. Ähnliche Bewegungen arbeiten bereits seit einiger Zeit erfolgreich in Großbritannien und in Schweden. In Großbritannien gibt es seit Anfang der siebziger Jahre in vielen Städten „History Workshops“ in Schweden haben sich, angeregt durch das Beispiel des Schriftstellers Sven Lindquist, etwa 1 600 „Grabe-wo-Du-stehst-Gruppen“ gebildet, in denen Arbeiter und Angestellte die Geschichte ihres Betriebes oder ihres Stadtteils erforschen Die Geschichtsgruppen in Großbritannien und in Schweden sind eng mit der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit verbunden. Ihr Einfluß in Wissenschaft und Gesellschaft ist deshalb bislang stärker als in der Bundesrepublik.
Aus diesen Anstößen heraus entwickelte sich die historische regionale wie örtliche Kulturarbeit in der Bundesrepublik zu einer Art Graswurzel-Bewegung. die eine Herausforderung für die akademische Geschichtswissenschaft darstellt, auch wenn sie dieser zahlreiche Mitglieder und Ideen zu verdanken hat.
VI. Die Praxis der Geschichtswerkstätten
Bei ihren Methoden bemühen sich die Geschichtswerkstätten um eine möglichst breite Vielfalt. Unverzichtbar in der Arbeit der meisten Werkstätten ist die mündliche Geschichtsforschung. Mit der Befragung von Zeitzeugen will man der Geschichte des Alltags und der sozialen Auseinandersetzungen auf die Spur kommen und dem Blickwinkel „von oben“ in den überlieferten amtlichen Akten die Erinnerungen „von unten“ gegenüberstellen. Für Bevölkerungsgruppen, in denen keine Memoiren geschrieben werden, ist dies oft die einzige Möglichkeit, ihre Geschichtserfahrung festzuhalten. So wird die Quellenbasis verbreitert und ein Stück weit demokratisiert
Die mündliche Geschichtsforschung erfordert allerdings eine besonders intensive Quellenkritik, da die historischen Erinnerungen durch spätere Erfahrun-gen geformt und oft verformt sind. Auch die „kleinen Leute“, denen das Interesse der Geschichtswerkstätten und der mündlichen Geschichtsforscher zumeist gilt, waren in der Regel keine Helden. Ihr Bewußtsein ist genauso wie das der Herrschenden von Widersprüchen und Brüchen durchzogen. Weil Geschichtswerkstätten oft Zeit-zeugen befragen, unterstellen ihnen Kritiker.
„Liebhaber des kleinen Mannes“ zu sein Dieser Kritik fehlt es jedoch an aussagekräftigen Belegen:
Eine Idealisierung der „kleinen Leute“ hat bislang ) selten zwischen zwei Buchdeckeln oder auf Ausstellungstafeln der Geschichtswerkstätten Platz gefunden. Die Gefahr, daß dies geschehen könnte, wiegt nicht den Nutzen dieser Methode auf. nämlich den Quellenkanon zu erweitern und subjektive Erinnerung nicht bloß den Memoirenschreibern vorzubehalten. Das beste Mittel, Idealisierungen zu verhindern. ist die vergleichende Diskussion zwischen den Werkstätten und der Austausch zwischen Wissenschaftlern und Basisinitiativen, wie ihn die Geschichtswerkstatt e. V. anstrebt.
Intensiv beziehen die Geschichtswerkstätten auch weitere Quellen in ihre Arbeit ein: etwa die staatlichen Akten, die — wie alle Quellen — ebenfalls von Meinungen und Standpunkten geprägt sind. Daneben werden Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet. aus denen die Vielfalt gesellschaftlichen und politischen Lebens hervorgeht Haushalts-bücher, Fotoalben und Briefe sollen die scheinbar privaten Seiten des Alltagslebens beleuchten.
Die Auswertung von Bild-und Sachquellen wird in den Geschichtswerkstätten oft gefordert, allerdings, zumindest was die Sachquellen betrifft, noch wenig praktiziert Bei der Vermittlung von Geschichte treten neben Büchern und Broschüren fast gleichwertig historische Ausstellungen Stadt-führungen sollen Geschichte vor Ort anschaulich-machen. So wurden die historischen Dampferfahrten der Berliner Geschichtswerkstatt geradezu zu Publikumsrennern. Von dem fast vergessenen Netz der Wasserwege aus erklärt die Geschichtswerkstatt hier die Sozial-und Alltagsgeschichte der Stadt
VII. Themen und Theorien
Die Themen von Kulturinitiativen und Bildungsmaßnahmen sind zumeist regional und lokal. Die Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts steht im Vordergrund. Sehr viele Geschichtswerkstätten beschäftigen sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus. So hat die Solinger Geschichtswerkstatt 1983 eine Ausstellung über die Geschichte der Fremdarbeiter in Solingen von 1939 bis 1945 erarbeitet. Der Arbeitskreis Regionalgeschichte Neu-stadt am Rübenberge hat ein Buch über die Beteiligung des Fliegerhorsts Wunstorf an der Zerstörung Guernicas herausgegeben Die Konstanzer Regionalhistoriker haben in zwei Broschüren die Verfolgung der Juden in den südbadischen Gemeinden Tiengen und Gailingen dargestellt Eine ganze Reihe von Geschichtswerkstätten entstand aus der Erforschung des Nationalsozialismus vor Ort. Der 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 und der 40. Jahrestag des Kriegsendes 1945 verstärkten in den achtziger Jah-ren das Interesse an der Zeitgeschichte. Schon bestehende Geschichtswerkstätten nahmen dieses verstärkte Interesse zum Anlaß, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und kommunalpolitisch Forderungen nach der Aufarbeitung von Widerstand und Verfolgung einzubringen. „Antifaschistische Stadtrundfahrten“ zeigen, wo und wie die Nationalsozialisten in der eigenen Stadt, in der Gemeinde oder im Stadtteil gewirkt hatten
Die Arbeit der Geschichtswerkstätten ist in dieser Hinsicht konfliktträchtiger als die der akademischen Geschichtswissenschaft oder der klassischen historischen Vereine. Dies liegt daran, daß die Geschichtswerkstätten ihre Forschungen in der Regel in die aktuelle gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung hineintragen. Anschaulichkeit und Aktualität machen betroffen. Deshalb erweist sich die Aufarbeitung des Nationalsozialismus vor Ort oft als höchst kontroverse Angelegenheit. So wurde in Velbert eine Ausstellung über die NS-Zeit nach einem heftigen Konflikt stark zensiert. In einer Ausstellung der Dortmunder Geschichtswerkstatt über Zensur hängten Mitarbeiter des städtischen Jugendamts einige Tafeln wieder ab. weil sie ihnen inhaltlich nicht zusagten
Daneben stehen alltaggeschichtliche Themen wie Wohnen. Lernen. Arbeiten oder Feiern im Mittelpunkt der Geschichtswerkstättenarbeit. Stärker als die politische Geschichte von Institutionen interessiert die Geschichte sozialer Gruppen und Vereine. In größeren Geschichtswerkstätten und Initiativen bestehen Arbeitskreise zur Frauengeschichte. Minderheiten wie Sinti und Roma. Hugenotten. Juden. Fremdarbeiter. Auswanderer. Flüchtlinge und Vertriebene interessieren vor allem die freien Kultur-initiativen. In der angestrebten „Geschichte von unten" finden sie ihren Platz neben der historischen Erforschung der großen sozialen Gruppen wie der Arbeiter. Bauern und Handwerker
Nach der Grundsatzerklärung, auf die sich die örtlichen Geschichtsgruppen und die Wissenschaftler bei der Gründung der Geschichtswerkstatt e. V. geeinigt haben, möchten die Mitglieder dieses Zusammenschlusses „insbesondere die Geschichte der Ausgeschlossenen. Unterdrückten und Beherrschten erforschen und dabei die Zusammenhänge von Herrschaft. Unterdrückung und Widerstand“ zeigen. Die Geschichtswerkstätten wollen damit „dem Bild entgegenarbeiten, daß Politik nur jenseits des individuellen Lebens stattfindet, der Alltag und die Menschen aber immer gleich bleiben“. Lokale Geschichte soll auch auf allgemeine Entwicklungen und Strukturen bezogen werden.
Zumindest programmatisch wird daneben „das Erforschen und Vermitteln fremder Geschichte und die Überwindung des Eurozentrismus“ gefordert. Auf dem Geschichtsfest in Berlin wurden von Geschichtsgruppen aus München und Hannover beispielsweise Ausstellungen über den deutschen Kolonialismus in Ostafrika und über die Sklaverei gezeigt.
Wichtig ist die Aussage des Grundsatzpapiers, daß die Geschichtswerkstätten „durch die Erforschung und Darstellung von Geschichte in die politischen und sozialen Auseinandersetzungen unserer Zeit eingreifen“ wollen Dies findet beispielsweise in Berlin oder in Konstanz durch kommunalpolitische Initiativen gegen die Verdrängung der Geschichte des Nationalsozialismus statt. Weiter beziehen sich einige Geschichtswerkstätten mit ihrer Arbeit auf kommunale Auseinandersetzungen wie Sanierungsmaßnahmen oder Hausbesetzungen. Geschichtsarbeitskreise in Gewerkschaften und Parteien greifen Fragen wie Arbeitszeitverkürzung, Rüstungsproduktion oder Betriebsschließungen in historischer Dimension auf Dieser Bezug auf aktuelle Probleme erklärt zu einem Teil den Erfolg der Geschichtswerkstätten auf der einen Seite und die Stagnation der traditionellen historischen Vereine auf der anderen Seite. Diese historischen Vereine waren erfolgreich, als auch sie in ihrer Grün-dungs-und Anfangsphase sich als Bestandteil politischer Projekte verstanden — sei es im Sinne der bürgerlichen Emanzipation oder gegenläufig zur Unterstützung restaurativer Tendenzen Das Interesse, auf das die Geschichtswerkstätten gerade bei jungen Leuten stoßen, erklärt sich vielleicht aber auch aus der Absicht, „kooperative und soli-darische Arbeitsformen“ zu erproben. Laut Grundsatzpapier sollen „arbeitshemmende, hierarchische Rituale“ in Frage gestellt werden.
Weder bei der bundesweiten Geschichtswerkstatt e. V. noch bei den einzelnen Werkstätten und Arbeitskreisen gibt es ein verbindliches Theoriengebäude. Vermittelt über die Wissenschaftler, die in den Geschichtswerkstätten mitarbeiten, finden jedoch einige wissenschaftlich fundierte Theorien ihren Niederschlag. Ausgehend von dem Ansatz der historischen Sozialwissenschaft wird Gesellschaftsgeschichte nicht nur beschrieben, sondern auch theoretisch gedeutet. Mit Hilfe britischer, amerikanischer und französischer Forschungsarbeiten werden u. a. undogmatische marxistische Theorien — wie beispielsweise die von Antonio Gramsci — verarbeitet. Hierbei ist vor allem ein erweiterter Kulturbegriff interessant, der kulturelle Erscheinungen in ihrer Wechselwirkung zur sozial-wirtschaftlichen Entwicklung untersucht und sie nicht nur aus der Ökonomie ableitet Die Horizonterweiterung zur Alltagsgeschichte hin stützt sich ferner in vielen Fällen auf Methoden und Theorien der Volkskunde und der Völkerkunde Frauengeschichtsprojekte verarbeiten feministische Theorien
Die Kritik an staatlicher Politik und an vom Staat betriebener Modernisierung geht oft von den Theorien Michel Foucaults aus. die allerdings in den anderen westlichen Ländern — ähnlich wie die oben benannten theoretischen Ansätze — bereits Bestandteil auch der akademischen Geschichtswissenschaft sind Insofern zeichnen sich die Geschichtswerkstätten. wo sie aktiv theoretische Arbeit betreiben, durch eine besondere Hellhörigkeit aus.
VIII. Perspektiven: aufklärerische Alternativen zur „nationalen Identität“?
Die Geschichtswerkstätten nehmen einen Kerngedanken der Aufklärung auf: Sie streben an. daß möglichst viele Menschen ihren Verstand frei gebrauchen und ihn auch zum Erforschen der eigenen Geschichte anwenden. Vor diesem Ziel bauen sie keine Hürden auf. sondern versuchen, das Wissen und die Methodik der Geschichtswissenschaft zu verallgemeinern. Ausgerechnet von den „Historischen Sozialwissenschaftlern“ der Bielefelder Schule, ohne deren Horizonterweiterung der Geschichtswissenschaft hin zu Wirtschaft und Gesellschaft die Geschichtswerkstätten nicht denkbar sind, kam jedoch der massive Einwand, die Geschichtswerkstätten würden vom aufklärerischen Gedankengut des Abendlands abrücken -Wie Thomas Lindenberger in seinem „Plädoyer für einen rationalen Dialog“ deutlich gemacht hat, findet dies in der Praxis der Geschichtswerkstätten keine Begründung Es scheint eher so, daß sich die „Historischen Sozialwissenschaftler“ in der Rolle des Zauberlehrlings wiederfinden: Sie haben den sozialwissenschaftlichen Methoden Eingang in die Geschichtswissenschaft verschafft und sind nun verblüfft. wenn diese Methoden — wie in den anderen Sozialwissenschaften — aufklärerisch und aktivierend wirken. Dabei müßte doch die Tatsache, daß sich das Prinzip der Aktionsforschung mit Betroffenen mit Hilfe der Geschichtswerkstätten nun auch in der Geschichtsforschung ausbreitet, eigentlich als Erfolg ihres Ansatzes verstanden werden
Beispiele aus dem Ruhrgebiet zeigen, daß der Austausch zwischen Sozialhistorikern und Geschichtsinitiativen durchaus fruchtbar sein kann. So haben Mitarbeiter des von Lutz Niethammer geleiteten Projekts „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930— 1960“ zahlreiche Anstöße für die Arbeit von Geschichtsgruppen und Geschichtswerkstätten — wie z. B. im bereits erwähnten Hochlarmark — gegeben, während die Projekt-gruppe in der eigenen Arbeit wieder von Anregungen und Kontakten aus dieser Aktionsforschung profitiert hat Diesen Erfahrungsaustausch, verbunden mit theoretischer und methodischer Diskussion. möchte die bundesweite Geschichtswerkstatt e. V. herstellen und damit den Vergleich zwischen den verschiedenen orts-und regionalgeschichtlichen Projekten ermöglichen. Die Wissenschaftler innerhalb des Zusammenschlusses bemühen sich darum, theoretische und methodische Ergebnisse ihrer Arbeit in die Geschichtswerkstätten einzubringen, um andererseits wieder von der Praxiserfahrung der örtlichen Gruppen zu lernen.
Wer jedoch wie Hans-Ulrich Wehler fordert, „zwischen den wissenschaftlich geschulten, sozialgeschichtlich. wirtschaftsgeschichtlich, politikgeschichtlich oder auch ethnologisch orientierten Historikern und den alternativkulturellen . Barfuß-Historikern’ scharf zu unterscheiden“ trägt dazu bei. diesen durchaus auch im Interesse der Geschichtswissenschaft sinnvollen Austausch zwischen „Theoretikern" und „Praktikern“ zu unterbinden. Dabei hatte gerade Wehler selber noch vor nicht allzu langer Zeit die Folgen solcher Ausgrenzungsversuche erfahren. Zurecht kritisierte er damals eine „Kollektivmentalität, die mit Hilfe effektiver Zulassungs-und Verteidigungsmechanismen Andersdenkende aus der . Zunft'femhielt und ihnen dann ein . wissenschaftliches* Geschichtsbild absprach" -In letzter Zeit jedoch hat die Gesprächsbereitschaft der „Historischen Sozialwissenschaftler“ deutlich zugenommen, wie die letzten Diskussionsbeiträge von Jürgen Kocka und auch von Wehler selbst zeigen
Dies erklärt sich auch daraus, daß die Meinungsunterschiede zwischen Geschichtswerkstätten und Alltagshistorikem auf der einen Seite und „Historischen Sozialwissenschaftlern“ auf der anderen Seite geringfügig erscheinen im Vergleich zu den großen derzeitigen Kontroversen: Der „Historiker-Streit“ und die Auseinandersetzungen um die Museums-projekte der Deutschen Bundesregierung, deren Umsetzung und Ausgestaltung zentrale kulturpolitische Weichenstellungen darstellen In diesen Kontroversen finden sich „Historische Sozialwissenschaftler“ und Geschichtswerkstätten auf der gleichen Seite wieder.
Gerade beim „Historiker-Streit“ geht es um Kernfragen der Deutung deutscher Geschichte Einige Historiker, angeführt von Michael Stürmer, entdecken die „Nation als sinnstiftende Kraft“ wieder. Sinnstiftung und nationale Identität sollen die von diesen Historikern durchaus eingeräumten negativen Folgen der wirtschaftlich-technischen Entwicklung kompensieren Wenn die materielle historische Überlieferung — wie alte Stadtbilder oder Naturlandschaften — vielerorts . Modernisierungserfordernissen* wie Straßenbau. Energieversorgung oder innerstädtischen Sanierungen weichen müssen; wenn traditionelle familiäre und örtliche Bindungen in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zerschnitten werden, weil die Menschen . mobil* sein und dorthin ziehen sollen, wo es Arbeit gibt; wenn klassische Wirtschaftssektoren wie Stahl. Textil oder die Landwirtschaft der .freien* Weltmarktkonkurrenz oder den EG-Reglementierungen geopfert werden — dann steht zu befürchten, daß Geschichte ideologisch die daraus resultierenden Des-. Orientierungen und Unsicherheiten auffangen soll.
Mit dem Rückgriff auf die deutsche Geschichte ergeben sich dabei jedoch besondere Probleme. Kann die Geschichte einer Nation, deren letzte Phase nationaler Einheit im Massenmord endete, positive Identität stiften?
„Den wirkungsvollsten Gegenpart“ zur nationalen Identitätsstiftung, „zu den glättenden konservativen Interpretationen“ bieten nach Meinung der Historikerin Ingrid Laurien die lokalen und regionalen Geschichtswerkstätten. Sie weist darauf hin. daß Geschichtswerkstätten und „Historische Sozialwissenschaftler“ das gleiche erkenntnisleitende Interesse hätten, „nämlich das Interesse an den . underdogs'der Geschichte, den Unterschichten, den ausgebeuteten Klassen, an denjenigen, die im historischen Prozeß immer nur die Opfer waren und zum Schweigen verurteilt wurden. In der Erforschung ihrer Lebensumstände und deren Wandlungen können sich Strukturhistoriker und die neuen Geschichtsbewegungen sinnvoll ergänzen. Hier wirkt sich aus. daß die neuen Bewegungen die moralische Triebkraft, die einst die . linken'Historiker geleitet hatte, übernommen haben.“
Daraus ergeben sich Perspektiven für die neuen Kulturinitiativen: Sie können zum einen bei der Suche nach dezentralen und demokratischen Antworten auf die unleugbaren Bedürfnisse nach historischer Orientierung und Spurensicherung helfen, um diese Bedürfnisse nicht zum Ausgangspunkt eines neuen Nationalismus werden zu lassen. Und sie können des weiteren soziale Basisbewegungen bei deren Versuch unterstützen, die Lösung von Problemen der Gegenwart umfassender anzugehen. Denn diese Bewegungen sollten, wie Joachim Raschke schreibt, aus der Geschichte „ein Bewußtsein beziehen vom hohen Zeitbedarf struktureller Veränderungen und vom langen Atem, ohne den kollektive Aktion bald endet“