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Zeitgeschichte — Fragestellungen, Interpretationen, Kontroversen | APuZ 2/1988 | bpb.de

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APuZ 2/1988 Zeitgeschichte — Fragestellungen, Interpretationen, Kontroversen Das Deutsche Historische Museum in Berlin Perspektiven und Ziele, Entstehung und gegenwärtiger Stand Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Strukturgeschichtliche Darstellung im Museum Geschichte aus den „Graswurzeln“? Geschichtswerkstätten in der historischen Kulturarbeit

Zeitgeschichte — Fragestellungen, Interpretationen, Kontroversen

Horst Möller

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zeitgeschichte gibt es nicht erst seit dem 20. Jahrhundert, sondern sie ist so alt wie historisches Denken überhaupt. Zeitgenossenschaft und fundamentale Erschütterungen, beispielsweise Revolutionen, konstituieren Zeitgeschichte. Das kollektive Gedächtnis einer Nation — und damit die Entwicklung spezifisch zeitgeschichtlichen Bewußtseins — differiert national, so daß der Beginn der . Zeitgeschichte'in den einzelnen Staaten unterschiedlich sein kann. Der Beitrag skizziert die Bedeutung der Epochenjahre 1917 und 1945 sowie die Rolle der NS-Diktatur für das zeitgeschichtliche Verständnis in Deutschland und diskutiert einige methodologische Konsequenzen. Eine Fixierung des Beginns ist für die Zeitgeschichte ebenso charakteristisch wie ein offenes Ende, eine Verschiebung von Fragestellungen ebenso wie die Veränderung und extreme Erweiterung des Quellen-materials. Auch Zeitgeschichte altert. Außer einem Überblick über die Forschungskontroversen zur NS-Diktatur setzt sich der Beitrag kritisch mit einigen Interpretationskategorien für die historische Erforschung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auseinander, vor allem mit der These einer . Restauration' nach 1945. Dieser Einschätzung werden innen-und außenpolitische Fundamentalentscheidungen sowie vorgegebene Entwicklungen gegenübergestellt, die die Radikalität des Neubeginns nach 1945 über manche Kontinuitäten hinweg beleuchten. Berücksichtigt werden überdies spezifische Perzeptionsprobleme der zeitgeschichtlichen Forschung und ihre politische Wirkung.

I. Begriff und Tradition

Zu keiner Zeit verzichteten Historiker darauf, die Geschichte ihrer eigenen Zeit zu schreiben; schon immer ließen sich Geschichtsschreiber durch ihre Gegenwart zu Fragen anregen und übertrugen solche Anregungen auf Epochen, die jenseits ihres eigenen Erfahrungshorizonts lagen.

Der erkennende Historiker steht zu seinem Untersuchungsgegenstand nicht notwendig in einem Verhältnis vorgegebener Distanz: Die Distanzierung des Untersuchungsgegenstandes ist oft erst Teil seiner Arbeit und trägt zu ihrer Wissenschaftlichkeit bei. Zwischen der prinzipiellen Relativität historischer Interpretation und dem regulativen Postulat der Objektivität oszilliert die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte. Zeitgeschichte unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der der alten, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Historie.

Standortgebundenheit konstatierten schon Methodologen des 18. Jahrhunderts, doch ließ auch die Forderung nicht lange auf sich warten, die da lautet, Geschichte müsse vom Gegenstand der Erkenntnis her geschrieben werden. Rankes vielzitiertes Diktum.der Geschichtsschreiber solle darstellen, wie es eigentlich gewesen sei. bereitete sich schon im 18. Jahrhundert vor. Der komplementäre Grundsatz. historische Interpretation müsse vom Selbstverständnis der jeweils untersuchten Epoche ausgehen, prägte den seit dem 18. Jahrhundert sich ausbildenden und bei Ranke zur Höhe gelangenden Historismus.

Führten solche methodologischen Einsichten zum Verzicht auf Zeitgeschichtsschreibung? Keineswegs! Zeitgeschichtsschreibung ist alt — so alt wie Geschichtsschreibung überhaupt. Schon Thukydides’ (460—ca. 400 v. Chr.) Geschichte des Peloponnesischen Krieges war Zeitgeschichtsschreibung, schon er bemühte sich indessen um tatsachengetreue Berichterstattung, die er allerdings durch literarisch wirkungsvolle Einschübe fiktiver Reden auflockerte, in denen Motive. Handlungstypen so-3 wie politische Konstellationen verdichtet werden sollten. Aufschlußreich ist, wie Thukydides die Begrenzung seines Untersuchungsgegenstandes begründete: Der Peloponnesische Krieg habe die „bei weitem gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja . . . unter den Menschen überhaupt“ gebracht. Und weiter: Was vor diesem Krieg geschehen sei. das sei „wegen der Länge der Zeit unmöglich genau zu erforschen“.

Beide Begründungen des Thukydides’ finden sich auch im neuzeitlichen Verständnis von Zeitgeschichte. Das beschriebene historische Ereignis machte die Miterlebenden zutiefst betroffen; es war erkennbar, weil es zeitlich nahe lag. Nicht in jeder Epoche hat solch fundamentale Betroffenheit den Charakter der Zeitgeschichtsschreibung indes in gleichem Maße geprägt. Weder Friedrich der Große, der wie Caesar zur Feder griff, um 1775 die Histoire demon temps zu schreiben, noch die übrigen Historiker des 18. Jahrhunderts, die wie Schlözer. Gatterer oder Spittler ihre historischen Werke bis an die Schwelle der eigenen Zeit heraufführten, fühlten sich in ihrer persönlichen oder kollektiven historisch-politischen Existenz fundamental erschüttert.

Wandel brachte erst die Französische Revolution; sie berührte wie kein anderes Ereignis seit der Reformation die Geschichtsschreiber im Kem ihrer politischen und moralischen Überzeugungen. Die Revolution stimulierte die Zeitgeschichtsschreibung. und auch der Begriff findet sich: Lorenz von Stein beispielsweise deutete die Zeitspanne zwischen 1789 und 1830 bzw. 1848 als einheitliche Epoche revolutionärer Umwälzung und nannte seine zuerst 1842 und dann 1850 in erweiterter und aktualisierter Form publizierte Darstellung ausdrücklich einen „Beitrag zur Zeitgeschichte“.

Es ist kein Zufall, daß sich die Periodisierung der Zeitgeschichte national unterschiedlich ausprägen kann, da für die Erfahrung fundamentaler Umbrüche das kollektive historisch-politische Gedächtnis einer Nation, das die Fachhistorie reflektiert, eine konstitutive Funktion besitzt. So beginnt die „Histoire contemporaine" in Frankreich mit dem Ausbruch der Revolution am 14. Juli 1789, obwohl die moderne Revolutionsforschung dieses Datum durchaus relativiert hat. Und in England bildet die Parlamentsreform von 1832 einen solchen Einschnitt, daß mit ihr die „Contemporary History" beginnt. Der Begriff „Current History“ bezeichnet unverkennbar die Gegenwärtigkeit und Unabgeschlossenheit, die zeitgeschichtliches Verständnis im engeren Sinne charakterisiert.

Auch der Begriff „Zeitgeschichte“ besitzt in der deutschen Sprache eine lange Tradition; in der Pluralform „Zeitgeschichten“ ist er bereits 1657 beim Barockdichter Sigmund von Birken nachweisbar und wurde seit Johann Christian Günther im 18. Jahrhundert immer wieder gebraucht, meist mit Der Ausgangspunkt der deutschen Zeitgeschichtsschreibung nach 1945 scheint auf den ersten Blick in Ost und West identisch zu sein. So suchte 1946 Alexander Abusch, im sowjetischen Sektor von Berlin lebend, den Irrweg einer Nation zu ergründen, während der Westberliner Friedrich Meinecke Betrachtungen über Die deutsche Katastrophe anstellte: Beide fragten nach dem Ort der nationalsozialistischen Diktatur in der deutschen Geschichte, beide fragten nach deren Kontinuität, beide fragten aus einer individuellen und kollektiven Erfahrung heraus, die kaum erschütternder vorstellbar ist.

Trotz aller Unvollkommenheit der unmittelbar nach dem Ende des Dritten Reiches einsetzenden Deutungsversuche bescheinigte Meinecke doch den frühen Interpretationen einen uneinholbaren Vorzug gegenüber den späteren, mochten diese auch noch so quellengesättigt sein: Schriftliche Quellen, so schrieb er. können eines nicht ersetzen — den „Hauch der Zeitatmosphäre, in der sich unser Schicksal vollzog und die man kennen muß. um dies Schicksal ganz zu verstehen“. Dabeigewesen zu sein konstituiert jedoch keineswegs schon allein historisches Verständnis oder auch nur eine angemessene Wiedergabe der Fakten. Viele Augenzeugenberichte sind bereits im alltäglichen Leben unzulänglich — wieviel unzulänglicher müssen sie sein, wenn komplexe historische Vorgänge und eine unübersehbare Zahl von Schauplätzen einer historischen Epoche beschrieben werden sollen!

Bezug auf die jeweils neueste Geschichte, über die sich die Schriftsteller und Publizisten öfter äußerten als die Fachhistoriker. Während des 19. Jahrhunderts schrieben dann nicht allein Außenseiter Zeit-geschichte, sondern nahezu alle großen Neuzeit-historiker, seien es nun Ranke, Sybel oder Treitschke. Und keiner dieser Historiker scheute sich, Wertungen in die Darstellung einzubringen, wenngleich Ranke in dieser Hinsicht erheblich zurückhaltender war als die beiden anderen Genannten.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als sich Zeitgeschichte im heutigen Verständnis zu konstituieren begann, tauchten wesentliche der hier angedeuteten methodologischen Sachverhalte in modifizierter Weise wieder auf. Eine „Stunde Null“ ist der 8. Mai 1945 für die Historiographie nicht gewesen, so fundamental dieser Einschnitt auch war.

II. Der Ausgangspunkt: 1945 und die Periodisierung der Zeitgeschichte

Schon hierin wird die Unzulänglichkeit der seit einigen Jahren diskutierten und aus den USA reimportierten Methode der sogenannten Oral History deutlich: Für eine nachträgliche Rekonstruktion sehr begrenzter individueller Erlebniswelten mag sie unter bestimmten methodischen Voraussetzungen ergänzende Aufschlüsse bieten, nicht aber für größere innen-und außenpolitische, wirtschaftsoder gesellschaftsgeschichtliche Zusammenhänge. In gewisser Weise handelt es sich methodisch sogar um eine Regression im Zeitalter nur mündlicher Geschichtsüberlieferung. So sagt beispielsweise der subjektiv durchaus glaubwürdige Bericht eines deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, in seinem Frontabschnitt habe es keine Massenerschießungen gegeben, gar nichts aus über die tatsächliche Existenz und das Ausmaß von NS-Verbrechen. Auch verwandte soziale Indikatoren zur gesellschaftlichen Identifizierung der befragten Personen führen noch keineswegs zur kollektiven Biographie oder gar zur angemessenen Erfassung der Mentalität sozialer Großgruppen. Bereits Zufälle oder geographische Faktoren verstärken die Begrenztheit der individuellen Lebenserfahrung — so wird etwa ein heimatvertriebener Landwirt aus Ostpreußen bei vollkommener Ähnlichkeit sonstiger Indikatoren eine andere Erfahrung des Kriegs-endes haben als einer in Oberbayern. Der Zeithistoriker wird, soweit dies möglich ist. auf mündliche Befragung beteiligter Zeitgenossen nicht verzichten — doch nicht anstelle, sondern zur Ergänzung anderer Quellen.

In jedem Falle aber gilt: Historische Objektivität wird weder durch zeitliche Feme noch durch zeitliche oder räumliche Nähe zu geschichtlichen Ereignissen oder Epochen garantiert. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch die Zielsetzung der beiden erwähnten Autoren: Abusch und Meinecke erstrebten nicht nur eine geschichtsphilosophische Deutung und Einordnung der nationalsozialistischen Diktatur; es ging beiden kaum minder um die Selbstvergewisserung ihres eigenen Standorts gegenüber dem Nationalsozialismus, es ging ihnen in einem buchstäblichen Sinn um „Vergangenheitsbewältigung“. Und diese weniger wissenschaftliche als moralische Absicht prägte für lange Zeit den Weg der Zeitgeschichtsschreibung, auch wenn dieser Zweck nicht mehr ausdrücklich kundgetan wurde. In dieser Hinsicht unterschied sich die nach 1945 entstehende Zeitgeschichtsschreibung denn doch von der Zeitgeschichtsschreibung früherer Generationen. Angesichts der nach und nach immer klarer vor Augen tretenden Ungeheuerlichkeit und des unvorstellbaren Ausmaßes nationalsozialistischer Verbrechen durchzieht Abscheu die frühe Literatur über die NS-Diktatur.

Auch die versuchte Ehrenrettung der . guten Traditionen der deutschen Geschichte'— beispielsweise in Gerhard Ritters 1948 publizierten Studien Europa und die deutsche Frage — hatte ein moralisches Motiv. So war die Herausstellung des anderen, besseren Deutschlands symptomatisch für die frühe, jahrzehntelang dominierende Widerstands-forschung, die Hans Rothfels mit seinem zuerst 1948 in den USA, dann 1949 in Deutschland publizierten Buch über Die deutsche Opposition gegen Hitler inaugurierte.

Dieser moralische Charakter der Auseinandersetzungen mit der NS-Herrschaft mündete in der einen oder anderen Weise in politische Pädagogik. Die frühe Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur war nicht primär Ausfluß wissenschaftlichen Interesses. Moralische Kritik und politische Funktionalisierung mit dem Ziel der Erziehung des deutschen Volkes zur Demokratie ergänzten einander und sind selbst heute aus der Zeitgeschichtsschreibung kaum wegzudenken.

Aber solche Ziele hatten auch wissenschaftliche Folgen: Zwar blieb das Dritte Reich singulärer Gegenstand der Zeitgeschichtsschreibung, aber gerade die politische Pädagogik führte zu einer historischen Einsicht, die durch die Diskussion über das Kontinuitätsproblem immer wieder bekräftigt wurde: Die Lehren, die aus der NS-Diktatur zu ziehen waren, bedurften der historischen Einbettung. Neben der großen Kontinuitätsdiskussion wurde stillschweigend ein anderer Aspekt internalisiert. Nicht nur die Diktatur selbst war Zeitgeschichte, vielmehr gehörte zu ihr die unmittelbare Voraussetzung der NS-Herrschaft. das Scheitern der Demokratie und die Auflösung der Weimarer Republik. Sehr bald schon verdichtete sich — durch die Gründung der Bundesrepublik stimuliert — das Lehrstück totalitärer Herrschaft zur Trias: Scheitern der Demokratie. Diktatur. Neuaufbau der Demokratie in Westdeutschland. Der Lernprozeß war erfolgreich, der Gegenstandsbereich der Zeitgeschichte umgrenzt. Fritz Rene Allemann brachte diesen Zusammenhang auf die bezeichnende Formel „Bonn ist nicht Weimar“.

Hans Rothfels und andere Historiker verständigten sich bald auf ein Epochenjahr, mit dem sie die Zeit-geschichte beginnen ließen — das Jahr 1917. In diesem Jahr ereigneten sich zwei für die Weltpolitik im 20. Jahrhundert konstituierende Ereignisse: die Oktoberrevolution in Rußland und der Kriegseintritt der USA, der den Krieg endgültig zum Weltkrieg machte. Nimmt man dann noch das Jahr des Kriegsendes hinzu, so ist kaum bestreitbar, daß die Jahre 1917/18 einen epochalen Einschnitt von weltgeschichtlicher Dimension brachten. Und in dieser Hinsicht ist Rothfels’ Schlußfolgerung zuzustimmen: „Es beginnt also bei Kriegsende sowohl die globale Einheit wie die polare Zweiteilung der Welt sich abzuzeichnen.“

Bemerkenswert ist zweierlei an dieser Abgrenzung: Zum einen erfolgte die Feststellung, Zeitgeschichte beginne 1917/18. sozusagen postum — mehr als dreißig Jahre nach diesen Daten; zum anderen grenzte diese Datierung die Zeitgeschichte in einer Strenge ab, zu der nur wenige historische Analogien bestehen. Neben einem klar erkennbaren Beginn steht ein offenes Ende. Als Analogie für eine solche Periodisierung kommt in der neueren Geschichte wiederum nur das Verständnis der Französischen Revolution in den Augen der mit-und nach-lebenden Generationen in Frage. Und da zeigt sich denn auch der Pferdefuß: Niemand außerhalb Frankreichs würde heute die Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts zur Zeitgeschichte zählen. Zeitgeschichte altert, sie ist dennoch immer gegenwärtig. Diese Gegenwärtigkeit ist dann gegeben, wenn ein fundamentales historisches Ereignis fort-wirkend das nationale Selbstverständnis konstitu5 iert. Die Geltung solcher fortwirkenden historischen Phänomene ist normalerweise national begrenzt, obwohl beispielsweise im kommunistischen Machtbereich das Jahr 1917 ein Schlüsseljahr der postulierten Weltrevolution bildet und selbstverständlich auch vom Jahr 1789 oder vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mit der Gründung der USA übernationale Impulse für die Durchsetzung der Menschenrechte und das westliche Verfas-. sungs-und Demokratieverständnis ausgingen.

Der Begriff „Zeitgeschichte“ ist also ebenso fließend wie sein Gegenstandsbereich — ganz gleich, ob man den Begriff als fragwürdig und tautologisch ansieht oder ihn für besonders treffend hält. Aber auch in sachlicher Hinsicht führt die Periodisierung zu Problemen. Hatten schon Meinecke und verstärkt Ritter auf die europäische Dimension des Faschismus aufmerksam gemacht, so wurde die Frage nach den gemeineuropäischen Bedingungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus zum Thema einer der bedeutsamsten Interpretationen der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung: Ernst Nolte deutete den europäischen Faschismus als ein epochal begrenztes Phänomen. In seinem nach einer Reihe von Vorstudien 1963 veröffentlichten ersten Hauptwerk Der Faschismus in seiner Epoche begreift er den Faschismus — und auch den Nationalsozialismus als radikal-faschistische Variante — wesentlich als Antwort auf die bolschewistische Revolution in Rußland und die von ihr ausgehende fundamentale Herausforderung sowie auf die Krise des liberalen Systems in Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Auch hier also spielt die Epochen-schwelle 1917/18 eine entscheidende Rolle.

Die für das kollektive Gedächtnis charakteristischen Schlüsselprobleme differieren keineswegs nur national, sondern ebenso im Hinblick auf ihre positive oder negative Bewertung. Nicht allein die deutsche Geschichte kennt Epochen, mit denen sich die nachiebenden. vor allem aber die noch mit-lebenden Generationen schwertun. sofern sie sich ihrer Geschichte mit Freiheit zuwenden können. Solche zeitgeschichtlichen Phänomene sind beispielsweise in Frankreich die historisch realistische Darstellung der Resistance, noch stärker aber die Kollaboration zu Zeiten der Vichy-Regierung und der deutschen Besatzung, in Italien die faschistische Herrschaft Mussolinis, in Spanien der Bürgerkrieg 1936 und die Etablierung der Diktatur Francos, in Österreich das Schicksal der autoritären Regime der dreißiger Jahre und die Frage, in welchem Ausmaß der Anschluß an NS-Deutschland 1938 von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt wurde — Österreich also keineswegs nur Opfer war —. schließlich die Existenz faschistischer Bewegungen und der Quisling-Regime im Machtbereich der NS-Diktatur zwischen 1939 und 1945. Nach 1945 gehören zu solchen Epochen-Einschnitten in der Tschechoslowakei etwa die dem kommunistischen Umsturz 1948 folgenden „Säuberungen“ und später die Nachgeschichte des „Prager Frühlings“ 1968. in Ungarn der Aufstand von 1956 und nach der Beseitigung von Imre Nagy die darauf folgende „Zusammenarbeit“ mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Solche Epochen werden in autoritären Regimen entweder aus der historischen Darstellung ausgeblendet oder — partiell — durch Staats-bzw. Parteiführung offiziell „bewältigt“. Ein Beispiel bildet die Verurteilung der stalinistischen Terrorherrschaft auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 durch Chruschtschow oder 1986/87 durch Gorbatschow. Diese Auseinandersetzungen mit zeitgeschichtlichen Epochen dienen kaum je einem objektiven historischen Verständnis; vielmehr Werden sie für politische Gegenwartszwecke instrumentalisiert. Neben diesem national und je nach dem politischen System differierenden Umgang mit belastend wirkenden zeitgeschichtlichen Phänomenen ist für die Periodisierung der Zeitgeschichte in der Regel die Themenstellung ausschlaggebend; hierin unterscheidet sie sich nicht von der Periodisierung früherer Epochen. So führt eine wirtschaftsgeschichtliche Thematik — in der für die erste Phase beispielsweise der Zusammenhang zwischen Krieg und Inflation 1914 bis 1924 sowie später die 1929 einsetzende. bis in die frühen dreißiger Jahre anhaltende Weltwirtschaftskrise Schlüsselrollen spielen — oft zu anderen zeitlichen Phasenbildungen als etwa eine Erforschung des internationalen Systems oder der innenpolitischen Konstellationen.

Beispielsweise kann die Zeit von 1918/19 bis 1945 insgesamt als Zeit revolutionärer Krisenhaftigkeit in Europa begriffen werden, der eine tiefgreifende Instabilität des europäischen Mächtesystems korrespondierte. Zwar schwächte der Versailler Vertrag zeitweise Deutschlands Großmachtstellung, beseitigte sie jedoch keineswegs prinzipiell. So blieb Deutschlands ökonomische Potenz als Basis des Wiederaufstiegs und der Revision von Versailles im Kern unangefochten, wie bei allem Friedenswillen und völkerrechtlich orientierter Verständigungsbereitschaft gerade auch die Außenpolitik Stresemanns zeigte. Der Versailler Vertrag war entweder zu hart oder zu weich (K. D. Erdmann): Durch seine Härte zwang er Deutschland zu einer im Prinzip von allen politischen Kräften getragenen Revisionspolitik; indem Deutschland Großmacht blieb, wurde diese Revision ermöglicht. Der Versailler Vertrag war „künstlich, insofern er nicht das wirkliche Verhältnis der Kräfte zum Ausdruck brachte“ (R. Aron). Die unverkennbare Dialektik von Außen-und Innenpolitik, die gerade an der Entwicklung der beiden kontinentalen Großmächte Deutschland und Frankreich manifest wird, sollte auch die zeitgeschichtliche Periodisierung mitkonstituieren: Die Instabilität der europäischen Demokratien seit dem Ersten Weltkrieg und die Instabilität des europäischen Mächtesystems bedingten und korrespondierten einander.

Die totalitären Diktaturen des Nationalsozialismus und des Bolschewismus basierten auf einer sui generis weltpolitisch ausgerichteten expansionistischen Ideologie, seien es nun die sozial-und welt-revolutionäre Zielsetzung der kommunistischen Sowjetunion oder der großgermanische Rassismus der NS-Diktatur — beider Zielsetzung ging über den zeitlich parallelen japanischen Expansionismus schon intentional weit hinaus. Die Labilisierung und Dynamisierung des internationalen Mächtesystems verstärkte sich. Eine in diesem Sinne weltrevolutionäre Strategie schloß taktische Wendungen zur zeitweiligen Stabilisierung der internationalen bzw. europäischen Ordnung oder andererseits ein Zusammengehen der ideologisch feindlichen revolutionären Flügelmächte Europas — der kommunistischen Sowjetunion und NS-Deutschlands — keineswegs aus. ’ wie der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 bis zum 22. Juni 1941 demonstrierte. Der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Kalte Krieg besaß neben der weltpolitischen ebenfalls eine innenpolitische, die politische Wertordnung manifestierende Dimension. Die westliche Vormacht. die USA. die spätestens mit dem Kriegseintritt 1917 ihre isolationistische Position verlassen hatte, ließ sich in dieser Auseinandersetzung durchaus von einem wertorientierten weltpolitischen Sendungsbewußtsein leiten. Eine derartige Über-zeugung von der Überlegenheit der eigenen Ideale erinnert an den Siegeszug der „Ideen von 1789“. Und tatsächlich standen nach 1945 hinter dem machtpolitischen Gegensatz der Blöcke gegensätzliche ideelle und ethische Maximen. Sie gehen auf das 18. Jahrhundert zurück und fanden erstmals in den Revolutionen der amerikanischen Kolonien und Frankreichs Ausdruck. Diese Wertvorstellungen richteten sich gegen das zur totalitären Diktatur geronnene aufgeklärte Fortschrittspathos des Kommunismus. das die menschenrechtlichen Ideale von 1776 und 1789 nicht mehr als Ziel, sondern als Zwischenstufe im zielgerichtet fortschrittlichen welthistorischen Prozeß ansah: Sein Ziel lag demzufolge im Gedanken einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft; diese utopische Zielsetzung schien die zumindest zeitweilige, jedenfalls bis heute andauernde Suspendierung der Menschen-und Bürgerrechte zu legitimieren.

Die Konturen dieser wertorientierten Polarität werden verwischt, wenn die begrenzte lebensweltliche Perspektive mehr oder weniger zufällig ausgewählter einzelner dazu führt, die Jahrzehnte zwischen 1930 und 1960 zu einer epochalen Einheit zusammenzufassen. Dies verdeckt die Relevanz der Zäsuren von 1933 und 1945 zugunsten einer vermeintlichen Kontinuität der deutschen Geschichte von 1930 bis 1960, die in dieser Form tatsächlich nichts anderes wäre, als die künstliche Rekonstruktion extrem begrenzten individuellen Bewußtseins. Die Frage nach der Kontinuität über die Umbrüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert hinweg muß ebenso gestellt werden wie die nach den historischen Voraussetzungen der NS-Revolution von 1933. Eine klare Unterscheidung von Demokratie und Diktatur ist jedoch unverzichtbar. Den Generationen. die die NS-Diktatur und die sowjetische Herrschaft in der SBZ und DDR noch miterlebt haben, war sie deutlicher bewußt als den Nachlebenden. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür bildet der politische Bewußtseinswandel der Berliner Studenten vor und unmittelbar nach dem Mauerbau 1961 bis zur zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Die sich vermindernde Prägekraft solcher Erfahrung verweist auf einen in der Zeitgeschichte oftmals beschleunigten Perzeptionswandel. Er kann sowohl die historische Forschung zu neuen Fragen stimulieren als auch diese behindern, wenn bestimmte zeitgeschichtliche Einschätzungen festgeschrieben werden. Insgesamt zeigen solche Perzeptionsprobleme so wie die Periodisierung der Zeitgeschichte überhaupt, daß Wertorientierung, Ausformung der Weltpolitik im 20. Jahrhundert und Gegenstandskonstitution der Zeitgeschichte einander korrespondieren. Trotz Einigkeit über einen Großteil der ereignisgeschichtlichen Verläufe ist die westdeutsche Zeitgeschichtsschreibung bis heute interpretatorisch nicht auf einen Nenner zu bringen — weder in ihrer Einschätzung der Revolution von 1918/19 noch der Auflösung der Weimarer Republik, der Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, der Nachkriegsentwicklung. Der Dissens erstreckt sich jedoch nicht auf die bei allen Zeithistorikern tatsächlich außer Frage stehende Bewertung des NS-Terrorsystems als verbrecherisch.

Die großen zeitgeschichtlichen Streitfragen der letzten dreißig Jahre sind immer auch Wendepunkte politischen Denkens gewesen, sie indizieren jeweils eine Veränderung des politischen Erfahrungshorizonts. Die Pluralität der Interpretationen zeigt, wie fruchtbar politische Anstöße für zeitgeschichtliche Forschung sein können. Es ist ein weit-verbreiteter Irrtum, solche Anregungen aus dem politischen Leben der Gegenwart für grundsätzlich wissenschaftsschädigend zu halten. Vielmehr können sie außerordentlich förderlich wirken, wenn sie zur Entwicklung neuer Problemstellungen beitragen und eine undogmatische Überprüfung der Fragestellungen am historischen Untersuchungsgegenstand — nicht aber an gegenwartsbezogener politischer Zwecksetzung — erfolgt. Die zeitgeschichtlichen Streitfragen, unterschiedliche Interpretationsansätze, Methoden und Bewertungen führen jedoch keineswegs zu einer — politisch oder auf andere Weise außerwissenschaftlich motivierten — Beliebigkeit geschichtswissenschaftlicher Aussagen. Vielmehr gibt es einen großen Bestand empirisch erarbeiteten gesicherten Wissens, der nicht willkürlicher, dilettantischer Interpretation ausgesetzt werden kann.

III. Wissenschaftliche Kontroversen und ihre politischen Implikationen

Die drei wichtigsten Interpretationsansätze, die jeweils für einige Jahre die wissenschaftliche Diskussion über den NS-Staat bestimmten, sind: erstens die seit den fünfziger Jahren dominierende Totalitarismuskonzeption, zweitens die seit Beginn der sechzigerJahre einsetzende Debatte über die Tragfähigkeit eines epochal begrenzten Faschismusbegriffs und seine Anwendung auf den Nationalsozialismus, schließlich drittens die seit Ende der sechziger Jahre geführte und noch anhaltende Kontroverse, ob es sich bei der NS-Diktatur um ein zielgerichtetes, totalitäres und monokratisches oder ein , von Fall zu Fall improvisierendes polykratisches Herrschaftssystem konkurrierender Personen-und Machtgruppen handelte.

Der erste große wissenschaftliche Erklärungsversuch in der Nachkriegszeit — die Charakterisierung des Dritten Reichs als totalitär — resultierte ebensosehr aus methodologischen wie politischen Anstößen. Die Ereignisse des Jahres 1917 sind zwar für das Totalitarismus-Modell weniger signifikant als für das Faschismus-Modell, aber die mit dem Epochenjahr 1917 verbundene zeitgeschichtliche Konzeption wirkt auch im Totalitarismus-Modell nach. Vor allem gilt das für die weltpolitische Polarität der neuen Weltmächte USA und Sowjetunion, die den Kalten Krieg seit Ende der vierziger Jahre präfigurierte; doch kommt dem Jahr 1917 auch hier insofern eine Schlüsselstellung zu. als die Oktoberrevolution eine der entscheidenden Voraussetzungen für den Kampf von Faschismus und Bolschewismus gegen die liberalen Demokratien bildete.

Mehr noch als durch die zeitgeschichtlich-methodologische Konzeption war das Totalitarismus-Modell aber durch die spezifische politische Erfahrung bedingt, die die Zeitgenossen während der NS-Diktatur gemacht hatten: Verwandte Züge in der Herrschaftsstruktur von Stalinismus und Nationalsozialismus waren unübersehbar. Zu diesen Analogien zählte das Ziel einer totalen Erfassung der Bevölkerung.der Einsatz einander entsprechender Machttechniken wie terroristischer Geheimpolizei, Nachrichtenmonopol und Einparteienstaat mit dazugehöriger.dem Anspruch nach alleingültiger Herrschafts-und Gesellschaftsideologie. Diese Merkmale lagen der Totalitarismus-Konzeption Carl J. Friedrichs zugrunde. Weitere Ähnlichkeiten zwischen dem Staat Hitlers und dem Staat Stalins wären unschwer hinzuzufügen, beispielsweise der Persönlichkeitskult, die zum Teil terroristische Unterdrückung weiter Kreise der Bevölkerung und die bis zu systematischem Mord gehende Ausgrenzung ganzer gesellschaftlicher Gruppen. Und auch die Hunderttausende zur Emigration zwingende physische und psychische Bedrohung war analog: Für den aus politischen Gründen Verfolgten oder gar Ermordeten machte es schließlich keinen Unterschied, ob er zum Opfer nationalsozialistischer oder kommunistischer Gewaltherrschaft wurde. Der Kalte Krieg stimulierte zweifellos diese Interpretation des Dritten Reiches (und der Sowjetunion) mit Hilfe des Totalitarismus-Modells. Nicht zufällig waren Politikwissenschaftler in den USA — wo bereits 1939 ein Symposion über „the Totalitarian State“ stattfand — an der Ausarbeitung beteiligt. Sie gingen von der fundamentalen — durch keine Begriffsspielerei hinwegzudisputierenden — Gegensätzlichkeit der liberalen Demokratie ihres eigenen Landes zu den Diktaturen aus. Eine groß angelegte Interpretation der NS-Diktatur mit Hilfe dieses Erklärungsmodells entstand ebenfalls in den USA: 1955 publizierte Hannah. Arendt ihr Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auch in deutscher Sprache — ein Werk, das im übrigen weit ins 19. Jahrhundert zurückgriff und sich keineswegs auf die deutsche Geschichte beschränkte. Hannah Arendt analysierte zwar im dritten Teil ihres Buches — ausgehend von dem eben erwähnten Modell Carl J. Friedrichs — die Techniken totalitärer Herrschaft, konzentrierte aber die beiden ersten Teile auf die ideologische und politische Vorgeschichte — vor allem des Antisemitismus in Deutschland und Frankreich.

Die Totalitarismus-Konzeption prägte auch die bedeutendste historiographische Gesamtleistung zur Zeitgeschichte, die alle drei zeitgeschichtlichen Epochen umfassenden großen Werke Karl Dietrich Brachers.denen sich beispielsweise die von Gerhard Schulz. Walther Hofer und Hans Buchheim anschlossen. Brachers Pionierleistung begann mit der umfassenden Strukturanalyse der Weimarer Republik. Sein zuerst 1955 erschienenes und bis jetzt in siebenter Auflage publiziertes Werk Die Auflösung der Weimarer Republik ist — nachdem ihm anfangs auch Unverständnis entgegenschlug — heute ein international anerkanntes Standardwerk.

Die anfänglichen Einwände von Historikern richteten sich gegen politikwissenschaftliche Fragestellungen Brachers, der eine funktionale Analyse des Machtverfalls der Demokratie lieferte, nicht aber eine am traditionellen Historismus orientierte intentionale Interpretation. Die politische Auseinandersetzung entzündete sich an Brachers kritischer Interpretation des Reichskanzlers Brüning, aber auch an seiner Darstellung des Preußenschlags vom 20. Juli 1932, in der das Ausbleiben massiven Widerstands der demokratischen Kräfte kritisch analysiert wurde. Hierdurch fühlten sich besonders mehr oder weniger beteiligte Zeitgenossen wie Carl Severing und Arnold Brecht provoziert.

Eine Preußen einbeziehende Perspektive — die seit den siebziger Jahren mit neuen Fragestellungen fortgeführt wurde — hat unter anderem auch deshalb historiographiegeschichtliche Bedeutung, weil auf diese Weise nicht allein die föderative Struktur des demokratischen Parlamentarismus in Deutschland in den Blick gerät, sondern auch die Diskussion über den tatsächlichen oder vermeintlichen deutschen „Sonderweg“ eine neue Dimension erhält: Zur problematischen Entwicklung der Weimarer Republik auf Reichsebene gab es in einigen Ländern, allen voran Preußen, eine politische und gesellschaftliche Alternative. Beide Perspektiven — die funktionale Analyse der Auflösung und der Belastungsfaktoren sowie die der möglichen positiven Alternative — sind hier eng aufeinander bezogen und ergänzen sich.

Wie in den Werken Brachers, so wird auch in der derzeit führenden, die Forschung zusammenfassenden Handbuchdarstellung der deutschen Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg, dem 1973 bzw. 1976 grundlegend neu bearbeiteten Band 4 von Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte, den Karl Dietrich Erdmann verfaßte, die Segmentierung der deutschen Geschichte in mehrere zeitgeschichtliche Perioden überwunden. Die erwähnte Trias Scheitern der Demokratie, Diktatur, Neuaufbau der Demokratie stellt Erdmann im Zusammenhang dar. Übrigens behandelt er in seinem Werk nicht nur die Westzonen, sondern bezieht alle späteren Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs in seine bis 1949 reichende Darstellung ein — auch dies hat eine politische Pointe, hält doch Karl Dietrich Erdmann auf diese Weise an der Einheit der deutschen Nation fest, wie er noch 1985 programmatisch erklärte.

Das zeitgeschichtliche Werk Karl Dietrich Brachers ist im übrigen mit dem Wort „Totalitarismus-Modell“ nur partiell charakterisiert, hat er doch bereits in seinem 1956 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlichten Aufsatz Stufen totalitärer Gleichschaltung auf das Herrschaftsprinzip „divide et impera“ und damit auf die Existenz konkurrierender Machtgruppen hingewiesen und methodisch einer Interpretationsrichtung den Weg geöffnet, deren inhaltliche Wertungen er allerdings ablehnte. Die Erkenntnis vom Führungschaos im Dritten Reich und von der Existenz zahlreicher konkurrierender Machtzentren, die Erkenntnis schließlich, daß die Gleichschaltung nicht perfekt durchgeführt worden sei, ist also tatsächlich keineswegs erst seit Mitte/Ende der sechziger Jahre entstanden, wie es gelegentlich den Anschein hat. Vor allem aber sind diese Einsichten mit einer empirisch modifizierten Totalitarismus-Theorie durchaus vereinbar. Dies gilt es angesichts des oft kurzen historiographischen Gedächtnisses ebenso in Erinnerung zu rufen wie die Tatsache, daß sich die bedeutenden großen Werke über Hitler von Alan Bullock bzw. Joachim Fest keineswegs in biographischer Thematik erschöpfen, wie das etwa für eher begrenzte und konventionelle Deutungen von . Hitlers Weltanschauung'gilt. Bullock beispielsweise behandelt große politikgeschichtliche Komplexe der NS-Diktatur. während Fest auf der Grundlage der neueren Forschung Strukturfragen angeht, die weit über die Person Hitlers hinausweisen — so etwa im Anschluß an Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum die Frage, ob die NS-Herrschaft eine gesellschaftliche Modernisierung in Deutschland bewirkt habe.

Die unklare Begrifflichkeit, mit der der Streit über den Charakter der NS-Diktatur zuweilen geführt wird, verstellt oft die Probleme. Alle Beteiligten haben nämlich eine Reihe von Forschungsergebnissen der anderen Seite längst akzeptiert. Im Grunde geht es nicht mehr um die Feststellung, ob das Dritte Reich polykratisch, monokratisch oder totalitär war — all diese Züge sind nachweisbar, wie auch die große Synthese von H. -U. Thamer 1986 dokumentiert. Und selbstverständlich schließt auch eine planmäßige politische Zielsetzung Improvisationen keineswegs aus — wohl jede Politik ist immer wieder zu Improvisationen gezwungen. Kern des Streits ist vielmehr die Gewichtung dieser Kennzeichen. Dazu gehört die Frage, ob das Führungschaos gewollt war — wie Bracher meint — oder ob es auf der Unfähigkeit des Diktators beruhte, wie es H. Mommsen sieht.

Die zweifellos wichtigste Darstellung über die innere Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches in den Jahren 1933 bis 1939. M. Broszats 1969 publiziertes Werk Der Staat Hitlers, stellte diese Diskussion auf eine neue Grundlage und akzentuierte stark den Improvisationscharakter der NS-Herrschaft, ohne doch so weit zu gehen wie Hans Mommsen, der immer wieder seine These vom „schwachen Diktator“ Hitler vertreten hat, diese indes bisher nicht durch eine Gesamtanalyse untermauerte. Die Kontroverse erstreckt sich mittlerweile auf eine ganze Reihe von Einzelproblemen, insbesondere auf die Frage, seit wann der Massenmord an den Juden geplant war. Dabei geht es nicht um die von Broszat 1977 überzeugend zurückgewiesene Behauptung David Irvings. Hitler trage keine persönliche Verantwortung am Genozid und habe den Befehl dazu nicht gegeben. Verfechter der Improvisationsthese wie Broszat bezweifeln aber, daß der Massenmord notwendig in der Konsequenz des nationalsozialistischen Antisemitismus lag und lange vor dem Beginn der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ auch geplant wurde. Die alternative Einschätzung lautet: Auf der Basis des NS-Antisemitismus vollzog sich eine eher eigengesetzliche — sozusagen situationsopportunistische — Verschärfung im Zusammenhang der Kriegslage. Erst während des Krieges sei schließlich der Plan zur völligen Ausrottung des europäischen Judentums gefaßt worden. Das Verbrechen des millionenfachen Massenmords selbst steht indes in allen wissenschaftlichen Interpretationsrichtungen außer Frage; nach wie vor ist aber eine Einigung über ihre Deutung nicht in Sicht. A. Hillgruber. H. Graml, H. Krausnick und eine Reihe anderer Autoren vertreten weiterhin mit guten Gründen die Einschätzung der planmäßigen Radikalisierung der antijüdischen Politik, deren lange beabsichtigter Schlußpunkt der systematische Mord in den . Vernichtungslagern'gewesen sei. Die Erklärung nationalsozialistischer Eroberungspolitik, der großgermanischen Politik (H. D. Loock) und die NS-„Großraumordnung“ (L. Gruchmann) des Dritten Reiches sind ebenso von den erwähnten methodischen Prämissen abhängig wie die der Außenpolitik, die u. a. A. Hillgruber, K. Hildebrand. H. A. Jacobsen, N. Rich und G. Weinberg und zuletzt Ch. Bloch grundlegend analysiert haben: Auch in dieser Beziehung besitzen die Frage der Planmäßigkeit, der Steuerung durch Hitler, der Einfluß anderer Politiker, die Rolle des Auswärtigen Amtes sowie die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität bzw.dem Verhältnis der Hegemonialpolitik des Kaiserreichs, der Revisionsziele der Weimarer Republik und des NS-Expansionismus eine zentrale Bedeutung. Der entscheidende und unterscheidende Ausgangspunkt ist die Tatsache, daß die NS-Außen-und Rassenpolitik untrennbar zusammengehören. Für Hitlers letztlich utopischen „Entwurf totalitärer Herrschaft stellen sie die einander bedingenden Seiten seiner programmatischen Zielsetzungen dar“ (K. Hildebrand).

Auch bei der Untersuchung anderer Probleme in der Interpretation der NS-Diktatur setzte sich die unterschiedliche Gesamtdeutung in abweichende Bewertungen um. Die Einzelforschung bewegte sich in den Bahnen, die durch die Grundlagen-Kontroversen vorgezeichnet worden sind, wie Klaus Hildebrand in seinem prägnanten, zuerst 1979 (1987 stark erweitert und aktualisiert) publizierten Überblick Das Dritte Reich bemerkt, der die gehalt-vollste Analyse der Entwicklung der NS-Forschung enthält. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel ist die Widerstandsforschung, an der instruktiv der methodische und thematische Wandel sowie seine politischen Implikationen abzulesen sind. Gegen ein totalitäres Regime mit perfekten und geplanten Unterdrückungsmechanismen konnte Widerstand in aller Regel nur die Ausnahme sein. Im Mittelpunkt der Forschung stand zunächst die Militäropposition, der Widerstand kleiner konservativer Gruppen und von Einzelpersonen, deren Handeln in christlichen, konservativen, aber auch sozialdemokratischen Überzeugungen wurzelte.

Hatte die DDR-Forschung schon immer intensiv den kommunistischen Widerstand dargestellt und den kirchlichen, konservativen, sozialdemokratischen und militärischen kaum berücksichtigt, so verhielt es sich in der Bundesrepublik umgekehrt. Von Vorläufern abgesehen, begann seit Ende der sechziger und verstärkt seit Mitte der siebziger Jahre auch die Forschung in der Bundesrepublik, den kommunistischen Widerstand zu entdecken. In gewisser Weise stehen diese Arbeiten in Analogie zu den schon früher von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Studien zum sozialdemokratischen Widerstand: Jeder entdeckte seine . Väter', und jeder leitete daraus politische Folgerungen für die Geschichte der Bundesrepublik ab. Hierbei allerdings wurde nicht selten die ethische mit der politischen Qualität verwechselt: Schon seit Ende der vierziger Jahre erschienen die Männer des 20. Juli 1944 häufig als konstruktive politische Vorbilder für den demokratischen Neuaufbau der parlamentarischen Republik. Tatsächlich aber sind die politischen Ziele des Widerstands vom 20. Juli meist weit entfernt von den politischen Maximen, nach denen in Westdeutschland eine parlamentarische Demokratie begründet wurde. Weder ist diese politische Diskrepanz den Männern vom 20. Juli vorzuwerfen. noch nimmt diese Diskrepanz ihren Taten etwas von ihrer moralischen Qualität. Insofern können sie vorbildhaft sein. Normative Vorbilder in inhaltlich-politischer Hinsicht können sie für eine parlamentarische Demokratie zum großen Teil aber nicht sein.

In methodischer Hinsicht Neuland erschloß das seit Mitte der siebziger Jahre im Institut für Zeitgeschichte München unter Leitung von M. Broszat entwickelte Forschungsprojekt Bayern in der NS-Zeit, dessen reicher empirischer Ertrag in sechs Bänden publiziert wurde (1977— 1983). In einer Reihe von Fall-und Regionalstudien gelang es. Widerstandshandeln gruppen-wie institutionsspezifisch zu untersuchen und den Alltag der NS-Herrschaft in regionaler und thematischer Hinsicht exemplarisch zu erforschen. Das in der Grundkonzeption enthaltene Begriffspaar „Anpassung und Resistenz“ erlaubte es. die zahlreichen Zwischenstufen in den Griff zu bekommen und sozusagen das normale Verhalten von Menschen unter der NS-Diktatur darzustellen, wenngleich die Tragfähigkeit des Begriffs „Resistenz“ auch bestritten wurde (R. Löwenthal). Jedenfalls zeigte sich: Das Verhalten der Bevölkerung war in der Regel weniger von politischen Konzepten geprägt als von den jeweiligen konfessionellen und gesellschaftlichen Besonderheiten, oft aber auch von lokalen Zufälligkeiten, denen gegenüber die NSDAP in gewisser Weise machtlos war — machtlos, weil es sich nicht um planmäßigen politisch organisierten Widerstand handelte, sondern um ein Entziehen und Nichtmitmachen. Natürlich zeigt das Projekt auch Opportunismus in der Bevölkerung, aber im ganzen verwischen sich die Schwarz-Weiß-Zonen beträchtlich.

Die Untersuchung des Alltagsverhaltens, die aber ebenso wie die Kulturgeschichte des „Dritten Reiches“ noch in den Anfängen steckt, ist deswegen von erheblichem methodischen Gewinn, weil die Zeitgeschichtsschreibung nach Brachere frühen Vorstößen außer den wenigen während der fünfziger Jahre zumeist in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte publizierten Aufsätzen über Grundsatzfragen und der durch Ernst Nolte vor-angebrachten komparatistischen Methode sich lange Zeit nur wenig mit ihrer Methodologie befaßt hat.

Als eine Form des Widerstands gegen das NS-Regime gilt inzwischen unbestritten auch die politische Emigration aller Richtungen von den Kommunisten über die Sozialdemokraten und Vertreter des politischen Katholizismus bis zu den Konservativen. Sie umfaßte etwa 30 000 Personen und war Teil einer mehr als eine halbe Million — zum großen Teil jüdischer — Menschen umfassenden Emigrationswelle aus dem deutschen Kulturraum seit 1933. Ein erheblicher Teil der Emigranten gehörte zur kulturellen Elite, so daß man auch von einem „Exodus der Kultur“ sprechen kann. Fast 9 000 biographische Studien finden sich in dem vom Institut für Zeitgeschichte und der Research Foundation for Jewish Immigration (New York) 1980— 1983 publizierten Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Zu den wertvollen Dokumentationen über bestimmte Bevölkerungsgruppen bzw. Institutionen zählen auch die Quellenveröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte (Bonn) über die Lage der katholischen Bevölkerung bzw.der Kirche (D. Albrecht. U. v. Hehl. H. Hürten, L. Volk. H. Witetschek u. a.seit 1965).

Die vorgestellten Konzeptionen lassen in der Gesamtdeutung wie in der Detailforschung einen signifikanten Wandel des politischen Erfahrungshorizonts erkennen. Die Totalität der NS-Herrschaft mußte naturgemäß in den ersten Jahren nach dem Krieg stärker empfunden werden als heute, der Drang zu globaler Deutung, aber auch zur moralischen Bewertung mußte damals stärker sein. Dieser Erfahrungswandel bedarf der Untersuchung — einer Untersuchung, die nicht nur die politischen Aspekte berücksichtigt, sondern auch historiographische Traditionen stärker als üblich in die Analyse einbezieht.

So gehört es zu den bemerkenswerten Tatbeständen. daß keine der zeitgeschichtlichen Kontroversen — so fruchtbar sie auch waren — in ihrer Ausgangsfrage völlig neu war. Über den „schwachen Diktator“ spottete schon Trevor-Roper in seinem zuerst 1947 veröffentlichten Buch Hitlers letzte Tage, aber auch für die Polykratie-Debatte findet sich die Grundlage bereits vor vierzig Jahren in Ernst Fraenkels 1940 in den USA publiziertem Buch The Dual State und Franz Neumanns ebenfalls in den USA zuerst 1942 erschienener Studie Behemoth — Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. Frühe biographische Studien oder „Weltanschauungsanalysen“ legten bereits Konrad Heiden und Rudolf Olden vor. Und ähnliches gilt, wie Ernst Noltes Sammelband über Faschismustheorien ausweist, auch für die Faschismus-Konzeption.

IV. Entwicklung zeitgeschichtlicher Fragestellungen

Innerhalb der hier behandelten Aspekte der Zeit-geschichte — der methodologischen, moralischen, politischen und wissenschaftlichen Dimension — hat eine Verschiebung stattgefunden, die man als Normalisierung der Zeitgeschichtsschreibung ansehen kann. Offensichtlich fällt diese Normalisierung bei der Erforschung der NS-Diktatur schwerer als bei anderen zeitgeschichtlichen Themenkomplexen. wie der 1986 ausgebrochene und Aufsehen erregende sogenannte Historikerstreit belegt; tat-Aber,um zwei Beispiele außerhalb der NS-Thematik zu nennen, auch die Kontroverse über die politischen Weichenstellungen und das Rätemodell von 1918/19 am Beginn der Weimarer Republik geht auf einen Vorläufer von 1935 zurück, auf Arthur Rosenbergs These von der Möglichkeit eines dritten Weges zwischen Weimarer Parlamentarismus und Bolschewismus. Auch die durch Fritz Fischers Buch Griff nach der Weltmacht seit 1961 angeregte Diskussion über die Alternative . Bruch oder Kontinuität* der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert hat Vorläufer zumindest seit den vierziger Jahren: In anderer Weise wurde die Kontinuitätsproblematik schon in den Studien von Meinecke. Ritter und Ludwig Dehio aufgenommen.

Der die Zeitgeschichtsforschung charakterisierende Erfahrungswandel, der die Konzeptionen prägte, setzt sich, durch jeweilige Aktualisierung der Problemstellung modifiziert, in empirische Forschung um. Das vergleichsweise geringe Maß an Grundlagendiskussion in der Zeitgeschichte erklärt sich aus der Tatsache, daß jeweils brauchbare Forschungskonzeptionen zur Verfügung standen. Methodologische Probleme wurden also in der Regel an den Untersuchungsgegenständen selbst und nicht auf einer von ihnen abgehobenen prinzipiellen Ebene diskutiert. Wie die immer wieder bewiesene Bewährung dieser Konzeptionen zeigt, hat die Zeitgenossenschaft, die. wie gesagt, zu den konstituierenden Faktoren der Zeitgeschichte zählt, einen fortdauernden Wert für die Forschung behalten. Das Alter der Konzeptionen zeigt aber auch, daß sowohl die komparatistische als auch die am Modell des Totalitarismus bzw.der Polykratie orientierte Interpretation im Verständnis der Zeitgenossen selbst wurzeln. Gleich, ob an einer intentionalen oder funktionalen Methode orientiert, zieht die Zeitgeschichtsforschung daraus bis heute Gewinn. sächlich aber handelt es sich hier weniger um eine Forschungsdebatte, sondern um einen Streit über die politische und moralische Dimension der NS-Diktatur in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Einige Diskussionsbeiträge sind indes widersprüchlich, stehen doch oft politische Bekenntnisse den wissenschaftlichen Erkenntnissen im Wege: M. Broszat etwa plädiert für eine „Historisierung" des Nationalsozialismus und beteiligt sich zugleich an der gegenwartsbezogenen Instrumentalisierung der NS-Diktatur für konkrete politische Auseinandersetzungen. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist inzwischen nicht allein im Sinne des weltpolitischen Schnittpunkts im Kalten Krieg, sondern auch in ihrer gesamten innen-und außenpolitischen Entwicklung Thema der Geschichtsforschung geworden, nachdem sie während der fünfziger und sechziger Jahre vornehmlich unter politologischen und soziologischen Fragestellungen untersucht worden war. Die Erforschung und Darstellung der bundes-republikanischen Geschichte weicht insofern von derjenigen der übrigen europäischen Staaten mit Ausnahme der DDR ab, als sie unter der doppelten Belastung des langen Schattens der NS-Diktatur auf der einen und der Teilstaatlichkeit auf der anderen Seite steht: Der Übernahme der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches und der sich daraus, ergebenden historisch-politischen, psychologischen und moralischen Konsequenzen für die Bundesrepublik steht die Deutung durch die DDR-Geschichtsforschung gegenüber, die die Zeitgeschichte bezeichnenderweise erst 1945 beginnen läßt und die „fortschrittlichen Traditionen der deutschen Geschichte“ für sich reklamiert. Von der gemeinsamen deutschen Verantwortung für die NS-Diktatur dispensiert sich die DDR vor allem unter Hinweis auf ihren prinzipiellen „Antifaschismus“ sowie den kommunistischen Widerstand gegen Hitler. Die diesem Selbstbildnis widersprechenden Fakten des kommunistischen Anteils an der Zerstörung der Weimarer Demokratie, des Hitler-Stalin-Pakts 1939 und der aus ihm resultierenden gemeinsamen Aufteilung Polens bzw. weiterer Teile Osteuropas durch beide Diktaturen ignoriert die DDR oder deutet sie zum Zweck einer Entschuldung des Kommunismus im allgemeinen und damit der DDR im besonderen.

Zur faktisch vollzogenen deutschen Teilung stehen im Hinblick auf die bundesrepublikanische Geschichte sowohl die völkerrechtlich fortbestehende Offenheit der .deutschen Frage'als auch das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot in einem dauernden Spannungsverhältnis. Die Forschung wurde überdies von einer politisch motivierten, künstlich zugespitzten Entgegensetzung stimuliert: Ist die Bundesrepublik Deutschland durch Restauration oder Neubeginn geprägt? Sowenig es in der Geschichte je eine . Stunde Null'gibt, so wenig sinnvoll erscheint hier die Interpretationskategorie „restaurativ“. Tatsächlich verschränken sich mit unterschiedlicher Akzentuierung in jeder historischen Epoche — auch in revolutionären — Kontinuität und Diskontinuität. Beschleunigtem Strukturwandel auf einigen Sektoren können Retardationen oder langfristiger Wandel auf anderen gegenüberstehen.

Was konnte 1949 restauriert werden? Das Kaiserreich? Die Weimarer Republik? Die NS-Diktatur? Tatsächlich nichts von alledem. Die Gründung der Bundesrepublik und ihre Politik erfolgte teils zwangsläufig, teils bewußt im Gegensatz zu wesentlichen prägenden Traditionen der deutschen Geschichte vor 1945, vor 1933 und vor 1918: 1. Der deutsche Nationalstaat konnte bis heute nicht wieder erreicht werden. 2. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes steht in unzweifelhaftem Gegensatz zur NS-Diktatur, in wesentlichen Prinzipien aber auch zum Weimarer „Semiparlamentarismus“ (K. D. Bracher). Die Aufnahme positiver Verfassungstraditionen (Rechtsstaatlichkeit, demokratische Parteibildung, Parlamentarismus, Föderalismus, Selbstverwaltung) führten zu einer konsequenten Form der parlamentarischen Demokratie, die in vergleichbarer Form vor 1918 überhaupt nicht und 1919 bis 1932 nur auf Länderebene, insbesondere in Preußen, bestand. 3. Die Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik mußte sich bereits durch die Integration von insgesamt zwölf Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen derart verändern, daß eine einfache Restauration auch in diesem Sektor ausgeschlossen war. Davon abgesehen, hatte die NS-Diktatur seit der Revolution von 1933 soziostrukturelle Veränderungen in der gesellschaftlichen Hierarchie herbeigeführt. und die Vertreibung hatte seit 1945 einer in Preußen lange Zeit gesellschaftlich dominierenden Schicht — den sogenannten Junkern — endgültig die materielle Basis entzogen, was — ebenso wie die gesellschaftliche und politische Entmachtung des Offizierskorps — gleichfalls erhebliche gesellschaftliche Veränderungen bewirkte. 4. Das System der von A. Müller-Armack so genannten . sozialen Marktwirtschaft', deren erfolgreicher Protagonist Ludwig Erhard wurde, unterscheidet sich gravierend von der wirtschaftspolitischen Struktur NS-Deutschlands. aber auch von derjenigen der Weimarer Republik. Ähnlich verschieden entwickelten sich Tarifpartnerschaft und Gewerkschaftsbewegung. Die zum ökonomischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik gehörenden weitreichenden sozialpolitischen Maß-13 men gehen ebenfalls über das in den Epochen vor 1945 Übliche qualitativ und quantitativ erheblich hinaus. 5. Das bundesrepublikanische Parteiensystem ist nicht nur infolge der Größe und der weit geringeren Zahl von Parteien stabiler, sondern es wurde von Beginn an durch mehrere große und integrationsfähige verfassungskonforme Parteien getragen. Auch die jeweils stärkste Oppositionspartei blieb während der gesamten Geschichte der Bundesrepublik — anders als dies zur Zeit der Weimarer Republik der Fall war — auf einen Fundamentalkonsens gegenüber der Verfassungs-, Staats-und Gesellschaftsordnung verpflichtet, die sie mitgeschaffen bzw. entwickelt hatte. Die Oppositionsparteien des Bundestags waren oftmals auf Länder-und Kommunalebene die Regierungsparteien. Überdies hat es in Form der CDU/CSU eine echte, überkonfessionelle Neugründung gegeben, die ohne Vorbild aus der Zeit vor 1945 bzw. 1933 ist. 6. Die in erster Linie von Konrad Adenauer voran-gebrachte wertorientierte innen-und außenpolitische Westintegration beendete in wesentlichen Grundfragen den tatsächlichen oder vermeintlichen „deutschen Sonderweg“. Die mehrschichtige Westintegration bedeutete in außenpolitischer Hinsicht geradezu eine diplomatische Revolution, existierte doch zuvor kein deutscher Staat, der sich nicht unter Akzentuierung seiner geostrategischen Lage Ost-und Westoptionen offengehalten hätte. Die zeitweilige Verfolgung hegemonialer Ziele basierte darauf. Diese Politik sah Adenauer als Schaukelpolitik an. die er aufgrund westlicher Wertorientierung wie machtpolitischer Überlegungen ablehnte. An der Prioritätenskala „Freiheit. Frieden. Einheit“ ließ er nicht rütteln. Zur Westintegration der Bundesrepublik gehörte im übrigen der Verzicht auf militärpolitische Souveränität durch Integration der Bundeswehr in die Befehlsstruktur der NATO — auch dafür gibt es in der deutschen Geschichte kein Vorbild.

Gegenüber diesen einen radikalen Neubeginn einleitenden Fundamentalentscheidungen fallen für die Gesamtbeurteilung weder einzelne personelle Kontinuitäten in Politik. Verwaltung. Wirtschaft und Kultur ins Gewicht noch die erheblich gravierendere und keineswegs nur Einzelfälle betreffende personelle — nicht aber rechtspolitische — Kontinuität im Justizwesen. Bei objektiver Gewichtung der hier nur stichwortartig zu nennenden Faktoren gilt also: Diskontinuität und konstruktiver Neubeginn überwogen in massivstem Ausmaß die Kontinuitäten; die Restaurationsthese ist empirisch im Hinblick auf das gesamte politische und sozialökonomische System der Bundesrepublik Deutschland unzutreffend.

Die empirische Forschung zur Geschichte der Bundesrepublik ist inzwischen weit fortgeschritten und erstreckt sich in manchen Bereichen bereits bis zum Ende der sechziger Jahre. Seit Thilo Vogelsangs erster und noch immer wertvoller Gesamtdarstellung Das geteilte Deutschland (zuerst 1966). die. mehrfach weitergeführt, inzwischen zu einem Bestseller geworden ist. erschienen auch neuere forschungsorientierte, prägnante und gehaltvolle Zusammenfassungen (Anselm Doering-Manteuffel 1983; Rudolf Morsey 1987). Schließlich wurde 1987 eine repräsentative sechsbändige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen, in der insbesondere die den Zeitraum von 1949 bis 1969 darstellenden Werke von Hans-Peter Schwarz und Klaus Hildebrand nicht allein großangelegte Synthesen sind, sondern zugleich zahlreiche Quellen-gruppen erschließen und als Forschungsleistung Neuland betreten. Die Autoren dieser maßstabsetzenden Werke konnten Aktenmaterial benutzen, das zum Teil noch der Sperrfrist von 30 Jahren unterliegt. Dazu gehören auch für die Geschichte einer parlamentarischen Demokratie erstrangige Quellen, wie etwa die Protokolle von Fraktionssitzungen und Parteigremien.

Auf der anderen Seite verfügen die Historiker, die durch die prinzipielle Zugänglichkeit eines Großteils der Quellen zur deutschen Zeitgeschichte bis 1945 ohnehin verwöhnt waren, für die Nachkriegszeit über Massen direkt zugänglichen Quellenmaterials. Auf vielen Feldern können die Zeithistoriker in demokratischen Staaten bereits arbeiten, lange bevor amtliches Aktenmaterial der Forschung zugänglich wird. Die zunehmende Öffentlichkeit politischer Entscheidungsbildung erweitert die Quellenbasis des Zeithistorikers beträchtlich. Die sukzessive Verschiebung der Sperrfristen stellt überdies ständig neue Aufgaben, auch wenn beispielsweise eine historische Analyse der Außenpolitik oftmals erst später möglich wird, da auch die Archive anderer Staaten zugänglich sein müssen. Oft bildet indes die Massenhaftigkeit der Quellen ein Problem: In der Regel kann für größere Themen-stellungen nur ein Bruchteil des tatsächlich verfügbaren vielschichtigen Quellenmaterials ausgewertet werden.

Probleme könnten sich künftig für personenbezogene zeitgeschichtliche Forschung aus zwei sehr un-B terschiedlichen Gründen ergeben. Erstens: Aus einem sich ausdehnenden Anwendungsbereich der Personen-und Datenschutzgesetzgebung, wenn diese restriktiv gehandhabt wird und nicht hinreichend berücksichtigt, daß Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses auch für die spätere Geschichtsforschung zentrale Bedeutung haben können. Zweitens: Aus der zunehmenden Tendenz führender Politiker, ihre auch amtliches Material enthaltenden Nachlässe an Parteistiftungen zu geben. Zwar haben diejenigen Parteistiftungen, die professionell geführte Archive gründeten (vor allem die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung) große geschichtswissenschaftliche Verdienste bei der Sammlung. Erschließung und Erforschung von Parteiakten, doch wäre es nicht unproblematisch, wenn sich ein in manchen Kirchen-. Verbands-, Gewerkschafts-und parteibezogenen Themenstellungen erkennbarer Trend fortsetzte, daß jeweils die „eigene“ Geschichte untersucht und dargestellt würde und Historiker, die den jeweiligen Überzeugungen und Bindungen femstehen. sich an solchen Arbeiten kaum noch beteiligten. Eine derartige Parzellierung liegt in der Zeitgeschichte näher als für andere historische Epochen. „Historische Kommissionen“ bei Parteivorständen dürften eher zur Verstärkung solcher Tendenzen beitragen — jedenfalls dann, wenn sie nicht a priori auf parteioffizielle Geschichtsbilder Verzicht leisten. Die Verwischung der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik geht in aller Regel auf Kosten der Wissenschaftlichkeit. Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis muß im Sinne Max Webers das „regulative Prinzip“ auch der Zeitgeschichte bleiben. „Parteihistorie“ verengt die Optik durch ein kurzgeschlossenes Gegenwartsinteresse; sie erschwert folglich die Annäherung an dieses Ziel aller echten Wissenschaft und ist zutiefst rückschrittlich.

Manche Themen können heute auf der Basis von Quellen behandelt werden. für die frühere Epochen keine Parallele kennen: So ist Wahlforschung noch für die Zeit der Weimarer Republik äußerst mühsam und bisher nur regional, zeitlich und parteimäßig begrenzt geleistet; Historiker der Geschichte der Bundesrepublik hingegen finden ein durch Statistiker und Meinungsforscher vorzüglich aufbereitetes Quellenmaterial vor. das schon kurz nach einer Wahl gemäß zentralen Fragestellungen geordnet und ausgewertet ist.

Nicht nur die thematische und zeitliche Erweiterung bzw. Verschiebung der Zeitgeschichte, sondern auch der Wandel der Quellenbasis, die bei manchen Themen völlig veränderten technischen Möglichkeiten zur Auswertung von Statistiken sowie die Existenz sozialstatistischer Massenakten dokumentieren also das eingangs erwähnte . Altern* der Zeitgeschichte. Die Fülle des täglich in den Medien Berichteten und technisch ohne Schwierigkeit Abrufbaren verändert in gewisser Weise den Quellenwert der Nachricht, wie andererseits traditionelle Quellengattungen einem Wandel unterliegen und nicht selten an Gehalt verlieren. Dazu trägt auch die beliebige Reproduzierbarkeit bei, die die Geheimhaltung von Entscheidungsvorgängen erschwert. Ein Kabinettsprotokoll, das nicht nur den Beteiligten, sondern einer ganzen Reihe weiterer Personen zugänglich ist. wird immer weniger inhaltsreich oder beschränkt die Inhaltswiedergabe auf ohnehin zur Veröffentlichung vorgesehene Informationen; das Telefongespräch ist für spätere Historiker nur dann auswertbar, wenn darüber eine Aktennotiz angefertigt wurde. Die Politikerrede — noch zu Zeiten Bismarcks. Stresemanns, Eberts und Adenauers eine bedeutsame Quelle — ist heute meist mehr oder weniger stark ein Produkt von Ghostwritern: Sie prägen meist die Form der Aussage und oft auch die Inhalte mit, die Texte sind also für den Redner, der nur noch ausnahmsweise der Autor ist. bedingt aussagekräftig. Ähnliches gilt für das Interview oder die öffentliche Resonanz einer Rede, die häufig mehr Ergebnis einer durch Journalisten veröffentlichten Meinung ist — insofern zweifellos ebenfalls eine Quelle, doch für andere Fragestellungen.

Solche Perzeptionsprobleme müssen angemessen — und das heißt nicht allein vom erkennenden Subjekt her. sondern auch objektbezogen — analysiert werden. Die Überfülle der Ereignisse in der Gegenwart behindert oftmals die Erkenntnis der Zeitgenossen. Die vita activa erschließt nicht allein die Welt, sondern verstellt auch Zusammenhänge, die nur der nachträglichen Kontemplation transparent werden, die das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden weiß.

Die Struktur politischer Entscheidungsbildung und die sich immer stärker verfeinernden und differenzierenden Fragestellungen komplizieren also ebenso wie die unübersehbare Zähl der in Demokratien beteiligten Akteure und Gruppen das historiographische Bild. Die Tatsache, daß es in der Zeitgeschichte nach wie vor an großen Biographien fehlt — dies gilt auch für die Weimarer Zeit — mag in der Pluralisierung von Entscheidungsprozessen ebenso begründet sein wie in der geschichtswissenschaftlichen Methodendiskussion, die dieses Genre zu Unrecht zeitweilig sehr zurücktreten ließ. Gerade die komplexen Bezüge, in denen beispielsweise ein heutiger Staatsmann steht, stellen zwar eine besondere Herausforderung für den Biographen dar. bieten aber zugleich die Chance, zu dieser Komplexität einen Zugang zu gewinnen, in dem sich wesentliche Linien wie in einem Brennglas bündeln. Die Zeitgeschichtswissenschaft kann so wenig wie andere historische Disziplinen auf die themenbezogene Pluralität unterschiedlicher Interpretationskategorien und je spezifischer Methoden verzichten.

Eine zusätzliche Problematik der jüngsten Zeitgeschichte resultiert aus der Interdependenz der modernen Welt: Nicht allein die internationalen Beziehungen und die militärischen Bündnissysteme sind . weltpolitischer'und damit komplexer geworden, sondern auch eine Fülle anderer Sektoren der Zeit-geschichtsschreibung.beispielsweise die Wirtschaftsbeziehungen. die kulturellen Wechselwirkungen zwischen den entferntesten Regionen, die alltägliche Lebenswelt: Moderne Informationstechnik und verkehrsmäßige Erschließung der Welt bilden die Medien dieser Entwicklung. Beschleunigung des technologischen Wandels, immer größere Informationsdichte, sich ständig steigernder Nachrichtenumsatz machen Egon Erwin Kischs „rasenden Reporter“ zu einer behäbigen Figur von gestern und vermitteln ein Gefühl ständig beschleunigter Veränderung der Welt, die die Sensation von heute oft schon nach wenigen Tagen schal und abgestanden werden läßt. Aktualität wird zum Selbstzweck.der Historiker aber darf ihr nicht erliegen, sondern muß aus dem „Unschärfebereich der Gegenwart“ (Christa Wolf) heraustreten und durch Distanzierung Konturen und Signatur der Vergangenheit erfassen und sie in der Gegenwart aufheben, so wie er diese erst durch sie verstehen — und relativieren — kann.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Horst Möller, Dr. phil.. geb. 1943; o. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München 1984; Weimar. Die unvollendete Demokratie. München 19872; Parlamentarismus in Preußen 1919— 1932, Düsseldorf 1985; Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt 1986. Mitherausgeber u. a. von: Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte. München 19862; Deutschlands Weg in die Diktatur. Berlin 1983; Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (AHF).seit 1983. sowie der Historischen Bibliographie seit 1987; Enzyklopädie deutscher Geschichte. 1988 ff.