I.
Als Mao Zedong am 5. September 1976 starb, war die Volksrepublik (VR) China bereits zu einem anerkannten Mitglied der internationalen Gemeinschaft geworden, von der sie mehr als 25 Jahre ausgeschlossen war. Man kann der chinesischen Führung den Vorwurf nicht ersparen, daß sie es ihren Gegnern gerade in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre leicht gemacht hatte, diesen Ausschluß zu rechtfertigen. Die schrillen Propagandatiraden der Kulturrevolution, die Bilder von Hunderttausenden das Rote Buch schwingender und unablässig die gleichen, stupiden Losungen skandierender Chinesen, das Niederbrennen der britischen Vertretung in Peking und Nachrichten über ähnlich abschreckende Ereignisse, die aus dem kulturrevolutionären China zu uns drangen, konnten als Beweis für die Irrationalität und Gefährlichkeit der chinesischen Politik herangezogen werden. Dabei wurde übersehen, daß Pekings Außenpolitik seit 1949 zwar häufig von sehr militanten Äußerungen begleitet wurde, aber in ihrem Kern wohlüberlegt, manchmal sogar vorsichtig und keinesfalls dogmatisch festgelegt war. Bereits Ende der sechziger Jahre sollte erneut deutlich werden, wie kühl die chinesische Führung die eigenen Interessen fixierte und verfolgte.
Bei der Bestimmung der eigenen Interessen war zunächst die Angst vor der sowjetischen Bedrohung das dominierende Element der chinesischen Außenpolitik. Diese Angst war mehr als eine bloße Hysterie. Die Sowjetunion hatte 1966/67 ihre Truppen an der chinesischen Grenze beträchtlich verstärkt und recht offen zu verstehen gegeben, daß man sie — wenn auch in begrenzten Operationen — gegen die VR China einsetzen würde, wenn diese an ihrer sowjetfeindlichen Politik festhalte
Der erste große Erfolg dieser außenpolitischen Neuorientierung war der Einzug der VR China in die Vereinten Nationen (Herbst 1971) und der Ausschluß Taiwans aus diesem Gremium. Mindestens ebenso spektakulär war wenige Monate später der Besuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in Peking (Februar 1972), der zur Unterzeichnung eines Gemeinsamen Kommuniques führte. In diesem Kommunique wurden sowohl weiterhin bestehende Divergenzen — vor allem in der Taiwanfrage — als auch gemeinsame strategische Interessen gegenüber den Hegemoniebestrebungen „irgendeines anderen Landes oder irgendeiner Gruppe von Ländern“
Deng Xiaoping, selbst ein Opfer der Kulturrevolution und erst im Oktober 1973 wieder rehabilitiert, legte im April 1974 auf einer Sonderkonferenz der UNO über Rohstofffragen eine erste theoretische Zusammenfassung wie auch strategische Konzeption dieser ersten Phase nachkulturrevolutionärer Außenpolitik vor: die Dreiweltentheorie
Kapitalismus oder irgendwelche Mischformen zwischen diesen beiden Gesellschaftsformationen, sondern die wirtschaftliche und militärische Stärke der einzelnen Länder. Mit Hilfe dieses Kriteriums kam sie zu dem Schluß, die Entwicklung des weltpolitischen Kräfteverhältnisses werde im wesentlichen von drei Gruppierungen bestimmt: der Ersten Welt, den beiden Supermächten USA und UdSSR, die in der Lage sind, auch weit entfernt von den eigenen Landesgrenzen militärische Mittel einzu-setzen und die daher auch weltweit um die Vorherrschaft kämpfen; der Zweiten Welt, den kleineren industrialisierten Ländern, die einerseits von den Supermächten politisch bevormundet und wirtschaftlich ausgebeutet werden, andererseits aber selbst die Länder der Dritten Welt ausplündem und schließlich der Dritten Welt, zu der sich China selbst zählt, die zwar noch wirtschaftlich unterentwickelt ist. aber aufgrund ihres ungeheuren Potentials an Menschen und Rohstoffen immer stärker zum bestimmenden Faktor der Weltpolitik wird. In ihrem Kampf gegen das Herrschaftsmonopol der Supermächte könnten die Länder der Dritten Welt eine taktische Allianz mit der Zweiten Welt eingehen. die ja ebenfalls von den Supermächten ausgebeutet werden würde. Obgleich diese Dreiweltentheorie von Anfang an mehr einen von China angestrebten Idealzustand als eine konkrete Analyse der internationalen Beziehungen darstellte, erwies sie sich doch als taugliches Propagandainstrument, um chinesische Außenpolitik in einen weltpolitischen Zusammenhang zu stellen und sie vor der eigenen Bevölkerung wie vor der internationalen Öffentlichkeit zu legitimieren.
Trotz der erstaunlichen Leistungen, die die VR China in jener ersten Phase der Öffnungspolitik vollbracht hatte, darf nicht übersehen werden, daß in den siebziger Jahren noch gravierende Irritationen bestehen blieben, die nach wie vor Zweifel an der Rationalität und Verläßlichkeit der chinesischen Außenpolitik hervorriefen. Zum einen war dies die Beibehaltung, ja sogar Intensivierung des Konflikts mit der Sowjetunion. Zwar waren die Ministerpräsidenten beider Länder bereits wenige Monate nach den blutigen Zusammenstößen am Ussuri (März 1969) übereingekommen, alles zu tun. um eine militärische Eskalation des Konflikts zu vermeiden, aber auf außenpolitischer und propagandistischer Ebene gingen die Auseinandersetzungen mit unverminderter Schärfe weiter. Die Sowjetunion wurde nicht nur des „Sozialimperialismus“ bezichtigt, sondern sogar mit dem deutschen Nationalsozialismus auf eine Stufe gestellt
Bei den meisten außenpolitischen Partnern Chinas fanden derartige Attacken wenig Verständnis. In vielen Ländern der Dritten Welt hielt man die USA für eine wesentlich gefährlichere Bedrohung der eigenen Interessen als die UdSSR, während zahlreiche Politiker der westlich orientierten Länder in den chinesischen Angriffen auf die Sowjetunion nur eine Beeinträchtigung des von ihnen favorisierten Entspannungsprozesses im Ost-West-Verhältnis sahen.
Eng verbunden mit der Kritik des aggressiven und expansionistischen Charakters der Sowjetunion war die von Peking verfochtene These, ein neuer Weltkrieg sei unvermeidbar. Alle Vorschläge und Verhandlungen über Abrüstung seien nur ein „Rauchvorhang“, hinter dem die Sowjetunion zielstrebig die eigene Aufrüstung betreibe. Auf diese unausweichliche Konfrontation müßten sich die „Völker der Welt“ vorbereiten. Nur dann könne der Ausbruch eines neuen Weltkriegs hinausgeschoben, wenn auch nicht vermieden Werden
Auch die wachsende Opposition innerhalb der KP Chinas gegen die neue Öffnungspolitik nährte Befürchtungen. daß bald ein erneuter außenpolitischer Kurswechsel eintreten werde. Die Kampagne gegen Lin Biao und Konfuzius (1974/75). in der starke Vorbehalte gegen eine Intensivierung der Beziehungen Chinas mit dem Ausland laut wurden, die 1975 indirekt und 1976 offen geführte Kampagne gegen Deng Xiaoping, die nicht zuletzt gegen seine Außenwirtschaftspolitik gerichtet war
Mao Zedongs Tod (5. September 1976) und die kurz darauf erfolgte Verhaftung seiner engsten Anhänger.der sogenannten Viererbande, machten derartige Befürchtungen gegenstandslos. Hua Guofeng.der sowohl das Amt des Ministerpräsidenten wie des Parteivorsitzenden übernommen hatte, gab bereits im ersten Jahr seiner Regierung deutlich zu verstehen, daß er keine Einschränkung, sondern eine Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den kapitalistischen Ländern anstrebe.
Sieht man von der legendären Afrikareise Zhou Enlais (1963/64) ab. so war Hua Guofeng der erste Ministerpräsident der VR China, der zu Staatsbesuchen in das nichtsozialistische Ausland fuhr. 1978 flog er nach Rumänien. Jugoslawien und in den Iran, ein Jahr später nach Frankreich. Großbritannien und in die Bundesrepublik Deutschland. Entscheidende Durchbrüche konnten im Verhältnis zu Japan und den USA erzielt werden. Im August 1978 wurde der Friedensvertrag mit Japan unter Einschluß jener Klausel unterzeichnet, in der sich beide Länder verpflichteten, hegemonistischen Bestre-bungen anderer Mächte entgegenzutreten
Im Verhältnis zur Sowjetunion war aber keinerlei Klimaverbesserung zu erkennen. Auch als Deng Xiaoping nach seiner zweiten Rehabilitierung (Juli 1977) im zunehmenden Maße die chinesische Politik bestimmte, hielt er an dieser kompromißlosen Verurteilung der sowjetischen Politik fest. In einem außenpolitischen Grundsatzartikel, der im November 1977 erschien
Aus dieser Einschätzung folgerte Peking die zwingende Notwendigkeit, eine weltweite Einheitsfront gegen den sowjetischen Sozialimperialismus zu bilden. an der nicht nur die Länder der Dritten und Zweiten Welt, sondern auch die USA beteiligt sein sollten,
Betrachten wir aus heutiger Perspektive die außen-politischen Erklärungen und Aktionen während der siebziger Jahre, so sind Akzentverschiebungen, aber auch signifikante Kurskorrekturen nicht zu übersehen. Da sie Schritt für Schritt vorgenommen wurden, traten sie nicht so nachhaltig in das öffentliche Bewußtsein wie jene Maßnahmen, die zu Beginn der siebziger Jahre Chinas Eintritt in die Weltpolitik eingeleitet hatten.
II.
Beginnen wir beim Grundsätzlichen: Die Dreiweltentheorie, offizielle Richtschnur der nachkulturrevolutionären Außenpolitik, wird seit Beginn der achtziger Jahre nicht mehr erwähnt
Es ist bezeichnend für den Pragmatismus der chinesischen Außenpolitik in den achtziger Jahren, daß auch keine neue Theorie aufgestellt wurde, die den Anspruch erhebt, die gesamte weltpolitische Entwicklung zu erfassen. Einzelne Aussagen der Dreiweltentheorie finden sich auch in derzeitigen Erklä-rungen chinesischer Spitzenpolitiker. So wird nach wie vor die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Hegemonismus betont und gleichzeitig versichert: „China wird niemals Hegemonie anstreben, und es widersetzt sich entschieden dem Hegemonismus, ganz gleich, wer diesen praktiziert und ganz gleich, in welcher Form dies geschieht“
Darüber hinaus betrachtet sich die VR China immer noch als Teil der Dritten Welt. „Die Stärkung der Solidarität und Zusammenarbeit mit der Dritten Welt“ bleibe ein grundlegendes Prinzip chinesischer Außenpolitik
Die durch diese diplomatische Offensive erzielte Übereinstimmung in politischen Grundsatzfragen erreichte sehr schnell ihre Grenzen, wenn es um materielle bzw. wirtschaftliche Probleme ging. China, das zu Beginn der siebziger Jahre nach westlichen Schätzungen über eine Milliarde US-Dollar an Entwicklungshilfe gegeben hatte
Es kommt daher nicht von ungefähr, daß China heute weniger von Hilfe als von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Zusammenarbeit der Länder der Dritten Welt spricht 20), die aus der Abhängigkeit von den industrialisierten Ländern herausführen soll. Folgerichtig hat sich die VR China bereit erklärt. in Peking die erste Süd-Süd-Konferenz (April 1983) abzuhalten, auf der mögliche Kooperationsformen und die damit zusammenhängenden Probleme diskutiert wurden
Berücksichtigt man diese Zahlen, so wird Chinas Position im Nord-Süd-Konflikt etwas verständlicher. Peking unterstützt zwar prinzipiell die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, aber wenn es in diesem Kontext um die Ausarbeitung konkreter Vorstellungen geht, hat es bisher auffallende Zurückhaltung an den Tag gelegt und immer wieder betont, daß die Gegensätze zwischen industrialisierten und unterentwickelten Ländern durch Kooperationsbereitschaft beider Parteien beseitigt werden müßten. Eine nach diesem Prinzip aufgebaute Neue Weltwirtschaftsordnung würde dann auch den „langfristigen“ Interessen des Nor-dens wie denen des Südens gerecht werden
Wie viele Entwicklungsländer die VR China mit solch einer Rolle betrauen würden, sei dahingestellt. Ist doch gerade von dieser Seite kritisch vermerkt worden, daß China trotz verbaler Unterstützung abgelehnt hat. sich jenen internationalen Gruppierungen anzuschließen, die aktiv für die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung eintreten, wie zum Beispiel die Gruppe der 77 in den Vereinten Nationen. Andererseits ist die VR China Mitglied der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, die in der Dritten Welt eher als Befürworter der bisherigen als einer Neuen Welt-wirtschaftsordnung angesehen werden
Chinas Entscheidungen in konkreten Sachfragen der Politik gegenüber der Dritten Welt belegen klar, daß die chinesische Führung gegenwärtig den Beziehungen zu den Entwicklungsländern zwar einen hohen propagandistischen, aber nur einen geringen praktischen Stellenwert beimißt. Die Beziehungen zu den entwickelten, industrialisierten Ländern haben dagegen in der chinesischen Interessenperzeption an Bedeutung gewonnen.
III.
Im Zuge dieser Neuorientierung ist man auf theoretischem Gebiet von der noch Ende der siebziger Jahre nachdrücklich verfochtenen These abgerückt. daß ein neuer Weltkrieg, angefacht von den beiden Supermächten und zunächst auf europäischem Boden ausgetragen, unvermeidbar sein werde
Peking hat inzwischen auch konkrete Vorstellungen entwickelt, . wie dieser internationale Abrüstungsprozeß vonstatten gehen sollte
Auch wenn China immer wieder betont, daß Abrüstung nicht allein den Supermächten überlassen werden dürfe und alle Staaten an diesem Prozeß beteiligt werden müßten, lehnt es Abrüstungsgespräche zwischen den beiden Supermächten nicht ab. Im Unterschied zu Albanien, das an der früheren chinesischen Linie festhält und die Annäherung der amerikanischen und sowjetischen Standpunkte in der Frage der Mittelstreckenraketen als Propaganda abtut, die die Kriegsvorbereitungen der Supermächte verschleiern sollen, begrüßte China die im Sommer 1987 erreichte „prinzipielle Übereinkunft“ in dieser Frage
Was sind die Ursachen für diese neue Beurteilung der Kriegsgefahr wie der Abrüstung, und welche Konsequenzen haben sie für die praktische Politik? Zunächst ist hier das gewandelte Verhältnis zur Sowjetunion zu nennen. Die ideologisch begründeten Vorwürfe gegen die Sowjetunion gehören seit Jahren der Vergangenheit an. Bereits 1979, als Peking mit seiner neuen Wirtschaftspolitik vieles von dem praktizierte, was es noch vor wenigen Jahren als „Restauration des Kapitalismus“ verurteilt hatte, war in China eine allerdings nur intern ge-führte Diskussion darüber entbrannt, ob die Sowjetunion weiterhin als revisionistisch bezeichnet werden könne
Inzwischen hat man sich jedoch von diesem Verdikt gelöst und gesteht der Sowjetunion das Attribut „sozialistisch“ zu. Die wirtschaftlichen und politischen Reformen, die in beiden Ländern durchgeführt werden, erfahren in sowjetischen wie chinesischen Fachzeitschriften, aber auch in den Massenmedien eine positive Würdigung
Auf staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Ebene ist man jedoch ein gutes Stück vorangekommen. Die Anfänge dieses Entspannungsprozesses liegen fast neun Jahre zurück. Am 3. April 1979 verband die VR China die Kündigung des 1950 auf 30 Jahre geschlossenen Bündnisvertrages zwischen Moskau und Peking mit dem Vorschlag „Verhandlungen zwecks Lösung der offenstehenden Probleme und Verbesserung der Beziehungen“ aufzunehmen. Bereits am 17. April erklärte sich die Sowjetunion zu solchen Verhandlungen bereit — ungeachtet des zwei Monate vorher unternommenen „Straffeldzugs“ Chinas gegen Vietnam, dem wichtigsten Bundesgenossen der UdSSR in Südostasien. Eine erste Verhandlungsrunde fand im Oktober und November statt. Ging es der sowjetischen Seite bei dieser ersten Begegnung um eine Festlegung der „Prinzipien der gegenseitigen Beziehungen“, wollten die chinesischen Gesprächspartner über zwei Punkte sprechen: den Abbau der sowjetischen Militärpräsenz an der chinesischen Grenze und die Einstellung der sowjetischen Unterstützung für die vietnamesische Besetzung Kambodschas
Die sowjetische Intervention in Afghanistan beendete schon Ende 1979 vorschnelle Hoffnungen auf eine baldige Normalisierung des bilateralen Verhältnisses. Erneut trat die Polemik an die Stelle des gerade erst begonnenen Dialogs zwischen den beiden sozialistischen Großmächten. Längerfristig betrachtet war es aber gerade der Krieg in Afghanistan . jene — um die von China verwandte Metapher aufzugreifen — „blutende Wunde“
Vom 5. bis 25. Oktober 1982 trafen sich beide Seiten in Peking zu „Konsultationen“
Gerade in jüngster Zeit haben chinesische Spitzenpolitiker. nicht zuletzt Deng Xiaoping selbst, erklärt. die Lösung der Kambodschafrage sei das entscheidende Hindernis, das einer vollständigen Bereinigung des chinesisch-sowjetischen Verhältnisses entgegenstehe
Im Bereich der kulturellen und wirtschaftlich-technischen Kooperation sowie des Handels sind bereits deutlich meßbare Erfolge zu verzeichnen. Noch unter der Amtszeit Tschernenkos wurden im Dezember 1984 drei Abkommen über wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und die Bildung einer sowjetisch-chinesischen Komission für die Zusammenarbeit in Wirtschaft. Handel sowie Wissenschaft und Technik mit einer Laufzeit von zehn Jahren geschlossen. Diese Abkommen wurden im Juli 1985 durch ein auf fünf Jahre befristetes Handelsabkommen ergänzt, das erste positive Auswirkungen gezeigt hat. Nach den für das Jahr 1986 vorliegenden Zahlen erreichte der sowjetisch-chinesische Handel ein Volumen von 2. 6 Mrd. US-Dollar; dies bedeutet gegenüber 1981 eine Steigerung um das Zehnfache
IV.
Ohne die chinesisch-sowjetische Annäherung und die sich rasch intensivierende Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten zu unterschätzen, kann derzeit noch nicht von einer Äquidistanzpolitik Chinas gegenüber den beiden Supermächten gesprochen werden. Nach wie vor besitzen die Beziehungen zu den USA ein sehr viel größeres Gewicht als die zur Sowjetunion. Von Seiten Chinas wird dies auch ganz augenfällig zum Ausdruck gebracht, indem man von den drei Hindernissen im sowjetisch-chinesischen, aber nur von einem Hindernis im amerikanisch-chinesischen Verhältnis spricht: der Taiwanfrage
Die USA hatten sich zwar mit der Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zur VR China (1. Januar 1979) dazu durchgerungen, die Pekinger Regierung als die einzig rechtmäßige Regierung Chinas und Taiwan als integralen Bestandteil Chinas anzuerkennen, aber schon am 26. Januar 1979 unterbreitete die Carter-Administration dem Kongreß den Entwurf eines „Taiwan Relations Act“, der im April in Kraft trat. Der VR China mißfielen an diesem Dokument vor allem drei Punkte: erstens die dort entwickelte Vorstellung, daß das Taiwan-problem nur auf friedlichem Wege gelöst werden könne, zweitens die Verpflichtung der USA. einer Gefährdung der Sicherheit Taiwans bzw.der dort existierenden Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung aktiv entgegenzutreten sowie drittens die öffentlich bekundete Bereitschaft, weiterhin militärische Ausrüstung an Taiwan zu liefern
Erst als Ronald Reagan 1980 während seines Wahlkampfs um die Präsidentschaft unmißverständlich erklärte, daß er die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Taibei bzw. die Zurückstufung der Beziehungen zu Peking erwägen und auf jeden Fall den „Taiwan Relations Act“ sehr extensiv auslegen werde
Nicht weniger deutlich war einige Monate zuvor in einem offiziellen Kommentar der chinesischen Nachrichtenagentur an den Ausbruch des chinesisch-sowjetischen Konflikts erinnert worden. Auch damals habe die VR China keine Opfer und Härten gescheut, als es die nationalen Interessen des Landes zu verteidigen galt
Nachdem die Reagan-Administration Anfang 1982 deutlich signalisiert hatte
Hatte Peking dieses Gemeinsame Kommunique zunächst nur als einen ersten Schritt gesehen, dem weitere amerikanische Zugeständnisse folgen müßten
Ende 1982 war offensichtlich beiden Seiten klar geworden, daß ihr außenpolitischer Handlungsspielraum sich merklich verringern würde, wenn man die bilateralen Kontroversen weiter vertiefen würde. An den prinzipiellen Differenzen, die man in der Taiwanfrage hatte, änderte sich dadurch nichts, aber man stellte diese Differenzen in den Hintergrund und suchte Gemeinsamkeiten
Amerikanische Vorbehalte gegen intensivere Kontakte auf so diffizilen Gebieten wie zum Beispiel dem Transfer von Spitzentechnologie, nicht zuletzt auch im militärischen Bereich, hatten an Relevanz verloren. Die erste Chinareise von Verteidigungsminister Caspar Weinberger im September 1983 leitete eine Phase informeller militärischer Kooperation ein. die von amerikanischen Waffenverkäufen bis hin zum Austausch von Aufklärungsinformationen über sowjetische Truppen-und Waffenstationierung in Fernost reichte
Bei all diesen hochrangigen Gesprächen, die hinter verschlossenen Türen stattfinden, sollte nicht vergessen werden, daß das amerikanisch-chinesische Verhältnis auch auf einer Vielzahl von Begegnungen auf den verschiedensten Ebenen beruht. Mehr als zwanzigtausend chinesische Studenten und Wissenschaftler studieren in den USA oder betreiben dort Forschungen. Immer noch zunehmende Ströme amerikanischer Touristen bringen China steigende Deviseneinnahmen. Die Anzahl der Städte-, Provinz-und Universitätspartnerschaften ist kaum mehr zu übersehen. Sie verleihen den amerikanisch-chinesischen Beziehungen ein Fundament. das zeitweilige Erschütterungen überdauert. Das traditionell gute Image, das beide Länder voneinander hatten und an das in den siebziger Jahren fast nahtlos angeknüpft werden konnte, basierte auf solchen Kontakten, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts geknüpft und ausgebaut worden waren. Dazu gehören nicht zuletzt die Wirtschaftsbe-Ziehungen. Selbst wenn sich die gegenseitigen Erwartungen hier oft als überzogen erwiesen haben, schlagen die erzielten Handelsumsätze gerade in einer weltwirtschaftlich schwierigen Situation doch zu Buche. Die USA sind derzeit der drittgrößte Handelspartner der VR China. Ihr Anteil am chinesischen Gesamthandel betrug 1985 etwa 11 Prozent, das Dreifache des sowjetischen Anteils
Dennoch bleiben Konfliktpunkte bestehen, und sie werden auch freimütig angesprochen, ohne daß bisher das bilaterale Verhältnis nachhaltig beeinträchtigt worden wäre. Auf Chinas Kritik an der amerikanischen Politik gegenüber der Dritten Welt wurde bereits hingewiesen; hinzu kommen Meinungs-und Interessenunterschiede im zwischenstaatlichen Bereich. Außenminister Wu Xueqian stellte am 29. September 1987 in einer Rede vor dem US Council on Foreign Relations fest, daß der Weg der chinesisch-amerikanischen Beziehungen „zu einem solchen Umfang und zu einer solchen Tiefe, wie sie heute bestehen, ganz und gar nicht leicht gewesen sei“, aber man müsse sich auf drei Gebieten bemühen, die „langfristige und stabile Entwicklung“ dieser Beziehungen zu fördern
V.
Bestehen — wenn auch in unterschiedlicher Abstufung — „Hindernisse“, die einer vollständigen Normalisierung bzw. weiteren Verbesserung zu beiden Supermächten im Wege stehen, so gibt es in den Augen Pekings zwischen der VR China und den Ländern Westeuropas keine grundsätzlichen und schwerwiegenden Konflikte und Widersprüche
Schon zu Beginn seiner nachkulturrevolutionären Offnungspolitik hatte Peking den Zusammenschluß der westeuropäischen Länder zur Europäischen Gemeinschaft wie auch den 1972 erfolgten Beitritt Großbritanniens nachdrücklich begrüßt
Dies änderte sich in dem Maße, in dem die chinesische Führung zu der Überzeugung kam. daß ein neuer Weltkrieg vermeidbar sei und daß die Sowjetunion keine akute Gefahr mehr für Westeuropa darstellen würde. Nach wie vor wird die Notwendigkeit der NATO von der VR China nicht in Abrede gestellt, aber es werden günstigere Perspektiven für eine gegenüber den USA selbständigere Entwicklung Westeuropas gesehen, die langfristig zu einer vollständigen Unabhängigkeit Westeuropas führen könnten. Die chinesische Führung ließ keinen Zweifel daran, daß sie eine solche Entwicklung — solange sie die militärische Sicherheit Westeuropas nicht gefährdet — gutheißen und nach Kräften fördern wird
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kritisierte man auch nicht länger die Bemühungen um Abrüstung und Entspannung in Europa, die ja auch eine Verbesserung der Kontakte zwischen den west-und osteuropäischen Ländern
An der Haltung Pekings zu SDI und dem europäischen Forschungsprogramm Eureka wird diese Zielrichtung der chinesischen Politik besonders augenfällig. Die Einladung Präsident Reagans an die Westeuropäer, sich am SDI-Programm zu beteiligen, bezeichneten chinesische Publikationen lediglich als den Versuch, „Geldmittel. Technologie und Fachleute von Europa in die USA abzuziehen und Europa zu einer Verarbeitungsfabrik der amerikanischen Technologie zu degradieren“
Westeuropa ist für die VR China natürlich auch ein wirtschaftlicher Faktor. Von chinesischer Seite wird gern darauf hingewiesen, daß die EG mit einem Anteil von 14 Prozent am chinesischen Gesamthandel nach Japan der größte Handelspartner Chinas ist und daß der Handel mit der EG enorme Zuwachsraten aufweist. So habe er sich zwischen 1980 und 1985 verdreifacht und sei in den ersten acht Monaten des Jahres 1986 erneut um 20 Prozent über das Ergebnis des Vergleichszeitraums 1985 gestiegen
VI
Zieht man eine Bilanz der chinesischen Außenpolitik der vergangenen fünfJahre, so ist unbestreitbar, daß die VR China ihrem seit 1982 propagierten Ziel einer „unabhängigen Außenpolitik“ sehr nahe gekommen ist. China hat sich von übermächtigen Bundesgenossen ebenso gelöst wie von starren Feindbildern und hat auch diejenigen enttäuscht, die hofften, China als „Karte“ im Kräftespiel der internationalen Politik einsetzen zu können. Zu beiden Supermächten hat die VR China konstruktive Beziehungen entwickelt, die aber nach wie vor nicht gleichrangig und auch nicht widerspruchsfrei sind. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, daß eine vollständige Beseitigung der noch vorhandenen „Hindernisse“ derzeit weniger im chinesischen Interesse liegt, da diese Hindernisse gegenüber Dritten immer auch als Beweis für die eigene Unabhängigkeit herangezogen werden können.
Die VR China selbst kann gegenwärtig noch nicht als Supermacht eingestuft werden, dazu fehlt ihr das ökonomische wie militärische Fundament. Auch der ihr oft unterstellte Anspruch, eine Führungsrolle in der Dritten Welt anzustreben, läßt sich empirisch kaum belegen. Peking hat zwar in den achtziger Jahren sein diplomatisches Engagement in den Entwicklungsländern weiter verstärkt, aber es hat gleichzeitig bei allen Grundsatzforde-B rungen der Länder der Dritten Welt eine eher vermittelnde Haltung eingenommen und die eigenen Entwicklungshilfeleistungen drastisch reduziert.
Wie sich beim 13. Parteitag der KPCh im Oktober 1987 gezeigt hat, wird außenpolitischen Problemen derzeit von der chinesischen Führung keine besondere Priorität eingeräumt. Der Schwerpunkt chinesischer Politik liegt eindeutig auf der Entwicklung des eigenen Landes. Im Rahmen dieser Zielsetzung ist es Aufgabe der Außenpolitik, ein möglichst konfliktfreies internationales Umfeld zu schaffen und ausländisches Kapital und Know-how für den wirtschaftlichen Aufbau zu mobilisieren. Eine multipolare Welt mit mehreren, in etwa gleichstarken Machtzentren wäre sicherlich für die VR China der erstrebenswerte Idealzustand. Peking unterstützt daher nachdrücklich alle regionalen Zusammenschlüsse, sei es die ASEAN in Südostasien, die Europäische Gemeinschaft oder die gemeinsamen Bemühungen der lateinamerikanischen Staaten