Mit den Reformbeschlüssen vom Dezember 1978 setzte in China ein schon überfälliger Innovationsschub ein.der im Rechts-und Institutionenbereich nicht weniger einschneidend wirkte als bei den anderen, von der Regierungspropaganda übermäßig in den Vordergrund geschobenen sogenannten „Vier Modernisierungen“ (Landwirtschaft, Industrie. Wissenschafts-und Militärwesen). Zwar kam es den Reformern erklärtermaßen vor allem auf die Erneuerung der Wirtschaft und ihres institutioneilen Rahmenwerks an. doch mußten sie schon bald erkennen, daß ohne politische Reformen keine grundlegenden wirtschaftlichen Durchbrüche zu erreichen waren, gab es doch kaum ein Mittel, mit dem die verschiedenen Wirtschaftsbürokratien sich nicht gegen eine Schmälerung ihrer in fast drei Jahrzehnten konsolidierten Monopol-„Erbhöfe“ zur Wehr gesetzt hätten.
Möglichkeiten, um einzelbetriebliche Initiativen im Keime zu ersticken, gab es in Hülle und Fülle: Man verweigerte etwa unter den oft unsinnigsten Vorwänden die Lizenzierung eines Unternehmens, belegte es mit immer neuen „Gebühren“ und Sonder-steuern oder ließ sogar, wie es mehrere Male geschah. Betriebseinrichtungen der unliebsamen kollektiven oder privaten Konkurrenz kurzerhand zerstören.
I. „Demokratisierung“ (minzhuha)
Schon unter Mao Zedong war es zu zahlreichen Maßnahmen gegen Kaderwillkür und Machtmißbrauch gekommen, unter anderem zur „Vier-Sauber-Kampagne“ (1963— 65), vor allem aber zum Dauerexperiment des „Hinunterschickens von Kadern zur körperlichen Arbeit“, das während der Kulturrevolution in Form der „wuqi ganxiao“ („ 7. Mai-Kaderschulen“, so benannt nach dem Datum einer einschlägigen Mao-Direktive) institutionalisiert wurde und bei den Betroffenen heftige Ressentiments auslöste. Kerngedanke der maoistischen Politik war es. daß ein massenferner Bürokrat durch körperliche Arbeit wieder zu einem massennahen Mitkämpfer umerzogen werden könne, wobei Mao auf seine jahrzehntelangen Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg zurückgreifen zu können glaubte. Was allerdings in den dreißiger und vierziger Jahren unter den Bedingungen des Kampfes gegen die damalige Guomindang-Regierung möglich war. mußte nicht unbedingt auf die sechziger und siebziger Jahre passen, zumal sich das Haupt-13
Schon 1980 hatten die Reformer erkennen müssen, daß ohne eine Erneuerung des politischen Systems an Haupt und Gliedern jede wirtschaftliche Innovation ein Wunschtraum bleiben mußte. Untersucht man die verschiedenen Grundsatzdokumente, so werden mit fast notorischer Einförmigkeit immer wieder fünf Hauptmängel des politischen Systems beim Namen genannt, nämlich übermäßige Macht-konzentration. Führungspositionen auf Lebenszeit, patriarchalisches Denken und Handeln. Bürokratismus und Privilegienwesen. Einzelne Funktionäre. vor allem Parteisekretäre, hätten es sich im Laufe der Jahre zur Gewohnheit gemacht, ohne Rücksicht auf die Basis und ohne gesetzliche Rückbindung nach Belieben zu schalten und zu walten. Zwar lasteten die Reformer die Schuld für diese Entwicklung unablässig der „Kulturrevolution“ an. doch reichten die Ursachen dafür bis zur Gründung der Volksrepublik, vor allem aber bis zu dem Zeitpunkt zurück, als die siegreichen Bauernpartisanen sich entschlossen hatten, das stalinistische Modell zu übernehmen. Mit drei umfassenden Gegenmaßnahmen suchte man dem Phänomen der „MachtÜberkonzentration“ zu Leibe zu rücken, nämlich mit Demokratisierung, Neuverteilung der Gewalten und Vergesetzlichung. Manchmal wurde dieses Reformpaket auch „Fünfte Modernisierung“ genannt. interesse inzwischen von den Dörfern in die Städte verlagert und die „Revolution“ längst gesiegt hatte. Rückblickend läßt Sich feststellen, daß die „hinuntergeschickten“ Kader sich keineswegs geändert, sondern daß sie beim „fanshen“ (wörtl.: „Körperumdrehen“) lediglich äußerlich mitgespielt hatten. Die „Massen“ gewannen trotz des „Hinunterschickens“ Tausender von Funktionären nicht ein Mehr an Mitbestimmung, zumal ja auch Mao in den letzten Jahren seines Lebens die Macht höchst willkürlich ausübte.
Die Reformer mußten sich unter diesen Umständen andere Demokratisierungswege einfallen lassen und entschieden sich schon 1980 für sechs Maßnahmen: — Stärkung der Volkskongresse durch Direktwahl und erweiterte Befugnisse.
— striktere Trennung von Partei-und Verwaltungsorganen. — Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen durch Verlagerung von Gestaltungsrechten auf die betrieblichen und lokalen Ebenen, — Ausweitung der Betriebsautonomie.
— Reform des Kadersystems (Wahl, Absetzung, Überprüfung, Pensionierung usw.) und — für einen weiteren Ausbau des sozialistischen Rechtssystems
Der XIII. Parteitag (Oktober 1987) fügte diesem Katalog noch einen siebten Punkt hinzu, nämlich die „Institutionalisierung der Konsultation und des Dialogs in der Gesellschaft“:
Am wenigsten war mit der Direktwahl zu erreichen. Zwar kommt dem Nationalen Volkskongreß sowie den 29 Provinzkongressen heutzutage mehr Einfluß zu als dies zu Lebzeiten Maos der Fall war. Verschiedene Diskussionen seit 1980 haben überdies eindrucksvoll deutlich gemacht, daß die „Parlamente“ nicht nur .. Beifallskulissen“ sind, sondern daß von ihnen scharfe Kritik an bürokratischen Mißgriffen und damit auch so manche Verbesserung ausgegangen sind, doch sind die Rechte der Volkskongresse gegenüber dem Staatsrat und den Provinzregierungen sowie vor allem gegenüber den Parteigremien immer noch allzu beschränkt. Dies findet vor allem durch die mangelnde Möglichkeit zur Direktwahl seinen Ausdruck. Durch das Wahlgesetz vom 1. Juli 1979 gibt es eine Ausdehnung der Direktwahl bisher nur bis zur Kreis-. nicht dagegen bis zur Provinzebene, von einer Direktwahl der Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses (NVK) ganz zu schweigen. Verbesserungen wurden freilich insofern erzielt, als die Kandidatenlisten in der Öffentlichkeit zu beraten sind, als ferner inzwischen geheim gewählt wird und insofern schließlich mehr Kandidaten aufzustellen sind, als am Ende gewählt werden können.
Von wesentlich höherer Bedeutung ist die Trennung zwischen Partei und Verwaltung. Hatten sich die Parteiausschüsse eines Betriebs, einer Behörde oder einer Nachbarschaft in bisher praktisch sämtliche Verwaltungsangelegenheiten direkt eingemischt. so sollen sie in Zukunft nur noch indirekt Einfluß nehmen, das heißt darüber Kontrolle üben, ob die Entscheidungen der Verwaltungsgremien im großen und ganzen innerhalb der vorgegebenen politischen Richtlinien liegen. In einer Rede vor der gesamtnationalen Wissenschaftskonferenz von 1978 ging Deng Xiaoping sogar noch einen Schritt weiter, indem er darauf hinwies, daß die Effizienz eines im Wissenschaftsbereich angesiedelten Parteigremiums danach zu bemessen sei. inwieweit es ihm gelinge, die betreffenden Forschungsorganisationen zu ihrer maximalen Leistungsfähigkeit kommen zu lassen. Hier wird dem Parteiausschuß bezeichnenderweise eher eine „Igelrolle“ nach außen als nach innen zugewiesen. Analog dazu verlor auch der Politkommissar in der „Volksbefreiungsarmee“ gegenüber dem jeweiligen Kommandanten an Einfluß. Der Fachmann gewann also auf Kosten des Politkaders. Hier war einer der heikelsten Punkte in der Reformdiskussion angesprochen; denn es bedurfte schon einiger Beweisführungskunst, um glaubhaft zu machen, daß einerseits die Partei „alles führt“, daß andererseits aber ihre Kader gegenüber den Fachleuten zurücktreten sollen.
Fast genauso bedeutsam wie die Trennungsfunktion ist die Forderung nach Dezentralisierung, das heißt nach Stärkung der unteren Ebenen, der Basis. Unter Mao Zedong hatte der Grundsatz gegolten „Je zentraler, desto sozialistischer“. Damit waren vor allem zwei Konsequenzen verbunden: Auf der einen Seite wurden alle einigermaßen wichtigen Entscheidungen nach oben verlagert, so daß den Basiseinheiten wenig Raum zur Eigeninitiative verblieb; auf der anderen Seite sollte versucht werden, den traditionellen Dualismus zwischen Danweiund Transdanwei-Bereich so weit wie möglich zu überwinden. Jeder einzelne gehört einer Danwei (wörtl.: „Grundeinheit“) an.sei es nun einem Dorf, einem Fabrikbetrieb/Werkhalle. einem Wohnviertel oder einer Universitätsfakultät Klassische Danwei seit über 2 000 Jahren ist das Dorf, das gegenüber dem mandarinären Staat im wesentlichen nur drei Rechte zu erfüllen hatte, nämlich Steuern zu zahlen, Dienstleistungen zu erbringen und Ruhe zu bewahren, im übrigen aber sein eigenes Gewohnheitsrecht, sein eigenes Honoratiorentum und seinen eigenen Bodengott besessen hatte. Diese gewachsene Autonomie hat sich bis in die Gegenwart hinein erhalten und überträgt sich auch auf außerdörfliche „Einheiten“. Für die Revolutionäre um Mao Zedong bedeutete die Danwei-Autonomie ein Ärgernis, da sie der Tendenz zum sozialistischen Großeigentum entgegenstand. Durch Einführung von Volkskommunen, vor allem aber durch die Institutionalisierung von Parteigremien bis zur Basis hinunter suchten die Maoisten das traditionelle Zwiegespräch zwischen Gesamtstaat und Danwei so weit wie möglich aufzüheben. ohne daß dies allerdings jemals ganz gelang.
Die Reformer zogen aus diesem Scheitern Konsequenzen und sorgten durch Reduzierung der Volks-kommune zur bloßen „Holding" sowie durch Zusammenstreichung der Dorfbürokratie dafür, daß der frühere dualistische Zustand wiederhergestellt und damit ein Stück Renormalisierung eingeleitet wurde. Vor allem aber statteten sie ihren Dezentralisierungskurs mit einem Instrument aus. das unter der Bezeichnung „Verantwortungssystem“ inzwischen zu einer Art Allheilmittel geworden ist. Gemeint ist damit eine präzise Zuständigkeitsverteilung. durch die den jeweiligen Organen nicht nur Rechte zuerkannt, sondern auch entsprechende Pflichten und vor allem die Verantwortlichkeit für Fehlentscheidungen zugeschrieben wurde. Kein Geringerer als Deng Xiaoping beschäftigte sich in seiner berühmt gewordenen Rede über die „Re-form des Führungssystems in Partei und Staat“ vom 18. August 1980 mit diesem Punkt. Deng beklagt hier zunächst die Überkonzentration von Macht, die zumeist beim Parteikomitee einer Einheit und dort wiederum in der Hand einiger Sekretäre, vor allem des Ersten Sekretärs liege. Aufgrund dieser Lage besäßen die meisten untergeordneten Kader keine wirklichen Entscheidungsspielräume, während die wenigen Spitzenfunktionäre mit Arbeit überlastet seien. Als Folge davon könnten die meisten Kader selten in Eigenverantwortung jene Angelegenheiten entscheiden, für die sie der Sachlogik gemäß eigentlich zuständig sein müßten. Statt dessen beschäftigten sie sich stündlich und täglich damit. ihre Vorgesetzten um Anweisungen zu ersuchen. Dokumente anzukreuzen und weiterzuleiten. Hohe Priorität besäße unter diesen Umständen die Forderung nach „strengen administrativen Vorschriften und nach einem System persönlicher Verantwortlichkeit von oben nach unten sowie nach strengen eindeutigen Bestimmungen über die Verantwortung und die Befugnisse jedes Organs und jeder Person“ „Es muß eindeutig festgelegt werden. welche Fragen vom Kollektiv diskutiert werden und welche von Einzelpersonen zu verantworten sind. Wichtige Fragen müssen unbedingt vom Kollektiv behandelt und entschieden werden. Beim Fällen von Entscheidungen muß das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit streng eingehalten werden. Jedes Komiteemitglied hat nur eine Stimme, und jeder Sekretär hat nur das Recht auf eine Stimme. Der Erste Sekretär darf nie allein entscheiden. Was das Kollektiv entschieden hat. muß jeweils durchgeführt werden. Jeder trägt seine Verantwortung und diese darf unter keinen Umständen anderen zugeschoben werden. Wer seine Pflicht versäumt, muß zur Rechenschaft gezogen werden. Bei der Kollektivführung muß es auch einen Leiter geben. Die Ersten Sekretäre der Parteikomitees aller Ebenen müssen die Hauptverantwortung für die Routinearbeit tragen. Unter den anderen Mitgliedern der Parteikomitees muß die Arbeitsteilung bei personeller Verantwortung betont werden. Die leitenden Kader sind dazu anzuhalten. mutig Verantwortung zu übernehmen.“ Ferner fügt Deng hinzu, daß die Macht weder zu sehr zentralisiert, noch zu sehr dezentralisiert werden dürfe. Stets gehe es um das „Problem der Über-mäßigkeit“
Was Deng hier verlangt, trifft sich genau mit dem, was Max Weber als zentrale Kriterien einer wohl-funktionierenden Bürokratie ermittelt hat. nämlich Regelhaftigkeit des Handelns innerhalb präziser Zuständigkeitsbereiche bei hochgradiger Fachausbildung — all dies in dem Versuch, subjektiv-personale Gesichtspunkte auszuschalten und die Fülle des Lebens auf bestimmte wiederkehrende „Vorgänge“ zu reduzieren. Mit dieser organisatorischen „Soziogenese“ soll zugleich auch, wie Norbert Elias in seinem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ ausführt, eine entsprechende „Psychogenese“ des Kaders Hand in Hand gehen. Er soll nämlich, wie in reformerischen Reden immer wieder betont wird, die „feudalistischen und patriarchalischen Vorstellungen“ in seinem Gehirn tilgen und sie durch sachadäquates. unpersönliches und rationales Denken ersetzen. Wichtig sei vor allem die Bekämpfung „patriarchalischer Vorstellungen“; sei beispielsweise ein Funktionär während der Kulturrevolution in eine höhere Position aufgerückt, so habe er seine Verwandten und sogar seine „Hunde und Hühner in den Himmel gehoben“; sei damals umgekehrt jemand in Schwierigkeiten geraten, hätten selbst seine entferntesten Verwandten darunter zu leiden gehabt Der Wunschkader Deng Xiaopings ist also ein Ganbu (Funktionär), der im sachlichen Sinne des Wortes „funktioniert“ und der den Vorstellungen Webers durchaus nahekommt, denjenigen Maos dagegen fundamental entgegensteht.
Das „Verantwortlichkeits“ -Prinzip gilt nicht nur für die Parteiarbeit, sondern auch für die Gestaltung sämtlicher Bereiche im Staats-oder Wirtschaftsapparat. Inzwischen neigt man dazu, präzise Verantwortungsbereiche vor allem durch vertragliche Vereinbarungen festzulegen. Das Urmodell hierfür hat die landwirtschaftliche Praxis geliefert: Auf den Dörfern gab es ja bereits 1979 erste Vereinbarungen zwischen der Kollektivleitung einer Produktionsmannschaft und den einzelnen Haushalten, in denen zum Beispiel folgende Einzelheiten festgelegt waren: Haushalt A erhält die Parzellen X. Y und Z für zehn Jahre zur eigenverantwortlichen Nutzung überlassen. Er verpflichtet sich dafür im Gegenzug, am Ende jeder Emtesaison eine bestimmte Menge Getreide. Schweinefleisch. Geflügel etc. an das Kollektiv (oder an die staatliche Aufkaufstelle) abzuliefern. Haushalt A hat sich an die Ein-Kind-Regel zu halten. Verletzt Haushalt A die oben genannten übernommenen Pflichten, so hat er die Grundstücke vorzeitig wieder an das Kollektiv zurückzugeben. Alle Produkte, die Haushalt A über das Ablieferungssoll hinaus erzeugt, dürfen von ihm selbst verbraucht oder aber auf dem Markt verkauft werden usw. — Hier weiß jede Seite, woran sie sich zu halten hat. Kamen früher sämtliche Anordnungen über Produktions-und Ablieferungssoll sowie über Arbeitspunktegestaltung wie ein Schicksal „von oben“ auf die Bauern herab, so waren sie nunmehr nicht mehr subordiniert, sondern konnten sich vertraglich koordinieren. Die Folgen waren entsprechend: Im Nu kam voller Wind in das lange Zeit schlaff herabhängende Segel der Landwirtschaft, deren Erfolge für die Reformer so überzeugend waren, daß sie die landwirtschaftlichen Erfahrungen durch den bekannten Zehn-Punkte-Beschluß vom Oktober 1984 auch auf die Städte und Industrien übertrugen.
Von nun an schien es für das Verantwortlichkeitssystem keine Grenzen mehr zu geben — zumindest wurde dies theoretisch gefordert. Absprachen sollten beispielsweise getroffen werden zwischen staatlichen. kollektiven und privaten Unternehmen, zwischen Behörden und Betrieben, zwischen Ober-behörden und Unterbehörden, zwischen Staat und Massenorganisationen sowie zwischen Armee-gliederungen und zivilen Einheiten. Zu einem Allerweltswerkzeug entwickelte sich dabei das „Baogan“ — ein Begriff, der sich mit „vertragsgebunden und in Eigenregie“ übersetzen läßt. Inhaltlich kann das Baogan auf die Einhaltung von Umweltschutzbestimmungen, auf die Übernahme einer Investitionsaufgabe durch einen Investbaubetrieb oder auf eine sonstige Verpflichtung hinauslaufen, die zwar längst in einer gesetzlichen Vorschrift vorgesehen sein mag, die nun aber — im bilateralen Verhältnis — noch einmal konkretisiert wird, da ja bekanntlich Gesetze häufig auf dem Papier stehen-bleiben. wenn sie nicht durch besondere „Nachhilfemaßnahmen“ instrumentalisiert werden
Die reformerische Dezentralisierungspolitik wirkte sich aber nicht nur auf die Wiederbelebung der Danwei-Autonomie sowie auf die Begründung von „Verantwortlichkeitssystemen“, sondern darüber hinaus auch auf die Revitalisierung alter Marktgemeinden aus. die nach 1949.sehr zum Schaden der Gesamtwirtschaft, in einen Dornröschenschlaf gefallen waren. Damals war es zu einer mechanischen Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen Produktion und Infrastruktur sowie zu einer Auflösung der traditionellen Wirtschaftsnetze gekommen. Einst blühende Marktgemeinden waren von neuer-richteten Verwaltungsstädten überflügelt und in den Schatten gestellt worden, und überall war es zur Verbürokratisierung, mechanischen Begradigung von Sachbereichen und vor allem zur Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse „nach oben“ gekommen. Die Reformer sahen diese Entwicklung mit Unbehagen und versuchten, ihr ein Ende zu bereiten. Am 22. November 1984 erließ der Staatsrat Richtlinien für die Errichtung von Marktgemeinden (zhen) sowie von „Ortschaften“ (jizhen), Eine Gemeinde kann sich nach diesen Bestimmungen zur „Marktgemeinde“ konstituieren, wenn in ihrem Bereich die Zahl der nicht landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung über 2 000 Personen liegt, bzw, falls sie (bei Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern) 10 Prozent der Gesamtbevölkerung übersteigt. Bei dieser Umwidmung eines traditionellen Xiang (juristische Gemeinde) in einen Zhen (Marktgemeinde) handelt es sich keineswegs nur um ein juristisch-administratives Part pour Part, sondern um eine Maßnahme von erheblicher wirtschaftlicher Tragweite, insofern nämlich die Zhen zu Mittelpunkten von industriellen, kommerziellen und dienstleistungsorientierten Netzwerken werden. in die sämtliche umliegende Dörfer hineingesponnen sein sollen. Nicht zufällig wurde deshalb die Parole „Märkte verwalten die Dörfer“ (zhen guan cun) sowie „Städte führen Kreise“ ausgegeben Es ist hier eine Politik eingeleitet worden, durch die die Kluft zwischen Städten und Dörfern im Zeichen lokaler Selbstorganisationsmaßnahmen wieder geschlossen wird.
Betriebsautonomie: Zum „Grundgesetz“ des chinesischen Reformbetriebs haben sich mittlerweile die am 10. Mai 1984 vom Staatsrat verkündeten „Vorläufigen Bestimmungen über die Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse staatseigener Industrieunternehmen“ entwickeln können Danach sollen die Betriebe in zehn Bereichen Selbstentscheidungsrecht erhalten, nämlich bei der Produktionsplanung, beim Produktabsatz, bei der Gestaltung der Produktpreise, bei der Auswahl und beim Ankauf von Materialien, bei der Fondsverwendung, bei der Auslagerung von Vermögen (zum Beispiel im Wege der Verpachtung), bei der organisatorischen Ausgestaltung, bei der „Personal-und Arbeitsverwaltung“. bei der Arbeits-und Lohngestaltung sowie bei der Herstellung von zwischenbetrieblichen Verbindungen. All diese Fragen waren bisher ausschließlich durch Anordnungen von oben her entschieden worden, wobei nicht immer Sachverstand im Spiele gewesen war.
Daneben ergingen 1986 drei Neuregelungen zur Betriebsleitung, die längst überfällig gewesen waren: Jahrzehntelang hatten in jedem Betrieb zwei Kommandozentralen nebeneinander fungiert. Gab es Fehlschläge, pflegte der Parteisekretär die Verantwortung dem Direktor zuzuschieben, während dieser umgekehrt auf die falschen Entscheidungen des Parteiausschusses verwies; die Mitglieder des Ausschusses wiederum, die ja eigentlich kollektiv tätig werden sollten, entschuldigten sich damit, daß sie den Ratschlägen des Parteisekretärs oder aber des Direktors gefolgt seien. Im Endeffekt war also niemand so recht zur Verantwortung zu ziehen. Es war also höchste Zeit, hier einmal klare Zuständigkeiten zu schaffen. Zu diesem Zweck ergingen am 15. September 1986 drei Bestimmungen, nämlich eine über die Arbeit der Fabrikdirektoren in staatlichen Betrieben, eine zweite über die Arbeit der KP-Basisorganisationen und eine dritte über die Arbeit der Belegschaftsversammlungen der Arbeiter und Angestellten Die Regelungen liefen, kurz gesagt, darauf hinaus, daß das gesamte Betriebspersonal. mit Ausnahme des Direktors, vom Betrieb ausgewählt wird; zwar solle es durchaus Belegschaftsversammlungen und einen kontrollierenden Verwaltungsausschuß geben, an dem sämtliche wichtige Funktionäre sowie wiederum die Belegschaft beteiligt sind; das letzt Wort in Konfliktfällen solle jedoch wiederum dem Direktor zukommen. Dem Betriebsparteikomitee verbleibt eine höchst bescheidene Rolle, insofern es nämlich darauf zu achten hat. daß die „Vier Grundprinzipien“ (Parteiführung. Sozialismus etc.) auch innerbe-trieblich gewahrt werden Die überragende Stellung des Fabrikdirektors und seine Auswahl durch die übergeordnete Ministerialbürokratie stellen sicher, daß die Bäume der betrieblichen Mitbestimmung nicht in den Himmel wachsen. Gegenüber der Mao-Zeit, als praktisch sämtliche Sach-und Personalentscheidungen von oben getroffen wurden. bedeutet die Neuregelung ganz gewiß einen erheblichen demokratischen Fortschritt; doch waren den Reformern offensichtlich im letzten Augenblick noch Bedenken gekommen, das jugoslawische Vorbild ganz auf China zu übertragen.
Mit der Betriebsautonomie war eine ganze Reihe von Konsequenzen verbunden, die seit 1984 auch gesetzliche Gestalt annahmen, nämlich die Zulassung von zwischenbetrieblichem Wettbewerb, von öffentlichen Ausschreibungen (statt einseitigen behördlichen Zuweisungen), die Zulassung von Werbung und vor allem der Erlaß eines Konkursgesetzes. Außerdem wurden erste Experimentierbetriebe bevollmächtigt, Schuldverschreibungen und Aktien auszugeben — und zwar nicht nur an staatliche Stellen oder Betriebsangehörige, sondern an jedermann; dies hatte zwar den Vorteil, daß das reichlich vorhandene Sparkapital abgeschöpft werden konnte, gleichzeitigjedoch kam aus der linken Ecke des Parteiapparats scharfe Kritik gegen die Unter-höhlung, ja den Ausverkauf des sozialistischen Eigentums auf. Gleichwohl vermochte dies den generellen Autonomisierungskurs nicht aufzuhalten, geht es hier doch um Wiedergewinnung jener Danwei-Selbständigkeit. die dem Durchschnittschinesen als durchaus „normal“ erscheint, nachdem sie durch die maoistische Politik eine Zeitlang ausgehöhlt worden war. Insofern bedeutet Betriebsautonomie auch ein gutes Stück „Renormalisierung“.
Reform des Kadersystems: „Kader entscheiden alles“ — dies war dreißig Jahre lang die Realität gewesen. Leider erwies sich der überalterte und von fachlich überforderten Kadern besetzte Apparat immer mehr als veritable Erfolgsverhinderungsmaschine. Die bequeme lebenslange Anstellung führe, wie es immer wieder heißt, leicht zu Schmarotzertum, Patriarchat und Bürokratismus. Leicht entstehe daraus übermäßige Machtkonzentration, was wiederum die Verwirklichung der innerparteilichen Demokratie, der Volksdemokratie und die Förderung von jungen sowie die Absetzung von alten Kadern behindere Zur „grundlegenden Reform des Kadersystems“ gehören daher nach heutiger Auffassung die Abschaffung der Anstellung auf Lebenszeit („Eiserner Reisnapf“)', die Straffung der Regierungsorgane, die Schaffung eines Pensionierungssystems für alte Funktionäre und die Förderung von Kadern, die „jung, besser erzogen, fachkundig und revolutionär eingestellt sind“ — diese vier Merkmale kehren in fast jeder Erklärung wieder. „Drei Arten von Personen“ dürften als „Nachfolger“ keinesfalls in Frage kommen, nämlich Kar-rieristen der Kulturrevolution, „Fraktionisten“ und Personen, die in der Kulturrevolution durch Schlägereien und Plündereien hervorgetreten seien — ein deutlicher Hinweis aufdie politische Einfärbung jeglicher Kaderbewertung, denn ein unliebsamer Kandidat kann schnell mit einem dieser drei Etiketten versehen werden. Allerdings sind die genauen Einstellungskriterien, das Einstellungsalter und das Pensionsalter auch heute noch nicht geregelt — kein Wunder, da es sich hier um eine der „heißesten Materien“ handelt. Mangels genauer Bestimmungen empfahl Deng Xiaoping schon im Juli 1981 in einer Übergangsperiode als Nachfolger für die Genossen auf der Provinz-. Stadt-und Ministerialebene rund 100 000 bis 200 000 Kader auszuwählen. wobei Deng anregte, daß vor allem solche Personen in Betracht gezogen werden, die in den sechziger Jahren ihr Hochschuldiplom erworben haben und die vielleicht sogar noch Opfer der Kulturrevolution gewesen waren. Deng selbst ging mit gutem Beispiel voran und wählte höchstpersönlich einige bewährte Nachwuchskader aus. die denn auch in jüngster Zeit wie „Raketen“ am Himmel Chinas hochgegangen sind und heute bereits ihren Platz im Politbüro gefunden haben.
Bei solchen persönlichen Auswahlaktionen soll es sich jedoch nur um Übergangserscheinungen handeln. Im übrigen seien während der nächsten Jahre so schnell wie möglich endgültige Altersgrenzen festzulegen sowie Vorschriften über die Höchstzahl von Kadern innerhalb der jeweiligen Einheit einzuführen. Seien ein Minister und zwei bis vier stellvertretende Minister nicht ausreichend für ein Ministerium? Wozu brauche man gleich ein Dutzend stellvertretender Minister!? Die bisher übliche personelle Überbesetzung an der Spitze führe doch nur zu Überschneidungen und zu Bürokratismus! Man müsse sich auch von dem übervorsichtigen Prinzip abwenden. Kader nur von Stufe zu Stufe aufsteigen zu lassen. Deng wörtlich: „Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Kader lediglich in der Stufenfolge Gemeinde. Kreis. Bezirk und Provinz zu befördern, wie es das gegenwärtige Kadersystem von Partei und Regierung verlangt.“ Vielmehr sei es nötig, einen Weg zwischen dem „Raketenprinzip“ und dem Gradualprinzip zu finden, besonders geeignete Kader auf einer „Art leichter Leiter gleich einige Stufen überspringen“ zu lassen. Daß es den Kandidaten vielleicht etwas an Erfahrung mangle, dürfe niemanden bange machen. Die Genossen sollten sich doch einmal erinnern: Waren nicht sie selbst zwanzig oder dreißig Jahre alt. als sie vor und nach 1949 Posten mit hoher Verantwortung übernahmen? Gegenwärtig könne man sich den Luxus allzu langen Zuwartens nicht mehr leisten, da man doch in den vergangenen Jahren die Zügel habe schleifen lassen!
Kommt es zu Amtsverstößen durch Kader, so gibt es zwar, abgesehen von Petitionen, keine Möglichkeiten des Bürgers, gegen Verwaltungsorgane ein-zuschreiten. Inzwischen wurde freilich im Dezember 1986 ein „Kontrollministerium“ eingerichtet, dessen Aufgabe es ist. die Erfüllung der Amtspflichten. die Einhaltung und Ausführung der Gesetze und der Verwaltungsvorschriften durch die Staatsangestellten zu überwachen. Der für das Ministerium zuständige Kontrollapparat soll mit seinen Organen auf Provinz-. Bezirks-und Kreisebene präsent sein. Letztlich wird das System der „äußeren Kontrolle“, wie es Anfang der fünfziger Jahre bestanden hatte, wie es aber im Zuge der von den Maoisten angestrebten Machtkonzentration 1959 wieder abgeschafft worden war, erneut eingeführt. Im Gegensatz zur Regelung der fünfziger Jahre wird sich die Zuständigkeit des Ministeriums strikt auf Staatseinrichtungen und -personal beschränken. Nicht in Betracht kommt also eine Kontrolle über Genossenschaften, über Privatbetriebe, über Massenorganisationen oder aber über KP-Organisationen — letztere werden von parteieigenen Disziplinarkontrollorganen überwacht, die gleichfalls erst nach der Reform, nämlich durch das KP-Statut vom 6. September 1982. wiedereingeführt worden sind Mit der Errichtung des Kontrollministeriums wurden alte Traditionen wieder aufgenommen, die jahrhundertelang in Form des kaiserlichen Zensorats bestanden hatten
Systematisch gesprochen, versuchten die Reformer.den Kaderapparat mit Hilfe dreier Methoden umzuformen, nämlich durch erzieherische Mittel, durch Bestrafung sowohl nach kriminal-als auch nach dienstrechtlichen Methoden und. drittens durch Strukturreform, wobei einerseits der oben erwähnte Sechs-Maßnahmen-Katalog zur „Demokratisierung“ teilweise durchgedrückt und außerdem versucht wurde, das in der Wirtschaft, vor allem im Landwirtschaftsbereich bereits mit Erfolg bewährte „Verantwortlichkeitssystem“, auch in den Behörden heimisch werden zu lassen.
II. „Systemreform“ (tizhi gaige) und „Verwaltungsvereinfachung“ (jingjian): Versuche einer Neuverteilung der Gewalten
Versuche zur Verwaltungsvereinfachung sind so alt wie die Volksrepublik, und sie sind nicht zufällig auch jedesmal gescheitert — selbst unter den Reformern. Hatte der Staatsrat, also die Regierung der VR China, 1949 dreißig Ministerien und vier Kommissionen umfaßt, so waren es 1982 98 Ministerien mit zusammen rund 1 000 Ministern und stellvertretenden Ministern; einige Ressorts leisteten sich bis zu zwanzig Vizeminister. Ein Reporter der Monatszeitschrift „China im Aufbau“ mußte, um für die März-Nummer 1982 einen Artikel über „Hotels in der Hauptstadt“ recherchieren zu können, nicht weniger als dreißig Regierungsbüros „abklappern“. um ausreichende Informationen zu erhalten
Zwar wurden nach 1982 die meisten Behörden personell erheblich reduziert, doch wurden damit nicht die Ursachen, sondern lediglich die Symptome beseitigt: Nach wie vor bestehen, wie Deng Xiaoping klagt, „umfassende Loyalitätssysteme“ mit verschachtelten „Herrscher-Vasallen“ -und „Vater-Sohn“ -Beziehungen. die aufs empörendste ineinander verfilzt seien -Dem Mißstand soll langfristig begegnet werden: mit der Auflösung von provisorischen administrativen Organen, dem Abbau von Verwaltungspersonal, der Ausarbeitung eines Dienstrechts, in dem Vorschriften über Arbeitseffizienz, klare Kompetenzabgrenzungen, Sanktionen und Pensionsgrenzen festzusetzen sind, der Entlas-sung von unfähigen Funktionären und der strikten Aufgabentrennung zwischen Regierungs-und Parteiorganen Das „Gesetz für Staatskader“ läßt aber einstweilen, wie gesagt, noch auf sich warten. In einem Leitartikel der Volkszeitung vom September 1985 wird der Erlaß eines solchen Personal-gesetzes als eines „Grundgesetzes für die umfassende Regelung der Kaderfrage“ gefordert.
Weitaus wichtiger aber ist den Reformern eine „sozialistische Gewaltenteilung mit Kontrollen und Balancen“, deren Hauptzweck es sein müsse, künftig Machtmißbräuche so weit wie möglich zu reduzieren. Besonders komme es hierbei auf eine „rationale Verteilung der Machtbefugnisse“ zwischen Partei und Regierung, zwischen den Zentralbehörden und den Lokalverwaltungen sowie zwischen der Legislative und der Judikative an Die Gewaltenteilung zwischen Partei und Regierung ist dabei besonders wichtig. Allerdings taucht hier ein grundlegendes Dilemma zwischen Hoffnung auf Veränderung und dem Wunsch nach Erhaltung des Status quo auf. Eine kommunistische Partei, die ihren wichtigsten Anspruch, nämlich letztlich alles zu kontrollieren und zu steuern, aufgibt, zieht sich selbst den Teppich unter den Füßen weg. „Gleichgewicht“ ist eine Grundkategorie des ganz und gar von Dialektik geprägten chinesischen Denkens. Kein Wunder, daß auch die Schaffung neuer Gleichgewichte innerhalb der Machtorgane immer wieder zur Sprache kommt. Den Anfang der Diskussion machte eine Rede Deng Xiaopings vom 18. August 1980. in der er eine Entflechtung der Spitzenorgane, eine Trennung von Partei-und Staatsorganen sowie eine Verjüngung und Verfachlichung der Kaderapparate befürwortete Mochte diese Rede noch verhältnismäßig unverbindlich gewesen sein, so ging das „Politische Forschungsamt“ beim Zentralkomitee (ZK) ins irritierende Detail. Unter anderem schlug es — hierin offensichtlich von Deng Xiaoping ermuntert — vor. daß die Spitzenführung der Partei künftig auf drei Gremien verteilt werden sollte, nämlich auf das ZK, auf die ZK-Kontrollkommission und auf die (von Senioren besetzte) ZK-Beraterkommission, wobei alle drei Gremien in einer Art „Gewaltenteilung“ einander ausbalancieren sollten. Gleichzeitig solle das Politbüro abgeschafft und seine Entscheidungsfunktion auf ein Ständiges Komitee des ZK übertragen werden; die laufende Arbeit sei von dem (fast ausschließlich mit Reformern besetzen)
ZK-Sekretariat zu erledigen. Ferner sollten die drei neu ausgerichteten Spitzenorgane dem Parteikongreß verantwortlich sein.
Diese vom leninistischen Standpunkt aus horrenden Forderungen konnten sich zwar nicht durchsetzen, doch wurde immerhin die Position des „Vorsitzenden“ abgeschafft und gleichzeitig die Macht des Politbüros durch Stärkung der Parteikontrollausschüsse sowie durch Schaffung des ZK-Berater-komitees etwas relativiert. Auch die Wiederbelebung des Sekretariats sowie die Wiedereinsetzung eines Generalsekretärs lagen auf der Linie der „Gewaltenteilung“ ä la Deng Xiaoping. Sogar der Ständige Ausschuß des Politbüros, jahrzehntelang das Herz aller Entscheidungen, verlor an Bedeutung, insofern nun nämlich als eigentliche Entscheidungsorgane das ZK-Sekretariat und das „Innere Kabinett“ beim Staatsrat in den Vordergrund rückten. Sehr zum Kummer Dengs konnte das Politbüro nicht abgeschafft werden, da seine Mitglieder die ihnen drohende Gefahr rechtzeitig erkannt und sich in Igelstellung begeben hatten. Nicht zu Unrecht war bei ihnen wohl der Verdacht aufgekommen, daß es Deng letztlich nicht so sehr auf eine organisatorische Umgestaltung als vielmehr auf Kaltstellung jener Reformgegner abzielte, die sich an ihren Positionen im Politbüro festklammerten.
Dezentralisierung und Gewichtsverlagerung kommen auch in der Personalverwaltungspolitik vor: Auf Beschluß des ZK-Sekretariats wurde mit Wirkung vom 1. August 1984 die Frage der Personalverwaltung neu geregelt. Hatte die Parteizentrale ihren Personalverwaltungsbereich bis dahin so extensiv wie möglich gehandhabt, so sollte sie sich in Zukunft nur noch um Führungskader der ersten nachgeordneten Ebene unmittelbar kümmern dürfen — dazu gehören die Funktionäre vom stellvertretenden Minister und vom stellvertretenden Provinzgouverneur an aufwärts sowie die Leiter einer Reihe von Großunternehmen. Forschungseinrichtungen und Hochschulen. Kader der zweiten nachgeordneten Ebenen werden dagegen künftig von den Parteikomitees der zuständigen Ministerien sowie der zuständigen Provinzorgane ernannt und abberufen. Durch diese Maßnahmen wurde dem Dezentralisierungsgedanken auch im Personalwesen Rechnung getragen
Neue Belanceregelungen gibt es auch im Staatsrat. Zwar gelang es nicht, die Vorschläge des ZK-Forschungsamts zur Schaffung eines Zwei-Kammer-Systems, nämlich einer „Territorialkammer“ (mit 300 Vertretern) und einer „Gesellschaftskammer“ (mit 700 Repräsentanten der verschiedenen Berufe, sozialen Schichten etc.) durchzusetzen. Gleichwohl wurden durch die Verfassung von 1982 einige neue Staatsorgane eingeführt und alte, jahrelang inaktive Gremien neubelebt, so daß es nunmehr sieben Staatsorgane gibt. Nicht nur die Zahl der Organe nahm wieder zu, sondern auch ihre Aktivität, wie die häufigen Tagungen des Ständigen Ausschusses des NVK, des Staatsrats und der örtlichen Organe zeigen, die vorher oft jahrelang kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten. Des weiteren wurden die Massenorganisationen als neue Gegengewichte aufgebaut und gleichzeitig die KP-Einmischungsmöglichkeiten weiter beschränkt.
III. „Vergesetzlichung“ (falühua)
Zu einem wohlfunktionierenden politischen System gehört nach Überzeugung der Reformer auch eine stabile Rechtsordnung. Jedermann müsse vor dem Gesetz gleich sein. Die langjährig geübte Personal-herrschaft sei durch eine Gesetzesherrschaft zu ersetzen. Niemand, der gegen Normen verstoßen habe, dürfe straffrei ausgehen. Nach Meinung Deng Xiaopings ist eine Rechtsordnung durchaus in der Lage, das Treiben schlechter gesellschaftlicher Elemente zu verhindern. Wörtlich: „Stalin tat Dinge, die die sozialistische Rechtsordnung schwerwiegend untergruben, was, wie Genosse Mao Zedong einmal sagte, in den westlichen Ländern wie Großbritannien. Frankreich und den USA nicht hätte geschehen können.“ Freilich habe es Mao Zedong, trotz dieses theoretischen Wissens, versäumt. in der Praxis Konsequenzen zu ziehen. Hier müsse vieles nachgeholt werden.
In der Tat erfolgte im Juli 1979 der Startschuß für eine Renaissance der Gesetzgebung. Seitdem hat der NVK und sein Ständiger Ausschuß eine Verfassung und rund sechzig Gesetze erlassen; daneben sind über 450 Rechtsverordnungen von Seiten des Staatsrats ergangen, die sich hauptsächlich auf wirtschaftliche Maßnahmen beziehen. Es wäre erstaunlich gewesen, hätten Bevölkerung und Kaderappa19 rat die Gesetzesflut auch nur annähernd absorbieren können. Kein Wunder, daß sich die Funktionäre immer wieder überfordert fühlen und sich an zwei bewährte Einrichtungen klammem: Entweder warten sie nämlich auf eine „Weisung von oben“, oder aber sie stecken beim geringsten Zweifel die Köpfe zusammen und berufen eine Versammlung ein (kai hui). Diese „Weisungs“ -und Kai-hui-Mentalität hängt mit der allgemeinen Unsicherheit und mit der Weigerung zusammen, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. In das Gesetz schaut der Durchschnittskader, wie die Parteizeitung Hongqi anklagend feststellt, immer erst hinein, wenn etwas schiefgelaufen ist. Die Motivation für behördliches Handeln liegt also nicht beim Gesetz, sondern in aller Regel außerhalb desselben. Das Gesetz wird — ganz in der Tradition altchinesischen Rechts — nicht als autonome, sondern als heteronome Erscheinung betrachtet, die einen ohnehin bestehenden Zustand lediglich bestätigt. Man braucht nicht besonders zu betonen, daß diese Auffassung nicht gerade ein ideales Fundament für neues Gesetzesdenken abgibt. Aber auch die chinesische Normsetzungspraxis wirkt nicht immer ermutigend. Verwirrend ist bereits die Nomenklatur: Sieht man einmal von den wenigen formellen Gesetzen ab, so haben sich in den letzten Jahren vierzig bis fünfzig verschiedene Bezeichnungen für Rechtsnormen eingeschlichen — manche heißen „Gesetze“ (fa), andere „Regelungen“ (tiaoli), wieder andere „Allgemeine Regeln“ (tongzi), „Kurzregelungen“ (jianzi) oder einfach „Regeln“ (guizheng); wieder andere tragen so verschiedene Bezeichnungen wie „Resolutionen“ (jueyi), „Beschlüsse“ (jueding), „Bestimmungen“ (guiding), „Anzeigen“ (zhibiao), „Mitteilungen“ (tongzhi), „Bekanntmachungen“ (tonggao). „Methoden“ (banfa) usw. Daneben werden Bestimmungen novelliert, ohne in den Zusammenhang der Vorgängerregelungen systematisch hineinzupassen — ein Umstand, der auch nicht gerade zur Beseitigung von Unsicherheiten beträgt. Besonders berühmt — und berüchtigt — sind einige „Beschlüsse“ und Gesetzesnovellierungen aus den Jahren 1981 und 1983, in denen mit besonderer Schärfe gegen korrupte Kader vorgegangen wurde. Besonders die Verhängung der Todesstrafe wegen schwerer Amtsvergehen ist ein Musterfall einer kampagnen-haft „durchgepeitschten“ und von der politischen Motivation her vielleicht noch verständlichen, juristisch aber höchst unsorgfältigen Novellierung
Vor allem im Strafrechts-und Sicherheitsbereich geriet der Gesetzgeber schnell in mehrere Spannungsfelder hinein: Sollte zum Beispiel die Polizei „professionalisiert“ oder aber sollte nach wie vor auf die alte polizeiliche „Massenlinie“ gesetzt werden? Sollte sich der Sicherheitsapparat weiter auf die Gefahrenabwehr beschränken oder aber sich als „Sozialisationspolizei“ verstehen? Wie waren darüber hinaus die Danwei-und Transdanwei-Interessen voneinander abzugrenzen, und wie sollte der Trennungsstrich zwischen Klassenkampf und Kampf ums Recht erfolgen? Noch während der Mao-Ära waren ja bekanntlich Recht und Sicherheitsapparat hauptsächlich zum Zwecke des Klassenkampfes gegen die „Feinde des Volks“ eingesetzt worden. Dies hat sich nach 1978 geändert. Bei den Reformbeschlüssen vom Dezember dieses Jahres hieß es ja. daß der „Klassenkampf* nicht mehr den Hauptwiderspruch bildet, sondern daß an seine Stelle der Kampf um die Vier Modernisierungen treten müsse.
Hier taucht nun die Grundsatzfrage auf. wodurch „Klassen“ determiniert sind. Im spätmaoistischen China herrschte die Auffassung vor. daß der Terminus Klasse eine gesellschaftlich-politische Kategorie sei; es genüge nicht, daß nur die bisherigen Eigentumsverhältnisse aufgehoben worden seien, vielmehr komme es auch noch auf die Sozialisierung des Denkens an. Auf dieser Konzeption baute Mao seine Theorie von der permanenten Revolution auf, derzufolge die alten gesellschaftlichen Klassen auch im Übergangsstadium des Sozialismus noch fortbestünden, ja sich sogar bis in die „Hauptquartiere“ eingeschlichen hätten. Ganz anders die Reformer um Deng Xiaoping, die sich bei ihrer Klassenanalyse ökonomischer Kategorien bedienen. Seit mit dem Ende der „Drei Großen Umwandlungen“ (Industrie, Landwirtschaft, Handel) 1956 das Produktiveigentum verstaatlicht oder aber kollektiviert worden sei, könne es keine Ausbeuterklassen im eigentlichen Sinne mehr geben. Allerdings müsse man nach wie vor mit fünf Kategorien von „Feinden“ rechnen, nämlich Geheimagenten. Angehörigen der Viererbande, einfachen Kriminellen. Wirtschaftsverbrechen! und einigen wenigen immer noch nicht entdeckten Ausbeutern. Sie alle zusammen bildeten jedoch keine eigentlichen Ausbeuterklassen mehr, sondern ließen sich allenfalls noch als deren Überreste betrachten. Der gegen sie zu betreibende Klassenkampf unterscheide sich vom Klassenkampf der Kulturrevolution vor allem durch drei Hauptmerkmale: — Was das Objekt anbelange, so sei nicht mehr jedermann als Feind zu betrachten, der sich nicht vollständig anpaßt; vielmehr könne sich der Klassenkampf nur gegen Wirtschaftsverbrecher. Kriminelle. Agenten und alle anderen oben genannten Randgruppen wenden. — Stellt man auf das Moment der Dauer ab. so postulierte die Kulturrevolution den Klassenkampf in Permanenz (und Ubiquität), während er heute nur noch als Rand-und Ausnahmeerscheinung einzusetzen sei. — Der Hauptunterschied liegt aber vor allem in den Methoden: Vollzogen sich die Klassenkämpfe der Kulturrevolution in Form „stürmischer Massen-bewegungen“, so kommen heute, nach offiziellem Selbstverständnis, nur noch gesetzliche Mittel zum Tragen
Die wichtigsten seit 1979 ergangenen Bestimmungen liegen im straf-, organisations-und wirtschaftspolitischen Bereich. Bereits 1979 ergingen ein Strafgesetzbuch und eine Strafprozeßordnung — höchst moderne Gesetze, die nach deutschem Vorbild geformt und systematisch ausgearbeitet sind. Zwischen 1949 und 1979 hatte es nur einige krude Bestimmungen zur Bekämpfung „konterrevolutionärer“ Verbrechen gegeben — ein Mangelzustand, der zu einer verheerenden Willkür im Justizwesen führte. „Konterrevolutionäre“ Verbrechen gibt es auch heute noch, doch werden sie inzwischen in präzisen Tatbeständen umschrieben, so daß für „volkstribunales" Vorgehen zumindest theoretisch nur noch wenig Raum bleibt. 1979 erging ein Gerichtsorganisations-und ein Staatsanwalts-Gesetz sowie ein „Beschluß“ über „Erziehung durch Arbeit“. 1981 und 1983 folgten die (bereits erwähnten) Regelungen über die Behandlung von Ausbrechern und Rückfalltätern, über die Nachprüfung von Todesurteilen und über „verschärfte“ Strafen für Wirtschaftsverbrechen (1982). An Organisationsgesetzen sind vor allem das Wahlgesetz und das Regierungsorganisationsgesetz von 1979, die Bestimmungen über Wirtschaftssonderzonen von 1980, über die Direktwahl von Abgeordneten auf Kreisebene (1981), das Organisationsgesetz des Nationalen Volkskongresses (1982), das Staatsratsgesetz (1982) und die Wahlergänzungsregelungen von 1983 zu nennen, nicht zu vergessen auch das Minoritätengesetz von 1984.
An wirtschaftlichen Regelungen ragen die Gesetze über den Schutz des Waldes und der Umwelt (beide schon 1979), über Industriesteuern (1980). über Wirtschaftsverträge (1981). über den Meeresumweltschutz sowie den Schutz von Kulturdenkmälern (1982), über die Enteignung von Grund und Boden (1982). über das Statistikwesen (1983), über Maßnahmen gegen Gewässerverschmutzung (1984) sowie das Lebensmittel-und das Pharmaka-Gesetz (1984) hervor — gar nicht zu reden von den oben erwähnten Betriebsautonomieregeln und von den zahlreichen Bestimmungen über die Neugestaltung der Landwirtschaft, über die Koordinations-und Netzwerk-, die Preis-und Handels-, die Arbeitsund Finanz-, die Steuer-, Banken-, Planungs-und Standardisierungsreform Dazu kommen noch das neue Ehegesetz von 1980, das Erbgesetz, das neue Zivilgesetzbuch (ZGB), die Zivilprozeßordnung (ZPO) und das Staatsangehörigkeitsgesetz sowie das Wehrdienstgesetz von 1984 und das Patent-gesetz aus demselben Jahr.
Für all diese Neuregelungen gilt, daß sie theoretisch zwar beachtliches Niveau besitzen, daß es bei ihrer Umsetzung aber erhebliche Defizite gibt. Die Reformer suchen gegen die weitverbreitete Rechtsunkenntnis vor allem mit zwei Methoden vorzugehen, nämlich einerseits im Wege der „Popularisierung“ durch „massenwissenschaftliche“ Verbreitung von Rechtskenntnissen, zum andern aber durch verstärkte Ausbildung von Fachjuristen, also durch „Professionalisierung“. Die drei wichtigsten, nach 1978 wieder errichteten Säulen der chinesischen Rechtswissenschaft und -lehre sind die innerhalb der Sozialakademie angesiedelten juristischen Institute, ferner die Hochschulen (darunter fünf zentrale „Hochschulen für Politik und Recht“ sowie 28 Rechtsfakultäten) und die verschiedenen Freizeit-Hochschulen. Auch das unter Mao geschlagene juristische „Institutionenloch“ ist inzwischen zum größten Teil wieder ausgefüllt worden. Was die Gesetzgebungsorgane. vor allem den Nationalen Volkskongreß (Gesetze) und den Staatsrat (Rechtsverordnungen) anbelangt, so arbeiten sie seit 1979 auf Hochdruck. Auch bei den Rechtspflegeorganen ist es zu umfangreichen Wiedergutmachungsmaßnahmen gekommen: 1979 beispielsweise kehrte das 1959 aufgelöste Justizministerium wie ein Phönix aus der Asche wieder. Neubelebt wurden auch die Volks-gerichte und Staatsanwaltschaften (StA). Beide sind auf vier Ebenen (Oberstes Volksgericht/Oberste StA. Höhere Volksgerichte/Höhere StAen [Provinzebene]. Mittlere Volksgerichte/Mittlere StAen [Bezirksebene] und die Unteren Volksgerichte/Unteren StAen [Kreisebene]) angeordnet. Schließlich gibt es noch „Sondervolksgerichte“ („Sonderstaatsanwaltschaften“). die gegenwärtig allerdings nur in Form der Militärgerichte existent sind.
Sowohl Straf-als auch Zivilprozesse durchlaufen im allgemeinen fünf Etappen, nämlich beim Strafverfahren die Registratur des Falls, die Ermittlung, die Anklageerhebung, das Verfahren erster (und vielleicht auch zweiter) Instanz sowie den Strafvollzug. Die Etappen im Zivilprozeß sind Klageerhebung, Vorbereitung für die Gerichtsverhandlung. Hauptverhandlung, unter Umständen Berufungsverfahren und Vollstreckung. Sowohl im Straf-als auch im Zivilverfahren gibt es nur die Möglichkeit zu einmaliger Rechtsmitteleinlegung. Man kann die Grundstruktur des chinesischen ordentlichen Verfahrens also auf die Formel bringen „Vier Ebenen, fünf Etappen, zwei Instanzen“. Neben den Zivil-und Strafkammern sind seit 1983 noch „Wirtschaftskammern“ entstanden
Die Gerichte sind inzwischen mehr als ausgelastet. Es wurden zum Beispiel im Jahre 1985 von den Volksgerichten sämtlicher Ebenen 1, 5 Mio. Fälle behandelt, davon 846 000 Zivil-und 246 000 Strafrechtsfälle. beide in erster Instanz, sowie 226 000 Zivil-und 223 000 Strafrechtsfälle in zweiter Instanz In den letzten Jahren hat vor allem die Zahl der Prozesse zugenommen, die sich mit wirtschaftsrechtlichen Fragen auseinandersetzen. Während ihre Zahl 1983 noch bei nur 44 000 Fällen lag, stieg sie 1984 auf 85 700 und 1985 gleich um 160 Prozent auf 226 600
Einen ungewöhnlich hohen Anstieg erlebten auch Eigentumsstreitigkeiten (um Boden, Naturschätze, Bauplätze und Erbschaften, 4-12, 7 Prozent gegenüber 1984). Überproportional zugenommen haben ferner auch die Scheidungsfälle. Umgekehrt ist die Zahl der Strafrechtsfälle zwischen 1983 und Ende 1985 um nahezu 36 Prozent zurückgegange Prozent zurückgegangen. 1985 wurden 542 000 Strafrechtsfälle anhängig, womit sich eine Kriminalitätsrate von 5, 26 Promille andeutete — eine äußerst niedrige Rate, wenn man Vergleiche mit den meisten anderen Ländern anstellt. Allerdings muß man hierbei bedenken, daß von den Danweis die meisten Fälle unter den Teppich gekehrt werden. Die chinesischen Gerichte machen sich darauf gefaßt, in nächster Zukunft mehr mit Fällen von Bandenmitgliedschaft, Mord, Vergewaltigung, Diebstahl und Betrug, Schmuggel und Verkauf pornographischer Videobänder zu tun zu haben 35).
Aus westlicher Sicht leidet das chinesische Justizsystem vor allem an vier Mängeln: Es ist zu wenig unabhängig (das heißt, die Partei hat immer noch genügend Eingriffsmöglichkeiten), es verwirklicht noch lange nicht den Grundsatz der „Gleichheit vor dem Gesetz“ (ein Blick auf die Sonderbehandlung der Mao-Gattin Jiang Qing spricht Bände); es sucht ferner die „Wahrheit in den Tatsachen“ und will nichts von formeller Wahrheit (zivilrechtlich: „Beweislast“. strafrechtlich: „In dubio pro reo“) wissen. und es drängt fast mit Gewalt auf außerjuristische Lösungen in Form von „freundschaftlichen Verhandlungen“ und notfalls Schlichtungen. In 80 Prozent aller vor Gericht gelangten zivilrechtlichen Fällen setzt sich am Ende die Schlichtung durch. Zwei Arten von Schlichtung (diaojie) lassen sich unterscheiden, nämlich die gerichtliche und die außergerichtliche Arbitrage — bei der letzteren machen Scheidungs-, Erbschafts-. Eigentums-und Unterhaltsfragen den Löwenanteil aus. „Harmonisierung“ gilt nach wie vor als Bestandteil aller Rechts-händel. Von den 400 000 Scheidungsanträgen, die 1983 anhängig wurden, sind mehr als 80 Prozent im Sinne einer Wiederversöhnung der Ehepartner gelöst worden 36).
Neben den Gerichten. Staatsanwaltschaften und Schlichtungs-sowie Schiedsorganen gibt es inzwischen auch wieder Notariate und Rechtsanwälte, deren Mitgliederjeweils Staatsangestellte sind. Der Rechtsanwalt hat im wesentlichen fünf Aufgaben, nämlich Rechtsberatung für alle staatlichen Organisationen und Betriebe. Verteidigung in Strafsachen. Vertretung in Zivilprozessen. Vertretung einer Partei auch in außerprozessualen Angelegenheiten und Rechtsberatung für die Bevölkerung.
Je stärker die Gesetzesflut zunimmt, um so mehr kehrt der Durchschnittschinese zu alten, seit Jahrhunderten bewährten Volksweisheiten zurück, die sich auf folgende drei Formeln reduzieren lassen: „Nicht juristisch, sondern anständig“ (Zivilrecht). „Nicht juristisch, sondern exemplarisch“ (Strafrecht) und „Wenn Du einen Juristen siehst, so lauf was Du kannst“. Am Ende geht es bei der Gesetzes-modernisierung weniger um das Recht als solches, als vielmehr um das Ziel, die „ewig chinesische“ Tendenz zur Personenherrschaft durch Maßnahmen der „Rechtsherrschaft“ wenigstens teilweise aufzufangen.