Die Vereinigten Staaten werden als die konservative Gesellschaft schlechthin angesehen. Sie können aber auch als die liberalste politische Gesellschaft in der entwickelten Welt verstanden werden. Die erste Einschätzung wird häufig mit der Tatsache begründet, daß Amerika die kapitalistische Nation par excellence ist. die einzige fortgeschrittene Industriegesellschaft, die keine sozialistische Partei oder Arbeiterpartei aufweist, deren Arbeiterbewegung schwach ist und die Sozialismus und Kommunismus im Ausland bekämpft. Das zweite Urteil läßt sich, wie der kanadische Philosoph George Grant betont hat. mit der Tatsache begründen, daß die Vereinigten Staaten die westliche Nation sind, die am wenigsten die „organischen“ Gemeinschaftstraditionen der europäischen Vergangenheit angenommen haben und die dazu neigen, sowohl Innen-wie Außenpolitik in moralisierend utopischen und kreuzzughaften Kategorien zu sehen.
Für das Verständnis amerikanischer Politik muß man deshalb berücksichtigen, daß Konservatismus, wie er außerhalb der Vereinigten Staaten verstanden wird, hier besonders schwach entwickelt ist. Der Konservatismus in Europa und Kanada, der sich aus der historischen Allianz von Kirche und Staat ableitet, bedeutet Unterstützung für staats-orientierte und gemeinschaftsbezogene „noblesse oblige“ -Politik. Unter Konservatismus fassen die Amerikaner eine ganz andere Weltanschauung, nämlich das, was Europäer immer Liberalismus genannt haben, das heißt eine zutiefst anti-staatliche Einstellung, die die Tugenden des laissez-faire zum wichtigsten Wert erhebt. Seit den zwanziger Jahren hat der amerikanische Begriff „Liberalismus“ allerdings immer mehr eine Bedeutung angenommen, die ihn der Sozialdemokratie angenähert hat.
Die politisch-ideologischen Grundströmungen der Vereinigten Staaten sind im Vergleich zu denen anderer ökonomisch hoch entwickelter Länder außergewöhnlich. Der Begriff der amerikanischen Ausnahmestellung (american exceptionalism) bezieht sich auf die Entwicklung sozialer, politischer und religiöser Systeme, die sich qualitativ von denen in Europa unterscheiden. Der Begriff entstand in der Auseinandersetzung über die kommunistische Parteitaktik in den zwanziger Jahren. Der damalige Führer der amerikanischen kommunistischen Partei. Jay Lovestone, beging den Fehler (der zu seinem Parteiausschluß führte), den Versuch zu unternehmen, Stalin davon zu überzeugen, daß eine Politik, die für andere kapitalistische Länder gedacht war. in den Vereinigten Staaten nicht funktionieren würde. Er hob hervor, daß Amerika eine Ausnahmestellung einnahm und eine revolutionäre Doktrin dort wenig Attraktivität hatte.
Die Frage, die Lovestone aufwarf, war auch das Thema von Werner Sombarts Buch: „Warum gibt es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten?“, das 1906 in Deutschland erschien. Warum sind die Vereinigten Staaten die einzige wichtige Industrienation ohne sozialistische Bewegung? Die American Socialist Party erreichte nur wenige Prozent der Wählerstimmen bei nationalen Wahlen vor dem ersten Weltkrieg, wobei sie mit sechs Prozent der Stimmen 1912 ihr bestes Ergebnis erzielte. 1984 erreichte keine der sozialistischen Parteien wenigstens ein Viertel Prozent der Stimmen. Eine damit zusammenhängende Frage ist. warum die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten, der mächtigsten Industrienation, am schwächsten ist. Die Zahl der Mitglieder in amerikanischen Gewerkschaften hat seit der Mitte der fünfziger Jahre ständig abgenommen, so daß heute der Punkt erreicht ist, wo nur noch 17 Prozent der nichtlandwirtschaftlichen Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert sind.
Ungefähr zur gleichen Zeit wie Sombart versuchte sich ein anderer Europäer mit dem einzigartigen Zuschnitt der amerikanischen Politik auseinander-zusetzen. H. G. Wells, bei dem wir meistens an seine Romane, insbesondere seine utopischen Romane, denken, war ein aktives Mitglied der Fabian Society; er besuchte oft Amerika und hielt seine Erfahrungen schriftlich fest. In seinem Buch „The Future in America“ stellte Wells fest, daß es in der amerikanischen Politik nicht nur keine sozialistische Partei oder Arbeiterpartei gebe, sondern auch keine konservative. Unter einer konservativen Partei verstand er natürlich eine wie die Britischen Konservativen oder die Deutschnationale Volkspartei. Wie schon erwähnt, bezog man in Großbritannien wie fast überall in Europa den Begriff Konservatismus auf Parteien, die Vertreter der Allianz von Monarchie und Kirche waren und die die traditionellen Werte der Aristokratie und der ländlichen Gebiete repräsentierten. Sie traten für die Verteidigung oder Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Hierarchie, von Staatsreligion und staatlicher Kontrolle ein. Ihre ländlich-feudale In-3 teressenbindung bewirkte eine anti-bourgeoise, anti-kapitalistische Haltung. Die Alternative zur konservativen war die liberale Partei. Die Liberalen waren die Partei der Bourgeoisie. Sie traten für einen schwachen Staat, Handelsfreiheit, für größere Chancengleichheit und mehr Demokratie ein. Wells behauptete, daß nach britischen Kategorien beide amerikanischen politischen Parteien (die Demokraten und die Republikaner) dem linken und rechten Flügel der liberalen Partei entsprachen.
Die von Wells vorgetragene Argumentation wurde in größerer Ausführlichkeit fast ein halbes Jahrhundert später von dem amerikanischen Politik-Theoretiker Louis Hartz wiederholt. Sein Buch „The Liberal Tradition in America“ übt bis heute großen Einfluß aus. Hartz vertrat die These, daß die legitime nationale Tradition der Vereinigten Staaten der Liberalismus im Sinne des europäischen 19. Jahrhunderts sei. Wie Wells hob er hervor, daß es Konservatismus im europäischen Sinne seit der Beseitigung der britischen Monarchie in den Vereinigten Staaten nie gegeben hat. Die liberale Tradition in Amerika, die Weltanschauung der amerikanischen Revolution, ist von Mißtrauen gegenüber staatlicher Macht geprägt. Die erste amerikanische Verfassung, die Konföderationsartikel, schufen einen Staat ohne Exekutive. Als man erkannte, daß dieses System nicht funktionieren konnte, entwarfen die Gründungsväter eine neue Verfassung, die von einem System der Kontrollen und Gegengewichte charakterisiert war. das dazu dienen sollte, die exekutive Macht dadurch in Schach zu halten, daß man die staatlichen Befugnisse auf die beiden Häuser des Kongresses und die Präsidentschaft aufteilte (checks and balances). Alle Instanzen sollten zu unterschiedlichen Zeiten gewählt werden. Ein unabhängiger oberster Gerichtshof sollte über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den Instanzen der Bundesebene Und der Bundesebene und den Einzelstaaten entscheiden. Wie James Madison bemerkte: „Allen Menschen, die Macht besitzen, gilt es zu mißtrauen . . Sein Hauptanliegen war die Suche nach Methoden, die „die Regierung dazu verpflichten, sich selbst zu kontrollieren“.
II.
Diese transatlantischen Unterschiede setzten sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Natürlich gab es staats-orientierte Kräfte in Amerika. Wie schon erwähnt, erreichten die Sozialisten in den Präsidentschaftswahlen von 1912 sechs Prozent. Die größtenteils republikanischen „Progressives“, die Staatsinterventionismus weitgehend befürworteten, eroberten mit der Nachfolge von Vizepräsident Theodore Roosevelt auf den ermordeten McKinley sogar die Präsidentschaft.
Die staatsorientierte Linke blieb jedoch relativ schwach. Bis in die dreißiger Jahre lehnte ihr sprichwörtlicher Stützpfeiler, die Gewerkschaftsbewegung. staatliche Interventionen in die Wirtschaft kompromißlos ab. Die American Federation of Labor (AFL) war unter Samuel Gompers in ihrer Einstellung syndikalistisch und nicht sozialistisch. Die Industrial Workers of the World (IWW).der radikale Flügel der Arbeiterbewegung, war anarchosyndikalistisch. Sowohl die AFL wie die IWW waren anti-staatlich in ihrer Ausrichtung. Gompers stellte ausdrücklich fest, daß sich die Arbeiter nicht auf den Staat verlassen sollten, denn was der Staat gewährte, könne er auch wieder wegnehmen. Die Arbeiter würden sich nur durch gewerkschaftliche Aktionen selbst helfen können.
Die AFL aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war wesentlich aggressiver, destruktiver und streik-freudiger als sozialistische Gewerkschaften in Europa. Aber im Gegensatz zur europäischen Gewerkschaftsbewegung war ihre Einstellung antistaatlich. Gompers und andere Führer des AFL gingen von folgender Prämisse aus: „Es ist viel einfacher, die Kapitalisten zu bekämpfen, als sich gegen den Staat zu wenden. Wenn der Staat zum Arbeitgeber wird, dann werden wir mehr Ärger haben. Wir ziehen es vor. mit Privateigentümern zu verhandeln anstatt mit dem Staat als Eigentümer.“ Sie behaupteten, daß. wenn die Sozialisten je die Macht übernähmen, die Arbeiter größere Schwierigkeiten hätten, sich gegen das Management zu verteidigen, als dies unter dem Kapitalismus der Fall sei. Obwohl die radikale Gewerkschaftsbewegung. die IWW. kompromißlos anti-kapitalistisch war. lehnte sie auch Sozialismus und Vergesellschaftung ab.
Die Einstellungen in der Gewerkschaftsbewegung änderten sich jn den dreißiger Jahren mit dem Aufstieg des New Deals und des CIO (Congress for Industrial Organisation), der im Hinblick auf viele Problemstellungen sozialdemokratische Positionen einnahm. Aber die natürliche Orientierung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung ist immer schon syndikalistisch gewesen. Als Louis Hartz die Schwäche des Sozialismus in den USA zu erklären versuchte, bemerkte er in bezug auf Europa, daß die nationalen konservativen Traditionen den Staat als einen Handlungsträger legitimieren; in Amerika dagegen negieren sie ihn. Sozialismus ist die „linke Ausgabe“ der europäischen Staatsorientierung. In den Vereinigten Staaten dagegen gehen linke Ausrichtung und Sozialismus nicht Hand in Hand. Dies ist eine Ironie, da die Vereinigten Staaten das kapiB talistischste Land sind. Diesen Tatbestand hoben Friedrich Engels und viel später auch Antonio Gramsci hervor. Engels betonte, daß Amerika das einzige industrialisierte Land sei. das keine bedeutenden Residuen von Feudalismus. Aristokratie und Monarchie aufweise.
Amerikas Sozialstruktur ist der reinste Ausdruck eines marktorientierten Gesellschaftssystems. Aber dies bedeutet auch, daß sie das reinste Beispiel für eine liberale Gesellschaft ist. Engels begriff nicht, daß diese Tatsache den Aufbau einer starken sozialistischen Bewegung wesentlich schwieriger, wenn nicht gar ganz unmöglich machte, da die Idee, den Staat als Hauptvehikel für soziale Veränderung einzusetzen. gegen den Strich amerikanischer Traditionen geht.
In Europa dagegen ist der Kapitalismus mit dem Entstehen des Wohlfahrtsstaates verbunden. Die beiden Namen, die damit am ehesten in Verbindung gebracht werden, sind Bismarck und Disraeli. Als Führer des Konservatismus in ihren Ländern repräsentierten sie ländliche und aristokratische Elemente, das heißt Teile der Gesellschaft, die den Kapitalismus verachteten, das Bürgertum verabscheuten und materialistische Werte ablehnten. Ihre Politik reflektierte die Werte von noblesse oblige. die Verpflichtung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten, die weniger vom Schicksal Begünstigten zu beschützen.
Beispiele der konservativen Opposition gegen bürgerliche Wertvorstellungen lassen sich in „Das Kapital“ und in Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ finden. Beide Bücher enthalten viele Beispiele darüber, wie schrecklich die britischen Kapitalisten ihre Arbeiter behandelten. Die Belege kamen von Berichten königlicher Kommissionen und Parlamentsenqueten, die eine moralisierende und anti-kapitalistische Sprache sprachen. Diese Berichte (die die Methoden, wie man Arbeiter behandelte, sowohl dokumentierten als auch moralisch verurteilten) wurden von Konservativen geschrieben, die der Meinung waren, daß die Kapitalisten die Arbeiter schlecht behandelten.
Die Arbeiter wurden auf die Straße gesetzt, sobald die Konjunktur einbrach, sie wurden ohne Einkommenssicherung entlassen, sobald sie krank oder alt waren. Ein derartiger Umgang verletzte die Normen des Herrschaftsverhältnisses, das die patrimoniale Beziehung der Aristokratie und des Kleinadels*zu ihren Untergebenen, zu denen sie persönliche Bindungen hatten, widerspiegelte.
III.
Die Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Konservatismus können auf Unterschiede kirchlicher Tradition und Organisation zurückgeführt werden. Die europäischen Kirchen sind großenteils Staatskirchen gewesen, beispielsweise die Anglikaner in England, die Lutheraner in Skandinavien und die Orthodoxen in Ruß-land. Diese Kirchen wurden nicht nur vom Staat finanziert und unterstützt, sondern sie behielten auch Strukturen und Wertvorstellungen bei. die sich in mittelalterlichen agrarischen Gesellschaften gebildet und institutionalisiert hatten. Sie sind hierarchisch strukturiert, und sie haben aus säkularer Sicht den Verantwortungssinn der Gemeinschaft für das Wohlergehen ihrer Mitglieder gefördert. Daraus folgt, daß die europäischen Kirchen wie die Aristokratie und der Kleinadel der Logik der kapitalistischen Gesellschaft kritisch gegenüberstanden.
In den Vereinigten Staaten jedoch ist die vorherrschende religiöse Richtung das protestantische Sektentum. Max Weber identifizierte diese Doktrin als die Kraft, die rationales, wettbewerbsbezogenes und individualistisches Verhalten, das für unternehmerischen Erfolg entscheidend ist. stimuliert. Die überwiegende Mehrheit der Amerikaner gehört Sekten statt Kirchen an. Die beiden größten sind die Methodisten und Baptisten, aber daneben gibt es Hunderte von anderen religiösen Gemeinschaften. von denen viele ursprünglich amerikanisch sind. Die Mitglieder europäischer Staatskirchen, die Episcopalians. die Lutheraner, die Katholiken und die Orthodoxen sind eine Minderheit in den Vereinigten Staaten. Das amerikanische religiöse Ethos ist nicht nur einer bürgerlichen Wirtschaftsform adäquat, sondern auch einem liberalen Staatswesen. Es hat egalitäre und populistische Werte begünstigt, die eine antielitäre Ausprägung erfahren haben, da die meisten der Sekten gemeinschaftlich und nicht hierarchisch organisiert sind. Die protestantischen Sekten, die die religiöse Szene in Amerika beherrschen, werden in Großbritannien Nonkonformisten oder Abweichler (dissenters) genannt. Deshalb hat sich auf beiden Seiten des Atlantik das politische und das religiöse Ethos gegenseitig verstärkt.
Die Betonung des Amerikanismus als politischer Ideologie hat unter amerikanischen Liberalen und Konservativen eine utopische Orientierung begünstigt. Beide sind bestrebt, die „gute Gesellschaft“ zu errichten. Aber die religiösen Traditionen der protestantischen Abweichler haben die Amerikaner dazu angehalten, sich moralisierend zu verhalten und ihrem Gewissen mit einer Rigorosität zu folgen, die man nicht bei den religiösen Gemeinschaften findet, die sich aus den Staatskirchen herleiten. Das protestantische religiöse Ethos in Amerika hat in der Praxis und vielleicht auch in der Theorie immer die Vervollkommnung der Menschheit und ihre Verpflichtung zur Vermeidung von Sünde vorausgesetzt; die Kirchen dagegen, deren Anhänger in Europa, Kanada und Australien dominieren. haben die den Menschen inhärente Schwäche. ihre Unfähigkeit, Sünde und Verfehlung zu entgehen, und die Pflicht für Kirchen, Schutz und Vergeben zu gewähren, akzeptiert.
Das Bedürfnis, das eigene Verantwortungsbewußtseins zu entlasten, hat die Amerikaner dazu gebracht. gesellschaftliche Bewegungen zur Beseitigung des Bösen — auch mit illegalen, und wenn notwendig sogar mit gewalttätigen Mitteln — zu unterstützen. Ein wesentliches Element in jenen Konflikten, die im Bürgerkrieg ihren Höhepunkt erreichten, war die Tendenz beider Seiten, die andere als zutiefst verdorben, als Handlanger des Teufels anzusehen. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, die eng mit dem protestantischen Sektentum zusammenhängt, war bis vor kurzem mehr oder weniger ein amerikanisches Phänomen. Die Gegner des Vietnamkrieges erneuerten ein zwei Jahrhunderte altes protestantisches persönliches Verantwortungsbewußtsein, das den einzelnen dazu veranlaßte, ausschließlich seinenf Gewissen zu folgen.
Eine Studie von Sol Tax von der University of Chicago, die versuchte, das Ausmaß von Antikriegs-Protest in der amerikanischen Geschichte zu vergleichen, kam zu der Schlußfolgerung, daß bis 1968 der Vietnamkrieg auf der Popularitätsskala an viertletzter Stelle unserer Konflikte mit einem ausländischen Feind stand. Mit der möglichen Ausnahme des Zweiten Weltkrieges bestand weit verbreitete Opposition gegen alle amerikanischen Kriege. Eine große Zahl von Menschen weigerte sich, den Krieg von 1812.den Mexikanischen Krieg, den Bürgerkrieg und den Korea-Krieg zu unterstützen.
Die Befürworter amerikanischer Kriege verstehen diese als Feldzüge im Sinne der Moral, die dazu dienen, monarchische Herrschaft zu beseitigen (Krieg von 1812), die katholischen Kräfte des Aber-glaubens auszuschalten (mexikanischer Krieg), die Sklaverei abzuschaffen (Bürgerkrieg), den Kolonialismus in der westlichen Hemisphäre zu beenden (Spanisch-Amerikanischer Krieg), die Welt für die Demokratie zu sichern (Erster Weltkrieg) und der totalitären Expansion Einhalt zu gebieten (Zweiter Weltkrieg). Im Gegensatz zu anderen Ländern verstehen sich die USA selten als eine Nation, die bloß ihren nationalen Interessen folgt. Da jeder Krieg ein Krieg zwischen Gut und Böse ist, ist das einzig akzeptable Resultat die bedingungslose Kapitulation des Feindes.
Der unentschiedene Kampf mit dem Kommunismus ist insbesondere für amerikanische Konservative ein Schlag gegen ihre Vorstellung einer gerechten Auseinandersetzung, die mit dem Sieg über den Satan enden muß. Amerikas anfängliche Reaktion auf den Kommunismus ließ keinen Kompromiß zu. Nach jedem bedeutenden kommunistischen Triumph — Rußland. China. Nordkorea. Kuba, Vietnam — haben die USA eine Phase durchlaufen, in der sie sich weigerten, den unverzeihlichen, hoffentlich vorübergehenden Sieg des Bösen anzuerkennen. Dieses Verhalten steht im Gegensatz zu dem anglikanischer Konservativer wie Churchill oder katholischer Politiker wie de Gaulle, deren Gegnerschaft zum Kommunismus keine Nichtanerkennung oder Weigerung zur Kooperation beinhaltete. Auch Francos Spanien nahm bald nach seiner Machtübernahme Beziehungen zu Castro auf. Kanada unterhält unter einer konservativen Regierung Handelsbeziehungen zu Kuba und Nicaragua und kritisiert die amerikanische Politik in Zentral-amerika.
Die Politik von Bewegungen, die solche Weltanschauungen vertreten, lebt bis heute fort. Amerikanische Konservative folgen diesen Leidenschaften in ihren Bemühungen. Abtreibung für verfassungswidrig zu erklären und die amerikanische Außenpolitik zu unterstützen. Genauso leidenschaftlich wenden sich amerikanische Liberale gegen die Hilfe an die nicaraguanischen Contras, versuchen, die Möglichkeit legaler Abtreibung offen zu halten, die sie als das Recht der Frauen definieren, über ihren Körper selbst zu bestimmen, und drängen auf volle Gleichheit der Rassen und Geschlechter. Beide halten ihre innenpolitischen Gegner für Befürworter unmoralischer Politik, wie das Verhalten bei den Anhörungen zur Iran-Contra Affäre deutlich machte.
IV.
Diese Unterschiede auf religiösem, politischem und ökonomischem Gebiet zwischen den Vereinigten Staaten und Europa kann man nicht nur zwischen Großbritannien oder Deutschland oder Europa im allgemeinen, sondern auch zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada entdecken. Die Vereinig-ten Staaten sind das Land der Revolution. Kanada das Land der Konterrevolution. Die Vereinigten Staaten sind der Teil von Britisch-Nordamerika.der erfolgreich seine Selbständigkeit erlangte, während Kanada als das Gebiet angesehen wird, das britisch blieb. Diese unterschiedlichen Ausgangsla-gen haben dazu geführt, daß Kanada im Hinblick auf die Bedeutung von Konservatismus und die Stellung der Sozialdemokratie eher Europa als den USA ähnelt. In Kanada wie in Europa beinhaltet Konservatismus Unterstützung für einen starken Staat, für die Monarchie und innerhalb gewisser Grenzen für staatliche Unterstützung der Kirche. Der Konservatismus in Kanada leitet sich aus dem Toryism ab. In Nordamerika wandten sich die Tories gegen die Revolution. Nach der Revolution zogen ungefähr 80 000 amerikanische Tories nach Kanada. Umgekehrt wanderten viele „Yankee-Bewohner“ des Gebietes, das ursprünglich nördliches Neuengland, New Brunswick und Nova Scotia war, in die neue Nation aus.
Während der Revolution gab es eine interessante Veränderung auf religiösem Gebiet. In Nova Scotia und New Brunswick dominierte die Congregational Church, wie fast überall in Neuengland vor der Revolution. Nach dem Vertrag von Paris im Jahre 1783 zogen die Pfarrer dieser Kirche nach Süden. Umgekehrt zogen viele anglikanische Geistliche nach Norden. So gab es eine Bevölkerungsverschiebung im politischen und religiösen Sinne innerhalb des Englisch sprechenden Nordamerikas.
Das katholische Quebec, das 1763 ein britischer Staat geworden war. blieb aus praktischen Erwägungen bei seinen Eroberern. Quebec wurde völlig von Geistlichen beherrscht, da fast alle säkularen Eliten nach der britischen Eroberung nach Frankreich zurückkehrten. Die Priesterschaft der Provinz verstand nur allzugut, daß sie mit den anti-päpstlichen puritanischen Yankees viel größeren Arger haben würden als mit den britischen Anglikanern. Bald nach der Revolution ergaben sich noch andere gute Gründe, britisch zu bleiben. Die französische Revolution war anti-klerikal und materialistisch. Die frankophonen Geistlichen betrieben bewußt den Abbruch aller Kontakte mit Frankreich. Dies machte Quebec zur zweiten konterrevolutionären Gesellschaft. So wurde Kanada das Land der zwei Konterrevolutionen. Das englische Kanada wandte sich genauso wie das französische Kanada gegen die Amerikanische Revolution. Das französische Kanada lehnte ebenso die Französische Revolution ab.
In Kanada waren die Kerngedanken der dominanten Tory-Tradition immer ein starker Staat, gemeinschaftsbezogene Werte. Gruppensolidarität und Elitedenken. Der Staat unterhält immer noch von der Kirche kontrollierte Schulen. Verstaatlichte Industriezweige, von denen ein großer Teil von konservativen Regierungen geschaffen wurde, haben einen viel größeren Anteil als in den Vereinigten Staaten. Kanada gibt verhältnismäßig mehr für Sozialprogramme aus. Sein Strafverfolgungsund Strafvollzugssystem ähnelt dem in Europa, das Verbrechensbekämpfung und die hoheitsstaatlichen Rechte in den Mittelpunkt stellt. In Amerika dagegen liegt die Betonung auf rechtsstaatlichem Verfahren und den Rechten des Angeklagten.
Obwohl Kanada heute von der konservativen Partei regiert wird, sind seine Gewerkschaften und die sozialistische Partei viel stärker als in den USA. Wie schon weiter oben erwähnt, gehören nur 17 Prozent der nichtlandwirtschaftlichen Arbeitnehmer Gewerkschaften an. Die entsprechende Zahl für Kanada beträgt 40 Prozent. Die kanadischen Sozialdemokraten, die New Democratic Party (NDP), waren von drei Parteien in Umfragen 1987 stets an der Spitze und haben alle Nachwahlen gewonnen. Zudem unterstützen in Kanada alle drei Parteien, die Konservtiven, die Liberalen und die NDP den Wohlfahrtsstaat.
In den USA dagegen ist Konservatismus immer noch mit Ablehnung staatlicher Eingriffe verbunden. Ronald Reagan und Milton Friedman, die beiden Namen, die diese Weltanschauung am besten verkörpern, repräsentieren den Konservatismus in den USA. Der Ausdruck bedeutet immer noch laissez-faire. Bis heute versteht man darunter die Ablehnung von Aristokratie und klassengebundener Hierarchie. Vor kurzem diskutierten in den April-und Juni-Ausgaben der britischen Zeitschrift „Encounter“ zwei führende transatlantische konservative Intellektuelle. Max Beloff (Lord Beloff) und Irving Kristol, den Sinn von Titeln. Kristol argumentiert, daß „einem in Großbritannien das Leben schwer gemacht wird durch oberflächliche, aber hartnäckige aristokratische Prätentionen, die Chancengleichheit ausschließen und jedes Gleichheitbewußtsein unterdrücken, das sich immer noch nicht richtig entfalten kann“. Daher stammten auch bei so vielen Briten die Frustrationen, „die das Leben in Großbritannien so freudlos, so voll von Ressentiment machen“. Wie Tocqueville hebt er soziale und nicht ökonomische Gleichheit hervor, die es ermöglicht, „die anderen Ungleichheiten in der modernen Demokratie erträglich zu gestalten.“ Beloff, ein Tory, argumentiert dagegen, daß das, was den Konservatismus in Großbritannien heute schwächt, nicht seine verbliebenen Bindungen an die aristokratische Tradition seien, sondern seine angebliche Indifferenz gegenüber bestimmten Mißständen im Kapitalismus. Es sind nicht die Herzöge. die für unsere Stimmenverluste verantwortlich sind, sondern die . Übeltäter des großen Vermögens*. Er fragt sich, „warum Mr. Kristol sich für einen . Konservativen* hält“, da er doch wie die meisten Amerikaner genauso unfähig ist. in irgendeinem wirklichen Sinne konservativ zu sein“. Lord Beloff kommt zu der Schlußfolgerung, daß „Konservatismus ein Tory-Element enthalten muß, sonst sei er nicht mehr als die alte . Manchester Schule“ *, und das heißt liberal. Kanadas herausragendster konservativer Intellektueller George Grant betont in seinem Buch „Lament for a Nation“, daß „Amerikaner, die sich selbst Konservative nennen, nur in einem ganz bestimmten Sinne ein Anrecht auf diesen Titel haben. In Wirklichkeit sind sie klassische Liberale . . . Ihre Betonung von Freiheit vor staatlichen Eingriffen hat mehr mit dem Liberalismus des 19. Jahrhundert gemeinsam als mit dem klassischen Konservatismus, der das Recht der Gesellschaft auf Beschneidung der Freiheit zugunsten des Gemeinwohls behauptet“. Grant bedauert die Tatsache, daß der amerikanische Konservatismus mit seiner Betonung der Vorteile des Wettbewerbs und der Nähe zur Weltanschauung der Geschäftswelt, nur die Rechte des Individuums wahrnimmt, und die gesellschaftlichen Rechte und Pflichten ignoriert. Er stellt fest, daß es in der amerikanischen politischen Philosophie keinen Raum gibt „für den organischen Konservatismus, der dem Zeitalter des Fortschritts vorausging. In der Tat sind die Vereinigten Staaten die einzige Gesellschaft auf der Welt, die keine Traditionen aus der Zeit vor dem Fortschrittszeitalter kennen“. In seinen Schriften aus der Mitte der sechziger Jahre finden sich die Ideen von H. G. Wells wieder, die dieser ein halbes Jahrhundert früher geäußert hatte. „Die Rechte und die Linke in Amerika sind nur verschiedene Abarten des Liberalismus.“ Dennoch muß man festhalten, daß die amerikanische Politik sich gewandelt hat. Die dreißiger Jahre führten zu qualitativen Veränderungen. Wie Richard Hofstadter geschrieben hat. brachten sie zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten ein „sozial-demokratisches Element“ nach Amerika. Die große Wirtschaftskrise löste zwar Begeisterung für Planung, den Wohlfahrtstaat und den Staat als wichtigste Eingriffsinstanz aus; der New Deal hatte gleichwohl keinen sozialistischen Anstrich. Franklin D. Roosevelt wollte zweifellos den Kapitalismus erhalten. Aber der New Deal verstärkte die staatsorientierten Tendenzen in der amerikanischen Politik, verbunden mit verstärkter öffentlicher Unterstützung für die Gewerkschaften. Die neue Arbeiterbewegung, die in der Form des CIO gleichzeitig mit dem New Deal ihren Aufstieg erlebte, war im Gegensatz zur AFL sozialdemokratisch in ihrer Orientierung. Und sogar Kommunisten und Sozialisten spielten eine wichtige Rolle in der Bewegung. Der CIO war politisch aktiver als der ältere Gewerkschaftsbund und war dafür verantwortlich. daß die Demokraten weiter nach links rückten.
V.
Die Wirtschaftskrise führte zu einer gewissen Europäisierung der amerikanischen Politik wie der Gewerkschaftsbewegung. Klassenzugehörigkeit wurde zunehmend zum Kriterium für Parteiidentifikation. Die Konservativen, die sich mehr und mehr bei den Republikanern sammelten, blieben anti-staatlich in ihren Einstellungen und betonten das laissez-faire, aber viele von ihnen waren bereit, eine aktive Rolle des Staates zu akzeptieren. Als Folge langanhaltenden Wohlstandes kehrte sich diese Entwicklung jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich um. Die Vereinigten Staaten wie andere Länder der entwickelten Welt haben eine Entwicklung hinter sich, die von vielen als ein wirtschaftliches Wunder angesehen wurde. Der Zeitraum von 1945 bis heute ist durch erhebliches Wachstum, das Fehlen größerer ökonomischer Einbrüche, höhere soziale Mobilitätsraten sowohl auf der Massen-wie auf der Elitenebene und durch eine enorme Expansion des Bildungssystems charakterisiert. Letzteres schlug sich darin nieder, daß die Zahl der Hochschulabsolventen von wenigen Millionen auf elf oder zwölf Millionen anstieg, was die soziale Mobilität beschleunigte. Die Vereinigten Staaten waren ökonomisch besonders erfolgreich und Europa und Japan im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze deutlich überlegen.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung, die in den USA stärker ausgeprägt ist als in Europa oder Kanada. war die Wiederbelebung der klassischen liberalen Weltanschauung, das heißt des amerikanischen Konservatismus. Die Klassenspannungen, die von der Wirtschaftskrise ausgelöst worden waren. haben nachgelassen, was sich in dem Niedergang der Arbeiterbewegung widerspiegelt. Die Mitgliederzahl in amerikanischen Gewerkschaften, die 1955 34 Prozent der nicht-landwirtschaftlichen Erwerbspersonen erreichte, ist seitdem ständig zurückgegangen. In Kanada dagegen nahm die Gewerkschaftsmitgliedschaft von 25 Prozent am Ende des Zweiten Weltkrieges, über 33 Prozent in der Mitte der fünfziger Jahre, auf 40 Prozent Anfang der achtziger Jahre zu, was die amerikanische Rate um das Doppelte übertraf. Schon bevor Ronald Reagan ins Weiße Haus einzog. hatten die Vereinigten Staaten niedrigere Steuersätze, einen weniger ausgebauten Wohlfahrtstaat und weniger verstaatlichte Industrien als fast alle anderen Industrienationen.
Ironischerweise erwies sich der Vietnamkrieg, ein Ereignis, das eine massive linke Protestbewegung auslöste, als Katalysator für die Wiederbelebung des amerikanischen Konservatismus. Diese Protestwelle löste eine echte Autoritätskrise aus. die die Infragestellung traditioneller Normen und Verhaltensweisen in vielen Lebensbereichen zuließ und dazu ermutigte: Sex, Drogen, Kleidung. Familie. Erziehung, Rassenbeziehungen und vieles mehr. Die in diesen Bereichen erfolgten Veränderungen, die von der Öffentlichkeit mit der politischen Linken in Verbindung gebracht wurden, lösten eine Gegenreaktion bei vielen Menschen mit geringerem Bildungsstand sowie armen und religiösen Wählergruppen aus, die mit den Konservativen eine Koalition eingingen. In seinem erfolgreichen Wahlkampf für den Gouverneursposten von Kalifornien war Ronald Reagan der Repräsentant dieser neuen Entwicklung. Er verband einen an Barry Goldwater erinnernden Wahlkampf für laissezfaire, niedrige Steuern und Ablehnung staatlicher Eingriffe mit einer Attacke auf die Studentenrevolte von Berkeley und die Studentenunruhen im allgemeinen, auf Drogenmißbrauch und sexuelle Freizügigkeit.
Die sozialen Prozesse, die den ökonomischen Konservatismus stärkten, begünstigten auch einen neuen Typus linker Politik in allen Ländern der entwickelten Welt, nicht nur in den USA, wo er zuerst in großem Maßstab auftauchte. Veränderungen in den ökonomischen und beruflichen Strukturen, verbunden mit einem immer größeren Anteil an Hochschulabgängern, führte zu einer massiven Ausweitung der Intellektuellenschicht und brachte eine „neue Klasse“ hervor. Obwohl diese Schicht eine Massenbasis für sozialen Protest abgab, zeigte sie wenig Interesse an materiellen Themen, wie zum Beispiel Wirtschaftswachstum. Gewerkschaftsrechten oder Sozialpolitik. Sie war vielmehr an einer Verbesserung der Lebensqualität interessiert, an nicht-ökonomischem Liberalismus, an dem, was Ronald Inglehardt „Post-Materialismus“ genannt hat: eine pazifistische Außenpolitik. Betonung der Umweltproblematik. Gleichheit zwischen den Rassen. Gleichberechtigung der Geschlechter, Toleranz gegenüber Homosexuellen. Diese Themen. die in der Bundesrepublik Deutschland am ehesten mit den GRÜNEN in Verbindung gebracht werden, sind in Amerika vom „new politics“ -Flügel der Demokraten besetzt worden, der von Führungspersönlichkeiten wie George McGovern und Gary Hart repräsentiert wird. Für sie setzt sich immer mehr die Bezeichnung Neoliberale durch. Sie befürworten einen Abbau staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft und staatlicher Sozialprogramme, weshalb man sie auch als Teil der Wiedergeburt des klassischen Liberalismus verstehen kann.
Libertarianism (ein Begriff, der von Befürwortern freier Marktwirtschaft benutzt wird, um eine Verwechslung mit dem sozialdemokratischen oder New-Deal-Liberalismus zu vermeiden) erlebte auch innerhalb der neuen Linken der sechziger und siebziger Jahre (der amerikanischen Studentenbewegung und ihren Verbündeten) eine Wiedergeburt. Diese Bewegung, aus der der SDS, die Students for a Democratic Society, hervorsticht, war nicht sozialistisch. Sie war vielmehr quasi-anarchistisch und anti-staatlich eingestellt. Einige ihrer Führerpersönlichkeiten wie Noam Chomsky arbeiteten mit marktwirtschaftlich orientierten libertarians zusammen, die für Steuersenkungen und die Zurückdrängung von Staatsmacht eintraten. Die Persönlichkeit in der sozialistischen Tradition, die auf die meiste Resonanz bei der neuen amerikanischen Linken stieß, war die deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg, an der man die staatskritische Haltung und den Antibolschewismus schätzte. Die SDS-Gruppe am Massachussetts Institute of Technology. auf die Chomsky den stärksten Einfluß hatte, nannte sich „Rosa-Luxemburg-Zelle“. Diese Bezeichnung legt nahe, daß der letzte bedeutende Versuch zur Wiederbelebung des amerikanischen Radikalismus mehr Gemeinsamkeiten mit dem Anarchismus als mit dem Sozialismus hatte.
VI.
Mit Blick auf den heutigen amerikanischen Konservatismus sollte man beachten, daß seine Politik sich nicht auf Versuche beschränkt, die Rolle des Staates zurückzudrängen. Steuern zu senken, und die Wirtschaft zu deregulieren. Sie ist unnachgiebig anti-kommunistisch und anti-sowjetisch und betont deshalb auch die Notwendigkeit militärischer Verteidigung, was natürlich sehr kostspielig ist. Aufgrund ihres ungebrochenen Antikommunismus in der Außenpolitik haben die traditionellen Konservativen in den siebziger Jahren ein Bündnis mit sozialdemokratischen und ex-trotzkistischen Intellektuellen geschlossen, die früher zwar einmal bei den Linken zu finden waren, aber ebenso kompromißlos anti-sowjetisch waren. Angesichts ihres Streites mit den Hauptströmungen des amerikanischen Liberalismus in außenpolitischen Fragen ging man dazu über, diese Liberalen (oder Sozialdemokraten) mit einer harten Linie in der Außenpolitik als Neokonservative zu beschreiben (der Begriff ist von Michael Harrington, dem Führer der Demokratischen Sozialisten erfunden worden mit dem Ziel, sie von der Hauptströmung links-liberaler Couleur zu unterscheiden). Trotz ihrer geringen Anzahl haben die Neokonservativen, besonders Irving Kristol, Jeane Kirkpatrick und Norman Podhoretz, die zu den Republikanern überwechselten, eine wichtige Rolle bei der intellektuellen Artikulation der konservativen Bewegung in Amerika. besonders im außenpolitischen Bereich, gespielt. Die Konservativen erhielten wichtige Wahlunterstützung von den religiösen Traditionalisten, die hauptsächlich weiße Mitglieder fundamentalistischer protestantischer Sekten sind. Die religiöse Rechte war beunruhigt über den Niedergang traditioneller Moralvorstellungen, die sich in sexuellen Freiheiten, der Ausbreitung von Drogenkonsum, dem Verbot von Gebeten in öffentlichen Schulen, der Legalisierung von Abtreibung, der Schwächung von Autorität in Familie und Schule, dem Entstehen des Feminismus, der Homosexuellenbewegung und zu einem gewissen Grad in der zunehmende Betonung rassischer Gleichheit manifestierte. Die Fundamentalisten sind überproportional unter traditionell demokratischen Wählergruppen vertreten: den weniger gebildeten Bürgern mit niedrigerem Einkommen aus den Südstaaten. Diese Anhänger konservativer religiöser Wertvorstellungen, die früher größtenteils unpolitisch waren, sind sehr offen gegenüber ideologischen Tendenzen, die ihre Basis bei den wirtschaftlich Wohlhabenden haben. Sehr unterschiedliche Elemente verbergen sich hinter der Weltanschauung. die Ronald Reagan artikuliert; sie ist von laissez-faire. Moralismus und einer ausgeprägten antikommunistischen und patriotischen Haltung geprägt.
Die moderne konservative Ideologie enthält jedoch Widersprüche, die ihre ablehnende Haltung gegenüber einem starken Staat relativieren. Antikommunismus ist mit der Unterstützung für eine Position der militärischen Stärke verbunden, was natürlich einen starken Staat und hohe Haushaltsansätze impliziert. Die Weltanschauung der protestantischen Sekten stärkt die Bereitschaft, staatliche Gewalt zur Beseitigung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen einzusetzen. Deshalb fordern sie Gesetze gegen Pornographie und Abtreibung. Viele Konservative scheinen der Meinung zu sein, daß man staatliche Gewalt für die Durchsetzung moralischer Vorstellungen. nicht aber für wirtschafts-oder sozialpolitische Ziele einsetzen solle. Als Reaktion auf diese Widersprüche haben einige Anhänger des klassischen Liberalismus eine dritte Partei gebildet, die „Libertarians“. Diese Gruppierung befürwortet ein laissez-faire Wirtschaftssystem, einschneidende Kürzungen im Verteidigungshaushalt und die fortgesetzte Legalisierung der Abtreibung. Sie wendet sich gegen das Verbot von Pornographie. Obwohl sie immer noch recht klein ist — sie erreicht noch nicht einmal eine Million Wählerstimmen — ist sie bei weitem größer als die verbliebenen sozialistischen Sekten.
Der Hauptgruppe der Konservativen, die größtenteils in der republikanischen Partei organisiert sind, könnte vielleicht ein Phänomen zur Hilfe kommen, das sich möglicherweise als das wichtigste unserer Zeit erweisen wird, nämlich AIDS. AIDS könnte die Politik auf der Welt völlig verändern. Diese Krankheit wird politisch mit der Linken in Verbindung gebracht, da ihre Ausbreitung in einem Zusammenhang mit deren Kampagne für Rechte von Homosexuellen, sexueller Freizügigkeit und einer neuen freieren Moral und dem Niedergang der Religion gesehen wird. Fundamentalistische Prediger sprechen von AIDS wie von einem Fluch, der von Gott gesandt wurde, um die sexuellen Sünder zu strafen. Wie die Ausbreitung der Syphilis, die zu dem Entstehen des Puritanismus geführt hat. könnte AIDS die religiöse Rechte stärken.
Man darfjedoch nicht den Schluß ziehen, daß diese konservative Allianz zwangsläufig die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen oder zur dominanten politischen Kraft in Amerika aufsteigen wird. Dafür spricht allerdings, daß die Republikaner sechs der letzten neun Präsidentschaftswahlen gewonnen haben. Schon vor der Enthüllung des Iran-Contra Skandals hatten die Demokraten wieder die Kontrolle über beide Häuser des Kongresses erlangt. Sie gewannen die Kongreßwahlen von 1986 deutlich. Umfragen verweisen darauf, daß Gleichheit ein bedeutender Wert innerhalb der traditionellen amerikanischen Weltanschauung bleibt, der die Fürsorge für die Unterprivilegierten und Unterstützung für Maßnahmen, die ihnen Chancen eröffnen und die die weniger Begünstigten beschützen, motiviert. Derartige Maßnahmen vermittelt man den Amerikanern am besten, wie Lyndon Johnson es formuliert, als Schritte zu größerer Chancengleichheit, nicht zur Herstellung gleicher Resultate. In seinem Plädoyer für die Reformprogramme der „Great Society“ verwendete Johnson folgende Analogie: Jeder befindet sich in einem Rennen um sozialen Aufstieg, aber viele — die Schwarzen und die Armen — haben keine Chance zu gewinnen, da sie das Rennen mit Ketten an den Füßen beginnen. Es ist Aufgabe des Staates, die hinderlichen Ketten zu sprengen, indem er Slums beseitigt, für gute Bildungsangebote sorgt, alleinstehenden Müttern hilft und so die sozialen Bedingungen schafft, die es den Unterprivilegierten erlauben, an dem Rennen mit der Aussicht auf Erfolg teilzunehmen. Die liberale Betonung staatlicher Verantwortung für die Ausweitung von Chancengleichheit findet immer noch bei den meisten Amerikanern Resonanz, wenn sie auch die Herstellung der Gleichheit von Resultaten aufgrund staatlicher Eingriffe ablehnen.
VII.
Schließlich gilt zu beachten, daß der europäische Tory-Konservatismus sich amerikanisiert und eine Liberalisierung im Sinne des 19. Jahrhundert durchmacht. Margaret Thatcher ist die Hauptvertreterin und die einflußreichste Führerin der neuen europäischen Ausrichtung. Sie ist eine Konservative amerikanischen Zuschnitts, eine eingeschworene Anhängerin Milton Friedmans. Als klassische Liberale schätzt sie die aufstiegsbewußte Mittel-schicht mehr als die Aristokraten. Der Economist bemerkte vor längerer Zeit über ein neu berufenes Kabinettsmitglied, daß er ein typischer Thatcher Typ sei, nämlich jemand, der das öffentliche Schulsystem durchlaufen hat. jüdisch ist und zur Mittel-schicht gehört. Die Aristokratie zeigt wenig Hochachtung für Margaret Thatcher, gerade weil sie eine bürgerliche Liberale ist.
Harold Macmillan.der letzte große Tory, empfand nur Verabscheuung für sie. Er beschrieb einmal Toryism als paternalistischen Sozialismus. Als Thatcher vor zwei Jahren den Bergarbeiterstreik brach, erschien der Neunzigjährige im House of Lords, um die Bergarbeiter zu preisen und Thatchers Politik anzugreifen. Er argumentierte, daß die Bergarbeiter zu unserem Volk gehörten, daß sie während der Kriegsjahre hingebungsvoll Kohle gefördert hätten und daß sie loyale englische Bürger seien, die Thatcher wie Feinde behandelte. Macmillan gab der gleichen Gefühlshaltung Ausdruck wie die Konservativen im 19. Jahrhundert. Wie Max Beloff bemerkte, sind noch viele in der konservativen Partei Tories und nicht Liberale.
In Frankreich, wo die Rechte ausgesprochen staats-orientiert war, sind die Konservativen gezwungen worden, symbolische Verbeugungen vor dem Liberalismus zu machen. Ja, sie beschreiben sich jetzt selbst sogar als Liberale. Jacques Chirac und Valery Giscard d’Estaing stellen die Tagesprobleme als Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Sozialismus dar. Staatsorientierung bleibt jedoch in der französischen politischen Klasse tief verwurzelt.
Man muß jedoch festhalten, daß die Bewegung für den klassischen Liberalismus eine internationale Bewegung ist. Bezeichnenderweise sind in ihr viele Sozialisten und Kommunisten vertreten. Man hat einmal gesagt, daß wir alle Sozialisten seien. Jetzt scheinen wir an einem Punkt angelangt zu sein, wo wir alle Liberale sind, sogar die Sozialisten und Kommunisten. Den Führern der unterschiedlichen Systeme ist die Einsicht gemeinsam, daß der Staat nicht effizient funktioniert, daß der Markt besser arbeitet als eine staatliche Planungskommission, daß Arbeiter und Manager ökonomische Anreize brauchen. Die stärksten Meinungsäußerungen in dieser Richtung kommen von Oppositionellen in der kommunistischen Welt, wenn auch die Herrschenden dort sich in die gleiche Richtung bewegen. Da aber alle Trends einmal an ihr Ende gelangen, wird es diesem wahrscheinlich ebenso ergehen. Der ökonomische Liberalismus wird Unglück und Entfremdung nicht beseitigen können. Er wird seine Krisen haben, und die Menschen werden sich wieder an den Staat wenden, aber eine derartige Kehrtwende wird sich nicht in naher Zukunft ereignen.