Österreich — Modernisierungspolitik zwischen Kontinuität und Wandel
Anton Pelinka
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Zusammenfassung
Während das politische System Österreichs in der Vergangenheit durch ein stabiles Wählerverhalten, ausgeprägten sozialen Frieden und „immerwährende Neutralität“ charakterisiert war. sind in jüngster Zeit hinsichtlich dieser Klassifizierungen Aufweichungstendenzen zu bemerken. Ein kennzeichnendes Merkmal der österreichischen Nachkriegs-Parteienlandschaft war der Konzentrationsprozeß zugunsten der SPÖ und der ÖVP, doch ist diese Entwicklüng durch einen signifikanten Anstieg des Stimmenanteils der FPÖ sowie vierter Parteien durchbrochen. Dies geht einher mit einem Zuwachs an innenpolitischen Konflikten, u. a. auch im Bereich des Neokorporatismus, der österreichischen Sozial-partnerschaft. Unter dem Stichwort „Postmaterialismus“ kam es auch in Österreich zu einem Wandel vorherrschender Werte — „Wachstum“ und „Sicherheit“ werden durch andere, sozialpsychologisch motivierte Interessen überlagert. Obwohl die Sozialpartnerschaft seit 1987 durch die Neubelebung der Großen Koalition in ihrer Kontinuität als gesichert erscheint, untergräbt die steigende Arbeitslosigkeit die Fundamente der Konkordanzdemokratie. Als bewußter Themenwechsel in dem Bereich der Außenpolitik ist deshalb die mit der immerwährenden Neutralität in Verbindung stehende Diskussion um einen möglichen Beitritt Österreichs zur EG zu verstehen; die dadurch zu erzielenden Vorteile sind allerdings fraglich. Diese Entwicklungsphase einer größeren Beweglichkeit für die Zukunft wirkt zugleich als Katalysator für die Frage der österreichischen Vergangenheit, die in der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Die Veränderungen in der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Landschaft Österreichs haben dazu geführt, daß sich das Land in einer Phase wachsender Verunsicherung befindet.
In der internationalen, vergleichenden Literatur wird das politische System Österreichs nach 1945 vor allem unter folgenden Gesichtspunkten analysiert
— stabiles Wählerverhalten und konzentriertes Parteiensystem;
— Neokorporatismus und ausgeprägter „sozialer Friede“;
— immerwährende Neutralität.
Diese Merkmale, die insgesamt ein wesentlicher Aspekt der „Konkordanzdemokratie“ genannten Elitenkooperation und der dadurch ermöglichten ungewöhnlichen Stabilität waren, sind seit einigen Jahren weniger selbstverständlich geworden. Das politische System Österreichs ist zwar noch immer durch ein relativ stabiles Wählerverhalten und ein relativ konzentriertes Parteiensystem gekennzeichnet; noch immer ist der Neokorporatismus als „Sozialpartnerschaft“ existent, und noch immer ist die immerwährende Neutralität innenpolitisch grundsätzlich ebenso unbestritten wie im Außenverhältnis Österreichs. Dennoch sind auf diesen drei Ebenen Entwicklungstendenzen zu beobachten, die insgesamt ein Mehr an Beweglichkeit in die österreichische Stabilität gebracht haben.
I. Geändertes Wählerverhalten, geändertes Parteiensystem
Das österreichische Parteiensystem war unter den liberalen Mehrparteiensystemen Europas in vieler Hinsicht ein Extremfall Es war das konzentrierteste. dichtest organisierte und — formal — partizipationsfreundlichste Parteiensystem innerhalb der Staaten des europäischen Kontinents, in denen die Grundsätze westlicher (liberaler), pluralistischer Demokratie in Form eines kompetitiven Mehrparteiensystems konkretisiert sind. In keinem anderen europäischen Mehrparteiensystem konzentrierten sich, im langjährigen Durchschnitt, die Wähler auf so wenige Parteien wie in Österreich. In keinem anderen europäischen Mehrparteiensystem war (und ist) ein so hoher Prozentsatz der Wähler in den politischen Parteien als Mitglieder organisiert. Überdies war (und ist) die Wahlbeteiligung in Österreich, insbesondere bei Wahlen auf der Bundeseben. auffallend hoch.
Diese Merkmale der Konzentration, der Organisation und der Partizipation können auf die Wurzeln des österreichischen Parteiensystems zurückgeführt werden. Die österreichischen Parteien sind älter als die demokratische Republik Österreich. Die Geschichte der Parteien geht zurück auf die Zeit der Ausweitung des eingeschränkten Wahlrechtes in Richtung auf das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Durch die allmähliche Öffnung des Wahlrechtes zugunsten einer Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung wurden die Honoratiorenparteien alten Typs durch moderne Massenparteien ersetzt — durch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Christlichsoziale Partei und (mit deutlich abgeschwächtem Massencharakter) verschiedene Parteien des deutschnationalen Lagers. Diese Parteien bildeten den Mittelpunkt gesellschaftlicher Subsysteme, in denen die wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben, insbesondere auch die Funktion der politischen Sozialisation, wahrgenommen wurde — die Parteien wurden so zu „Lagern“
Die Gründung der Republik 1918 und der Beschluß über eine Verfassung 1920 wurden ebenfalls von den Parteien getragen. Insbesondere die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Christlichsoziale Partei bestimmten die Rahmenbedingungen des politischen Systems. Als dann 1945 das deutsch-nationale Lager wegen der Diskreditierung durch den Nationalsozialismus an Bedeutung verlor, setzte ein umfassender Konzentrationsprozeß zugunsten der Nachfolgeparteien der alten Großpar-teien ein — zugunsten der Österreichischen Volkspartei als Nachfolgerin der Christlichsozialen, zugunsten der Sozialistischen Partei Österreichs als Nachfolgeorganisation der Sozialdemokratie.
Dieser Prozeß erreichte in den siebziger Jahren einen Höhe-und zugleich auch einen Wendepunkt. 1979 ging auf Bundesebene erstmals der bisherige Konzentrationsprozeß zugunsten der beiden Groß-parteien zurück — doch 1979 war nur die FPÖ der Nutznießer dieser Entwicklung, die Nachfolgeorganisation der Parteien des deutschnationalen Lagers. 1983 wurde jedoch erstmals ein signifikantes Ansteigen des Stimmenanteils vierter Parteien deutlich. Da dieses Ansteigen durch viel kräftigere analoge Indikatoren auf der Ebene der Gemeinden und Länder begleitet wurde und wird, ist zu vermuten, daß diese Erscheinung einer Dekonzentration des Parteiensystems nicht kurzfristiger, sondern langfristiger Natur ist. 1986 erreichte so auch — erstmals seit 1956 — eine vierte Partei den Durchbruch in den Nationalrat.
Die Nutznießer dieser Dekonzentration des Parteiensystems sind die FPÖ und die verschiedenen Gruppierungen des grün-alternativen Spektrums. Die FPÖ hat durch ihren Wechsel von der Regierung in die Opposition 1986/87 offenkundig an Attraktivität gewonnen. Viele Anzeichen, insbesondere auch lokale und regionale Wahlen seit den Nationalratswahlen vom November 1986, sprechen dafür, daß diese Attraktivität der FPÖ auch unter den Auspizien der erneuerten „Großen Koalition“ anhält oder noch zunimmt
Im Bereich des grün-alternativen Spektrums ist eine eindeutige Integration in Richtung auf eine einzige Partei (noch) nicht abgeschlossen. Die Gruppierung „Grüne Altemative/Liste Freda Meissner-Blau“. die 1986 in den Nationalrat einzog. wurde und wird immer wieder durch andere Gruppierungen. die sich ebenfalls grün und (oder) alternativ nennen, herausgefordert — so auch bei den Wiener Gemeinderats-und Landtagswahlen vom November 1987.
Hinter diesen Tendenzen des Parteiensystems steht ein sich allmählich wandelndes Wählerverhalten. Im Bewußtsein einer wachsenden Zahl von Wählern sind die alten Konfliktlinien der traditionellen Parteien immer weniger wichtig, werden neue Konfliktlinien immer wichtiger. Zu den alten Konflikt-linien.deren Gewicht abnimmt, zählen vor allem die Fragen von Klasse und von Religion. Da sich die SPÖ auf die Tradition einer marxistischen Klassen-partei und die ÖVP sich auf die Tradition einer konfessionellen Partei stützen konnten, bringt die abnehmende Prägekraft der Konfliktlinien „Klasse“ und „Religion“ auch eine abnehmende Attraktivität dieser Parteien mit sich. Weil sie immer weniger Klassenpartei oder Konfessionspartei sein können, verlieren sie an Bedeutung
Die neuen Themen und Konfliktlinien, die demgegenüber an Bedeutung zunehmen, sind: — Ökologie-, ein Politikfeld, das nicht — wie etwa „Soziale Sicherheit“ oder „Wirtschaftliche Leistung“ — von den traditionellen Parteien und Lagern „besetzt“ ist — Soziale Gleichheit zwischen Männern und Frauen-, ein Politikfeld, das zwar zum klassischen Repertoire der Sozialdemokratie gehört, das sich jedoch angesichts des Widerspruches zwischen egalitärer Theorie und nicht egalitärer Wirklichkeit als ein Problem mit Sprengkraft erweist — Frieden und Friedenspolitik, die freilich in immerwährend neutralen Österreich eine andere Bedeutung haben als in blockgebundenen Staaten; die dennoch, wegen der beispielsweise durch österrei-chische Rüstungsproduktion und Rüstungsexport auftauchenden Widersprüchlichkeit, auch eine auf Österreich bezogene Friedensbewegung hervorbringen
Diese Konfliktlinien werden von Österreichern höchst unterschiedlich wahrgenommen. Von besonderer Bedeutung sind sie für — jüngere Wähler; je jünger die Österreicher, desto eher sind sie von Fragen der Ökologie, des Feminismus und der Friedensbewegung zu mobilisieren; — besser gebildete Wähler; je länger und erfolgreicher Wähler in den höheren Schulen und Universtitäten eine Ausbildung erfahren, umso eher neigen sie dazu, diese neuen Konfliktlinien ernst zu nehmen und sich von ihnen wesentlich beeinflussen zu lassen.
Der Wandel des Parteiensystems und des Wähler-verhaltens ist auch eng mit einem Wandel der Parteientypologie verbunden. Die SPÖ wurde in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945 von einer traditionellen Klassenpartei ebenso zu einer Volkspartei wie die ÖVP. die sich von ihren Anfängen als konfessionelle Weltanschauungspartei löste. Doch diese Konvergenz in Richtung einer allumfassenden Volkspartei, in Richtung Allerweltspartei bringt zunehmend Glaubwürdigkeitsprobleme mit sich. Den großen Parteien wird immer stärker entgegengehalten, daß sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden seien. Die großen Parteien haben auch immer mehr mit dem Problem der Lähmung durch innere Widersprüche zu kämpfen — zu sehr führt der allumfassende Volksparteianspruch dazu, daß die Parteien widersprüchliche Positionen in sich aufnehmen wollen. Am deutlichsten wird dies bei der Konfliktlinie Ökologie: Sowohl SPÖ als auch ÖVP tolerieren einen betont umweltfreundlichen und einen betont umweltskeptischen Flügel, wobei dann Fragestellungen einer uneingeschränkt positiven oder einer sehr skeptischen Einstellung gegenüber dem Wirtschaftswachstum und damit auch Fragen, die die Sozialpartnerschaft betreffen, entscheidende Bedeutung bekommen.
II. Bedeutungsverlust der Sozialpartnerschaft
Abbildung 2
Tabelle 2: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Österreich Quelle: Wirtschafts-und Sozialstatistisches Taschenbuch 1986. Wien 1986. S. 17.
Tabelle 2: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Österreich Quelle: Wirtschafts-und Sozialstatistisches Taschenbuch 1986. Wien 1986. S. 17.
Die Sozialpartnerschaft war nach 1945 eine wesentliche Ergänzung der Großen Koalition. Nach deren Ende 1966 wurde sie zum Kernstück der Kooperation zwischen den politischen Eliten der traditionellen Lager. In der Sozialpartnerschaft arbeiten Repräsentanten der Sozialdemokratie als Arbeitnehmervertreter für den ÖGB und den österreichischen Arbeiterkammertag mit Repräsentanten des christlich-konservativen Lagers zusammen, die für die Arbeitgeber sprechen — für die Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft und die Präsidenten-konferenz der Landwirtschaftskammern
Die Sozialpartnerschaft österreichischer Prägung galt und gilt im internationalen Vergleich als ein Extrembeispiel für den Neokorporatismus, für die Zusammenarbeit zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital mit dem (parlamentarisch-liberalen) Staat. Die österreichische Sozialpartnerschaft war auch nach 1966 ein erfolgreich eingesetztes Instrument zur Garantie eines „sozialen Friedens“, der sich insbesondere in der Vermeidung direkt ausgetragener Arbeitskonflikte äußerte. In Österreich war und ist die Streikhäufigkeit extrem gering; nur noch in der Schweiz findet sich — unter allen westlichen Demokratien Europas — eine ähnlich geringe Streikhäufigkeit.
Doch die Sozialpartnerschaft wurde zunehmend durch die Trends herausgefordert, die sich auch gegen die beiden Großparteien richteten; vor allem durch den Trend in Richtung „Postmaterialismus“. Später als in anderen westlichen Demokratien Europas kam auch nach Österreich eine zunehmende Tendenz zur Umkehr der vorherrschenden Werte. An die Stelle der sozio-ökonomischen Werte wie Wachstum und Sicherheit traten für eine zunehmende Minderheit sozialpsychologische Werte wie Selbstverwirklichung oder auch ökologische Ziel-Vorstellungen Dieser „Postmaterialismus" einer vor allem jüngeren und besser ausgebildeten Minderheit von Wählern arbeitete dem Mechanismus der Sozialpartnerschaft direkt entgegen: — Die Sozialpartnerschaft war in erster Linie wachstumsorientiert; das gemeinsame Ziel des Wirtschaftswachstums vereinigte Arbeitgeber und Arbeitnehmer, weil Verteilungskonflikte zwischen Arbeit und Kapital durch Wachstum vermieden werden konnten. — Die Sozialpartnerschaft war vor allem am ständigen Ausbau der traditionellen Energiequellen orientiert; dadurch geriet sie in einen immer stärkeren Widerspruch zu den ökologischen Grundströmungen. die diese Orientierung von Grund auf in Frage stellten. — Die Sozialpartnerschaft war und ist ihrem Wesen nach auf Zentralismus und Intimität hin orientiert. weil dadurch allgemeinverbindliche Entscheidungen mit hoher Durchsetzungskraft und ohne den Zwang zur Öffentlichkeit ermöglicht werden; dies widerspricht aber dem stärker individualistischen PolitikVerständnis des Postmaterialismus.
Das Ergebnis der ersten Volksabstimmung auf Bundesebene — der Abstimmung über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf vom 5. November 1978 — bedeutete den ersten ernsthaften Rückschlag für die Wirksamkeit der Sozialpartnerschaft Obwohl sich die Sozialpartner einig waren, entschied eine knappe Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen gegen dieses Atomkraftwerk und. indirekt, damit auch gegen die Nutzung der Kernenergie in Österreich überhaupt. Dieses Ergebnis war freilich nur durch das Konflikt-verhalten der regierenden SPÖ und der opponierenden ÖVP möglich geworden. Dennoch war es insofern eine Trendwende, als erstmals in der Geschichte der 2. Republik die Spitzen der Sozialpartnerschaft sich auf eine Lösung geeinigt hatten, ohne diese auch durchsetzen zu können.
Dieses Ergebnis hatte di Herausforderung deutlich gemacht, die die Sozialpartnerschaft durch postmaterialistische Einstellungen und Tendenzen erfährt. Diese Negativerfahrung der Sozialpartnerschaft wurde dann noch im Winter 1984/85 im Konflikt über den Neubau des Donaukraftwerkes bei Hainburg verstärkt Obwohl der österreichische Gewerkschaftsbund und die Arbeitgeberverbände den Bau des Kraftwerkes wollten, verhinderten postmaterialistisch „infizierte“ Demonstranten den Baubeginn und schließlich die Umsetzung des gesamten Bauvorhabens. Wiederum hatte plebiszitärer Druck in Verbindung mit dem Wettbewerb zwischen Regierung und Opposition sich gegen den Willen der Sozialpartnerschaft durchgesetzt. Wiederum war die . materialistische* Sozialpartnerschaft nicht in der Lage, gegen den Postmaterialismus eine einmal getroffene Entscheidung auch zu konkretisieren.
Durch die Neuauflage der Großen Koalition im Januar 1987 fehlt nun freilich das die Sozialpartnerschaft einengende Element des Wettbewerbes zwischen den beiden Großparteien entlang der Konfliktlinie zwischen Regierung und Opposition. Dadurch könnte eine Stärkung der Sozialpartnerschaft abgeleitet werden. Allerdings sprechen zwei Faktoren gegen diese Deutung:
— Das Verhalten zwischen SPÖ und ÖVP auch nach Neubelebung der Großen Koalition gleicht nicht der offene Konflikte vermeidenden Verhaltensform der „alten“ Großen Koalition. Vielmehr üben sich SPÖ und ÖVP sehr intensiv in Strategie und Taktik der „Bereichsopposition“, wodurch auch zwischen den großen Regierungsparteien Konflikte auf offener parlamentarischer Ebene ausgetragen werden
— Die Dauer der Großen Koalition ist offen; durch die Dekonzentration des Parteiensystems und einen deutlich langfristigen Trend gegen beide Großparteien steigt die Wahrscheinlichkeit verschiedener alternativer parlamentarischer Mehrheitsbildungen. Diese Faktoren lassen die Einschätzung zu. daß eine langfristige Stabilisierung der Sozialpartnerschaft durch die Neuauflage der Großen Koalition eher unwahrscheinlich ist; daß die Sozialpartnerschaft — trotz einer möglichen kurzfristigen Stabilisierung — mit zunehmenden Schwierigkeiten zu rechnen hat. Dazu zählt auch die Abnahme der sozialen Sicherheit und damit die Umöglichkeit. durch sozialpartnerschaftliche Instrumente die ökonomische und gesellschaftliche Krise unter Kontrolle zu bringen: Auch in Österreich steigt die Arbeitslosigkeit zunehmend, wodurch eines der wichtigsten Ergebnisse der Konkordanzdemokratie und das — sozialpsychologisch vermutlich wichtigste — Resultat der Sozialpartnerschaft gefährdet erscheint.
In dieser Situation werden der Sozialpartnerschaft immer stärker kritische Argumente entgegengehalten. Diese kommen teilweise von den (kleinen) Oppositionsparteien, die sich durch die Konkordanz der Verbände — wie sie die Sozialpartnerschaft ist — einem zusätzlichen, die Große Koalition ergänzenden Kartell gegenübersehen. Diese Kritik kommt aber auch von verschiedenen anderen Positionen, die der Sozialpartnerschaft vor allem vorwerfen
— Neigungen zu extremen Zentralismus;
— Neigungen zu extremen Elitismus;
— Neigungen zum Mangel an Sensibilität für neue Bedürfnisse.
Die österreichische Sozialpartnerschaft ist extrem zentralistisch: Anders als im Parteiensystem gibt es weder Dekonzentrationstendenzen, noch spielen die Bundesländer eine auch nur ansatzweise eigenständige Rolle. Da überdies die an der Sozialpartnerschaft beteiligten Verbände — vor allem der ÖGB und die Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft — im internationalen Vergleich ungewöhnlich zentralistisch strukturiert sind, bedeutet Sozialpartnerschaft letztlich die Fähigkeit der Spitze des ÖGB. mit der Spitze der Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft eine Übereinstimmung zu finden. Dadurch wird der im Postmaterialismus angelegte Trend zur größeren Individualität besonders herausgefordert.
Die Sozialpartnerschaft ist auch insofern extrem elitär. als die Träger sozialpartnerschaftlicher Entscheidungen kaum einem Druck von unten ausgesetzt sind. Die Wirtschaftsverbände'sind zwar in sich demokratisch strukturiert; diese demokratische Struktur wird jedoch durch die eindeutige Dominanz der parteipolitisch orientierten Fraktionen relativiert: Die Hegemonie der Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter — ein Teil der SPÖ — im ÖGB und im österreichischen Arbeiterkammertag ist ungefährdet; sie wird noch übertroffen von der Hegemonie des österreichischen Wirtschaftsbundes und des österreichischen Bauernbundes — zwei Teilorganisationen der ÖVP — in der Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft und in der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern. Durch diese hegemoniale Situation fehlt den innerverbandlichen Entscheidungsträgern jede Herausforderung durch eine wettbewerbsfähige Konkurrenz.
Die Sozialpartnerschaft ist auch, weil an traditionellen sozioökonomischen Zielen orientiert, für die neuen Bedürfnisse der „neuen Mittelschichten“ relativ wenig offen. Es waren und sind die Parteien, und zwar sowohl die kleineren Parteien, als auch — im Gefolge des Aufstiegs der vierten Parteien — die Großparteien, die auf die postmaterialistische Orientierung einer wachsenden Minderheit von Wählern reagieren. Die Wirtschaftsverbände, von jedem Wettbewerbsdruck befreit, können sich von dieser Sensibilität relativ frei halten. Aus diesem Grund ist die Sozialpartnerschaft der eigentliche Gegner, das eigentliche Feindbild plebiszitärer, postmaterialistischer, grün-alternativer Tendenzen; sie ist der eigentliche Gegner für alle Interessen, die im bestehenden politischen System von außen kommen.
III. Umdeutungen der Neutralitätspolitik
Abbildung 3
mit der EG Exporte nach:
EG davon Bundesrepublik Deutschland EFTA OECD OECD-Europa COMECON Entwicklungsländer davon OPEC Gesamtexport Importe aus:
Neben der Sozialpartnerschaft war und ist die immerwährende Neutralität und deren Interpretation in Form einer weitgehend unbestrittenen Neutrali-tätspolitik der wichtigste Stabilisierungsfaktor des politischen Systems der 2. Republik Österreich hatte sich durch das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz und durch die davor und danach abgesprochenen Rahmenbedingungen auf eine Außenpolitik nach dem Muster der Schweiz und, etwas eingeschränkt, der anderen europäischen Neutralen festgelegt
Die zwischen ÖVP und SPÖ unumstrittene Deutung der Neutralitätspolitik schloß auch eine Absage an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bzw. an die Europäische Gemeinschaft mit ein. Aus neutralitätspolitischen Gründen suchte Österreich nicht um eine Mitgliedschaft bei der EG nach, sondern versuchte, seinen wirtschafts-und insbesondere handelspolitischen Interessen dadurch Rechnung zu tragen, daß mit der EG ein Vertrag besonderer Art abgeschlossen werden sollte. Dies wurde durch das — in Übereinstimmung mit den anderen europäischen Neutralen — 1972 unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen Österreich und der EG erreicht. Dadurch war es Österreich gelungen. sich einerseits den Zugang zum EG-Markt grundsätzlich offenzuhalten, andererseits die neutralitätspolitische Distanz zur EG. die immer auch als Teil westlicher Bündnispolitik gesehen wurde, zu wahren
Mit der Weiterentwicklung der europäischen Integration im Rahmen der EG, insbesondere mit der Festlegung auf einen eigenständigen EG-Binnenmarkt, wurde etwa ab Mitte der achtziger Jahre die Beziehung Österreichs zur EG zu einem innenpolitischen Thema. Teile der ÖVP und der Arbeitgeberverbände sahen nun plötzlich keinen neutralitätspolitischen oder zumindest keinen neutralitätsrechtlichen Grund, der einer Mitgliedschaft Österreichs bei der EG auf Dauer entgegenstehen würde. So wurde 1987 eine im Auftrag der Vereinigung österreichischer Industrieller erstellte umfassende Studie publiziert, in der ausdrücklich festgehalten wurde, aus der Sichtweise des Völkerrechts spräche überhaupt nichts gegen eine uneingeschränkte Beteiligung Österreichs an der europäischen Integration auch als Mitglied der EG
Dieser Themenwechsel war deshalb nicht unbedingt zu erwarten, weil die wirtschaftspolitische Bilanz Österreichs als eines mit der EG durch einen Freihandelsvertrag verbundenen neutralen Staates durchaus für den Erfolg der bisherigen Politik zu sprechen schien. Österreich hatte auch noch Mitte der achtziger Jahre hinsichtlich nahezu aller ökonomischen und sozialen Indikatoren einen deutlichen Vorsprung vor den entsprechenden Werten der EG; die österreichische Arbeitslosigkeit war (und ist) niedriger als die der EG. ein ähnlicher Befund läßt sich auch für die Inflationsentwicklung geben. Nur im Bereich des Wirtschaftswachstums büßte Österreich seinen lange Zeit hindurch gehaltenen signifikanten Vorsprung vor der EG ein.
Als eine Ursache für diesen Themenwechsel in der Außenpolitik kann die sich intensivierende Abhängigkeit der Außenwirtschaftsbeziehungen abgeführt werden. Stärker als für die Schweiz, für Schweden oder für Finnland ist Österreich vielfältig mit der EG. insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland verflochten. Österreich ist in besonderem Maß auf die Kooperation mit der EG angewiesen. Dennoch ist dieser Wechsel neutralitätspolitischer Interpretation aus der objektiven Datenlage allein nicht erklärbar. Immerhin war auch zum Zeitpunkt der Formulierung der lange Zeit hindurch unumstrittenen neutralitätspolitischen Doktrin Österreich engstens mit der EG. insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich verbunden; und immerhin hatte sich die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs, trotz dieser Verflechtung und trotz der Nicht-Mitgliedschaft in der EG. durchaus positiv gestaltet. Dieser Themenwechsel muß also in Verbindung mit den anderen Entwicklungen des politischen Systems gesehen werden:
— Die Tendenzen des Parteiensystems und des Wählerverhaltens zeigen eine abnehmende Präge-kraft der Großparteien. Die abnehmende Fähigkeit von SPÖ und ÖVP. stabile Loyalitäten der Wähler an sich zu binden, korrespondiert mit der abnehmenden Überzeugungskraft der 1955 und in den Jahren danach formulierten neutralitätspolitischen Doktrin. — Die abnehmende Durchsetzungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft entspricht einer abnehmenden Überzeugungskraft einer österreichischen Außen-und Wirtschaftspolitik; ein betont eigenständiger österreichischer Weg wird immer weniger allgemein als der bestmögliche akzeptiert.
Der außenpolitische Themenwechsel signalisiert somit auch eine abnehmende Berechenbarkeit, wie sie auch in ähnlichen Tendenzen im Bereich des Parteiensystems und der Sozialpartnerschaft zum Ausdruck kommt.
Alle diese Entwicklungen zeugen von einer rückläufigen Integrationskraft der für das politische System Österreichs bisher typischen Strukturmerkmale. Österreich ist dabei, wesentliche Besonderheiten einzubüßen. Vieles, was in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945 zu den unbestrittenen Stabilitätsfaktoren gezählt hat. ist jetzt nicht mehr selbstverständlich.
IV. Vergangenheit als Thema — Zukunft als Frage
In diese Entwicklungsphase einer größeren Beweglichkeit. die aber auch eine größere Unsicherheit mit sich bringt, wurde die österreichische Vergangenheit in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zum gesellschaftlichen und politischen Thema. Die österreichische Innen-und Außenpolitik sind etwa seit 1985 sehr stark von der Frage der historischen Beziehung Österreichs zum Nationalsozialismus bestimmt. Vergangenheit ist ein politisches Thema — die österreichische Zukunft scheint davon beherrscht.
Der wichtigste auslösende Faktor für diese Thematisierung der Vergangenheit war der der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten vorangegangene Wahlkampf und die internationale Diskussion. die auch nach dieser Wahl weitergeht. In der Auseinandersetzung um die Person des 1986 gewählten Bundespräsidenten konzentriert sich die Auseinandersetzung um die nationale Identität Österreichs. Gerade auch im Vorfeld von historischen Anlässen — im März 1988 jährt sich zum 50. Mal der Einmarsch nationalsozialistischer deutscher Truppen in Österreich — erhält dieses Thema ein besonderes Gewicht. Kurt Waldheim wurde zum Symbol einer Herausforderung Österreichs durch eine Außenwelt, die nun, nach Jahrzehnten der Verniedlichung des Landes zur Musik-und Schifahrernation, in der österreichischen Gegenwart die Abgründe einer „unbewältigten“ Vergangenheit sieht.
Doch auch in Österreich war und ist der „Fall Wald-heim“ Anlaß zu Kontroversen Der Großen Koalition ist es jedenfalls bisher nicht gelungen, die Diskussion um die Person des Bundespräsidenten auszuklammern. So hat der Landesparteitag der Wiener SPÖ. gegen den deutlichen Widerstand der Parteispitze. 1987 ausdrücklich den Rücktritt des Bundespräsidenten gefordert.
Diese Kontroversen zeigen, daß die Große Koalition keineswegs einfach als Rückkehr zu einem konfliktarmen politischen Klima zu verstehen ist. in dem die beiden Großparteien untereinander Kompetenzen aufteilen und in allen wesentlichen Fragen zu einer gemeinsamen Frontstellung gegen Außen-stehende finden. In der 1987 neu belebten Koalitionsregierung SPÖ-ÖVP sind Konflikte zwischen den Regierungspartnern an der Tagesordnung, ist parlamentarisches Konfliktverhalten in der Koalition der Normalfall.
Die 1. Republik Österreich — 1918 gegründet, 1934 im Bürgerkrieg untergegangen — war ein Extrem-beispiel für eine konfliktreiche, sich zunehmend destabilisierende Demokratie. Die 1945 wiedergegründete, 2. Republik entwickelte sich als anderes Extrem — konsensorientiert und extrem stabil. Doch diese 2. Republik hat offenkundig einen Reifegrad erreicht, der es zuläßt, gesellschaftliche Konflikte zu entfesseln. Die lange Zeit hindurch domestizierten Konflikte brechen nun aus den von den Parteien und Wirtschaftsverbänden errichteten Begrenzungen aus. Die Folge ist ein Mehr an Konflikten, ein Weniger an Berechenbarkeit; eine Verwestlichung des politischen Systems, in der eine offene Konfliktaustragung zwischen den Parteien und gegen die Parteien, zwischen den Sozialpartnern und gegen die Sozialpartner zunehmend Themen enttabuisiert, die lange Zeit hindurch nicht in die gesellschaftlichen und politischen Kontroversen einbezogen waren. Österreich und sein politisches System befinden sich heute in einer Phase wachsender Verunsicherung. In dieser Phase wird sich erweisen, ob die Stabilisierungserfolge der 2. Republik mehr als nur Schönwettererfolge waren, ob sie sich dem scharfen Wind freier, oft krisenhafter Entwicklungen stellen kann.
Anton Pelinka, Dr. jur., geb. 1941; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen u. a.: Politik und moderne Demokratie, Frankfurt 1976; Gewerkschaften im Parteienstaat, Berlin 1980; Modellfall Österreich. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialpartnerschaft, Wien 1981; (zus. mit Helmut Reinalter) Ideologien im Bezugsfeld von Geschichte und Gesellschaft, Innsbruck 1981; (zus. mit Helmut Reinalter) Antisemitismus in Österreich, Innsbruck 1982; Windstille, Klagen über Österreich. Wien 1985; (zus. mit Fritz Plasser) Das österreichische Parteiensystem, Wien 1987; (Hrsg.) Populismus in Österreich, Wien 1987.
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