I. Einleitung
In keiner deutschen Stadt zeigen sich auch heute noch so deutlich die Folgen des Zweiten Weltkrieges wie in Berlin — im Ost-und Westteil der Stadt. Der Status dieser Stadt ist eine wesentliche völkerrechtliche Klammer des geteilten Deutschland. Deshalb ist die Frage nach der Interpretation des Berlin-Status durch die SED besonders interessant. Daraus ergeben sich auch die langfristigen Zielsetzungen der Berlin-Politik der DDR. Und aus aktuellem Anlaß: Signalisierte nicht sogar das Jahr der 750-Jahr-Feiern ein Datum, das die Endgültigkeit der Teilung Berlins zementiert? Warum kam es nicht zu Gesamtberliner Feierlichkeiten?
Wenn Rechtspositionen erst einmal aufgegeben sind, sind sie in aller Regel politisch nicht mehr rückholbar. Auch deshalb hat die Interpretation des Berlin-Status durch DDR und Sowjetunion eine eminent politische Bedeutung. An dieser Stelle kann auf die Teilung Berlins nicht näher eingegangen werden, insbesondere nicht auf die Tatsache, daß die Ost-Berliner Stadtverwaltung 1948 aus einem Putsch hervorgegangen ist
II. Die SED-Führung zu Statusfragen Berlins
Schon in der Sprache schlagen sich die Statusfragen nieder: „West-Berlin“ bzw. „Ost-Berlin“ sind eingebürgerte Begriffe in der wissenschaftlichen Literatur. Im noch korrekteren Amtsdeutsch wird von „Berlin (West)“ gesprochen, dem der Begriff „Berlin (Ost)“ entsprechen sollte. Die DDR stellt aber in einem auffälligen Unterschied in der Regel „Westberlin“ gegenüber „Berlin, Hauptstadt der DDR“.
Die politische Rhetorik der DDR-Führung gegenüber West-Berlin hat sich erst nach dem Vier-Mächte-Abkommen des Jahres 1971 gemildert. Walter Ulbricht erklärte noch im Oktober 1958: „Ganz Berlin liegt auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Ganz Berlin gehört zum Hoheitsbereich der Deutschen Demokratischen Republik.“
Die SED-Führung erklärte also ganz Berlin zum Teil des Staatsgebietes der DDR. Und noch kurz vor dem Vier-Mächte-Abkommen 1971 wurde im Jahre 1969 von der Tatsache ausgegangen, „daß Westberlin eine inmitten der DDR und auf ihrem Territorium gelegene selbständige politische Einheit darstellt“
Dieser Ansicht stehen folgende Tatsachen entgegen: Das „Londoner Protokoll“ vom 12. September 1944, ergänzt am 14. November 1944, sah in der abgeänderten Fassung in Art. 1 vor, daß die oberste Gewalt in Deutschland von den vier Zonenbefehlshabern ausgeübt wird, „von jedem in seiner eigenen Besatzungszone und auch gemeinsam in den Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten als Mitglieder des durch das gegenwärtige Abkommen errichteten obersten Kontrollorganes“
Nicht nur aus dem Wortlaut der Abkommen ergibt sich, daß Berlin als eine fünfte (internationale) Zone zu betrachten ist. sondern auch aus den Landkarten. die dem Protokoll vom 12. September und dem Ergänzungsabkommen vom 14. November 1944 beigegeben wurden. Diese Karten sind Bestandteil der Abkommen. Auf allen Karten sind die verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands durch eine rote Markierung abgegrenzt. Berlin ist, wi
In keinem Abkommen gibt es jedoch Hinweise auf eine reduzierte Rechtsposition der Westmächte in Berlin. Auch der Versuch, mit Hilfe des Begriffes „Verwaltung“ eine solche mindere Berechtigung der westlichen Alliierten in Berlin zu begründen, kann nicht überzeugen, zumal die UdSSR den Begriff „Sowjetische Militärverwaltung in Deutschland“
Zwar erhielt die Berlin-Kommandantur auch Weisungen vom Alliierten Kontrollrat, doch hängt die rechtliche Existenz der Berlin-Kommandantur nicht vom Kontrollrat ab. zumal diese bereits am 11. Juni 1945 ihre Tätigkeit aufgenommen und eine Reihe von Befehlen gegeben hat. Hingegen konstituierte sich der Kontrollrat, den der sowjetische Oberkommandierende. Marschall Sokolowski, am 20. März 1948 verließ, erst am 30. August 1945. 4. Die Anwesenheit der Westmächte in Berlin und damit die Tätigkeit der Berlin-Kommandantur sei „mit der Erfüllung der Bestimmungen des Potsdamer Abkommens eng verbunden und damit zeitlich begrenzt“
Auch dies trifft nicht zu: In dem am 14. November 1944 ergänzten Londoner Abkommen wird in Art. 10 zwar davon ausgegangen, daß die alliierten Organe für die Kontrolle und Verwaltung Deutschlands ihre Tätigkeit „während der Anfangsphase der Besetzung Deutschlands“ ausüben, „die unmittelbar auf die Kapitulation folgt, d. h. während der Periode, in der Deutschland die grundlegenden Forderungen der bedingungslosen Kapitulation erfüllen wird“
Das Potsdamer Abkommen ist aber insoweit rechtlich unbedeutend, da diese Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 stattfand und die Gültigkeit der Londoner Abkommen unabhängig vom Potsdamer Abkommen gesehen werden kann, selbst wenn spätere Abkommen gegenüber früheren grundsätzlich Vorrang besitzen. Dieser Grundsatz gilt indes nur dann, wenn das spätere Abkommen den gleichen Gegenstand behandelt wie das frühere. Das Potsdamer Abkommen befaßt sich jedoch mit den für die Anfangsphase der Besetzung vorgesehenen Besatzungszielen, die Londoner Abkommen über die Besatzungszonen legen hingegen die für die gesamte Periode der Besetzung vorgesehene Einteilung Deutschlands in verschiedene Besatzungsgebiete fest
Tatsächlich war die Verwaltung von Wasserstraßen. Eisenbahn usw. eine reine Konzession der Westmächte. Wegen der Einheit des Verkehrsnetzes erschien es seinerzeit nicht sinnvoll, die Verwaltungskontrolle über rein technische Einrichtungen aufzuteilen. Eine Interpretation, daß die Gebiets-hoheit der Alliierten Kommandantur von einer solchen Konzession berührt worden wäre, ist nicht berechtigt. 7. Ganz Berlin sei mit Gründung der DDR rechtlich Bestandteil der DDR geworden: „Obwohl auch der westliche Teil Groß-Berlins zum Territorium der damaligen sowjetischen Besatzungszone und nach der Gründung der DDR zu ihrem Staatsterritorium gehörte, wurde sie rechtswidrig daran gehindert, in und gegenüber Westberlin ihre Hoheitsbefugnisse auszuüben.“
Diese Argumentation kam spät: In der Anfangszeit achtete die Sowjetunion peinlich genau darauf, daß die territorialen Unterschiede zwischen dem Ostsektor von Berlin und dem Staatsgebiet der DDR berücksichtigt wurden. Erst ab 1958. also kurz vor der zweiten Berlin-Krise, sah sich die DDR in der Lage, den Ostsektor Berlins als „Hauptstadt der DDR“ zu bezeichnen. Für die gesamtdeutschen Belange war der Kontrollrat aufgrund der Vier-Mächte-Vereinbarungen Träger der Gebietshoheit, für die Besatzungszonen die jeweiligen Befehlshaber. für Berlin jedoch die Alliierte Kommandantur mit dem Kontrollrat als höchster Instanz. Nach westlicher Auffassung wurde also die Gebietshoheit über Berlin nicht auf die einzelnen Sektorenkommandanten aufgespalten, sondern lag gemeinsam in den Händen aller vier Mächte. An dieser Rechtslage hat die weitgehende Integration Ost-Berlins in die DDR nichts geändert. Erst 1958 behauptete die Sowjetunion in einer Note an den UN-Generalsekretär, „daß Berlin die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist“
Professor Herbert Kröger. SED-Experte für Staats-und Völkerrecht, hatte im Januar 1958 in der Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik“ zu „Fragen des staatsrechtlichen Status von Berlin“ behauptet, ganz Berlin sei gemäß den Vier-Mächte-Vereinbarungen ein Teil der SBZ gewesen. Er ging davon aus, daß die sowjetische Besatzungsmacht aufgrund der Vier-Mächte-Vereinbarungen die oberste Gewalt (Gebietshoheit) über ganz Berlin besitze, während die Rechte der Westmächte auf ein Mitwirkungsrecht bei der Besetzung und Verwaltung Berlins beschränkt gewesen seien. Am 27. Oktober 1958, zu Beginn der zweiten Berlin-Krise, machte sich Ulbricht die Thesen Krögers zu eigen. Er betonte in einer Rede, daß auch aufgrund des Vertrages mit der Sowjetunion vom 20. September 1955 „im demokratischen Teil der Hauptstadt der Deut-sehen Demokratischen Republik keinerlei Kontroll-und Aufsichtsgewalt aus der Besatzungszeit mehr besteht“
Die SED setzte als Nahziel alles daran, eine möglichst vollständige Integration Ost-Berlins in das Staatsgebiet der DDR zu erreichen. Gleichzeitig kam es ihr darauf an.den Status West-Berlins zu diminuieren — und dies mit Hilfe einer eigenen Interpretation des Berlin-Status. Nach Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens von 1971 wurde von der DDR die bis dahin gebräuchliche Formel von der „selbständigen politischen Einheit“ oder „besonderen politischen Einheit“ zwar kaum noch oder nur in Umschreibungen verwendet. Doch ist mit dieser semantischen Änderung keineswegs eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen DDR-Position verbunden. Denn das Vier-Mächte-Abkommen von 1971 wurde in dem Bewußtsein geschlossen. daß eine Übereinstimmung in Statusfragen nicht erzielt werden konnte. Während die westliche Seite davon ausgeht, das Berlin-Abkommen beziehe sich auf ganz Berlin, wird dies von der östlichen Seite kategorisch zurückgewiesen
III. Der Status von West-Berlin aus SED-Sicht
Wie die DDR den Status West-Berlins sieht, zeigen folgende Zitate Erich Honeckers:
1973: „Westberlin — diese kapitalistische Insel, dieses Sondergebilde inmitten der Deutschen Demokratischen Republik — ist kein Bestandteil irgendwelchen Staates.“
1977: „Berlin ist die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und Westberlin ein besonderes Gebiet, das durch das Vierseitige Abkommen vom 3. September 1971 Zukunftschancen erhalten hat.“
1986: „Was Berlin (West) betrifft, so sind wir für die strikte Einhaltung und volle Anwendung des Vierseitigen Abkommens vom 3. September 1971. das sich, nicht zuletzt zum Vorteil der West-Berliner selbst, im Leben bewährt. Auch in Zukunft erteilen wir gemeinsam mit unseren Verbündeten allen Versuchen eine entschiedene Abfuhr, die das Abkommen auf seine Belastbarkeit testen und seine Kern-bestimmung unterlaufen, daß Westberlin nicht zur BRD gehört und nicht von ihr regiert werden darf.“
Im Zusammenhang mit dem Chruschtschow-Ultimatum vom 27. November 1958
Der Status West-Berlins ist also für die DDR ein Status sui generis, der durch folgende fünf Merkmale bestimmt wird: 1. West-Berlin unterliege „nach wie vor einem entsprechend der bestehenden Lage modifizierten Besatzungsregime der vier Mächte“
Insgesamt gesehen ist also der völkerrechtliche Status West-Berlins aus Sicht der SED „durch den modifizierten Fortbestand eines Besatzungsregimes der Vier Mächte, durch seine geographische Lage inmitten der DDR und durch die Nichtzugehörigkeit der Stadt zur BRD charakterisiert“
Hinweise zur Statusinterpretation Berlins gibt auch der „Vertrag über Freundschaft. Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ zwischen der DDR und der Sowjetunion vom 7. Oktober 1975, in dem es in Art. 7 wörtlich heißt: „In Übereinstimmung mit dem vierseitigen Abkommen vom 3. September 1971 werden die hohen vertragsschließenden Seiten ihre Verbindungen zu Westberlin ausgehend davon unterhalten und entwickeln, daß es kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland ist und auch weiterhin nicht von ihr regiert wird.“
Das Wort „entwickeln“ weist auf ein wichtiges dynamisches Element hin. Dieser Satz war eindeutig ein Zugeständnis der Sowjetunion an die westliche Seite, da bis zum Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens vorr der östlichen Seite immer wieder West-Berlin als eine „selbständige politische Einheit“ bezeichnet wurde. Der Text dieses Freundschaftsvertragesjedoch negiert dieses Zugeständnis an die westliche Seite, weshalb auch die drei Westmächte in einer Erklärung darauf hingewiesen haben. daß dieser Vertrag zwischen der UdSSR und der DDR nichts an der Rechtsgrundlage Berlins oder an dem Vier-Mächte-Abkommen zu ändern vermag
Die DDR bemüht sich, in ihren Verträgen mit Drittstaaten ihren Rechtsstandpunkt zu Berlin ausdrücklich zu fixieren. Dabei fällt allerdings auf, daß sich nach dem Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens keine Formulierungen bezüglich West-Berlins als einer „selbständigen politischen Einheit“ mehr finden. Noch im Freundschaftsvertrag mit Rumänien betrachteten die DDR und Rumänien West-Berlin als eine „besondere politische Einheit“ (Art. 9)
Der besondere Status West-Berlins aus Sicht der DDR kommt auch in einigen aus ihrer Sicht nicht unwichtigen Formalitäten zum Ausdruck. So gibt es im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR eine Abteilung, die für die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist (Abteilungsleiter: Seidel), und eine formal gleichrangige, eigene Abteilung für West-Berlin, an deren Spitze ein Abteilungsleiter (Dr. Müller) mit Botschafterrang sitzt. Während Seidel für die Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR zuständig ist, gehören in den Zuständigkeitsbereich von Müller die Kontakte zum Senat von Berlin. Die DDR versucht dabei, den Senat von Berlin umfassend ins Gespräch zu ziehen, während nach westlicher Auffassung Müller trotz seines Botschafterranges lediglich „Besuchsbeauftragter der DDR“ ist — ebenso wie sein West-Berliner Gesprächspartner, Senatsdirigent Kunze, der Besuchsbeauftragter des Senates ist.
IV. Berlin — Hauptstadt der DDR?
Schon frühzeitig wurden von der DDR-Führung alle wichtigen Regierungsinstitutionen — mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums —, vor allem aber auch die SED-Führung, im sowjetischen Sektor Berlins angesiedelt. Die darin zum Ausdruck kommende Hauptstadtfunktion des Ost-teils
Weitere Schritte zur Aufhebung des Sonderstatus von ganz Berlin und Ost-Berlins speziell waren:
— Am 26. Januar 1962 wurde im damals noch existierenden „Verordnungsblatt für Groß-Berlin“ die Übernahme des Verteidigungsgesetzes der DDR vom 20. September 1961 und des Gesetzes der Volkskammer vom 24. Januar 1962 über die allgemeine Wehrpflicht für die „Hauptstadt Berlin (Demokratisches Berlin)“ verkündet
— Im September 1976 erschien zum letzten Male das „Verordnungsblatt für Groß-Berlin“, in dem bis dahin alle von der DDR für Ost-Berlin übernommenen Rechtsnormen veröffentlicht wurden. Wenngleich vor dem Zeitpunkt der Einstellung nur noch die für Ost-Berlin gültigen Gesetze und Verordnungen aufgeführt, die jeweiligen Texte indes nicht mehr abgedruckt wurden, so zeigt doch allein die Existenz eines solchen Verordnungsblattes die auf der östlichen Seite berücksichtigte Sonderstellung Ost-Berlins.
— Noch bis zum Dezember 1976 hatte es auch an den Ausfallstraßen von Ost-Berlin in die DDR Kontrollposten gegeben, die mit Beginn des Jahres 1977 entfielen. Eine solche formale Sondersituation gab es für keine Großstadt der DDR.
— Die bis zum Frühjahr 1977 gebräuchliche Bezeichnung „Magistrat von Groß-Berlin“ wurde danach in „Magistrat von Berlin, Hauptstadt der DDR“ umgewandelt.
— Die Volkskammer beschloß am 28. Juni 1979, künftig die 66 Abgeordneten von Ost-Berlin direkt wählen zu lassen und nicht — wie bisher — von der Stadtverordnetenversammlung zu delegieren. Schon nach der Volkskammerwahl im Oktober 1976 hatten die Ost-Berliner Abgeordneten keinen gesonderten Abgeordneten-Ausweis mehr erhalten. Zwar argumentiert die DDR immer wieder, sie habe die volle Souveränität über „Berlin. Hauptstadt der DDR“, womit sie den Ostteil der Stadt meint. Sicherlich war der wichtigste „Erfolg“ im Kampf gegen den Sonderstatus ganz Berlins der Bau der Mauer im Jahre 1961. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war die Bewegungsfreiheit für Bürger Berlins in beiden Stadthälften gegeben. Aber mit dem Bau der Mauer wurde für die östliche Seite nur ein Teilerfolg erzielt. Denn es gelang auch während der zweiten Berlin-Krise (1958— 1962) nicht, die Westmächte aus Berlin herauszudrängen und damit insgesamt den Sonderstatus Berlins zu beseitigen. Die DDR-und SED-Führung hatten seitdem jede Zurückhaltung verloren, den Anspruch auf die Hauptstadteigenschaft Ost-Berlins offensiv zu vertreten. Doch bis auf den heutigen Tag zeigen einige wichtige Punkte den Sonderstatus ganz Berlins auf und damit auch, daß die DDR über ihre eigene „Hauptstadt“ keinesfalls die volle Souveränität besitzt. Zu diesen gehören: — Nach wie vor gibt es eine Bewegungsfreiheit von Soldaten aller vier Siegermächte in ganz Berlin. Die Bemühungen der DDR, Patrouillenfahrten der Westmächte im Ostsektor der Stadt zu behindern, sind gescheitert. — Für ganz Berlin bestehen nach wie vor besondere Rechte für die Diplomaten der Generalkonsulate und insbesondere der nach wie vor existierenden Militärmissionen. Diese besondere Stellung der Diplomaten wurde deutlich, als die DDR im Sommer 1986 den Versuch unternahm, eine Visum-pflicht für die in West-Berlin stationierten Diplomaten (also auch für die Angehörigen der Militärmissionen) einzuführen und neue Ausweisbestimmungen für die Diplomaten in Ost-Berlin durchzusetzen. Dieser Versuch scheiterte am Widerstand der westlichen Seite. Eine besondere rechtliche Bedeutung kam dabei der Bewegungsfreiheit der Angehörigen der Militärmissionen zu. weil diese Einrichtungen noch zu Zeiten des Alliierten Kontrollrates als Verbindungsstellen zu anderen Staaten eingerichtet worden waren. Die Militärmissionen sind also auch heute noch Einrichtungen gesamt-alliierten Rechtes. — Die gemeinsame Flugsicherheitszentrale der vier Alliierten, die in einem Umkreis von 32 km für die Kontrolle des Flugverkehrs in und um Berlin zuständig ist. signalisiert als interalliierte Einrichtung. daß die DDR in ihrem eigenen Territorium nicht über die volle Souveränität im Luftraum verfügt — was im übrigen auch die drei Luftkorridore zeigen. — Nach wie vor gibt es besondere Regelungen für den Transport von Militärpersonen und Militärgütern der westlichen Garnisonen auf dem Eisenbahn-wege. da deren Kontrolle der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ und nicht den DDR-Behörden unterliegt
V. Die Haltung der Sowjetunion zur Berlin-Frage
DDR und Sowjetunion erklären bei jeder Gelegenheit, daß die DDR völlige Souveränität besitze. Ziel solcher Äußerungen ist es, dem Eindruck entgegenzuwirken, daß die kommunistische Ordnung in der DDR durch die UdSSR oktroyiert worden sei. Eine Analyse der völkerrechtlichen Erklärungen der Sowjetunion und insbesondere der Verträge zwischen der Sowjetunion und der DDR führt aber zu dem Ergebnis, daß die sowjetische Führung ihrem ostdeutschen Verbündeten keinesfalls alle Souveränitätsrechte übertragen hat.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Sowjetunion mit der DDR auch keinen separaten Friedensvertrag geschlossen hat. Nur ein Friedensvertrag könnte der DDR alle Souveränitätsrechte verleihen. Im Zusammenhang mit der zweiten Berlin-Krise hatte Chruschtschow zwar einen solchen separaten Friedensvertrag mit der DDR angedroht, doch wurde dieser bis heute nicht realisiert. Diese Nicht-Gewährung der völligen Souveränität zeigt sich in den nachfolgenden Vertragswerken zwischen der UdSSR und der DDR:
— Bevor der Moskauer Vertrag vom 20. September 1955 über die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion geschlossen wurde
— Auch der Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der UdSSR vom 12. Juni 1964 war keinesfalls ein separater Friedensvertrag mit der DDR, zumal in der Präambel von dem „Wunsch“ gesprochen wurde, „den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages zu erleichtern und die Verwirklichung der Einheit Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage zu fördern“
Die Berlin-Frage — aber auch die Tatsache, daß die Sowjetunion an ihren Rechten in bezug auf Deutschland als Ganzes generell festhält — zeigt, daß die Sowjetunion Berlin als Hebel für ihre Politik zu nutzen weiß. Die Rechtsposition der Sowjetunion wird an den beiden folgenden Beispielen besonders deutlich:
Am 9. November 1972 wurde in den vier Hauptstädten eine Erklärung der Regierungen Frankreichs. Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten herausgegeben, die im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag zwischen den beiden Staaten in Deutschland und dem daraus resultierenden Beitritt der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen stand. Interessanterweise stellten die vier Regierungen fest, „daß diese Mitgliedschaft die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die bestehenden diesbezüglichen vierseitigen Regelungen. Beschlüsse und Praktiken in keiner Weise berührt“
Die Tatsache, daß sich die Sowjetunion 1971 an einem Abkommen über Berlin beteiligte — selbst wenn es hinsichtlich des Geltungsbereiches dieses Abkommens einen Auslegungsstreit gibt —, zeigt auf, -daß die Sowjetunion an ihren fortbestehenden Rechten vor allem bezüglich Berlins festhält. Dies kommt übrigens auch eindeutig in der Präambel des Vier-Mächte-Abkommens zum Ausdruck, wenn symbolhaft darauf hingewiesen wird, daß die Regierungen der vier Alliierten, vertreten jeweils durch ihre Botschafter, „in dem früher vom Alliierten Kontrollrat benutzten Gebäude im amerikanischen Sektor Berlins eine Reihe von Sitzungen abgehalten haben“ — und zwar „handelnd auf der Grundlage ihrer Viermächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten und der entsprechenden Vereinbarungen und Beschlüsse der Vier Mächte aus der Kriegs-und Nachkriegszeit, die nicht berührt werden“. Deutlicher läßt sich die Mitverantwortung der Sowjetunion für die Lage um Berlin und das Beibehalten eines Vier-Mächte-Status nicht ausdrücken, auch wenn das Vier-Mächte-Abkommen mehr oder minder nur die Beschreibung eines Modus vivendi und keine Einigung über unterschiedliche Statusauffassungen darstellt. Gerade weil Walter Ulbricht mit dem Vier-Mächte-Abkommen offensichtlich nicht einverstanden war. wurde er wohl auf Druck der Sowjetunion abgelöst
Auch in der praktischen Politik zögerte die sowjetische Führung, sich eindeutig und unwiderruflich festzulegen, daß Ost-Berlin völlig in das Staatsgebiet der DDR integriert sei.
Sie hat also dem Drängen der DDR-Führung nach Änderung des besatzungsrechtlichen Sonderstatus für Ost-Berlin nicht nachgegeben. Gleichwohl bemühte sich die sowjetische Führung aber darum, daß ihr Festhalten an gewissen Aspekten der Vier-Mächte-Verantwortung — auch im Zusammenhang mit der Erklärung der vier Alliierten vom 9. November 1972 — dem Westen keine Möglichkeiten gab, ein sowjetisches Einverständnis mit der These von der Aufrechterhaltung der Vier-Mächte-Verantwortung und des Vier-Mächte-Status Gesamt-Berlins argumentativ begründen zu können.
Im einzelnen ist nicht bekannt, wie der Abstimmungsprozeß in Berlin-und deutschlandpolitischen Fragen zwischen der Sowjetunion und der DDR aussieht. Andererseits wird die DDR auch nicht zugeben können, daß es ein wie auch immer geartetes Abstimmungsverfahren mit der Sowjetunion gibt. Denn offiziell erklärt sie, sie handele in ihrer Berlin-Politik in völliger Souveränität. In gewisser Weise kann jedoch die DDR die Statusfragen flexibler bewerten, weil sie — nicht die Sowjetunion — in erster Linie von einer Vertragspolitik mit der Bundesrepublik und in wenigen eingegrenzten Fragen mit dem Senat von Berlin profitiert. Gleichzeitig hat sie — bedingt durch die Insellage West-Berlins — gewisse Druckpotentiale in der Hand. Andererseits gibt es aber auch Hinweise dafür, daß die DDR immer wieder die Sowjetunion drängt, bei ihren konkreten einzelnen Verhandlungen mit der Bundesrepublik eine möglichst harte Linie an den Tag zu legen.
Ein neueres Beispiel für die Rahmensetzung vertraglicher Verhandlungsmöglichkeiten ist das von der Bundesrepublik im Juli 1986 mit der Sowjetunion geschlossene Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit (WTZ). das fast in letzter Minute gescheitert wäre, weil die Sowjetunion eine ausreichende Einbeziehung von Berlin (West) in dieses Abkommen nicht akzeptieren wollte. Dieses Rahmenabkommen umfaßt drei Ressortabkommen (friedliche Nutzung der Kernenergie. Gesundheit und medizinische Wissenschaft und Landwirtschaft)
Andere Berliner Wissenschaftler hingegen werden auf solchen Teilnehmerlisten — wie Teilnehmer aus Westdeutschland — mit der vollen Anschrift ihrer Arbeitsstelle angegeben. Eine entsprechende Lösung wurde auch für ein Umweltschutzabkommen mit der UdSSR gefunden. Hier spielt das Umweltbundesamt eine wichtige Rolle, dessen Errichtung nach Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens von Seiten der Sowjetunion als eine besonders schwere politische Belastung empfunden worden war. Die Unterzeichnung des WTZ-Abkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion machte auch den Weg für entsprechende Verhandlungen mit der DDR frei, die im Zusammenhang mit dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. September 1987 abgeschlossen werden konnten.
VI. Statusfragen und die Feiern zum 750. Stadtjubiläum
Die 750-Jahr-Feiem wurden von der DDR dazu genutzt, „Berlin“, also Ost-Berlin, als das „politische, wirtschaftliche und geistig-kulturelle Zentrum“ der DDR zu propagieren
Die Diskussion zu Fragen des Berlin-Status wurde im Zusammenhang mit den 750-Jahr-Feierlichkeiten sehr praktisch, nachdem im Oktober 1986 Erich Honecker Berlins Regierenden Bürgermeister Diepgen zu einem „Staatsakt“ der DDR anläßlich der Ost-Berliner Feierlichkeiten vom 23. Oktober 1987 eingeladen hatte. Gleichzeitig lud der OstBerliner Oberbürgermeister Krack Diepgen zu einem Oberbürgermeistertreffen nach Ost-Berlin ein, das vom 1. — 5. Juni 1987 stattfand. Beide Einladungen an den Regierenden Bürgermeister warfen eine Fülle von Statusfragen auf:
— Im Schreiben Honeckers wurde im Zusammenhang mit der Einladung zum „Staatsakt der Deutschen Demokratischen Republik aus Anlaß des 750jährigen Bestehens von Berlin“ der Hoffnung Ausdruck verliehen, Diepgen „in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ begrüßen zu können. Gegner der Annahme einer solchen Einladung argumentierten, daß eine Teilnahme an diesem Staatsakt eine offiziöse Anerkennung des Hauptstadtcharakters Ost-Berlins durch Berlins Regierenden Bürgermeister darstelle, der nach der Verfassung von Berlin Stadtoberhaupt aller Berliner ist — wenngleich es sich hier nur um einen verfassungsrechtlichen Anspruch handelt. Erich Honecker lud in dreifacher Eigenschaft (in folgender Reihenfolge) ein: als Vorsitzender des Komitees der Deutschen Demokratischen Republik zum 750jährigen Bestehen von Berlin, als Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und als Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. — Ähnlich schwierige statusrechtliche Probleme warf indes auch das Schreiben von Krack auf, der in zweifacher Eigenschaft einlud: als Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees der Deutschen Demokratischen Republik zum 750jährigen Bestehen von Berlin und als „Der Oberbürgermeister von Berlin“. Die Statusprobleme waren vor allem darin zu sehen, daß es in der Vergangenheit zwar immer wieder von den drei Schutzmächten legitimierte Kontakte auch des Senates von Berlin mit der DDR-Regierung gegeben hatte. Dabei wurde faktisch anerkannt, daß die DDR-Regierung mit ihren wichtigsten Institutionen im Ostsektor der Stadt vertreten ist; es wurde jedoch damit nicht anerkannt, daß Ost-Berlin integraler Bestandteil des Staatsgebietes der DDR ist. Eine offizielle Gesprächsbasis hingegen mit dem „Oberbürgermeister“ von Ost-Berlin hatte es in der Vergangenheit bislang nicht gegeben, da nach westlicher Rechts-auffassung die Ost-Berliner Stadtverwaltung durch einen Putsch etabliert wurde, der bis heute nicht anerkannt wurde. In gewissem Sinne kann man davon sprechen, daß bisher eine Art Alleinvertretungsanspruch für ganz Berlin durch den Senat von Berlin und das Abgeordnetenhaus zum Ausdruck gebracht wurde — wenngleich es sich hierbei mehr um einen rechtlichen Anspruch handelt, der sich der praktischen Realisierung entzogen hat.
So gab es durchaus unterschiedliche Sichtweisen, ob der Regierende Bürgermeister von Berlin diese Einladungen hätte annehmen sollen — eine Frage, die sowohl mit der Bundesregierung als auch mit den drei westlichen Statusmächten verhandelt werden mußte. Über drei Möglichkeiten war zu entscheiden: Ablehnung beider Einladungen, Annahme lediglich der Einladung zum Oberbürgermeistertreffen oder Annahme lediglich der Einladung zum „Staatsakt“. Aus welchen Motiven heraus Honecker (und mit ihm Krack) seinerzeit diese Einladung ausgesprochen hat. ist nicht eindeutig zu beantworten. Es ist aber davon auszugehen, daß sich Honecker durch die Annahme der Einladungen einen Statusgewinn erhoffte — durch die Teilnahme des Berliner Regierenden Bürgermeisters an den Ost-Berliner Feierlichkeiten zu erreichen, daß der Hauptstadtcharakter Ost-Berlins von der westlichen Seite akzeptiert würde. Ein zweites Motiv dürfte gewesen sein, Zwiespalt zwischen dem Senat von Berlin und den westlichen Alliierten zu säen, die als Statusmächte zweifelsohne aufgrund ihres Rollenverständnisses mit einer gewissen Skepsis dieser „Besuchsdiplomatie“ gegenüberstanden. Zum Dritten war es sicherlich ein von Honecker gewünschtes Ergebnis, daß über die Besonderheiten des Status von Berlin — nach seinem Verständnis nur des Status von West-Berlin — diskutiert werden sollte. Denn je mehr die rechtlichen Besonderheiten lediglich West-Berlins und die rechtlichen Überlegungen, die bei der Annahme solcher Einladungen bedacht werden müssen, in den Vordergrund gestellt werden, umso eher wird der Zielsetzung der SED entsprochen, daß West-Berlin als eine „besondere politische Einheit“ in der deutschen wie in der Weltöffentlichkeit betrachtet wird. Ein vierter Grund mag gewesen sein, daß Honecker durch seinen von den meisten als überraschend empfundenen Vorstoß bei den eigenen Feierlichkeiten eine möglichst breite Repräsentanz von Persönlichkeiten aus der Bundesrepublik und darüber hinaus erreichen wollte. Wenn West-Berlins oberster politischer Repräsentant zu diesen Feierlichkeiten eingeladen wurde, konnten sich andere bundesdeutsche Politiker weniger versagen, als wenn sie Rücksicht auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin hätten nehmen müssen.
Ein Problem der Einladungsdiskussion bestand darin, daß über einen mehrmonatigen Prozeß hinweg der Regierende Bürgermeister über eine Annahme der Einladung nicht entscheiden konnte, bevor nicht wichtige Detailfragen in Gesprächen zwischen dem Chef der Senatskanzlei, Staatssekretär Stronk, und seinem DDR-Gesprächspartner, Staatssekretär Löffler, geklärt worden waren. Denn für den Regierenden Bürgermeister wäre eine Veranstaltungsteilnahme nur in Betracht gekommen. wenn die DDR hieraus keinen Statusgewinn reklamiert hätte. Die oben dargelegten status-politischen Bedenken hätten bei einer geschickten Gestaltung des Besuches überwunden werden können. Dazu gehört auch eine Erklärung, wie sie bei einem in Ost-Berlin stattgefundenen Gespräch des damaligen Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker mit Erich Honecker abgegeben wurde. Honecker erklärte damals ausdrücklich, daß aus einem solchen Treffen in Ost-Berlin kein Statusgewinn gefolgert würde (in der Vergangenheit hatte Diepgen mehrfach Honecker getroffen, jedoch während der Leipziger Messe). Darüber hinaus war es Zielsetzung des Regierenden Bürgermeisters, die westlichen Alliierten nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Es ist nicht bekannt, ob Honecker mit einer Annahme der Einladung zum Staatsakt und/oder zum Ost-Berliner Oberbürgermeistertreffen gerechnet hat. Wahrscheinlich hat er aber nicht erwartet, daß er umgekehrt von Diepgen zu den West-Berliner Feierlichkeiten am 30. April 1987 in das Internationale Congress Centrum eingeladen würde. Diese Einladung mußte umgekehrt Honecker vor schwierige Entscheidungen stellen, weil bei diesen Feierlichkeiten der Bundespräsident, der Bundeskanzler (der eine Rede hielt), das gesamte Bundes-kabinett. die Ministerpräsidenten der Länder und zahlreiche hochrangige politische Persönlichkeiten sowie viele in Bonn akkreditierte Diplomaten anwesend waren. Der Sinn der Gegeneinladung war, Honecker damit zu einer Anerkennung der Bundespräsenz in Berlin und damit der Bindungen West-Berlins an den Bund zu bewegen. Allerdings mußte es denjenigen, die eine Gegeneinladung vorschlugen, klar sein, daß Honecker mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht den politischen Gestaltungsspielraum durch Moskau eingeräumt erhielt, eine solche Einladung annehmen zu können. Wer also verhindern wollte, daß der Regierende Bürgermeister an entsprechenden Feierlichkeiten in OstBerlin teilnahm, konnte insofern auf eine entsprechende Wirkung der Gegeneinladung hoffen, auch wenn einigen diese Einladung deshalb suspekt war, weil mit Honeckers Anwesenheit bei einem solchen Festakt in West-Berlin ebenfalls eine Separierung West-Berlins vom Bund argumentativ untermauert werden konnte. Darüber hinaus ließ Diepgen zunächst offen, ob er nur zu den Feierlichkeiten nach Ost-Berlin hätte gehen können, wenn Honecker seinerseits die West-Berliner Feierlichkeiten wahrgenommen hätte.
In die Länge gezogen wurde der Entscheidungsprozeß auch durch die Tatsache, daß ein Abstimmungsprozeß mit der Bundesregierung wie mit den drei westlichen Alliierten vorgenommen werden mußte, die sich auch ihrerseits untereinander vereinbaren mußten. So wurden Äußerungen des französischen Außenministers Raimond beim traditionellen Jahresessen der Berliner Pressekonferenz mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.der mahnte, bei allen Schritten „mit doppelter Sorgfalt“ darauf zu achten, alles zu unterlassen, „was die Teilung der Stadt verewigen könnte“
— Am 10. März 1987 lud Berlins Regierender Bürgermeister Diepgen Erich Honecker zum WestBerliner Stadtjubiläum am 30. April 1987 nach West-Berlin ein. Diese Einladung waran Honecker in seiner Eigenschaft als „Vorsitzender des Komitees der DDR zum 750jährigen Bestehen von Berlin“ gerichtet und wurde vom Chef der Senatskanzlei. Stronk, bei einem Gespräch mit dem DDR-Beauftragten für die 750-Jahr-Feier, Kurt Löffler, übergeben. Zum Zeitpunkt dieses Briefes hatte Diepgen sich offiziell noch nicht entschieden, ob er eine Annahme der Einladung Honeckers zum Staatsakt am 23. Oktober 1987 anzunehmen gedenke. Da die offiziellen Feierlichkeiten in West-Berlin bereits im April stattfanden, war also nun Honecker mit einer Entscheidung zuerst im Zug-zwang. — Am 13. April 1987 lehnte Honecker indes die Einladung nach West-Berlin ab. Begründet wurde diese Absage mit einem Brief des Regierenden Bürgermeisters an seine Ministerpräsidentenkollegen der Bundesländer vom 4. Juni 1986 — also lange zurückliegend — und außerdem nicht erläuterten „anderen Bedingungen“, die einem Besuch entgegenstünden. — In einer Erklärung „zum Auftakt der 750-Jahr-Feier“ in West-Berlin am 30. April 1987 im ICC bedauerte der Regierende Bürgermeister noch einmal. daß Honecker nicht zur Eröffnung des Stadt-jubiläums nach West-Berlin kommen werde. Dies sei umso mehr zu bedauern, „als aus unserer Sicht alle damit verbundenen Fragen lösbar waren.“ Die „vielfältigen Abhängigkeiten der politischen und rechtlichen Lage in und um Berlin“ hätten jedoch zu der Absage geführt
Die Kenntnis des exakten zeitlichen Ablaufs ist bei der Beurteilung dieser „Einladungsdiplomatie“ wichtig. Einerseits ist die Besuchspolitik nicht zustandegekommen und insoweit „gescheitert“, andererseits war sie aber auch eine — berechtigte — Auslotung dessen, was unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen berlinpolitisch möglich war. Ein Großteil wichtiger statusrechtlicher Probleme hätte bei entsprechender Gestaltung des Besuchs und im Zusammenwirken mit der Bundesregierung wie den westlichen Alliierten überwunden werden können. Eine Teilnahme des Regierenden Bürgermeisters am „Staatsakt“ wäre auch nach der Absage Honeckers zur Teilnahme an den West-Berliner Feierlichkeiten möglich gewesen, wenn beispielsweise Fragen des Protokolls dies zugelassen hätten. Ein solcher Besuch hätte auch dem Mehrheitswillen der West-Berliner Bevölkerung entsprochen, wäre aber auch von der Ost-Berliner Bevölkerung außerordentlich begrüßt worden — und zwar unbeschadet der statusrechtlichen Überlegungen, da solche Details in der Bevölkerung in der Regel wenig bekannt sind. Diepgen hätte durch einen solchen Besuch der Symbolik Ausdruck verleihen können, daß er das einzig freigewählte Stadtoberhaupt Berlins und insofern Repräsentant aller Berliner ist.
Bei allen taktischen Winkelzügen, derer sich die DDR in ihrer Einladungspolitik bediente, kann doch bei einer Gesamtbewertung davon ausgegangen werden, daß die DDR in ihrer Politik gegenüber West-Berlin eine größere Flexibilität an den Tag legen wollte. Offensichtlich hat jedoch die „Statusmacht“ Sowjetunion, die auf ihre übergeordnete Rolle bedacht ist und manches Mißtrauen gegenüber einer zu eigenständigen Deutschland-und Berlin-Politik der DDR hat, dafür gesorgt, daß der DDR die Grenzen ihrer Souveränität erneut bewußt gemacht wurden. Das Nichtzustandekommen gegenseitiger Besuche kann indes nicht als Schlußpunkt der Teilung Berlins interpretiert werden. Gleichwohl dürften alle vier früheren Alliierten, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Motiven, mit dem Endergebnis einer Nichtteilnahme zufrieden sein: die Sowjets, weil sie damit erneut OstBerlin in die Schranken verwiesen und eine ihr zu weit gehende Politik verhindert haben. Die West49 mächte ihrerseits konnten deshalb zufrieden sein, weil die Annahme der Einladung vermutlich nicht ihren generellen Zielen als Statusmacht entsprochen hätte. Da sie aber auch den Eindruck von „Besatzungsmächten“ verhindern wollten, hatten sie ihrerseits keine formalen Schritte zur Verhinderung einer Veranstaltungsteilnahme in Ost-Berlin unternommen — wozu sie als die Wahrer des Berlin-Status nach der Rechtslage ohne weiteres in der Lage gewesen wären. Sie sind in ihren Kompetenzen selbstverständlich dann berührt, sobald Fragen des Status von deutscher Seite durch entsprechende Aktivitäten angesprochen werden.
Daß auch die westlichen Alliierten Berlin nach wie vor eine besondere symbolhafte und politische Bedeutung beimessen, ist an der zahlreichen politischen Prominenz zu ersehen, die aus ihren Ländern Berlin im Jahr der 750-Jahr-Feier besuchte: die Britische Königin und mehrere Mitglieder ihres Königshauses sowie die britische Regierungschefin Thatcher; der französische Präsident Mitterand und Premierminister Chirac sowie der amerikanische Präsident Reagan. Eine besondere Bedeutung erhielt der Besuch des amerikanischen Präsidenten, der in einer Rede am 12. Juni 1987 eine Reihe von Vorschlägen über die zukünftige Rolle von Berlin unterbreitete, die — wenn auch bisher negative — Reaktionen der Sowjetunion und der DDR hervorriefen
1. Ausweitung des kommerziellen Flugverkehrs nach Berlin mit der Zielsetzung, daß eines Tages dort ein europäisches Luftverkehrskreuz sich entwickeln kann; 2. mehr internationale Konferenzen in beiden Teilen der Stadt, beispielsweise Veranstaltungen der Vereinten Nationen;
3. Austauschprogramme für junge Ost-und WestBerliner. um sich leichter treffen zu können;
4. Durchführung von Olympischen Spielen in ganz Berlin. „All diese Vorschläge würden eine neue Offenheit in das Leben nicht nur der Berliner bringen, sondern auch der Menschen in Osteuropa wie auch in der Sowjetunion“, erklärte der amerikanische Präsident
VII. Honecker-Besuch und Berlin-Status
Der Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vom 7. bis 11. September 1987 in der Bundesrepublik Deutschland hat neben der allgemeinen deutschlandpolitischen Bedeutung auch berlinpolitische Relevanz. Besuche hochrangiger DDR-Politiker in der Bundesrepublik haben stets auch berlinpolitische Bedeutung, weil sie Gelegenheit geben, Berliner Probleme mit der DDR zu besprechen, deren politische Zielsetzung grundsätzlich darin besteht, berlinspezifische Fragen unmittelbar mit dem Senat von Berlin zu verhandeln, um damit die Sonderstellung von Berlin (West) zu unterstreichen. Da der 1973 ratifizierte Grundlagenvertrag nicht automatisch eine Einbeziehung von Berlin (West) in die Abmachungen und Verträge mit der DDR vorsieht — über eine solche Einbeziehung muß jeweils von Fall zu Fall verhandelt werden —. gestalten sich Vertragsabschlüsse zwischen der DDR und der Bundesrepublik besonders schwierig. Hinzu kommt, daß sich auch die Ständige Vertretung der DDR in der Bundesrepublik Deutschland für Berlin-Fragen als nicht zuständig erklärt. Deshalb sind solche Besuche ein Anlaß für die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Gesamt-repräsentanz für Berlin (West) diesbezügliche Fragen anzusprechen
Über den Wortlaut des Kommuniques hinaus erläuterte Bundesminister Schäuble, Chef des Bundeskanzleramtes, in einer Pressekonferenz vom 8. September 1987 wichtige berlinspezifische Fragen, die bei den ersten Gesprächen eine Rolle gespielt haben. In den Vordergrund stellte er neue Erleichterungen und Vereinfachungen hinsichtlich des Reise-und Besucherverkehrs für die Berliner selbst
Im Zusammenhang mit dem Honecker-Besuch muß auch gesehen werden, daß von 1988 an auch Jugendgruppen aus West-Berlin in die DDR und Jugendgruppen aus der DDR nach West-Berlin reisen können. Eine entsprechende Vereinbarung über den Austausch von Jugendreisegruppen haben das Deutsche Jugendherbergswerk, Landesverband Berlin, sowie das Reisebüro der Freien Deutschen Jugend, Jugendtourist, kurz vor dem Besuch unterzeichnet
VIII. Fazit
Statusfragen sind politisch wie rechtlich von großem Gewicht. In unserer Öffentlichkeit werden sie bisweilen als bloß „formale“ Fragen eingeordnet. Diesem Mißverständnis unterliegen die DDR und die Sowjetunion nicht: 1. Die DDR und die Sowjetunion leugnen einen Vier-Mächte-Status für ganz Berlin und beschrän-ken ihn auf Berlin (West). Dieses betrachten sie als eine „besondere politische Einheit“, auch wenn diese Formel nach Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens insbesondere auf Seiten der DDR seltener geworden ist. Vielfach umschreiben sie den Status von Berlin (West) nur „negativ“, aus einer angeblichen „Nichtzugehörigkeit“ von Berlin (West) zur Bundesrepublik. Sie gehen von einem besonderen Verhältnis von Berlin (West) auch zur DDR aus. Besonders die DDR hält sich alle rechtlichen Interpretationen offen, eines Tages sehr viel offensiver die Einbeziehung von West-Berlin in ihren Einflußbereich verlangen zu können. Sie betrachtet West-Berlin als vorläufig noch unter einem „Besatzungsregime“ stehend. Der Hinweis in der Völkerrechtslehre der DDR, West-Berlin habe einen mit früheren „Freien Städten“ (z. B. Danzig. Krakau) vergleichbaren Status, ist insoweit besonders aufschlußreich. als deren Autonomie meistens nur sehr kurzlebig war und diese von ihrem sie umgebenden bzw. angrenzenden Staat aufgesogen wurden. Die DDR lehnt eine eigentliche Drei-Staaten-Theorie ab. nach der West-Berlin ein völlig souveräner, völkerrechtlich anzuerkennender Staat sei. Das langfristige Ziel der DDR, die Isolierung West-Berlins, bleibt klar
9. Die Rahmenbedingungen der innerdeutschen Beziehungen beginnen sich zu verändern — mit Auswirkungen auf Berlin. Weitgehend unbemerkt sind wir in die Phase einer neuen Qualität der Deutschland-Politik eingetreten, weil die innerdeutschen Beziehungen durch föderale und kommunale Elemente immer mehrerweitert und aufgefächert werden. Schon ist das Wort von der „Föderalisierung der Deutschland-Politik“ geprägt worden. Die zunehmende Zahl von Städtepartnerschaften legt nahe, auch von einer „Kommunalisierung“ der Deutschland-Politik zu sprechen. Bei den stärker werdenden Bemühungen der einzelnen Bundesländer um direkte Kontakte zur DDR werden aber weder die Länder noch die Kommunen die innerdeutsche Rolle der Bundesregierung in Frage stellen können, die über die wesentlichen Zuständigkeiten und Ressourcen verfügt. Schwierigkeiten können entstehen, wenn deutsch-deutsche Regierungskommissionen die Arbeit aufnehmen sollen, bei denen die Länder beteiligt sind. Hier müßte Berlin (West) berücksichtigt werden. Auch die Bildung einer „Gemischten Kommission zur weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen“, wie sie im Gemeinsamen Kommunique anläßlich des Honecker-Besuches einvernehmlich festgelegt wurde, wirft berlinspezifische Überlegungen auf. Das sogenannte „Berliner Abkommen“ von 1951. das im Grundlagenvertrag bestätigt wurde, bezieht sich auf die „Währungsgebiete“, umschließt also Berlin (Ost) und Berlin (West) ebenso wie die beiden Staaten. Zuständig für die westliche Seite ist die Treuhandstelle für Industrie und Handel (TSI) in West-Berlin. Dort finden auch regelmäßige Verhandlungen mit dem Ministerium für Außenhandel der DDR statt. Die geplante Gemischte Kommission kann zweifelsohne wichtige Auswirkungen auf die in West-Berlin beheimatete Bundesinstitution TSI haben. Eine Schwächung dieser Einrichtung muß vermieden werden.
10. Die Sicherheit West-Berlins kann nur durch die Westmächte garantiert werden. Ihre Präsenz liegt also im Interesse der Bundesrepublik und der WestBerliner selbst. Es wäre gleichwohl lebensfremd, wenn die westlichen Alliierten nicht zugleich eigene Interessen hinsichtlich ihrer Präsenz in Berlin verfolgten. Denn Berlin-Politik kann ein wesentliches Instrument zur generellen Beeinflussung deutscher und europäischer Politik sein. Befürchtungen, die gelegentlich in den Hauptstädten der westlichen Alliierten hinsichtlich eines für möglich gehaltenen „deutschen Sonderweges“ geäußert werden, sind schon angesichts der starken Position der Alliierten in Berlin realitätsfern. Der besondere Status der Stadt und ihre Lebensfähigkeit können langfristig nur dann aufrechterhalten werden, wenn eine intensive Abstimmung der Deutschland-und Berlin-Politik — wie bisher — erfolgt und wenn insbesondere die Bevölkerung Berlins die westlichen Alliierten nicht als „Besatzungsmächte“, sondern als echte „Schutzmächte“ anerkennt.
11. Letztlich hängt an der Berlin-Frage die deutsche Frage, die nur bei einem Zusammenwirken der vier früheren Alliierten lösbar ist. Allerdings sorgt die Insellage Berlins dafür, daß die beiden Staaten in Deutschland miteinander in Verhandlungen, in Kooperation, treten müssen. Insoweit ist — bei allen unterschiedlichen Auffassungen in statusrechtlichen Fragen — die bloße Existenz Berlins bereits eine Mahnung zur Lösung der deutschen Frage.