Das Verhältnis von Glaube und Politik richtig zu bestimmen, gehört zu den schwierigen und nie abgeschlossenen Aufgaben des Christen. Schwierig wurde diese Aufgabe nicht erst mit dem Zerbrechen der mittelalterlichen Einheit von Religion und Kultur, mit der Unterscheidung von Spiritualia und Temporalia. die zu den Entstehungsbedingungen der Neuzeit zählten. Schon die Jünger Jesu taten sich schwer, ihren Glauben an den Gottessohn von allen Vorstellungen eines politischen Messias zu reinigen. und die Propheten bezeugen immer wieder das Versagen des Bundesvolkes, aus dem Glauben an den Gott Abrahams. Isaaks und Jakobs die richtigen Konsequenzen für die Gestaltung der sozialen Beziehungen in einem Volk oder zwischen den Völkern zu ziehen.
Die Sackgassen, in die der Christ bei der Bestimmung dieses Verhältnisses geraten kann und schon oft geraten ist. sind hier schon angedeutet: die Identifizierung von Glaube und Politik einerseits, die radikale Trennung, ja Entgegensetzung andererseits. Führt die Identifizierung zwangsläufig zur religiösen Verklärung einer existierenden Staats-und Gesellschaftsform, zu einer politischen Theologie im Sinne des vorchristlichen römischen Schriftstellers Marcus Terentius Varro oder auch nur zur Proklamation einer „Politik der Bergpredigt“, so führt die Entgegensetzung leicht zur Weltflucht, ja zur Weltverachtung, in der die Politik als schmutziges Geschäft eingeschätzt und beklagt und der Glaube in den Bereich der individuellen Frömmigkeit und des religiösen Kultes verwiesen wird. Die von J. B. Metz repräsentierte neue politische Theologie. die an der Wiege der Theologie der Befreiung steht, wirft dieser Position dann — nicht zu Unrecht — die Privatisierung des Glaubens vor und fordert die Revitalisierung des Öffentlichkeitsanspruchs des Evangeliums.
Die Theologie der Befreiung knüpft in allen ihren Varianten hier an. „Grundsätzlich lehnt sie eine nicht auf die Zeit bezogene oder rein geistige Hermeneutik im Sinne einer . Privatisierung'des Glaubens ab. Sie betont die politische Dimension der Heilsereignisse, besonders die des Exodus und des Todes (der Tötung) Jesu, wie auch den . subversiven Charakter* der biblischen Botschaft, vor allem die Verurteilung der sozialen Ungerechtigkeiten durch die Propheten und durch Jesus. Sie unterstreicht dabei die Tatsache, daß die Erlösung sich in der Geschichte vollzieht und daß es nur eine einzige Heilsgeschichte gibt, die die Gesamtheit aller Menschen umfaßt.“ Ist damit das schwierige Problem der Verhältnisbestimmung von Glaube und Politik gelöst? Um diese Frage wird gestritten, seit es die Theologie der Befreiung gibt, also seit Gustavo Gutierrez 1971 in Peru sein Werk „Theologie der Befreiung“ publiziert hat Die Kontroversen erreichten 1977 mit dem Gutachten der Internationalen Theologenkommission „Zum Verhältnis zwischen menschlichem Wohl und christlichem Heil“ einen ersten Höhepunkt- Sie gerieten 1984 mit der 1. Instruktion der Glaubenskongregation über einige Aspekte der Theologie der Befreiung „Libertatis Nuntius“ in die Schlagzeilen. Die Publikation der 2. Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung „Libertatis conscientia“ hat zwar zu einer Beruhigung der Emotionen geführt, die theologischen Kontroversen aber gehen weiter.
I. Glaube und Politik
Der Glaube hat es mit einem Sachverhalt zu tun.den man nicht sehen und nicht beweisen kann, den man aufgrund der Glaubwürdigkeit des Zeugen aber dennoch für unbedingt wahr hält. Er setzt neben dem bezeugten Sachverhalt die freie Entscheidung des Glaubenden voraus, sich auf den Zeugen des Sachverhalts einzulassen. Der Glaube des Christen hat es mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu tun. mit dem endgültigen Heil, das ihm durch seine Menschwerdung, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung verheißen ist. Er setzt neben dieser Offenbarung ebenfalls eine freie Entscheidung voraus, die Entscheidung, das von der Kirche verkündete Evangelium anzunehmen.
Die Politik hat es mit der Ordnung der sozialen Beziehungen in der Gesellschaft, im Staat oder zwischen den Staaten zu tun. Sie setzt menschliches Handeln voraus, das auf den Erwerb und die Erhaltung von Macht ausgerichtet ist. das Interessen zu berücksichtigen und auszugleichen hat. das von gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingun29 gen abhängig ist und in einem oder mehreren dieser drei Felder konkrete Ziele verwirklichen will.
Auf den ersten Blick scheinen Glaube und Politik nichts miteinander zu tun zu haben. Wie lassen sie sich dennoch in eine vernünftige Beziehung zueinandersetzen? Von beiden Seiten, vom Glauben wie von der Politik her. ist eine Antwort möglich. Einerseits sagt das Evangelium, daß das von Gott geschenkte Heil, das Gegenstand des Glaubens ist. voraussetzt, daß der Mensch die im Evangelium genannten Gebote. Normen und Wegweisungen für sein Handeln, in erster Linie das Liebesgebot, beachtet. Die sozialen Beziehungen so zu ordnen, daß Gerechtigkeit. Freiheit und Frieden gefördert und die Menschenrechte respektiert werden, ist Teil dieses Liebesgebotes — darüber gibt es heute unter Christen keine Kontroversen. Sich um die Politik kümmern ist mithin eine logische Konsequenz des Glaubens. Andererseits hat es auch die Politik nicht nur mit Macht und Recht, mit Interessen und Parteien zu tun. sondern mit Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Natur auf das Zusammenleben in Familie. Gesellschaft und Staat angewiesen sind, die zugleich fähig sind, dieses Zusammenleben zu ordnen und zu bereichern, die aufgrund der Gebrochenheit ihrer Natur, aufgrund ihrer Begehrlichkeit und der konstitutionellen Unvollkommenheit ihrer Erkenntnis aber auch in der Lage sind, dieses Zusammenleben zu stören. Die Politik ist somit immer auf anthropologische Prämissen verwiesen, wenn sie dieses Zusammenleben ordnen, schützen und fördern will, wenn sie sich um die Gemeinwohl genannte Gesamtheit der sozialen Bedingungen für die Entfaltung des menschlichen Lebens bemüht. Man kann den Satz, daß es eine logische Konsequenz des Glaubens sei. sich um die Politik zu kümmern. zwar nicht umkehren. Es ist keine logische Konsequenz der Politik, sich um den Glauben zu kümmern. Aber über die anthropologischen Prämissen hat die Entscheidung für oder gegen den Glauben erhebliche Auswirkungen auf die Politik, ihre Grundwerte, ihre Ziele und sogar ihre Formen.
Ob diese Prämissen vom Menschen als einem zum Hören des Wortes Gottes fähigen und nach einem summum bonum strebenden, vernünftigen Wesen aus Leib und Seele ausgehen, wie die von Platon. Aristoteles und Thomas von Aquin geprägte Tradition. ob sie von einem hedonistischen Triebwesen ausgehen, das mittels des als Leviathan konzipierten Staates nur ein summum malum zu vermeiden trachtet und ein summum bonum ausdrücklich ablehnt. wie die von Thomas Hobbes begründete Strömung neuzeitlicher politischer Theorie oder ob sie vom Menschen als einem Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse ausgehen, das gleichzeitig mit prometheischem Pathos beansprucht, sein Dasein sich selbst zu verdanken, wie die von Karl Marx begründete Tradition, dies prägt die jeweilige gesellschaftliche und staatliche Ordnung. Die Politik verdankt dem christlichen Glauben zentrale Einsichten. Werte und Ziele, wie die Entgöttlichung der Welt, die Relativierung und Beschränkung des Herrschaftsrechts, die Idee der persönlichen Freiheit.den freiheitlichen Verfassungsstaat und die soziale Fürsorge als politische Aufgabe Bislang ist aber nur gezeigt worden, daß es zwischen Glauben und Politik eine Beziehung gibt, noch nicht, wie sie aussieht. Es ist leicht, die Identifizierung und die Entgegensetzung als Irrwege zu bezeichnen. schwer dagegen, das richtige Verhältnis zu bestimmen. Damit diese Verhältnisbestimmung gelingt, muß eine Reihe von Kriterien beachtet werden, die in der katholischen Soziallehre, in Sozialenzykliken und vor allem im II. Vatikanischen Konzil verstärkt in Erinnerung gerufen wurden. An ihnen muß sich dann auch die Theologie der Befreiung messen lassen. Vor allem folgende fünf Kriterien hat der Christ, der jene Irrwege vermeiden möchte, zu beachten:
1. die sittliche Bedeutung der Politik.
2.den eschatologischen Vorbehalt.
3. die legitime Autonomie der Politik.
4. die Sachgerechtigkeit der politischen Entscheidung und 5.den legitimen Pluralismus politischer Optionen auch unter Christen. ad 1: Wenn der Christ und die Kirche an der sittlichen Bedeutung der Politik festhalten, bedeutet dies nicht, daß das Evangelium die politische Entscheidung diktiert oder daß eine politische Option aus dem Glauben heraus begründet wird. Es bedeutet vielmehr, daß die Gemeinwohlrelevanz und die anthropozentrische Orientierung jeder Politik hervorgehoben werden. Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, von Staat und internationalen Beziehungen hat es immer mit den sozialen und politischen Möglichkeitsbedingungen personaler Entfaltung zu tun. Politisches Handeln kann deshalb nicht am Wohl einer Rasse, einer Klasse oder einer Regierung, auch nicht an Teilzielen wie Abrüstung. Haushaltskonsolidierung oder Umweltschutz gemessen werden, sondern nur am Gemeinwohl als der Voraussetzung des Wohles des Menschen und der Entfaltungschancen der Person. Meinungsverschiedenheiten. ob eine politische Entscheidung diesem Ziel mehr oder weniger oder gar nicht dient, sind auch unter Christen möglich. Es ist für sie aber nicht möglich, die sittliche Bedeutung der Politik oder der Wirtschaft in Abrede zu stellen oder der Politik eine eigene Moral zuzuordnen wie die Machtstaatstheorien des 19. Jahrhunderts oder viel früher bereits Machiavelli in seinem „Principe“. Die Kirche hält es deshalb nicht nur für ihr Recht, sondern für ihre Pflicht, „auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu un-terstellen. wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“ ad 2: Wenn der Christ aufgrund seines Glaubens an das ihm von Christus verheißene endgültige Heil am eschatologischen Vorbehalt gegenüber politischen Ordnungen festhält, bedeutet dies nicht, daß er politisches Handeln in manichäischer Weise als heilsunerheblich oder gar böse bewertet oder zu jedem politischen System auf Äquidistanz geht. Es bedeutet vielmehr, daß er die Differenz zwischen menschlichem Wohl und christlichem Heil nicht aus dem Auge verliert, daß er an die Vorläufigkeitjeder politischen Ordnung erinnert und von keinem Exodus und keiner Befreiung — in sozialwissenschaftlicher Terminologie: von keinem Struktur-wandel eines politischen Systems — erwartet, daß die auch politische Strukturen kennzeichnende Gebrochenheit der menschlichen Natur beseitigt wird. Die Kirche ist als „Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person“ gleichsam die Verkörperung dieses eschatologischen Vorbehalts.
ad 3: Wenn der Christ die Autonomie irdischer Sachbereiche und damit auch der Politik respektiert. bedeutet das nicht, daß er unter der Hand doch jener autonomen Moral der Politik das Wort redet, die bereits verworfen wurde, oder für jene Entgegensetzung von Glaube und Politik plädiert, die als Sackgasse bezeichnet wurde. Es bedeutet vielmehr, daß er die jeweiligen Sachbereiche beispielsweise der Kultur, der Wirtschaft, der Technik, des Rechts, der internationalen Beziehungen und damit auch der Politik „in ihrem festen Eigenstand, ihrer eigenen Wahrheit, ihrer eigenen Gutheit. ihrer Eigengesetzlichkeit und ihren eigenen Ordnungen“ anerkennt Es bedeutet, daß er dann konsequenterweise auch die Kompetenz des jeweiligen Fachmannes in diesen Sachbereichen respektiert, ja bemüht ist.selbst eine solche Kompetenz zu erwerben. wohlwissend, daß es eine absolute Kompetenz. ein unfehlbares Lehramt in diesen Bereichen nicht gibt. Die Autonomie der Politik oder der Kultur zu respektieren, ist für den Christen nicht ein gequältes Zugeständnis an die Moderne, sondern ein Postulat seines Glaubens, der davon ausgeht, daß die „Wirklichkeiten des profanen Bereichs und die des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben“. Diese Autonomie zu respektieren, entspricht deshalb „auch dem Willen des Schöpfers“
ad 4: Wenn der Christ auf die Sachgerechtigkeit politischer Entscheidungen Wert legt, bedeutet dies nicht, daß er diese Entscheidungen allein dem Politiker vorbehält und der Kirche jede Kompetenz abspricht. Auch dies würde ja dem ersten Kriterium — der sittlichen Relevanz aller Politik — widersprechen. Es bedeutet vielmehr, daß er aus der Respektierung der legitimen Autonomie der irdisehen Sachbereiche die richtigen Konsequenzen zieht, sich um deren Eigengesetzlichkeiten bemüht und der Versuchung widersteht, die Bibel, im besonderen die Bergpredigt zu einem Vademecum politischer Entscheidungen zu machen. Sachgerechtes Handeln schließt beispielsweise aus. daß der Sozialpolitiker, der das sozialstaatliche Leistungssystem. im besonderen das Rentensystem zu stabilisieren hat.seine Entscheidungen mit Mt 6. 31 „Sorget euch also nicht und saget nicht: Was werden wir essen? oder: Was werden wir trinken? oder: Was werden wir anziehen?“ begründet. Es schließt auch aus. Mt 5. 39 „Widersteht dem Bösen nicht, sondern wer dich auf die rechte Wange schlägt.dem halte auch die andere hin“ als Handlungsanweisung für sicherheitspolitische Entscheidungen zu interpretieren, oder Mt 6, 34 „Sorget euch also nicht um den morgigen Tag.denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen“ als Leitlinie für die Umweltpolitik zu empfehlen. Solchen und anderen Versuchen. mit dem Neuen Testament Politik zu machen, ist mit Pacem in Terris entgegenzuhalten: „Es genügt nicht, vom Glauben erleuchtet zu sein und beseelt vom Wunsch. Gutes zu tun. um eine Kultur mit gesunden Grundsätzen zu durchdringen und sie im Geist des Evangeliums zu beleben.“ Es ist vielmehr notwendig, „über reiches Wissen, technisches Können und berufliche Erfahrung“ zu verfügen, „die jeder Sache dieser Welt eigentümlichen Gesetze und Normen zu beachten“, sich in den Einrichtungen der Gesellschaft „zu engagieren und tatkräftig von innen her auf sie zu wirken“ sowie sein Handeln am Sittengesetz auszurichten ad 5: Wenn der Christ schließlich am legitimen Pluralismus politischer Optionen auch unter Christen festhält, bedeutet dies nicht, daß er alle Optionen als gleichwertig betrachtet oder das Postulat der Sachgerechtigkeit wieder annulliert. Es bedeutet vielmehr, daß er respektiert, daß Christen in ein und derselben politischen Frage bei gleicher Gewissenhaftigkeit ihres Glaubens zu verschiedenen Urteilen kommen können, weil es auf diese Frage — beispielsweise der Nutzung der Kernenergie.der Dislozierung atomarer Mittelstreckenraketen, der Anwendung wirtschaftspolitischer Instrumente zur Milderung der Arbeitslosigkeit oder des Abschlusses eines Kreditabkommens mit einem Entwicklungsland — nicht die absolut richtige, unfehlbare, gerechte Antwort gibt, Am legitimen Pluralismus politischer Optionen festzuhalten bedeutet deshalb zu akzeptieren, daß politische Entscheidungen oft Entscheidungen zwischen zwei Übeln sind und die Entscheidung für das kleinere Übel in diesem Fall die einzige Möglichkeit ist.dem Gemeinwohl zu dienen. Es bedeutet, politische Fragen nicht in den Rang von Bekenntnisfragen zu erheben. in den sie — wie die Friedensdiskussion Anfang der achtziger Jahre vor allem im Bereich der evangelischen Kirche zeigte — leicht geraten, wenn sie allein aus dem Glauben beantwortet werden. Es bedeutet, politische Konflikte zu mildem, weil ihnen die Schärfe eines Bekenntnisstreites genommen wird, weil die gegenteilige politische Option zwar zu sachlich zu begründenden Zweifeln führen, aber nicht gleich einem Häresieverdacht ausgesetzt werden kann.
II. Die Position der Befreiungstheologie
Der Versuch der Befreiungstheologie, das Verhältnis von Glauben und Politik neu zu bestimmen, setzt bei dem dieser Theologie ihren Namen gebenden Konzept der Befreiung an. Gustavo Gutierrez unterscheidet in diesem Konzept drei Ebenen, eine politische, die auf die Überwindung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Not zielt, eine utopische. die die Entstehung eines neuen Menschen in einer solidarischen Gesellschaft anstrebt, und eine theologische, die die Befreiung von der Sünde meint Er wird aber nicht müde zu betonen, daß diese Ebenen eine komplexe Einheit bilden, daß sie sich gegenseitig einschließen und daß es nur einen einzigen Befreiungsprozeß gäbe. Zwar warnt er vor „einer direkten und unmittelbaren Beziehung zwischen Glauben und Politik“, weil diese leicht dazu führe, vom Glauben Normen und Kriterien für bestimmte politische Optionen zu verlangen sowie vor „jeder Verwechslung der Herrschaft Gottes mit einer bestimmten geschichtlichen Etappe“ aber dies hindert ihn nicht daran, die Unterscheidung zwischen Erlösung und Befreiung, zwischen christlichem Heil und politischem Wohl, zwischen geistlichen und weltlichen Dingen als Dualismus zu kritisieren. „Die Unterscheidungen zeitlich-geistig und heilig-profan basieren auf der Unterscheidung zwischen natürlichem und übernatürlichem Bereich. Die theologische Entwicklung gerade in dieser Frage läuft aber auf eine Betonung der Einheit dieser Ebenen hinaus. Jede Form von Dualismus wird abgelehnt.“ Die Kirche habe, solange sie zentrales Glied eines Herrschaftssystems der Unterdrückung gewesen sei und von ihrer politischen Rolle kein klares Bewußtsein hatte, die Unterscheidüng dieser Ebenen mit Mißtrauen betrachtet. Als dieses Herrschaftssystem aber „Gegenstand des Angriffs wurde, bediente man sich nun dieses Schemas. um sich von der Verpflichtung entbinden zu lassen. Partei zu ergreifen für die Unterdrückten und Beraubten“ Gutierrez suggeriert hier in einer etwas umständlichen Gedankenführung, die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia sei ein Unterdrückungsinstrument des Ancien Regime und der ihm verbundenen Kirche. Nach der Säkularisierung, die „nicht nur mit einer christlichen Sicht von Mensch. Geschichte und Kosmos völlig übereinstimmt, sondern auch eine größere Fülle christlichen Lebens ermöglicht“, und nach dem Konzil, das die integrale Einheit der Heilsberufung des Menschen unterstrichen habe, sei diese Unterscheidung aber „erschöpft“. Sie biete „keine Antwort mehr für die Fragen einer fortgeschrittenen Theologie“ Das Konzil ist für ihn im Hinblick auf die Einheit der Heilsberufung jedoch auf halbem Wege stehengeblieben. Nicht nur eine konservative Minderheit, sondern auch einige Vertreter der Mehrheit — Döpfner und Frings werden genannt — hätten die Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Ordnung verdeutlichen wollen, „um so eine Vermischung von irdischem Fortschritt und Erlösung zu vermeiden“. So habe sich das Konzil gescheut, „in umstrittenen theologischen Fragen eine Entscheidung zu treffen“. „Gaudium et Spes“ fehle eine „umfassende Sicht der Einheit von Heils-und Schöpfungsordnung“, von der eine frühere Vorlage noch ausgegangen sei
Im breiten Spektrum der Befreiungstheologie, in dem es durchaus Unterschiede in Inhalt und Sprache gibt, vertritt Hugo Assmann eine besonders radikale Position. Für ihn ist die Unterscheidung verschiedener Ebenen, im besonderen die „Autonomie des Zeitlichen“ schlicht ein „Falschspiel gewisser modernisierender Thesen der nordatlantischen Theologie wie auch des II. Vatikanischen Konzils“
Welche Folgen haben die Kritik an der Unterscheidung der Ebenen und das Postulat eines einheitlichen Heilsprozesses für die Befreiungspraxis? Hält die Theologie der Befreiung am eschatologischen Vorbehalt gegenüber jeder politischen Ordnung fest? In ihrer von Gutierrez und den Gebrüdern Boff repräsentierten Hauptströmung bleibt sie ambivalent. in einigen Nebenströmungen wird der eschatologische Vorbehalt ganz preisgegeben.
Für Gutierrez fordern die „Radikalität“ und die „Totalität“ des Heilsprozesses das „Ineinander von Befreiung und Erlösung“. Jeder Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung, jedes Bemühen um eine gerechte Gesellschaft „ist schon Erlösungstat. wenn auch nicht Erlösung im umfassenden Sinn“. Der These, „das politische und geschichtliche Befreiungsgeschehen sei Wachstum des Reiches, sei Heilsereignis“, fügt er sofort die Einschränkung hinzu: „Jedoch ist es weder das Kommen des Reiches selbst noch die ganze Erlösung.“ Die eschatologischen Verheißungen erfüllen sich für ihn „allmählich im Lauf der Geschichte“, aber „die vollgültige Begegnung mit dem Herrn (wird) der Geschichte ein Ende setzen“ Ohne jede Relativierung bleibt allerdings seine Feststellung, die neue Sicht des das Diesseits und das Jenseits umfassenden Heilsuniversalismus „bezieht sich auf diese Welt und versteht das Jenseits nicht mehr als das . wahre Leben*, sondern als Umgestaltung und vollendete Verwirklichung des gegenwärtigen Lebens“
Für die Gebrüder Boff „verschmelzen“ im Begriff der Befreiung „die Horizonte des Spirituellen und des Politischen, des Geschichtlichen und des Metageschichtlichen“. Die Einschränkung, die sie hinzufügen. bleibt blaß, ja unverständlich: die Verschmelzung sei keine Vermengung Kaum verständlicher ist Leonardo Boffs Feststellung, das Gottesreich wolle „nicht eine andere Welt sein, sondern diese alte Welt hienieden. die in eine neue verwandelt wird, eine neue Ordnung von Dingen, die alle von dieser Welt sind“ Von einem eschatologischen Vorbehalt wird man hier kaum sprechen können. Noch mehr gilt dies für die Neben-strömungen. Jose Miguez Bonino, ein protestantischer Vertreter der Befreiungstheologie, meint in einer rhetorischen Frage, daß es doch nicht völlig abwegig sei, „heute die Auferstehung als den Tod der Monopole, die Befreiung von Hunger oder als Einführung von Gemeineigentum neu auszulegen“ Und der brasilianische Dominikaner Frei Betto läßt in einem in Nicaragua verbreiteten Comic. das der Popularisierung der Befreiungstheologie dienen soll, den Milizsoldaten Viktor zur Studentin Maria sagen: „Mit unserem revolutionären Engagement in den CDS in den Massenorganisationen, in den Gewerkschaften, in der Miliz tragen wir Christen dazu bei. das Reich der Gerechtigkeit und der Liebe aufzubauen. In der christlichen Gemeinde erhalten wir die Nahrung dafür. Dort feiern wir die Sichtbarkeit des Reiches Gottes in den Fortschritten der sandinistischen Revolution.“ In diesen Nicaragua-Kult reihen sich übrigens auch Gutierrez und Leonardo Boff ein. Eine Erklärung des Nationalverbandes der Ordensleute von Nicaragua zum Ende der Diktatur Somozas vom 19. August 1979 mit Zustimmung zitierend schreibt Gutierrez 1982: „Gott ist durch Nicaragua gegangen und hat mit seinem mächtigen, befreienden Arm zugefaßt.“ Und Leonardo Boff antwortet in einem Interview 1984 auf die Frage, ob er mit der Tätigkeit der Priester in der sandinistischen Regierung von Nicaragua einverstanden sei: Ja. er bewundere diese Tätigkeit. Sie sei nicht nur Dienst am Volk, sondern „die wahre Liturgie“
Wer in einer theologischen oder philosophischen Denkrichtung oder in einer wissenschaftlichen Theorie solchen Zweideutigkeiten begegnet, wie sie Gutierrez in seinem Buch „Theologie der Befreiung“ bietet, Zweideutigkeiten, die im übrigen viel zur Schärfe der Kontroversen beitragen, weil einem kritischen Einwand gegen eine Aussage oft eine andere entgegengehalten werden kann, die den gegenteiligen Eindruck zu erwecken scheint, wer diesen Zweideutigkeiten begegnet, kann nicht dabei stehenbleiben, Widersprüche festzustellen. Er hat vielmehr abzuwägen, welche Aussagen schwerer wiegen. Er hat zu prüfen, welche Thesen sich durch ein Werk durchziehen, seine Systematik prägen und so das Profil der Denkrichtung bestimmen. Das Ergebnis einer solchen Prüfung kann nur lauten: Der eschatologische Vorbehalt wird da. wo er überhaupt noch in Erinnerung gerufen wird, irrelevant. Die theologische Ebene der Befreiung, von der Gutierrez spricht, ist funktionslos. „Sie stört nicht, aber sie bedeutet auch nichts.“ Die beiden anderen Ebenen, die politische und die utopische, kommen ohne sie aus. Daß „man bei den drei . . . Ebenen . . . einsteigen kann, wo man will, (immer wird man auch zu den beiden anderen Dimensionen geführt)“, ist nicht richtig Die Begegnung mit Gott vollzieht sich im Engagement für die politische Befreiung, das von der Vision, der Utopie eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft geleitet wird. Die Tendenz, die Erlösung in der Befreiung aufgehen zu lassen und die Spiritualia durch die Temporalia zu ersetzen, ist unübersehbar. Es scheint deshalb konsequent zu sein, wenn Gutierrez von der Kirche erwartet, sie müsse sich „zur Welt bekehren ... Sie hat sich der Welt als Wohnung anzubieten und sich von ihr evangelisieren zu las-sen" Die zahlreichen kritischen Einwände gegen diese Verschmelzung von Erlösung und Befreiung, die die Internationale Theologenkommission, der Lateinamerikanische Episkopat in Puebla und die Glaubenskongregation in den vergangenen Jahren erhoben haben, sind nicht nur verständlich, sondern notwendig
Wenn Erlösung und Befreiung. Glauben und Politik, Heilsgeschichte und Profangeschichte aber eine derartige Verbindung eingehen, wird die Geschichte selbst zur Offenbarung. Die Befreiungstheologie steht denn auch in der Gefahr, einem hegelianisch-marxistischen Geschichtsbild zum Opfer zu fallen. Geschichte ist für sie ein unaufhörlicher Prozeß der Emanzipation, der zwar von Klassenkämpfen belastet wird, aber doch dynamisch zu totaler Befreiung führt. Die Spannung zwischen dem „Schon“ und dem „Noch nicht“, dem Anbruch und dem Ausstehen des Reiches Gottes in der Geschichte. die zu den harten Belastungen, aber auch zu den beseligenden Erfahrungen des christlichen Lebens gehört, wird ihrer transzendenten Dimension beraubt. Das „Noch nicht“ wird nicht qualitativ. sondern zeitlich verstanden und mit der Suggestion verbunden „Aber morgen“. Der realistischen Feststellung von Libertatis Conscientia, daß die Geschichte. im besonderen die moderne Freiheitsbewegung ambivalent ist. „zugleich voller Verheißungen wahrer Freiheit und voller Drohungen tödlicher Knechtschaft“ wird nicht Rechnung getragen, ja die Gebrüder Boff werfen der Instruktion vor. die Geschichte der letzten Jahrhunderte zu mißtrauisch. zu unvollständig, zu zurückhaltend und zu pessimistisch zu deuten
Die Verbindung von Erlösung und Befreiung hat nicht nur zur Folge, die Kirche ganz zur Welt und den Glauben zur Politik zu bekehren, sondern auch, die Politik zu entgrenzen und zur sinngebenden Instanz, zum „Invasor des Glaubens“ zu machen Politik wird total. Sie wird zum Schlüssel der Heiligen Schrift und der Theologie, der Kirche und der Evangelisierung. Der Glaube kann in dieser Perspektive erst bezeugt, die Theologie erst entwickelt werden, wenn sich der Christ im Befreiungskampf engagiert hat. „Nur eine ausreichend breite, reiche und intensive revolutionäre Praxis“ sei in der Lage, „die Bedingungen für eine frucht-bringende Theorie zu schaffen“ Theologie wird zur „Theorie einer bestimmten Praxis“, eines gesellschaftsverändernden. antikapitalistischen Befreiungsengagements. „Die Befreiungstheologie will die Theorie der Befreiungspraxis sein.“ Sie wird „acto segundo“, das heißt zweiter Schritt, während diese Praxis der erste Schritt, d. h. „acto primero“ ist. Diese die Weichen für die gesamte Befreiungstheologie stellende „politische Hermeneutik“ läßt die Orthopraxie an die Stelle der Orthodoxie treten. Dies wird nicht nur in zahlreichen kritischen Einwänden gegen die Befreiungstheologie, sondern auch von ihren Vertretern selbst affirmativ festgestellt
Der ubiquitäre Charakter der Politik zieht sich wie ein roter Faden durch die Befreiungstheologie. Für Gutierrez ist Politik nicht nur ein Ausschnitt aus dem menschlichen Leben, sondern „Totalität. Radikalität und Konfliktgeladenheit" Für Leonardo Boff ist sie „philosophia prima“, das heißt, das Fundament der für die Befreiungstheologie po-stulierten Philosophie der Befreiung Für Hugo Assmann schließlich ist es ein Merkmal der Befreiungstheologie. gegen jeden Versuch Widerstand zu leisten, „in Kirche und Gesellschaft . . . Räume zu schaffen, in denen Politik vermeintlich nichts zu suchen hat“
Dieser ubiquitäre Charakter der Politik läßt die Befreiungstheologie in die Abhängigkeit von der Sozialwissenschaft geraten. Diese bestimme durch ihre „sozial-analytische Vermittlung“, auf die die Theologie angewiesen sei.deren Gegenstand Sie liefere die Einsicht in die (Klassen-) Struktur der Gesellschaft, über die die Theologie sich Rechenschaft ablegen müsse, bevor sie über die Institution Kirche spreche Aber es ist nicht irgendeine Sozialwissenschaft.der die Theologie hier unterstellt wird. Die von Karl Marx begründete Strömung, die wegen des Objektivität ausschließenden Parteilichkeitsprinzips von vielen anderen sozialwissenschaftlichen Positionen nicht als Wissenschaft anerkannt wird, hat die Instrumente zur Analyse der Gesellschaft, ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer politischen Strukturen zu liefern. Karl Marx wird zum neuen Aristoteles der Theologie Es scheint durchaus konsequent zu sein, wenn die Gebrüder Boff schließlich der sozialen Dimension der Befreiung den Vorrang vor der individuellen und der eschatologischen Dimension einräumen und wenn Leonardo Boff behauptet. Politik und Wirtschaft seien „Orte der Vergeschichtlichung von Gnade und Sünde, von Unterdrückung und Befreiung“ So erhält der Befreiungskampf immer die Bedeutung des Kairos, der von Gott verfügten Zeit des Heils, die zugleich eine Zeit der persönlichen Entscheidung ist. In ihm „geschieht. . . objektiv Gnade oder Sünde"
III. Konsequenzen und Probleme der Verschmelzung von Glaube und Politik
Welche Folgen haben die Verschmelzung des Spirituellen mit dem Politischen und die Entgrenzung der Politik für die Fähigkeit der Befreiungstheologie. Hilfen für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, von Staat und internationalen Beziehungen anzubieten? Welche Folgen hat die Befreiungstheologie für die Politikfähigkeit des Christen? Um diese Fragen zu beantworten, ist auf jene fünf Kriterien für die Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Politik zurückzugreifen, die eingangs erörtert wurden. Auf eines dieser Kriterien, den eschatologischen Vorbehalt, ist bereits hinreichend eingegangen worden. Dieser Vorbehalt wird in manchen Positionen, vornehmlich bei Gutierrez, noch deutlich erwähnt, in anderen weniger deutlich. wie bei den Gebrüdern Boff. in wieder anderen gar nicht mehr. Aber auch da. wo er deutlich erwähnt wird, hat er keine die Politik begrenzende Funktion mehr. Die utopische Dimension der Befreiung. die an der Entstehung eines neuen Menschen in einer solidarischen Gesellschaft orientiert ist und die die politische Dimension mit der theologischen verbindet, ist für Gutierrez die entscheidende Sie macht den eschatologischen Vorbehalt irrelevant. Was die drei folgenden Kriterien betrifft, so ergibt sich bereits aus der Darstellung des Heils-und Politikverständnisses der Befrei-ungstheologie. daß weder für die legitime Autonomie der Politik noch für die Postulate der Sachgerechtigkeit und des Pluralismus Raum bleibt. Dies ist zunächst noch näher zu verdeutlichen, um dann nach der Rolle des ersten Kriteriums, der sittlichen Relevanz der Politik zu fragen.
Die legitime Autonomie der Politik ist bereits durch die Kritik an der Unterscheidung von Spiritualia und Temporalia in Frage gestellt worden. Auf den ersten Blick scheint wenigstens Gutierrez ihr noch Heimatrecht zu geben, wenn er fordert, daß politische Entscheidungen, um wirksam werden zu können und um einen politisch-religiösen Messianismus zu vermeiden, „auf rationalen Situationsanalysen zu basieren“ hätten. Aber über das „Projekt eines neuen Menschen in einer veränderten Gesellschaft“ wird die Politik dann doch in den Dienst der Utopie gestellt und ihrer legitimen Autonomie beraubt
Bei den Gebrüdern Boff aber bleibt für diese Autonomie kein Raum mehr. Nicht nur die geforderte Verschmelzung des Spirituellen und des Politischen.des Geschichtlichen und des Metageschichtlichen demonstriert dies, auch die Funktion, die Leonardo Boff der Theologie und damit dem Theologen zuweist, schließt die Anerkennung dieser Autonomie aus. Wenn die Theologie in jeder politischen und gesellschaftlichen Lage deren heilsgeschichtlichen Wert zu benennen'hat. wenn sie nach den Kategorien des Glaubens zu beurteilen hat, „ob die bestehende Gesellschaftsform dem Plan Gottes entspricht oder nicht“ wenn der Christ in jeder Lage zu entscheiden hat. „ob die Klassengesellschaft den Charakter der Sünde oder der Gnade trägt und ob sie das göttliche Geschichtsprojekt einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft bejaht oder verneint“ dann beherrscht der Glaube die Politik, der Theologe beansprucht den Stuhl des Weltrichters und die Kirche wird zur politischen Partei. „Jedesmal wenn sie (die Kirche. M. S.) das Evangelium verkündet, trägt sie auch ein politisches Programm vor. das sich aus dem Evangelium ergibt.“ Den Theologen und Hirten der Ortskirchen obliegt eine „konkrete Erarbeitung . . .der Praxis der Befreiung“, schreiben die Gebrüder Boff in ihrem Brief an Kardinal Ratzinger. Damit verlangen sie vom Bischof. Politiker zu werden. Dem Propheten wird konsequenterweise eine politische Funktion zugeschrieben. Indem er „die Erfordernisse des geschichtlichen Augenblicks erfaßt und in das religiöse Leben hereinholt, befähigt er die Religion. zu einer Kraft der Veränderung der Gesellschaft zu werden ... Er setzt Kräfte frei, die zu einer strukturellen Erneuerung der Gesellschaft führen. Der Fall Chomeini ist hier — bei allen Vorbehalten. die man sicherlich anmelden muß — ein treffendes Beispiel“ Ihm sei es gelungen, „aus dem islamischen Glauben heraus ein ganzes Volk zur Erhebung zu bewegen und eine der repressivsten und am besten abgesicherten Tyranneien dieses Jahrhunderts zu Fall zu bringen“
Das diesen Vorstellungen zugrundeliegende Politikverständnis ist integralistisch. insofern es die Politik aus dem Glauben begründen zu können glaubt. Es ist klerikalistisch, insofern es dem Theologen die Kompetenz zuspricht, in jeder politischen Lage beurteilen zu können, ob sie zu Befreiung oder Ausbeutung. zu Gnade oder Sünde, zu Licht oder Finsternis führt Es mißachtet nicht nur die legitime Autonomie der Politik, es geht davon aus. die Politik als Schlüssel zur Errichtung des Heils gebrauchen zu können. Politik gilt als Instrument zur Überwindung von Herrschaft, statt als nie beendbare Bemühung um Gerechtigkeit in der Ausübung unumgänglicher Herrschaft. Durch ihren Impetus, totale Befreiung ins Werk zu setzen, versäumt die Befreiungstheologie nicht nur. Wege zur Beschränkung und Legitimierung der Herrschaft zu suchen, sie induziert vielmehr die Entgrenzung der Herrschaft um ihrer zukünftigen Aufhebung willen. Sie verabschiedet sich von der Politik als der Kunst gerechten Interessenausgleichs und konsensfähiger.freiheitlicher Gestaltung legitimer staatlicher Herrschaft.
Das Postulat der Sachgerechtigkeit politischer Entscheidungen wird auf doppelte Weise zurückgewiesen. Zum einen durch die Mißachtung der Autonomie der Politik, die ja eine Mißachtung der der Politik eigenen Normen und Ziele impliziert, zum anderen durch die Rezeption des Marxismus. Wenn die Politik zum Instrument des Heils wird, wird sie zur Bekenntnisfrage. Das aber bedeutet, daß jeder politisch Handelnde, im besonderen der Christ, sich nur noch für oder gegen die Befreiung, für oder gegen die Gnade entscheiden kann. Die um Sachgerechtigkeit bemühte, zwischen verschiedenen Vor-und Nachteilen abwägende Suche nach dem geringeren Übel, die, wie eingangs erwähnt, oft die einzige Möglichkeit ist. das allgemeine Wohl zu fördern, wird verworfen. Die Kritik am „Reformismus“ findet sich in allen Positionen der Befreiungstheologie. Reformen würde nur das bestehende System verewigen, die Privilegien der herrschenden Klassen unangetastet lassen und die Mobilisierung der unterdrückten Klassen verhindern Zu ihnen könnte man durch historische Umstände, d. h. durch Machtkonstellationen, die die totale Befreiung noch nicht zulassen, zwar gezwungen sein, aber, so Leonardo Boff. „dies sind dann eben nur taktische Schritte und keine strategischen Ziele“ -Die politischen Konzepte der „Entwicklung“.der „Reformen“ und der „Integration“ — von den Bischöfen Lateinamerikas in Puebla zur Lösung der sozialen Probleme Lateinamerikas empfohlen — stoßen als befreiungsfeindlich immer wieder auf Ablehnung Auch die Tradition der katholischen Soziallehre, die dem Christen immer wieder das Postulat der Sachgerechtigkeit, des Abwägens zwischen verschiedenen Gütern und der Suche nach dem geringeren Übel in Erinnerung ruft, wird kritisiert. Die Sozialenzykliken seien zwar Denkmäler ethischen Einfühlungsvermögens, blieben aber beträchtlich hinter dem marxistischen Beitrag zum Befreiungskampf des Proletariats zurück
Die Rezeption des Marxismus, eine der zentralen Ursachen der Kontroversen um die Befreiungstheologie. auf die hier nur am Rande eingegangen werden kann, verstärkt noch die Mißachtung des Postulates der Sachgerechtigkeit. Wer der Faszinationskraft des Marxismus erlegen ist. beansprucht ja. auch wenn er im Marxismus eine atheistische Philosophie und ein sozialwissenschaftliches Analyseinstrumentarium unterscheidet und glaubt, letzteres ohne erstere übernehmen zu können, nicht nur den Gang der Geschichte, sondern auch die Ursachen gesellschaftlicher und politischer Probleme immer schon zu kennen. Empirische Analysen mit offenem Ausgang, komplexe Problemanalysen mit differenzierten Antworten sind nicht gefragt. So suggerieren auch die Vertreter der Befreiungstheologie, die Ursachen der gesellschaftlichen und politischen Probleme Lateinamerikas, über deren Schwere und Lösungsbedürftigkeit es keinen Dissens mit der katholischen Soziallehre gibt, immer schon zu kennen. Die erste Ursache der Probleme Lateinamerikas sei „die wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Abhängigkeit der einen Gruppe von Völkern von den anderen“ Die Probleme haben „ihre Wurzeln in den Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft“ Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene gilt das kapitalistische Wirtschaftssystem als die Ursache der Unterentwicklung und der Unterdrückung. Deshalb könne die Befreiung nur durch eine Revolution des ökonomischen und sozialen Systems, eine „Aneignung nicht nur von Produktionsmitteln. sondern auch der politischen Führung“ durch die Unterdrückten erfolgen Die große Bedeutung, die der Marxismus dem Klassenkampf beimißt, wird von der Befreiungstheologie übernommen. Der Klassenkampf gilt als Verpflichtung des Christen, ja als Konsequenz des Liebesgebotes. Der Christ habe gar keine andere Wahl, als sich an diesem Kampf zu beteiligen. Er sei ein Produkt des Systems. „Neutralität in diesem Punkt ist schlicht unmöglich.“
Vielfältige Kritik an dieser Rezeption der marxistischen Klassenkampfkonzeption hat Gutierrez in den vergangenen Jahren veranlaßt, seine Äußerungen zur Unausweichlichkeit und zur Unerbittlichkeit des Klassenkampfes etwas abzuschwächen. Er betrachte den Klassenkampf nicht als Gesetz der Geschichte, sondern als soziale Tatsache, der aber das christliche Liebesgebot immer übergeordnet werden müsse Das Problem der ebenso verführerischen wie schlichten Diagnose liegt auf der Hand. Wenn die Strukturen die Ursache aller Übel sind, müssen sie geändert werden. Die Theologie der Befreiung suggeriert, daß eine Revolution der gesellschaftlichen Strukturen hinreichend sei. um die erstrebte Befreiung zu realisieren. Der Strukturreformen immer mit Bewußtseinsreformen verbindende Ansatz der katholischen Soziallehre wird von Gutierrez ausdrücklich verworfen. Die Theologie der Befreiung bewahre „die Christen vor dem Trugschluß, sich für persönliche — von konkreten Bedingungselementen jedoch losgelöste — Veränderungen einsetzen zu müssen, die angeblich jeder gesellschaftlichen Änderung notwendigerweise vor-ausgehen müßten. Wer sich im Namen eines vagen Humanismus und eines saft-und kraftlosen Spiritualismus für eine solche Verhaltensweise einsetzen zu müssen meint, wird am Ende Komplize derer, die die dringend notwendigen Veränderungen endlos auf die lange Bank schieben. Diese behaupten nämlich, man müsse gleichzeitig auf die Menschen und auf die Strukturen einwirken, weil sie sich wechselseitig bedingten.“
Dieser Ansatz, von Libertatis Conscientia als „Ausdruck einer materialistischen Anthropologie“ verworfen verführt die Befreiungstheologie schließlich dazu, nicht nur die reiche westliche Tradition politischer Philosophie, sondern auch die sozialwissenschaftliche Gegenwart Lateinamerikas zu ignorieren. Was seit Platon und Aristoteles über Politik gedacht, seit Rousseau und den Federalist Papers an demokratischen Verfassungen entworfen und erprobt und seit Adam Smith an ökonomischen Theorien entwickelt wurde, bleibt für sie ohne Relevanz. Was die Sozialwissenschaften in Lateinamerika. die in der Zeit der Militärdiktaturen in den sechziger und siebziger Jahren gewiß einen schweren Stand hatten, sich inzwischen aber in einigen Zentren wie Rio de Janeiro, Säo Paulo und Lima intensiv entwickelt haben, forschen und diskutieren. darüber geben die Publikationen der Befreiungstheologie keine Auskunft. Trotz ihres Postulates einer politischen Hermeneutik scheint die Theologie der Befreiung mit ihnen keinen Dialog zu führen.
Dem Postulat eines legitimen Pluralismus politischerOptionen ist mit dem bisher Gesagten bereits der Boden entzogen. Die Mißachtung der Autonomie der Politik, ihre Indienstnahme für die Errichtung des Gottesreiches, der die Rolle des Welten-richters usurpierende politische Integralismus und schließlich die Anlehnung an den Marxismus, jedes einzelne dieser Merkmale reicht bereits aus. um den legitimen Pluralismus in der Politik zu verhindern.
Es bleibt abschließend die Frage nach der sittlichen Relevanz der Politik. Auf den ersten Blick scheint kein Zweifel möglich, daß der Politik in der Befreiungstheologie eine sittliche Relevanz zukommt, hat sie doch mit der Freiheit und dem Wohl des Menschen zu tun. Doch der erste Blick trügt. Die Politik ist in dieser Perspektive nicht das an gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen gebundene, von der Vernunft, von Sachkunde, vom Willen zum Gemeinwohl geleitete Handeln des Menschen zur Begrenzung notwendiger Herrschaft. ist nicht abwägende Gestaltung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. Sie ist Verheißung totaler Emanzipation. Sie erliegt wie der Glaube der Versuchung der Utopie. Ihr Ort ist nicht die Ethik, sondern die Metaphysik Die Befreiungstheologie folgt damit mehr den Spuren eines politischen Messianismus, der gerade in La-teinamerika Tradition hat, als denen der katholischen Soziallehre. Sie versteht sich als „ein Moment in diesem umfassenden Prozeß der historischen Antizipation des Reiches . . . Eine Theologie, die nicht zu dieser gewaltigen, ja messianischen Aufgabe beiträgt, wird nur schwerlich dem Vorwurf der Entfremdung, wenn nicht des Zynismus entgehen können.“ Sie versteht sich als Fortsetzung jener Emanzipationsprozesse, die mit Galileo Galilei beginnen und über Rousseau. Hegel, Marx, Nietzsche und Siegmund Freud bis zu Herbert Marcuse reichen Diese Ahnengalerie macht einmal mehr deutlich, daß die Befreiungstheologie jene politische Ethik, die zur Bewältigung der sozialen und politischen Probleme Lateinamerikas, zur Stabilisierung der schwachen Demokratien und zur Förderung der Partizipationsfähigkeit und -bereitschaft der Bürger so notwendig ist, eher verhindert, als fördert. Die Dominanz der Utopie verschlingt die Vernunft und macht den Glauben gegenstandslos Sie trübt auch den Blick für die politische, die soziale und die kulturelle Wirklichkeit. So wenn Leonardo Boff nach seiner Reise in die Sowjetunion im Sommer 1987 erklärt: „Wir sahen eine höchst saubere, gesunde Gesellschaft. In keinem Augenblick fühlte man sich verfolgt oder überwacht . . . Die Kirchen sind geöffnet und voll . . . In keinem Augenblick spürten wir Einschränkungen der öffentlichen Meinung“
Dieser Dominanz der Utopie ist mit Mario Vargas Llosa entgegenzuhalten, daß Utopien in der Politik eine Gefahr für die Menschheit sind, zu Gewalt. Blutvergießen und Katastrophen führen und daß „die Demokratie ... die Negation der Utopie (ist)“ Ihr ist mit Paul VI. entgegenzuhalten, daß „die Berufung auf irgendein Traumbild der Gesellschaft oft nur eine bequeme Ausrede für diejenigen (ist), die sich den ernsthaft drängenden Aufgaben zu entziehen wünschen, um sich in eine erdichtete unwirkliche Welt zu flüchten“ Die neue Verhältnisbestimmung von Glaube und Politik führt eher zu neuen Diktaturen als zur Ausweitung von Freiheit und Gerechtigkeit in den Staaten Lateinamerikas. Die Befreiungstheologie macht die Christen sensibler für die politischen Probleme Lateinamerikas. sie macht sie mit ihrem politischen Messianismus aber gleichzeitig unfähig zur Politik. Sie wird in sozialethischer Perspektive zum Opium, das nicht Befreiung, sondern neue Knechtschaft zur Folge hat. Dies scheint ihre Tragik zu sein. Dies trennt sie von der katholischen Soziallehre.
In einer jüngeren, schon mehrfach zitierten Publikation der Gebrüder Boff. in der auch der Verschmelzung von Glaube und Politik das Wort geredet wird, sind allerdings auch erstmals bemerkenswert selbstkritische Feststellungen zu finden. Die Theologie der Befreiung müsse verschiedenen Versuchungen Widerstand leisten, so u. a.den Versuchungen des „Überhandnehmens des politischen Aspekts der Probleme um Unterdrückung und Befreiung zum Nachteil anderer Dimensionen“, der „Unterordnung des Diskurses über den Glauben unter den Diskurs über die Gesellschaft in einer schlecht durchdachten oder zu sehr vom Klassenkonflikt geprägten Verknüpfung“, der „Überbetonung der sozio-ökonomischen Gestalt des Armen“ und der „Nachlässigkeit in der Vertiefung des Dialogs . . . mit der Glaubens-und Soziallehre des päpstlichen und örtlichen Lehramtes“ Diese Feststellungen lassen hoffen, daß die Kontroversen zwischen der katholischen Soziallehre und den verschiedenen Positionen eines Tages vielleicht doch zu einem Dialog führen und zur Einheit der Kirche sowie zur Entwicklung und Stabilisierung freiheitlicher. rechtsstaatlicher und demokratischer Ordnungen in den Staaten Lateinamerikas beitragen.