I. Gewalt und Gewaltmonopol in der Demokratie
Das Spektrum menschlicher Aggressionshandlungen ist breit Nicht daß es Gewalt gibt, kann uns als Thema beschäftigen. Sie ist leider nicht aus der Welt zu schaffen. Die Frage ist. wie man die Gewalt als gesellschaftlich unerwünschte Interaktivität von Menschen vermeidet, bändigt, zivilisiert, eingrenzt, domestiziert. Wie können sich Menschen vor wechselseitiger Anwendung physischer Gewalt schützen?
Die Verhaltensforschung lehrt, daß es biologische wie kulturelle Muster der Aggressionskontrolle gibt. Nicht nur bei den Tieren, auch und gerade bei Menschen stellen Ritualisierungen eine wichtige Aggressionskontrolle dar. Es gibt angeborene wie kulturelle Verhaltensweisen, etwa schlichtende und vermittelnde Interaktionsmuster, die die Aggression unter Kontrolle halten können. Bindungsrituale (bis hin zu geselligen Zusammenkünften) können als Gewaltkontrolle wirken, wie auch Institutionen der Bändigung bzw.der Bindung von Gewalt dienen. Was die politische Gewalt angeht, so brauchen wir nicht lange zu suchen, um jenes Kontrollsystem beim Namen zu nennen, das als zivilisatorische und politisch-kulturelle Leistung ersten Ranges den inneren Frieden in einer Gesellschaft sichert. Es ist die für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindliche Rechtsordnung, deren faktische Geltung durch die Staatsmacht garantiert wird.
Dieses System — die Grundlage der politischen Kultur bürgerlicher Freiheit — beruht auf zwei Bedingungen: Einmal darauf, daß ausschließlich dem Staat — der „allgemeinen Macht“ im Sinne von Thomas Hobbes — die Befugnis zur . Ausübung physischer Gewaltsamkeit auf seinem Territorium zugesprochen wird, zum anderen darauf, daß die Ausübung dieses Gewaltmonopols nur zulässig ist, wenn und soweit es die an den Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten orientierte Rechtsordnung erlaubt. Voraussetzung für das Funktionieren dieser Gewaltkontrolle ist natürlich, daß das System mit seinen beiden Säulen von den Bürgern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Gefahren für unsere politische Kultur, die uns von Jahr zu Jahr mehr bedrücken, beruhen darauf, daß das Verständnis dafür, wie stark die Kultur der Freiheit von diesen beiden Bedingungen abhängt, weitgehend verloren gegangen ist und Gewalt als soziokulturelles Phänomen auch in unmaskierter Gestalt — also als physische Gewaltsamkeit — mehr und mehr akzeptiert wird.
Beobachtungen, die augenfällig sind, mögen verdeutlichen. wie weit diese Entwicklung im gesellschaftlichen Bewußtsein fortgeschritten ist. Die erste betrifft die Entgrenzung des Gewaltbegriffs. Paradoxerweise geschieht diese im Namen von Demokratie und Selbstbestimmung Die höhere Legitimierung. die die Gewalt durch Zauberformeln erfährt. wird deutlich, wenn man — mit Sartre oder mit Galtung, also mit der Theorie von der strukturellen Gewalt — unter Gewalt all das versteht, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert Indem man in dieser Weise den Gewaltbegriff ausdehnt, verliert dieser nicht nur seine Konturen; es wird die zivilisatorische Leistung der Domestizierung der Gewalt zugunsten des Kampfes für eine bessere Zukunft aufgegeben, der Gewalttätigkeiten, ja Attentate auf Exponenten politischer und sozialer Ordnungen als Gegen-gewalt rechtfertigen soll.
Womöglich noch schwerer wiegt das zweite Faktum. auf das aufmerksam gemacht werden muß.der Umstand nämlich, daß das Bewußtsein für den Sinn und die Notwendigkeit des staatlichen Gewaltmonopols im Schwinden begriffen ist. So antworteten bei der jüngsten. 1986 veröffentlichten Allensbacher Umfrage auf die Frage, ob sie grundsätzlich für oder gegen das Gewaltmonopol des Staates seien. 45 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahre „dafür“. 44 „dagegen“. Die jungen Leute unter dreißig waren sogar zu 48 Prozent dagegen, zu 38 Prozent dafür. Rund die Hälfte der Bevölkerung hat also kein Verständnis mehr für die Funktion des Gewaltmonopols. Im Klartext heißt das, daß diesem Teil der Bevölkerung nicht klar ist. was der Sinn des staatlichen Gewaltmonopols ist, nämlich den Bürgern der Republik zu garantieren, daß auf ihrem Territorium das Recht und nicht die Gewalt herrscht; ja mehr noch: Sie sind — wenigstens nach ihren Antworten bei der Umfrage — nicht bereit, den fundamentalen Unterschied zwischen legaler und illegaler Gewalt zu akzeptieren.
Es fällt nicht schwer, die Gründe für diese Einstellung auszumachen. Ohne Frage steht die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols durch nahezu die Hälfte der Bevölkerung im Zusammenhang mit der ausgeprägten Distanz zur institutionalisierten Staatlichkeit, die für die Gegenwart charakteristisch ist. Man wird diesen Befund aber auch mit dem Wertewandlungsschub in Verbindung zu bringen haben, der der Selbstentfaltung des einzelnen hohen Rang beimißt Offenbar — man zögert es auszusprechen — wird auch die Chance. Gewalt ausüben zu können, zum bürgerlichen Freiheitsanspruch gerechnet, ganz so wie es jene Bürgerin tat. die im Südwestfunk zur Frage der Sitz-blockaden allen Ernstes bemerkte, zur freiheitlichen Demokratie müsse es gehören, daß sich jeder dort hinsetzen dürfe, wo er wolle. Erinnert man sich, wie stark noch in den siebziger Jahren — also zur Zeit der Aktionen der RAF — die Ablehnung war. die der Gewalt entgegengebracht wurde, so dürfte auch derjenige, der demoskopische Umfragen nicht überbewertet, allen Anlaß haben, sich die Frage zu stellen, wie es zu diesem Einstellungswandel kommen konnte. Offensichtlich ist nicht nur der damals befürchtete Prozeß der Gewöhnung an Gewalt inzwischen eingetreten. Die Hemmschwelle gegenüber der Ausübung von Gewalt ist niedriger geworden, und in einem Klima übersteigerter Ängste erscheint dann die Gewalttätigkeit als vergleichsweise harmlos gegenüber der vorgestellten Katastrophe, wenn nicht sogar als — vermeintlich — letzter Ausweg.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Umfunktionierung des Widerstandsbegriffes Ursprünglich war die Rechtfertigung von Gewalt als Recht zum Widerstand auf die Unrechtsherrschaft von Tyrannen bezogen. Inzwischen wird sie aus diesem Kontext herausgelöst und auf alle politischen Ordnungen, auch auf liberal-rechtsstaatliche Demokratien ausgedehnt mit der Folge, daß mit dem Motto „Wo Recht Unrecht ist. wird Widerstand zur Pflicht“ zum Boykott sogar gegen einwandfrei verfassungsmäßig zustande gekommene und auch inhaltlich wiederholt auf ihre Verfassungsmäßigkeit abgeklopfte Gesetze aufgerufen wird. Demonstrative Rechtsverletzungen — das kommt hinzu — werden in Gestalt des sogenannten zivilen Ungehorsams als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung propagiert, obwohl Recht und Verfassung den politischen Konflikt als Meinungskampf definieren, der in dem von Verfassung und Recht vorgegebenen Rahmen mit Argumenten und Stimmzetteln ausgetragen werden soll.
Nicht nur das Tolerieren oder Hinnehmen von Gewalttätigkeit. auch die Duldung vorsätzlicher Rechtsverletzungen schwächt die faktische Geltung des Rechts — mit allen Konsequenzen, die sich aus der partiellen Aufhebung seines Verbindlichkeitsanspruchs ergeben. Sowohl der Respekt vor der Verfassung und dem Recht als auch die politische Vernunft schließen aus. im zivilen Ungehorsam gleichsam ein Ventil zu sehen, das man öffnen muß. um Gewaltsamkeit vorzubeugen. Zudem unterliegen diese Öffnungen der Tendenz — und dafür gibt es empirische Belege gerade auch aus der Geschichte des zivilen Ungehorsams —. die Grenzen zu verlassen, in denen man sie kanalisieren will. Man braucht dabei nicht einmal auf die Erkenntnisse der Kollektivpsychologie zurückzugreifen. Da demonstrative Aktionen bei häufigem Auftreten ihren Aufmerksamkeitswert verlieren, zwingen schon die Aufmerksamkeitsregeln, denen die Medien gehorchen, die Akteure zur Eskalation. Letztlich ist in der reizüberfluteten Mediengesellschaft nur Gewalt stets „fit to print“. Nehmen wir die eigentümliche Faszination hinzu, die Gewalt auf Intellektuelle auszuüben pflegt, so ist vorauszusehen. daß der weiteren Boulevardisierungder Politik auch deren weitere Brutalisierung nahezu zwangsläufig folgen wird, so ehrenwert auch Person und Motive der Befürworter des zivilen Ungehorsams sein mögen, wenn sie auf den Symbolcharakter der Rechtsverletzung, die Kommunikationsschwächen des Protests und die partizipatorischen Defizite des Parteienstaates hinweisen.
Freilich ist die Verantwortung für diese Entwicklung nicht nur denen anzulasten, die sie gewollt haben. Gefördert wurde sie auch ungewollt, vielleicht sogar unbewußt von den Funktionseliten in Politik. Verwaltung und Justiz. Aggressives Verhalten folgt der altbekannten Regel, daß am Erfolg gelernt wird. Erfahren aggressive Verhaltensweisen keine negative Reaktion, sondern positive Verstärkungen. wozu auch das Ausbleiben von erwarteten unangenehmen Sanktionen gehört, so nehmen aggressive Verhaltensweisen zu. und zwar an Häufigkeit wie an Intensität. Daß oftmals zwischen Ge-waltfreien und Gewalttätern kein deutlicher Trennungsstrich gezogen wird, fördert Solidarisierungen. Die Besetzung von Gebäuden ist. so wenig sie geduldet werden kann, nicht dasselbe wie Brandstiftung und Mordanschlag. Noch bedenklicher ist die Unfähigkeit. Gewalttäter dingfest zu machen und zu verurteilen. Dieser Sachverhalt erlaubt es mobilen „Chaoten“, die Tatorte der Zerstörung zu wechseln und ihre Aktionen sogar vorher anzukündigen. Die Beschönigungen, mit denen nach den Ausschreitungen aufgewartet wird, zeigen, wie sehr man sich auch in den Spitzen des Staates mit den Ausschreitungen abfindet und den damit verbundenen Vertrauensverlust in Kauf nimmt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist kein Tätigkeitsverbot für die Polizei, scheint aber oft so verstanden zu werden. Indem die Staatsgewalt vor Gewalttätigkeiten zurückweicht, erhöht sie die Macht der Gewalttätigen und frustriert diejenigen, die das staatliche Gewaltmonopol bejahen.
Hier werden auch Erfahrungen der Geschichte in den Wind geschlagen, die besagen, daß „jeder Machtverlust der Gewalt Tür und Tor öffnet“ Aus den Erfahrungen der Weimarer Demokratie wissen wir. wie verhängnisvoll ein politisches Vakuum sich auswirken kann. Ein rechtliches Macht-vakuum wirkt sich kaum weniger zerstörerisch aus. Eine Rechtsordnung, die nicht befolgt wird, befindet sich im Stadium des Verfalls, auch wenn sie auf dem Papier noch fortbesteht.
Nicht überflüssig ist allerdings die Feststellung, daß auch der Staatsapparat zur Eskalation der Gewalt beitragen kann. Insbesondere Autoritätsstrapazierungen und exzessives Eingreifen der Polizei, wie es immer wieder zu beobachten ist, führen leicht zu einer Spirale der Gewaltsamkeit, der dann kaum noch zu entrinnen ist. Wenn sich auf der einen Seite Demonstranten mit Wurfgeschossen und auf der anderen Seite Polizeibeamte mit Schlagstöcken und Wasserwerfern Auge in Auge gegenüberstehen, genügt oft ein Funke, um das Pulverfaß zu entzünden, was zur Explosion führt. Ist aber erst einmaljemand verletzt, dann lehrt schon die Kollektivpsychologie, wie schnell sich daraus in Verbindung mit den aufgestauten Aggressionen gewaltsame Auseinandersetzungen entwickeln. Namen wie Brokdorf, Startbahn West, Wackersdorf haben auch unter diesem Aspekt exemplarischen Rang.
In seiner Nüchternheit gibt dieser Befund weder Anlaß zur Hysterie noch zur Verharmlosung oder Verdrängung. Als 1974 Kammergerichtspräsident von Drenkmann von Terroristen ermordet, 1975 der Berliner Abgeordnete Lorenz entführt, 1976 die Deutsche Botschaft in Stockholm überfallen. 1977 Generalbundesanwalt Buback und der Bankier Ponto umgebracht wurden, glaubten die sozial-liberale Koalition und die damalige Opposition gleichermaßen.der terroristischen Aktivität durch die Verschärfung und Erweiterung der Strafgesetze ein Ende machen zu können. Da die Angst, die Terror erzeugt, die Bereitschaft erhöht. Freiheitsrechte gegen vermeintliche Sicherheit einzutauschen, wetteiferten sie. durch beschwichtigende Gesetzgebung den Anschein zu erwecken, es werde von Staats wegen etwas zur Erhöhung der Sicherheit getan Es bedurfte damals eines enormen publizistisch-politischen Einsatzes, um zu verhindern, daß der Gesetzgeber den Rechtsstaat in einer Weise verteidigte. die die Grundlagen dessen, was geschützt werden sollte, preisgab.
Diese Gefahr ist auch heute akut. Man könnte von der Eigengesetzlichkeit eines sozialpsychologischen Vorgangs sprechen. Werden Anschläge bekannt oder empören Gewalttätigkeiten und Krawalle die Bevölkerung oder die öffentliche Meinung, besteht die gleichsam natürliche Reaktion politischer Instanzen darin, nach neuen Strafgesetzen zu rufen. Für die Regierenden ist die Versuchung, in diesen Chorus einzustimmen, schon deshalb groß, weil sie ihnen das Eingeständnis der Hilflosigkeit erspart und von dem wirklichen Geschehen zugunsten von Auseinandersetzungen mit hypothetischen Argumenten ablenkt. Freilich hat diese Affektgesetzgebung meist nur symbolischen Charakter. Effektives geschieht durch sie nur selten, weil sie nicht die Ursachen der Gewalt, sondern nur deren Symptome in den Blick nimmt. Gleichwohl hat diese Art von Gesetzgebung an Beliebtheit sogar noch gewonnen. Sie erweckt den Anschein von Tätigkeit. ohne Problemen ernsthaft zu Leibe zu gehen. Montesquieu soll gesagt haben: Wenn es nicht notwendig ist. ein Gesetz zu erlassen, ist es nötig, kein Gesetz zu erlassen. Politiker jeder Couleur — mit den jeweiligen Bundesjustizministern an der Spitze — werden bei uns nicht müde, die zunehmende Gesetzesproduktion zu beklagen und in Vorträgen und auf Tagungen vor dem Überhandnehmen der Gesetzesflut zu warnen. In ihrer parlamentarischen Arbeit oder in ihren Ministerien vergessen sie jedoch ihre guten Vorsätze ebenso schnell wie . die Weisheit Montesquieus, so daß es an der Zeit erscheint, die Wissenschaft für das grassierende Phänomen symbolischer Gesetzgebung zu interessieren.
Nicht weniger bedenklich ist andererseits die Tendenz, politisch motivierte Gewalttätigkeiten zu ba-gatellisieren und zur Normalität des politischen Lebens in liberalen Gesellschaften zu rechnen. Wenn sich im Anschluß an Demonstrationen angestaute Emotionen (oder vulgärer Vandalismus) in der Zerstörung von öffentlichen Einrichtungen, im Zerschlagen von Schaufensterscheiben und im Plündern von Geschäften entladen, regt das kaum noch jemanden auf. Gleichgültigkeit herrscht auch gegenüber den Anschlägen auf militärische Einrichtungen. insbesondere, wenn sie den amerikanischen Streitkräften gelten. Selbst über Attentate gegen Personen wird zunehmend mit Achselzucken hinweggegangen. Ich erinnere nur an die Attentate auf Manager der Wirtschaft, aber auch an den kürzlichen Anschlag gegen einen Richter des Bundesverwaltungsgerichts.dessen Behandlung in manchen Organen der öffentlichen Meinung den Eindruck erwecken konnte, als sei dies das normale Berufsrisiko eines Richters, -der mit Asylverfahren befaßt ist. Echte Betroffenheit und übergreifende Anteilnahme regten sich im Medienzentrum Bonn in letzter Zeit lediglich anläßlich eines Mordes in Bonn.dem ein Ministerialbeamter aus der nächsten Umgebung des Bundesaußenministers zum Opfer fiel. Jene oben skizzierte, in Umfragen ermittelte Einstellung, die dem Staat das Gewaltmonopol bestreitet und die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zunehmend toleriert, zeigt sich hier in ihrer faktischen Konsequenz.
Verglichen mit dem Libanon und anderen Ländern des Nahen Ostens ist die Bundesrepublik ohne Frage eine Oase des Friedens. Da Emotionen schlechte Ratgeber sind, ist es auch zu begrüßen, wenn auf die Statistik hingewiesen wird und Vergleiche mit den Ländern Westeuropas gezogen werden. bei denen die Bundesrepublik Deutschland gut abschneidet. Wer könnte auch bestreiten, daß der Straßenverkehr Jahr um Jahr weit mehr Opfer fordert als die politische Gewalttätigkeit. Jeder aus politischen Motiven Ermordete oder Verletzte ist jedoch ein Ermordeter und ein Verletzter zuviel.
Zudem steht unsere politische Kultur auf dem Spiel. Deren notwendige Grundlagen sind die bürgerlichen Freiheiten. Wir müssen diese sowohl gegen Übergriffe des Staates als auch gegen die Macht gesellschaftlicher Gruppen und ebenso gegen die Aggression von Überzeugungstätern verteidigen.
Eine rechtsstaatlich-demokratische Ordnung ist keine konfliktfreie Ordnung.
Während Diktaturen dahin tendieren. Konflikte zu unterdrücken, herrscht in freiheitlichen Ordnungen die Vorstellung, daß Widersprüche und Gegensätze, die mit Gewalt niedergehalten werden, nicht etwa verschwinden, sondern an potentieller Virulenz zunehmen. Konflikte sollen daher nicht. unterdrückt, sondern durch Regeln kanalisiert und in den Dienst einer allmählichen Entwicklung gestellt werden.
Gerade der politische Streit bedarf der Regeln, die das Erlaubte vom Unerlaubten trennen." der Prozeduren und Institutionen, die den Rahmen setzen, in dem sich die politische Auseinandersetzung entfaltet. Regeln und Rahmen sind änderungsfähig. Das Ensemble von Wertorientierungen, das wir politische Kultur nennen, ist nichts ein für allemal Feststehendes. sondern dem Wandel unterworfen. Ändern sich die Anschauungen, so taucht die Frage der Änderung des rechtlichen und institutionellen Gefüges auf. Insofern gehören Reform und Weiterentwicklung zum Lebensgesetz der rechtsstaatlich-liberalen Demokratie. Der Streit, der Wesenselement der Demokratie ist, ist jedoch kein Kampf der Fäuste und der Waffen, sondern die friedliche Konkurrenz der Argumente und Meinungen, der auf der Grundlage der Verfassung und im Rahmen der Rechtsordnung ausgetragen werden muß.
Nach diesen Grundsätzen und keineswegs anders soll der Prozeß der politischen Meinungs-und Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland verlaufen. Rechtsverletzungen und Gewalttätigkeiten, die aus politischer Überzeugung begangen werden. bereichern die politische Kultur der Bundesrepublik nicht, sondern schaden ihr. Es ist mehr als bedauerlich, daß es bisher nicht möglich gewesen ist, zwischen den die Bundesrepublik bejahenden und ihre Ordnung tragenden politischen Kräften und Personen eine Übereinstimmung darüber herbeizuführen, wie eine Strategie der Gewaltverhinderung und der Gewaltverminderung beschaffen sein muß, die sich nicht die Schwächung, sondern die Stärkung und Erneuerung der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland zum Ziele setzt.
II. Maßnahmen gegen die Gewalt
Dieser Beitrag hat nicht die Aufgabe, im einzelnen aufzuzeigen, welche Wege man gehen muß. wenn man den politisch motivierten Gewalttätigkeiten ernsthaft entgegentreten will. Zudem ist die zu entwickelnde Strategie keineswegs einfach, sondern komplex. Einige Fingerzeige können jedoch gege-ben werden, aus denen sich erkennen läßt, von welchen Grundlinien die Strategie ausgehen müßte.
Friedrich Hacker hat in seinem Buch über „Aggression“. das seit 1985 in neuer Fassung vorliegt, bemerkenswerte Feststellungen zum „Credo der GeB walt“ getroffen, die es wert sind, in die Erinnerung zurückgerufen zu werden. „Gewalt", so schreibt er „ist verwerfenswert aus moralischen Gründen. Sie bedroht, schädigt und zerstört den Mitmenschen, der grundsätzlich dieselben Merkmale aufweist wie wir selbst und daher prinzipiell dieselben Rechte besitzt. Wir begeben uns des eigenen Anspruchs auf menschliche Solidarität, wenn wir ihn im Mitmenschen verletzten. Gewalt reduziert den Mitmenschen zum Objekt und Mittel, beleidigt und erniedrigt ihn und bewirkt über die verschiedenen Formen der Dehumanisierung schließlich seine irreversible Verdinglichung und Vernichtung. Gewalt macht ihn schließlich zum Ding des Leichnams. Gewaltanwendung ist auf lange Sicht eine elende Strategie, da sie durch ihre Anfangserfolge der aufrüttelnden Aufmerksamkeitserregung und der Schaffung von Öffentlichkeit zur Wiederholung verführt, abstumpft und Gegengewalt. Gewalteskalation sowie allgemeine Brutalisierung hervorruft. Der gelungene erste Akt ist nicht das ganze Stück. Die Behauptung, daß Gewalt die Wunden heile, die sie schlägt, ist blanker Unsinn. Das Gegenteil ist richtig. Gewalt kann nicht im ewigen Wiederholungszwang erfolgreich durch Gewalt bezwungen werden, sondern nur durch Erkenntnis und Kenntnis der gewalthervorbringenden Umstände und Bedingungen — und deren Verhinderung.“ Nimmt man diese Erkenntnisse zum Ausgangspunkt. so dürfte klar sein, daß die Konfliktregelung. die das Recht zur Bindung und Verhinderung von Gewalt vornimmt, gegen Widerstrebende behauptet und durchgesetzt werden muß. allerdings nicht in einer blindwütigen Weise, die das, was geschützt und bewahrt werden soll, eher zerstört als sichert und damit die Bürger dem Rechtsstaat entfremdet. Die bürgerlichen Freiheiten sind die notwendigen Grundlagen unserer politischen Ordnung und daher strikt zu respektieren.
Die Vorverlegung der polizeilichen Sicherheitslinien. wie sie so manchem Sicherheitskonzept zugrunde liegt, ist daher nicht nur unter dem Aspekt des Datenschutzes fragwürdig, sondern prinzipiell.
Polizei wie Justiz legitimieren sich ausschließlich durch das Recht. Nach wie vor muß davor gewarnt werden, die vermeintliche Staatsräson über die allgemeinverbindliche Rechtsordnung zu stellen. Das Vertrauen in die Institutionen hängt von der Glaubwürdigkeit derer ab. die sie repräsentieren und leiten. Der Mißbrauch von Befugnissen (siehe die Affäre in Schleswig-Holstein) führt zu Vertrauens'erlusten für die Institutionen, woraus leicht die Zunahme von Gewaltbereitschaft resultiert.
Ein Vakuum besteht namentlich unter Jugendlichen in bezug auf eine sinnvolle Lebensführung, die an übergreifenden Werten und Zielen orientiert ist. Mit dem Rückgang von Bindungen ist die Dominanz der Selbstentfaltungswerte gekoppelt, die in Frustration mündet, weil die Gesellschaft nur wenigen ein befriedigendes Maß an Selbstverwirklichung zu bieten vermag. Zudem werden Ängste nicht nur artikuliert, sondern laufend geschürt, während nur wenig geschieht, um zu verantwortlichem Handeln zu ermutigen. Die gesellschaftlichen Tendenzen, deren prononcierter Ausdruck das Fernsehen ist. fördern vielmehr passives Verhalten und Zuschauermentalität. Sinn-Vakuum und Langeweile auf der einen. Angst-und Ohnmachtsgefühle auf der anderen Seite bilden aber ein hochexplosives Gemisch, das sich in Aggressivität und Zerstörung entladen kann und entlädt.
Des weiteren ist ein Abbau der übergroßen Ängste erforderlich, die in keinem anderen europäischen Land so exaltiert auftreten wie in der Bundesrepublik Deutschland und die Motivation für Hoffnungslosigkeit. Rechtsbrüche und Terror liefern. Es geht um die Stärkung der Fähigkeit, den technisch-ökologischen Fortschritt in geistig-moralischer Hinsicht zu bewältigen, anstatt irrational-politischen Radikallösungen zu verfallen.
Was soll man von jenen Erziehern und (geheimen) Miterziehern der Nation halten, die nun schon seit Jahrzehnten nicht müde werden, apokalyptische Untergangsvisionen auszumalen und Hoffnungslosigkeit zu predigen, obwohl doch alles darauf ankommt, den Lebens-und Behauptungswillen der Menschen zu stärken, damit sie der schrecklichen Bedrohungen Herr werden? Wie tief die Verzweiflung geht, konnte man Anfang September dieses Jahres auf der Festveranstaltung der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg bemerken, als Ehepaare unumwunden erklärten, sie könnten es angesichts der drohenden Katastrophen nicht verantworten. Kinder in die Welt zu setzen. Und immer wieder wird berichtet, daß Jugendliche sich das Leben nehmen, weil sie der Verzweiflung nicht mehr Herr werden. Wohl jeder kennt aus seinem Bekanntenkreis solche tragischen Fälle. Eine Endzeitstimmung wird verbreitet, die keine Hoffnung läßt. Was wir auf diese Weise den Generationen, die uns folgen, antun, ist nichts anderes als ein Skandal, der um so größer ist, als die Katastrophe mit hohem moralischen Anspruch verkündet wird.
Ein Reservoir von Sympathisanten für politische Protestgewalt bilden jene Jugendlichen, denen man vorgegaukelt hat, höhere Bildung würde ihnen ein höheres Maß an Selbstverwirklichung ermöglichen, die aber nun erfahren müssen, daß die beati possidentes zwar imstande sind, ihr eigenes Einkommen zu erhöhen, aber nicht. Wirksames zur Verminderung der Arbeitslosigkeit zu tun. Diese Jugendlichen sehen einerseits, wie glanzvoll das Showgeschäft der Politik verläuft, andererseits aber auch. daß dessen Akteure nicht die Kraft finden, der Arbeitslosigkeit zu Leibe zu gehen. Die Indolenz, mit der man nun schon seit einem Jahrzehnt zusieht. wie sich bei jungen Menschen Enttäuschung auf Enttäuschung häuft, ist erschreckend.
Dringend notwendig ist ein Abbau des Mißtrauens gegenüber der institutionalisierten Staatlichkeit. Das setzt sowohl die Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit durch die Institutionen und ihre Repräsentanten voraus als auch die Prüfung, ob die bestehenden Institutionen und Verfahren noch imstande sind, den Kommunikations-und Partizipationsbedürfnissen von Menschen Rechnung zu tragen, die seit vier Jahrzehnten zu Mündigkeit und politischer Beteiligung aufgerufen worden sind. In einer Gesellschaft. die durch Pluralität der Werte gekennzeichnet wird, kommt es für die Herstellung von Legitimation wie für das Gelingen von Integration entscheidend auf das Funktionieren der demokratischen Institutionen sowie darauf an. daß sich der Bürger in diesen wiedererkennt Daran aber hapert es.
Ferner ist ein strengeres Rechts-und Verfassungsbewußtsein nötig, das Bewußtsein dafür, welch kostbares Gut ein Rechtsstaat ist.der einerseits nicht vor der Gewalt zurückweicht, sich aber andererseits auch streng an das Recht hält und damit überzeugend demonstriert, daß und wie man der Brutalisierung der Gesellschaft begegnen kann. Die Ausstattung des Vermummungsverbotes mit einer Strafdrohung ist schon deshalb des Nachdenkens wert, weil die Vermummung den gewalttätigen Demonstranten das Gefühl der Unverantwortlichkeit gibt und wir allen Anlaß haben, eine Demonstrationskultur zu schaffen, die dem Sinn des Demonstrationsrechtes gerecht wird, statt diesen zu pervertieren. Unerläßlich ist in diesem Zusammenhang auch eine Neudefinition der Bildungsarbeit, die an der Festigung des Rechtsethos mitarbeiten sollte, statt ein gelassener Beobachter jener vermeintlichen Spirale zu sein, in der sich die legitimierte Staatsgewalt und die illegale Gewalt von Gruppen und Individuen bis zur Eskalation hinauf-winden. Der Zweck heiligt nicht die Mittel; vielmehr können die Mittel den Zweck entheiligen
Nicht zu vergessen ist eine Aufgabe, auf die Sozial-psychologen zu Recht die Aufmerksamkeit lenken: der Abbau innerstaatlicher Feindbilder. Manche Feindbilder — etwa das des Antikommunismus — haben in den letzten Jahren ihre Bedeutung verloren. Die SPD zum Beispiel hat es — in den Beratungen ihrer Grundsatzkommission mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaft beim ZK der SED — sogar fertiggebracht, den Kommunisten zu verzeihen, was diese ihr in der Weimarer Republik und nach 1945 in der heutigen DDR angetan haben. Immer noch sieht sich jedoch derjenige enttäuscht, der hoffte, die Akteure des parteipolitischen Machtkampfes in der Bundesrepublik würden auch die Feindbilder begraben, mit denen sie untereinander ihre Auseinandersetzungen führen. Nicht nur in den Schlammschlachten, in die unsere Wahlkämpfe regelmäßig münden, stehen Feindbilder zu erschreckender Größe auf. Auch das politische Alltagsleben kommt noch immer nicht ohne ihre Beschwörung aus. Ein Unterschied zwischen heute und früher besteht allein darin, daß an die Stelle des Antikommunismus der Antiamerikanismus getreten ist. Heute kann zwar der Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende der DDR die Bundesrepublik Deutschland besuchen, ohne Schmähungen. Beschimpfungen oder Bedrohungen durch gewalttätige Demonstranten ausgesetzt zu sein. Dafür wendet sich das Potential ideologisch stimulierter Gewalt nun gegen den amerikanischen Präsidenten Reagan, der selbst in Berlin durch enorme Sicherungsmaßnahmen vor Aggressionen geschützt werden mußte.
Entgegengewirkt werden muß schließlich auch der Neigung politisch agierender Gruppen, ihre eigenen Auffassungen absolut zu setzen und den Auffassungen anderer die Berechtigung abzusprechen. Wer glaubt im Besitz alleinseligmachender Wahrheiten zu sein, verfällt leicht dem missionarischen Drang, andere zu seinen Ansichten bekehren zu müssen, und das notfalls mit Gewalt. Die „Versuchung zum Absoluten“ (Hagen Schulze) fördert mithin Aggressivität, während umgekehrt Toleranz Frieden stiftet. Namentlich pazifistischen Gruppen und Bewegungen steht Intoleranz schlecht zu Gesicht. noch weniger die Militanz, mit der sie glauben. für den Frieden agieren zu müssen.
Toleranz ist kein freundliches Hinnehmen der Meinungen anderer, keine Weichherzigkeit, keine routinemäßige Milde. Richtig verstanden, schließt sie das Bekenntnis nicht aus. wohl aber jene Auffassung, wonach das Wesen des Politischen in der Freund-Feind-Situation besteht. Nichts ist falscher als diese vom pränazistischen Staatsrechtslehrer Carl Schmitt verkündete Lehre, die heute von so vielen Adepten wiederholt und leider auch nachgelebt wird. Das eigentliche Wesen des Politischen ist nicht in der Entgegensetzung von Freund und Feind, in der Machterhaltung oder im Machterwerb um jeden Preis zu sehen, sondern in der Herstellung und Wahrung des Friedens
Kein Geringerer als John Locke wußte das. als er 1685 in seinem berühmten „Brief über die Toleranz“ die Folgerung aus einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg zog. Der Toleranzgedanke diente damals zur Befriedung gewalttätiger konfessioneller Auseinandersetzungen. Heute — in einer offenen Gesellschaft, die durch mannigfache Gegensätze und miteinander konkurrierende Weltanschauungen charakterisiert wird — brauchen wir den Gedanken der Toleranz als politischen Ordnungsfaktor. um Politik zu zähmen und Radikalität und Gewalt zu verhindern, kurz: die politischen Auseinandersetzungen erträglich zu machen. Eine der bedrückendsten Erscheinungen der Gegenwart ist die intolerante Selbstgerechtigkeit, mit der auf der politischen Bühne vom jeweils anderen Toleranz gefordert. aber nicht selbst geübt wird. Der innere Friede erfordert indessen wechselseitige Toleranz, und es gibt zu denken, daß es in den 40 Jahren, in denen in der Bundesrepublik Deutschland zur Demokratie hin hätte erzogen werden können, nicht gelungen ist. dieses Ziel auch nur annäherungsweise zu erreichen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Wir brauchen eine Kultur der politischen Auseinandersetzung. also eine politische „Streitkultur“, deren Grundlage die Toleranz und die Anerkennung der Rechtsordnung sind. Es ist kein „Distanzierungsritual“. wie ein Teil der GRÜNEN meint, sondern die unerläßliche Voraussetzung für den zivilisierten Umgang zwischen Menschen in einer Gesellschaft, wenn man darauf besteht, daß der Rechtsstaat zur Gänze anerkannt wird (und nicht nur insoweit, als er einem Rechte und Ansprüche gibt).
III. Politische Kultur und die Lösung innerstaatlicher Konflikte
Es sind also Versäumnisse festzustellen, die wir uns in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt haben zuschulden kommen lassen und die wir wettmachen müssen, wenn wir diesem mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten wollen. Das jedenfalls steht fest: Durch weiteres Zuwarten, unterbrochen von gelegentlichem Lamento, wird sich das Problem der illegalen Gewaltausübung in unserer Gesellschaft nicht lösen lassen. Warum haben wir bisher so wenig getan, warum zögert man noch immer, sich zu der hier in ihren Grundzügen skizzierten Strategie aufzuraffen?
Hier muß auf die Diskrepanz aufmerksam gemacht werden, die zwischen den Anstrengungen besteht, die zur Erhaltung des Friedens zwischen den Staaten. und denen, die zur Bewahrung des inneren Friedens innerhalb des staatlichen Territoriums unternommen werden. Es wird viel für den Weltfrieden getan, aber zu wenig, um eine Kultur der friedlichen Austragung innerstaatlicher Konflikte zu entwickeln, die Gewalttätigkeit ächtet und das Recht als Alternative zur Gewalt respektiert und durchsetzt.
Diese Diskrepanz hat ihren Grund in der unterschiedlichen Haltung, die mächtige Teile der öffentlichen Meinung zu den beiden Komplexen einnehmen. Der bundesrepublikanische Staat ist in seiner Aktionsfähigkeit davon abhängig, ob er den Rükkenwind der öffentlichen Meinung hinter sich weiß oder nicht. Bloße Zuschauer, die unbewegt oder desinteressiert Ausschreitungen zur Kenntnis nehmen. sind in Wirklichkeit, wenn auch ungewollt, die heimlichen Verbündeten der militanten Gruppen. Erst dann, wenn sich die Öffentlichkeit und Bevölkerung der von der politisch motivierten Gewalttätigkeit ausgehenden Gefahren stärker bewußt werden, als dies heute der Fall ist. wächst der politische Wille. Effektives zur Eindämmung der Gewalt zu tun.
Das Schlüsselproblem, das vor allen anderen zu lösen ist, weil es weitere Schritte in der richtigen Richtung nach sich zieht, besteht somit darin, eine geistige Atmosphäre zu schaffen, die der Ausbreitung von Gewalt abträglich ist. Nicht nur die Stadtguerilla des politischen Terrorismus, die Gewalttätigkeit überhaupt braucht die sie tolerierende oder ihr gar freundlich gesinnte Umgebung wie der Fisch das Wasser. Wo kein Wasser ist, gibt es auch keine Fische. Es muß daher alles getan werden, Öffentlichkeit und Bevölkerung davon zu überzeugen. daß Gewalttätigkeit in einer liberaldemokratischen Ordnung weder zu heroisieren noch ideologisch oder politisch zu rechtfertigen ist. sondern ohne Wenn und Aber geächtet werden muß. Die entscheidende Voraussetzung zur wirksamen Bekämpfung politisch motivierter Gewalttätigkeit wäre dann geschaffen. Freilich sind wir heute davon noch weit entfernt. Wie weit, das haben gerade jetzt die vielerorts wohlwollend aufgenommenen Versuche gezeigt, die Angehörigen der RAF und der anderen Terrororganisationen zehn Jahre nach der Ermordnung von Arbeitgeberpräsident Schleyer und dem Freitod der Terroristen Baader, Raspe und Ensslin zu Idealisten hochzustilisieren, deren unbarmherzige Verfolgung durch einen rachedurstigen Staat (so die Bundestagsabgeordnete Ditfurth) für die Entstehung der zweiten Terroristengeneration ursächlich gewesen sei. Legendenbildungen dieser Art stellen die historische Wahrheit auf den Kopf; sie machen auch deutlich, wie hartnäckig und unverdrossen nach wie vor an der Heroisierung von Attentätern gearbeitet wird, die Tod und Elend über Mitmenschen gebracht haben. Die Mythenbildung ist in vollem Gange. Es ist daher wohl realistisch, sich auf die Fortdauer politischer Gewaltsamkeit einzurichten.
IV. Gesprächsbereitschaft, Toleranz und Versöhnung
Eine andere Frage ist. ob und wie den inhaftierten Terroristen der Rückweg in die Gesellschaft erleichtert werden kann. Diese Frage hat an Aktualität gewonnen, nachdem die Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer, die bereits 1986 mit einer ähnlichen Initiative hervorgetreten war. zusammen mit ihrer Kollegin Christa Nickels im Oktober. 1987 an die Bundesregierung eine Große Anfrage über das Verhalten des Staates gegenüber Terroristen gerichtet hat. Das Stichwort dieser Bestrebungen lautet „Versöhnung“; sie ist mit der Erinnerung an die Ereignisse im Jahre 1977 verbunden, für die von interessierter Seite der Begriff „Deutscher Herbst“ geprägt wird. Gefordert wird eine versöhnliche Einstellung des Staates gegenüber denjenigen, die ihm den Kampf nicht mit freiheitlichen Mitteln, sondern mit Attentaten angesagt und Menschen umgebracht hatten, weil sie glaubten, auf diese Weise ihre politischen Ziele fördern zu können. Konkret geht es darum, ob die rechtskräftig verurteilten Angehörigen terroristischer Vereinigungen vorzeitig die Freiheit wieder erlangen sollen. Die Frage wird betont unter dem Gesichtspunkt christlicher Ethik gestellt, aber gleichzeitig als ein Politikum gewertet, auf das die öffentliche Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Rechtliche Gesichtspunkte spielen in der Erörterung nur eine untergeordnete Rolle. Vielfach zeigt es sich sogar, daß die Diskutanten über das geltende Recht un-oder desinformiert sind. Andere Vorstöße, die auf die „Versöhnung des Staates und der Gesellschaft mit den früheren Terroristen“ zielen, fordern eine Amnestie für alle verurteilten RAF-Mitglieder.
In der Tat ist es die sittliche Pflicht eines jeden Christen und ebenso eines Humanisten, niemanden aufzugeben, auch wenn er noch so schwere Schuld auf sich geladen hat. Der Hinweis auf frühere Amnestien in der Bundesrepublik verfängt jedoch nicht. Abgesehen davon, daß Amnestien in der Bundesrepublik auch bisher nur selten beschlossen wurden (zum Beispiel kam sie bei NS-Tätern von vornherein nicht in Frage, obwohl seinerzeit die Forderung, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, in der Öffentlichkeit breite Resonanz fand, und auch in der Parteispendenaffäre wurde die Amnestierung der Steuersünder aus moralischen und rechtspolitischen Gründen ausdrücklich abgelehnt), kommt eine solche Maßnahme des Gesetzgebers nur in Betracht, wenn ein Tatbestand abgeschlossen ist. Davon kann jedoch in bezug auf terroristische Aktivitäten nicht die Rede sein. Bis zum September 1987 gab es nach Mitteilung des Bundesinnenministeriums vor allem durch die „Roten Zellen“ und die Frauenorganisation „Rote Zora“ 250 Brand-und 40 Sprengstoffanschläge, allein 60 Anschläge gegen Bahnverbindungen und 70 gegen Energieversorgungsanlagen. Die Schüsse. durch die Anfang November 1987 zwei Polizeibeamte an der Frankfurter Startbahn West ermordert wurden, zeigen, wohin die politisch motivierte Gewalttätigkeit führen kann, wenn man sie gewähren läßt. Schon'aus diesem Grunde kann man eine Amnestie für die verurteilten Terroristen nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Nicht verkannt werden sollte jedoch, daß offene Türen einrennt, wer eine Einzelfallprüfung darüber verlangt, ob Terroristen nach der Verbüßung eines Teils ihrer Strafzeit entlassen werden können. Das Strafrecht der Bundesrepublik beruht längst nicht mehr auf dem Gedanken der Vergeltung, sondern auf der mitmenschlichen Solidarität auch mit dem Rechtsbrecher. Es enthält infolgedessen bereits ein wirksames Versöhnungsangebot in Gestalt der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung in Freiheit nach teilweiser Strafverbüßung.
Jeder Straftäter — und damit auch der Terrorist — hat die Chance, nach zwei Dritteln der Strafzeit, unter Umständen sogar nach der Hälfte, entlassen zu werden. Sogar lebenslänglich bedeutet heute nicht mehr lebenslang: Nach 15 Jahren winkt die Entlassung, sofern — wie es im Gesetz heißt — nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet. Voraussetzung für die Strafaussetzung ist in jedem Falle die günstige Prognose, nämlich die Überzeugung des Gerichts, daß der Verurteilte die Probe, keine Straftaten mehr zu begehen, bestehen wird. Diese Regelung ist ein hochmoralischer, humaner Akt der Versöhnung. Der Terrorist hat der Gesellschaft die Solidarität aufgekündigt; diese reicht ihm jedoch die Hand, um ihn in das freie Leben zurückzuführen.
Unrichtig ist es. wenn man mint, andere Staaten gingen milder und humaner mit Terroristen um. Eher ist das Gegenteil der Fall. Um Beispiele zu erwähnen: Italien integriert die Terroristen nicht etwa reibungsloser, sondern hat gerade die Terroristen von der Amnestie zum 40. Jahrestag der Republik ausdrücklich ausgenommen, und Frankreich hat bei Delikten wie Mord oder Geiselnahme mit Folterungen. Flugzeugentführungen mit Todes-folge und Mord an Polizeibeamten die „Sicherheitsperiode“. in der kein Täter freigelassen werden darf, auf 30 Jahre festgesetzt. Das Gerede darüber, wie illiberal die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern sei. sollte endlich aufhören, weil es nicht stimmt. Versöhnungsangebote des Gemeinwesens dürfen allerdings keine Einbahnstraße sein. Der Verurteilte muß auch bereit und imstande sein, die Angebote anzunehmen. Terroristen, die darauf beharren, ihren terroristischen Kampf nach der Entlassung fortzusetzen, können nicht in die Freiheit geB setzt werden. Die „Unbußfertigkeit“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft ist keineswegs das Problem. an dem die Strafaussetzung scheitern könnte. Es gibt keine Gesellschaft, in der Selbstzweifel, Selbstanklage und Selbstverdammung eine solche Rolle spielen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Das wirkliche Problem ist die Unsicherheit darüber, ob die verurteilten Terroristen den Akt der Humanität, der sie in Freiheit setzt, damit beantworten. daß sie das Recht respektieren und nicht etwa untertauchen, um den blutigen Kapiteln der Inhumanität, die sie geschrieben haben, noch weitere hinzuzufügen. Integration erfordert Umkehr. Anders ist diese Problematik nicht zu lösen.
Das sollten alle bedenken, die auf der Straße, auf Veranstaltungen und in den Medien so vehement dem Staat Vorwürfe machen, weil er die inhaftierten Terroristen nicht in Freiheit gesetzt hat. Die Rückkehr in die Gesellschaft setzt glaubhafte Abkehr von jener menschenverachtenden Einstellung voraus, die meint. Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung gebrauchen zu dürfen. Mit denunziatorischer Lebensbeichte, wie gern behauptet wird, hat das nichts zu tun. Würde die Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht auf dieser Voraussetzung bestehen, so wäre sie kein Rechtsstaat, sondern ein „Selbstmörderpakt“. Denn es wäre in der Tat selbstmörderisch, wenn der Staat, der seinen Bürgern Schutz schuldet, inhaftierte Terroristen vor der Verbüßung ihrer Strafe freiließe, obwohl diese nichts anderes vorhaben, als erneut Terror zu verbreiten und ihren gewalttätigen Kampf gegen eben diesen Staat fortzusetzen.
Etwas anderes ist die Bereitschaft zum Gespräch mit den Terroristen, die mit ihrer Vergangenheit brechen wollen, aber nicht wissen, wie sie den Weg in die Gesellschaft zurückfinden können. Hier sollte ganz außer Frage stehen, daß dort, wo sich Menschen aus Verstrickung und Schuld lösen wollen, Gesprächsbereitschaft bestehen muß. Äußerungen wie die der Bundestagsabgeordneten Jutta Ditfurth. wonach der Staat nichts so sehnsüchtig brauche, wie den Terror, um seine Gewalt zu rechtfertigen, sind allerdings dazu angetan, die vorhandene Gesprächsbereitschaft wieder in Frage zu stellen.