Ein „Meilenstein auf dem Wege zu einer Parlamentsreform“: Mit diesen Worten feierte die Sprecherin der überfraktionellen „Initiative Parlamentsreform“, Frau Hildegard Hamm-Brücher, die Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages im Dezember 1986 Was war geschehen?
In der letzten Sitzungswoche des 10. Bundestages haben die Abgeordneten den § 13 ihrer Geschäftsordnung um einen Satz ergänzt. Er lautet: „Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden. Handlungen. Abstimmungen und Wahlen seiner Über-zeugung und seinem Gewissen.“ Alle Beteiligten sind sich einig, daß damit die Rechtslage nicht geändert wird. Denn bei dem zitierten Satz handelt es sich um nichts anderes als die sogenannte Langfassung des Artikel 38 I 2 GG. Der Parlamentarische Rat hatte sie zunächst beschlossen, bevor dann, im Zuge der redaktionellen Überarbeitung, die endgültige Formulierung von 1949 entstand, nach der die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind.
Wieso kann eine Ergänzung der Geschäftsordnung, die rechtlich keine Änderung bedeutet, dennoch ein „Meilenstein auf dem Wege zu einer Parlamentsreform“ sein? Für Frau Hamm-Brücher und ihre Mitstreiter ist die Langfassung des Artikel 38 I 2 identisch mit einem bestimmten Programm: der Rückkehr zur klassisch-altliberalen Intention von 1948/49. gegen die in der Praxis ständig verstoßen wird.
Frau Hamm-Brücher hat den Bundestag aufgefordert. „bis zum Jahre 1989 [. . . ] eine Parlaments-ordnung zu schaffen, die aus dem Geist des Art. 38 Abs. 1 lebt, eine Ordnung, mit der wir dem an uns gerichteten Verfassungsauftrag besser als bisher gerecht werden können.“ Worum handelt es sich bei diesem Verfassungsauftrag konkret? Was ist mit dem „Geist“ des Artikel 38 I gemeint? Ist die Rückkehr zur Intention von 1948/49 sinnvoll?
I. Überblick über die Hamm-Brücher-Initiative: Mehr Freiheit für den einzelnen Abgeordneten!
Die Vorgeschichte der Initiative Parlamentsreform reicht zurück bis zur Bonner „Wende“ von 1982. Der Koalitionswechsel der FDP war fraktionsintern sehr umstritten. Frau Hamm-Brücher, die bis zum Ende der sozialliberalen Koalition Staatsministerin im Auswärtigen Amt gewesen, von der christliberalen Koalition jedoch nicht wieder für ein Regierungsamt vorgesehen war. bestand darauf, die Minderheitsmeinung ihrer Fraktion am Tage der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum - dem 1. Oktober 1982 - im Plenum zu begründen. Ihre Rede gegen den Koalitionswechsel der FDP musste zwangsläufig die Glaubwürdigkeit der Argumentation der Fraktionsmehrheit für den Koalitionswechsel schwächen. Für die SPD bedeutetet die öffentliche Kritik einer prominenten FDP-Politikerin am eigenen LAger eine willkommeneneUnterstützung ihrer Verratskampagne gegen die Liberalen. Damals war zweifelhaft, ob die FDP bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt wieder die Fünfprozentgrenze überspringen würde So kann es nicht überraschen, daß Frau Hamm-Brücher intern scharfer Kritik über ihren öffentlichen Alleingang gegen die eigenen Fraktion und Partei ausgesetzt war.
Im folgendne JAhr - die FDP hatte im März 1983 doch wieder den Einzug in den Bundestag geschafft - veröffentlichte Frau Hamm-Brücher ein Buch mit dem programmatischen Titel "Der Politi-ker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit“. Damit lieferte sie eine ausführliche Rechtfertigung der öffentlichen Kritik an der eigenen Fraktion. Nachdrücklich wies sie auf die Entstehungsgeschichte des Artikel 38 I hin. Entscheidend war es dem Parlamentarischen Rat darauf angekommen, nach den Erfahrungen mit der Hitler-Diktatur jeglicher Art von „Fraktionszwang“ vorzubeugen und die Abstimmungs-und Gewissensfreiheit des einzelnen Abgeordneten zu gewährleisten. In der ursprünglichen Langfassung des Artikel 38 I 2 kommt das deutlicher zum Ausdruck als in der 1949 beschlossenen kürzeren Fassung: Im Konfliktsfalle soll ein Abgeordneter, der die Mehrheitsmeinung seiner Fraktion nicht teilt, im Plenum nicht bloß schweigen und mit der Mehrheit stimmen. wie es in der Praxis meistens geschieht, sondern seiner persönlichen „Überzeugung und seinem Gewissen“ folgen. Mit der öffentlichen Kritik an der eigenen Fraktion wegen des Koalitionswechsels hatte Frau Hamm-Brücher also lediglich — so ihre These — dem Auftrag des Grundgesetzes entsprochen.
Frau Hamm-Brüchers „Streitschrift für mehr Freiheit" enthält außerdem Vorschläge zur Bundestags-reform. insbesondere zur Stärkung der Stellung des einzelnen Abgeordneten Gleichzeitig war sie auf parlamentarischer Ebene zur Offensive übergegangen und hatte die überfraktionelle Initiative Parlamentsreform gegründet. Im April 1984 überreichte sie dem Bundestagspräsidenten „Erste Überlegungen und Vorschläge zur Berücksichtigung des Art. 38 Abs. 1 GG in der parlamentarischen Arbeit“. 110 Abgeordnete hatten das Papier unterschrieben Ünter anderem wurde der Bundestagspräsident gebeten, eine „Plenardebatte über das Selbstverständnis unserer parlamentarischen Arbeit“ anzusetzen. Diese Debatte fand am 20. September 1984 statt In einer Resolution des Bundestages, die von Frau Hamm-Brücher und Kollegen eingebracht worden war, werden zwei Schwerpunkte herausgestellt: Stärkung des einzelnen Abgeordneten gemäß Artikel 38 I 2 GG; Stärkung des Bundestages als selbständiges Verfassungsorgan. Außerdem wird die „Einsetzung einer vom Präsidenten geleiteten Ad-hoc-Kommission . Parlamentsreform'“ vorgeschlagen
Die konstituierende Sitzung der Ad-hoc-Kommission fand bereits am 2. Oktober 1984 statt. Sie setzte sich aus den Mitgliedern des Präsidiums, des Ältestenrates und des Geschäftsordnungsausschusses sowie vier weiteren Abgeordneten zusammen, die die Initiative Parlamentsreform unterstützten, unter anderem Frau Hamm-Brücher. Nach 14 Sitzungen legte die Kommission ihren Bericht am 1. Juli 1985 vor. Sie ging „davon aus. daß nach der Sommerpause eine Plenardebatte über ihren Bericht stattfinden wird“ Diese Annahme erwies sich als unzutreffend. Frau Hamm-Brücher konnte zwar insofern einen Teilerfolg erringen, als im Dezember 1986, also am Ende der 10. Wahlperiode, die eingangs zitierte Ergänzung der Geschäftsordnung beschlossen wurde; aber den Bericht der Kommission nahmen die Abgeordneten lediglich zur Kenntnis. Seine Behandlung wurde auf die Wahlperiode vertagt 11).
Auf Differenzen innerhalb der Kommission, insbesondere hinsichtlich Artikel 38. wird in der Einleitung des Berichtes ausdrücklich hingewiesen. „Nach Ansicht einzelner Mitglieder ist es trotz einiger Verbesserungen noch nicht ausreichend gelungen.dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. September 1984 — hier insbesondere dem Satz, wonach die Stellung der einzelnen Abgeordneten gestärkt werden soll — Rechnung zu tragen.“ Die von der Hamm-Brücher-Initiative angestrebte Stärkung des einzelnen Abgeordneten im Sinne des Parlamentarischen Rates — Unabhängigkeit von den Fraktionen und Parteien — stellt in der Tat das zentrale Problem dar. 1. Zum Programm der Initiative:
Plenardebatte als Beratung und individuelle Entscheidung der Abgeordneten Was bedeutet die Forderung, die Stellung des einzelnen Abgeordneten zu stärken, konkret? Die Zielvorstellung der Initiative Parlamentsreform, ihr Leitbild hinsichtlich der Plenarpraxis des Bundestages, wird nicht unmittelbar und ausdrücklich formuliert. Es muß deshalb in einem Umkehrschluß aus der Kritik an der Praxis herausgearbeitet werden. Diese Kritik hat Frau Hamm-Brücher zu vier „Krisensymptomen“ zusammengefaßt, von denen hier zwei wichtig sind. Das eine besteht in der Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips: „eindeutige Überlegenheit der Exekutive“, „selbstverschuldete Unterlegenheit der Legislative“. Das andere betrifft die Art und Weise der Plenardebatte. Die Autorin konstatiert eine Verschlechterung des „Erscheinungsbildes der repräsentativen Demokratie, wie es sich im Debattenstil offenbart“, und fährt dann fort: „Der rüder werdende Redestil und der Schau-Charakter der Auseinandersetzungen tun ein übriges. Dies alles wird dann noch — via Fernsehen — samt der gähnenden Leere des Plenarsaales in den Wohnstuben der Nation vorgeführt. Der Bürger weiß: An vorgefaßten Entscheidungen ändert keine noch so heftige Debatte etwas. So degeneriert diese zur Proklamation und zum Schlagabtausch. Die politische Kultur verwildert — mit der Folge, daß Ansehen und Glaubwürdigkeit des Parlaments von immer mehr (vor allem jungen) Bürgern angezweifelt werden.“
Insbesondere die Kritik an den „vorgefaßten Entscheidungen“ zeigt, was Frau Hamm-Brücher anstrebt: Die Abgeordneten sollen sich nicht schon vor der Debatte entscheiden, fraktionsintern, sondern erst im Plenum, unter dem Eindruck der Reden ihrer Kollegen. Eine Debatte soll nicht bloß .. Proklamation“ und „Schlagabtausch“ sein, also Verkündung bereits feststehender Positionen. Die Kritik am „Schau-Charakter“ zielt in dieselbe Richtung: Tatsachen und Argumente sollen nicht nur scheinbar, sondern wirklich und ernsthaft in der Absicht ausgetauscht werden, die Kollegen von der eigenen Auffassung zu überzeugen. Mit einem Wort: Die Initiative Parlamentsreform strebt an, daß im Plenum wirklich beraten wird. Das Parlament soll das Zentrum der politischen Entscheidungen sein, das heißt endgültig sollen sich die Abgeordneten erst im Plenum entscheiden, aufgrund der jeweils vorangegangenen Beratung. Die „Parteiraison“ soll möglichst keine Rolle spielen.
Zugleich mit der Stärkung des einzelnen Abgeordneten wird deshalb die Schwächung der Macht der Fraktionen gefordert. „In dem Maße, in dem im Laufe der Jahrzehnte die Stellung der Fraktionen als Schaltstellen und damit als Machtzentren des parlamentarischen Geschehens gestärkt“ wurde, haben die „Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten und seine persönliche Mitverantwortung abgenommen“. Dieser historische Prozeß soll rückgängig gemacht werden. „Bewußt zugespitzt lautet meine These: In der Ent-Persönlichung des Mandats des einzelnen und der Minimalisierung seiner parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten liegt meiner Erfahrung nach die Begründung für die nicht mehr ausreichende Funktionsfähigkeit des Parlaments als Kontroll-, Initiativ-und Diskussionsforum.“
Haben die Fraktionen den einzelnen Abgeordneten wirklich „ent-persönlicht"? Frau Hamm-Brücher beruft sich auf eigene Erfahrung, ihre „jahrzehntelange parlamentarische Tätigkeit“ In der Sache begleitet die Kritik am Funktionsverlust des Parlaments, an der Entmachtung des einzelnen Abgeordneten durch die Fraktionen und Parteien die parlamentarischen Regierungssysteme seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert. 2. Zur ideengeschichtlichen Einordnung der Initiative: Klassisch-altliberale Parlaments-vorstellung Die Parlamentarismuskritik in der von Frau Hamm-Brücher vorgetragenen Art und Weise hat eine lange Tradition. Am überzeugendsten ist sie immer noch in der Form, die ihr der berühmte Nationalökonom und Philosoph John Stuart Mill gegeben hat. Seine bis heute lesenswerten „Considerations on Representative Government“ (zuerst 1861) zeichnen sich dadurch aus, daß sie die politische Praxis nicht nur kritisieren, sondern auch den Maßstab darlegen und begründen, von dem her die Praxis beurteilt wird. Hinsichtlich der Parlamentsfunktionen stimmt dieser Maßstab überein mit dem eben herausgearbeiteten Ideal der Hamm-Brücher-Initiative. Auch nach Mill sollte im Plenum beraten und individuell entschieden werden
Mills Parlamentsvorstellung wird von einigen Autoren als „klassisch“ bezeichnet, von anderen als „liberal“. entsprechend einem angelsächsischen Sprachgebrauch („liberal theory of constitutional government“). Gelegentlich wird sie auch „altliberal“ oder „klassisch-liberal“ genannt. Um klarzustellen. daß es sich in allen Fällen im wesentlichen um denselben Maßstab handelt, spreche ich von klassisch-altliberaler Parlamentsvorstellung oder — in ihrer umfassenden Form — von klassisch-altliberaler Theorie parlamentarischer Demokratie.
Als Ganze ist die klassisch-altliberale Parlamentarismustheorie heute bei vielen Autoren in Vergessenheit geraten; die wichtigste Ausnahme stellen immer noch die Schriften von Gerhard Leibholz dar. Aber der Kem der Theorie, die Forderung nach Beratung und individueller Entscheidung im Plenum, ist nach wie vor weit verbreitet. Bei Frau Hamm-Brücher und der — 1984 vom Bundestag einstimmig unterstützten — Initiative Parlamentsreform ist dies besonders deutlich.'
Äußerlich gesehen, hinsichtlich ihrer faktischen Grundlage, besteht Frau Hamm-Brüchers Kritik zu Recht. Beratung und Entscheidung der Abgeordneten als einzelner finden so gut wie nie im Plenum statt, obgleich der Parlamentarische Rat dies wollte. So drängt sich die Frage auf: Gibt es zwingende Gründe, an der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung und der entsprechenden Interpretation des Artikel 38 festzuhalten?
II. Eine andere Sichtweise der Praxis: Einzelner Abgeordneter und Gruppenstruktur
Wir müssen „sehr grundsätzlich darüber nachdenken. welche Funktionen das Mandat des einzelnen in einem Parlament der Fraktionen hat", schreibt Frau Hamm-Brücher Dieses Nachdenken ist in der Tat erforderlich. Daß die Plenarpraxis nicht der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung entspricht. ist offenkundig. Was spielt sich wirklich ab? 1. Geschlossenheit der Fraktionen (und Parteien) als das kritische Merkmal Für Frau Hamm-Brücher ist die Plenardebatte „degeneriert“ zur bloßen „Proklamation“ von „vorgefaßten Entscheidungen“. Faktisch trifft dies zu: Im Plenum sprechen die Abgeordneten in erster Linie nicht für sich selbst, als individuelle Abgeordnete A. B. C usw., sondern im Namen ihrer Fraktion (und Partei). Die Entscheidungen sind in der Tat „vorgefaßt“. Hinter den sprichwörtlichen „verschlossenen Türen" wird vertraulich darüber diskutiert und entschieden, welche Politik man in der Öffentlichkeit gemeinsam vertritt. Erst diese fraktionsinterne Vorklärung der Probleme ermöglicht es den Abgeordneten, sich im Plenum übereinstimmend für die eine Politik ihrer Fraktion (und Partei) einzusetzen, kurz: geschlossen aufzutreten. Zu jedem Tagesordnungspunkt verfechten grundsätzlich alle Mitglieder einer Fraktion ein und dieselbe Politik. ebenso wie eine Partei im Wahlkampf der Öffentlichkeit nur ein Wahlprogramm und/oder nur ein Regierungsprogramm präsentiert, trotz ihrer Zigtausenden oder sogar Hunderttausenden von Mitgliedern mit den unterschiedlichsten Einzelauffassungen. Da aber „die Fraktion“ nicht als eigenständiges physisches Gebilde existiert (ebensowenig wie „die Partei“), handelt sie der Öffentlichkeit gegenüber durch Sprecher. Auch im Zeitalter der Fraktionen und Parteien sprechen im Plenum immer nur einzelne Abgeordnete, aber in erster Linie im Namen ihrer Fraktion (und Partei). Insoweit die Abgeordneten im Plenum nicht als einzelne auftreten, sondern als Sprecher ihrer Fraktion — in der Praxis der Regelfall —, insoweit ist die Verwirklichung der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung unmöglich. Geschlossenheit im Plenum bedeutet: keine Beratung, keine individuelle Entscheidung im Plenum. Dieser Zusammenhang ist zwingend, er ergibt sich aus der Natur der Sache. Nicht das Phänomen der Fraktion (und Partei) als solches, sondern ihre Geschlossenheit nach außen bewirkt das Scheitern der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung in der Praxis.
Gegenüber der Öffentlichkeit treten die Abgeordneten in der Regel nicht als Einzelkämpfer auf. wie es die klassisch-altliberale Theorie fordert, sondern als Mannschaftskämpfer. Indem Frau Hamm-Brücher für Beratung und Entscheidung im Plenum eintritt, plädiert sie zugleich für den Einzelkämpfer. Dieses Einzelkämpfertum ist gemeint mit ihrem Schlachtruf „Mehr Freiheit für den einzelnen Abgeordneten!“. Hier stoßen wir offenbar auf einen bemerkenswerten Widerspruch in ihren Äußerungen. Sie schreibt: „Ich plädiere nicht für ein Parlament von Einzelkämpfern. Jeder Abgeordnete ist zuerst Mitglied seiner Fraktion. Er verdankt sein Mandat seiner Partei." Tritt sie also doch für Fraktionen und damit auch Geschlossenheit im Plenum ein. was zugleich bedeuten würde: gegen Beratung und gegen individuelle Entscheidung im Plenum?
Der Widerspruch ist nur scheinbar. Er beruht auf der Doppeldeutigkeit der Begriffe „Fraktion" und „Partei“. Im herkömmlichen oder traditionellen Sinne meinen diese Begriffe Organisationen oder, wie man im 19. Jahrhundert treffender sagte. Wahl-vereine, das heißt Aktionsgemeinschaften grundsätzlich gleichgesinnter Parlamentarier. Parlamentskandidaten und ihrer Helfer, deren Hauptzweck darin besteht, gemeinsam und dadurch effektiver Wahlkampf zu machen. Fraktionen und Parteien im modernen, der neueren Praxis entspre-chenden Sinne dagegen sind mehr: grundsätzlich nach außen geschlossen auftretende Wahlvereine. Dieses zusätzliche Merkmal der Geschlossenheit lehnt Frau Hamm-Brücher ab. Ihr Schlachtruf „Mehr Freiheit für den einzelnen Abgeordneten!“ meint in Wahrheit: Wider die Geschlossenheit der Fraktionen und Parteien! Zwar bejaht sie Fraktionen und Parteien, aber nur im herkömmlichen, nicht im modernen Sinne der Begriffe.
Die Geschlossenheit der Fraktionen und Parteien ist also das kritische Merkmal. Um diesen verfassungspolitisch entscheidenden Gesichtspunkt, den Kern der Parlamentarismusproblematik in faktischer Hinsicht gegenüber den doppeldeutigen Begriffen der Fraktion und der Partei akzentuieren zu können, wird ein Begriff verwendet, der gelegentlich auch von politischen Akteuren gebraucht wird: der Begriff der politischen Gruppe. 2. Politische Gruppen — Gruppenstruktur Die Begriffe „Fraktion“ und „Partei“ reißen auseinander. was grundsätzlich — aus der Sicht der Struktur des politischen Prozesses — ein identisches Phänomen darstellt: das Handeln der Akteure in einer nach außen geschlossen auftretenden Aktionsgemeinschaft. Bei Parlamentswahlen können formal allein Parteien kandidieren, nicht Fraktionen. Faktisch jedoch kandidieren in erster Linie Fraktionen. Umgekehrt im Parlament: Formal gibt es hier allein Fraktionen, nicht Parteien. Aber faktisch handeln die Abgeordneten in der Regel nicht nur im Namen ihrer Fraktion, sondern auch ihrer Partei. Nicht ohne Grund tragen die Fraktionen die Namen ihrer Parteien: „CDU/CSU-Fraktion“. „SPD-Fraktion“ und so fort. Da politische Programme im wesentlichen nur im Bereich von Parlament und Regierung in praktische Politik umgesetzt werden können, können Parteien überhaupt nur als Fraktionen praktisch tätig werden. Fraktionen sind ihrerseits bei Wahlen auf ihre Parteien angewiesen, richtiger: Nur als „Parteien“ können sie sich um Parlaments-mandate bewerben. Zutreffend hat man die Fraktion als „Partei im Parlament“ definiert Ebenso kann man den besonders aktiven Teil einer Partei als „Fraktion im Lande“ bezeichnen. Im Kern handelt es sich um ein und dasselbe Phänomen. Der Terminus der politischen Gruppe erlaubt es. dieses Phänomen auf den Begriff zu bringen.
Das Handeln der Akteure in nach außen geschlossen auftretenden Aktionsgemeinschaften ist der Grundtatbestand, an dem die Verwirklichung der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung scheitert. Uber den Begriff der politischen Gruppe kann dieser Grundtatbestand deutlicher bewußt gemacht werden. Politische Gruppe kann folglich definiert werden als Aktionsgemeinschaft politischer Ak-teure, die in der Regel geschlossen auftritt. Politische Gruppen sind nicht nur Fraktionen und Parteien im modernen Sinne, sondern auch die entsprechenden innerparteilichen Phänomene, in der Praxis bezeichnet als „Flügel“. „Fraktion", „Gruppe“ und so fort.
Der Terminus der politischen Gruppe ermöglicht es außerdem, in knapper Form die entsprechende Struktur des politischen Prozesses zu bezeichnen: als Gruppenstruktur. Zu diesem Zweck steht bisher nur der Begriff der „parteienstaatlichen“ Struktur zur Verfügung. Er ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Der wichtigste: Er bezieht sich auf die ihrerseits sehr problematische Lehre vom „Parteienstaat“ (Leibholz). Nach dieser Lehre ist der einzelne Abgeordnete nur noch „organisatorisch-technisches Zwischenglied“ zwischen Partei (und Fraktion) einerseits und Parlamentsbeschluß andererseits In der Sache ist dasselbe gemeint, wenn Frau Hamm-Brücher den einzelnen Abgeordneten und „die Fraktion“ gegenüberstellt, „die Fraktionen“ pauschal als die „Machtzentren des parlamentarischen Geschehens“ bezeichnet und zugleich die „Minimalisierung" der „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten" des einzelnen Abgeordneten beklagt. 3. Übermächtige Fraktion, ohnmächtiger Abgeordneter?
Wer ist „die Fraktion“, der der Abgeordnete scheinbar ohnmächtig gegenübersteht? Frau Hamm-Brücher erweckt den Eindruck, als ob die Fraktion für den einzelnen Abgeordneten ein Aliud wäre, ein prinzipiell anderes und fremdes, in scheinbar unerreichbarer Ferne thronendes Gebilde. Die Wahrheit ist viel einfacher. Die Fraktion besteht im wesentlichen aus nichts anderem als dem einzelnen Abgeordneten selbst und seinen Fraktionskollegen. Jedes Fraktionsmitglied hat grundsätzlich die gleichen Rechte. Es gibt zwar einen Fraktionsvorstand, Vorsitzende in den Arbeitskreisen der Fraktion und so fort. Aber das besondere Gewicht, das den führenden Akteuren im fraktionsinternen Entscheidungsprozeß zukommt, beruht nicht auf unabänderlichen Vorrechten, sondern darauf, daß sie vom Vertrauen der Mehrheit ihrer Kollegen getragen werden. Sie kennen deren Meinungen und Stimmungen und können deshalb als ihre Repräsentanten handeln. Die „Macht“ eines Vorsitzenden reicht immer nur so weit wie die Zustimmung der Mehrheit. In der Vollversammlung einer Fraktion, wenn es hart auf hart geht und zu einer Kampfabstimmung kommt, hat der Fraktionsvorsitzende ebenso nur eine Stimme, er ist ebenso der demokratischen Mehrheitsregel unterworfen wie jeder „einfache“ Abgeordnete auch.
Frau Hamm-Brücher malt das Schreckgespenst des „verplanten“, „reglementierten“, „verbürokratisierten“ Abgeordneten an die Wand Wer aber „verplant“ und „reglementiert“ ihn denn, wer oder was stellt konkret die „Bürokratie“ dar. die ihn gängelt? Letztlich führen alle Wege, alle Richtlinien der Willensbildung zurück zur Vollversammlung der Fraktion, als Aktionsgemeinschaft gleichberechtigter einzelner. Wenn ein Abgeordneter in einem bestimmten Konfliktsfall scheinbar „der Fraktion“ unterliegt, dann unterliegt er in Wahrheit der Mehrheit seiner Kollegen. Das. was vordergründig einen Konflikt zwischen einzelnem und „der Fraktion“ darstellt, ist tatsächlich ein Konflikt zwischen Minderheit und Mehrheit ein und derselben Aktionsgemeinschaft. Daß es Frau Hamm-Brücher ärgert. daß sie in etlichen Fällen die Mehrheit ihrer Fraktionskollegen nicht von ihrer eigenen Auffassung überzeugen, den Koalitionswechsel von 1982 nicht verhindern konnte, ist verständlich. Aber diese fraktionsintemen Niederlagen sollten nicht hochstilisiert werden zum Bild des armen einzelnen unter der Knute „der Fraktion“.
Die Bezeichnung der Fraktionen als „Machtzentren“ enthält allerdings auch einen zutreffenden Aspekt. Fraktionen und Parteien sind in der Tat insofern die Machtzentren, als jeder Bürger, der im Bereich von Parlament und Regierung erfolgreich tätig werden will, nur dann eine reale Chance hat. dieses Ziel zu erreichen, wenn er Mitglied einer Partei und — im Parlament — Mitglied einer Fraktion ist: wegen der faktischen Gruppenstruktur. In diesem Sinne verfügen Parteien und Fraktionen in der Tat über ein Machtmonopol. Der Klarheit halber sollte man diesen spezifischen Sachverhalt aber auch spezifisch bezeichnen. In Anlehnung an den Begriff der Gruppenstruktur bietet es sich an. hier vom Gruppenprinzip zu sprechen. Es besagt: Politisches. auf den Bereich von Parlament und Regierung zielendes Handeln ist mit Aussicht auf Erfolg nur möglich in einer und durch eine politische Gruppe.
Die Charakterisierung der Fraktionen als „Machtzentren“ ist also nur insoweit zutreffend, als das Gruppenprinzip gemeint ist. Unzutreffend ist die These, der einzelne Abgeordnete stünde der Willensbildung seiner Fraktion quasi hilflos gegenüber. Auch die Behauptung von der „Minimalisierung" der „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten“ des einzelnen Abgeordneten weckt falsche Vorstellungen. Richtig ist zwar, daß die Politik der Fraktionen im Parlament — im Sinne von Plenum — in der Regel bereits feststeht; insofern gibt es in der Plenardebatte in der Tat nichts mehr zu bewirken. Aber in der Sache — Einflußnahme auf die Parlamentsbesehlüsse — bestehen die „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten“ nach wie vor: innerhalb der Fraktionen. Die Kritik an der „Minimalisierung“ der „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten“ wäre deshalb nur dann begründet, wenn es zwingend notwendig wäre, daß im Plenum beraten und entschieden wird. Genau dies ist das Ziel der Hamm-Brücher-Initiative. Damit können wir uns endgültig der Frage zuwenden: Gibt es zwingende Gründe für Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum?
III. Zurück zu Beratung und Entscheidung im Plenum?
1. Zur historischen Perspektive: Verfall der parlamentarischen Beratung?
Frau Hamm-Brücher argumentiert nicht nur syste'matisch und grundsätzlich, sondern auch historisch.
Es geht ihr nicht nur um die Herstellung, sondern um die Wiederherstellung von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum. Ein historischer, sich über Jahrzehnte erstreckender Prozeß soll rückgängig gemacht werden: die Usurpation der „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten“ des einzelnen Abgeordneten durch die Fraktionen. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments als „Diskussionsforum" soll dadurch wiederhergestellt werden Frau Hamm-Brücher setzt also voraus — auch in diesem Punkte ebenso wie Leibholz —. daß die Plenarpraxis vor Jahrzehnten im wesentlichen der klassisch-altliberalen Vorstellung entsprochen habe. Ist diese Annahme zutreffend? Zwei Aspekte sind auseinanderzuhalten.
Erstens geht es um die tatsächliche Entwicklung der Plenarpraxis seit dem vorigen Jahrhundert. Relativ am besten erforscht ist das britische Regierungssystem. Hier kann es keinen Zweifel geben, daß int Laufe der Jahrzehnte in der Tat eine Entwicklung stattgefunden hat. die hinsichtlich bestimmter Merkmale — zum Beispiel Fraktionsdisziplin — auf die Formel gebracht werden kann: weg von klassisch-altliberalen Merkmalen, hin zur Grup- penstruktur. Insoweit handelt es sich um denselben Vorgang, der von Leibholz als „Strukturwandel der Demokratie“ skizziert worden ist: Niedergang des „liberal-repräsentativen Parlamentarismus“, Aufkommen des „Parteienstaates“. Insoweit ist die These von der Usurpation der parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen Abgeordneten durch die Fraktionen mindestens teilweise richtig, jedenfalls bei vordergründiger Betrachtung (Vernachlässigung der fraktionsintemen Willensbildung). Zweitens geht es um die Frage, ob die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung im 19. Jahrhundert tatsächlich ganz verwirklicht war. Leibholz’ These vom 19. Jahrhundert als dem Zeitalter des „liberal-repräsentativen Parlamentarismus“ wird von etlichen Autoren als bloße „Fiktion“ abgetan. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kann diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden. Fest steht, daß die Plenarpraxis im britischen Unterhaus in den Jahren vor Mills „Considerations on Representative Government“ (1861) hinsichtlich mehrerer Merkmale überwiegend der klassisch-altliberalen Vorstellung entsprochen hat. Ob aber damals im Unterhaus wirklich immer beraten wurde, müßte noch untersucht werden
Die Klärung dieser Fragen ist jedoch nicht von entscheidender Bedeutung. Auch wenn die Plenarpraxis früher in irgendeinem parlamentarischen Regierungssystem wirklich vollständig der klassisch-altliberalen Vorstellung entsprochen hätte, so könnte dies allein kein hinreichender Grund für die Wiederherstellung jenes Zustandes in der Gegenwart sein. Umgekehrt gilt dasselbe. Auch ein eindeutiger Beweis, daß die klassisch-altliberale Vorstellung niemals vollständig realisiert war, könnte für sich allein kein hinreichendes Argument gegen das Bemühen sein, sie im Bundestag zu realisieren. Entscheidend kommt es nicht auf die Plenarpraxis im 19. Jahrhundert an. sondern auf die Sachargumente pro und contra in der Gegenwart. Bevor wir diese erörtern, ist eine Vorfrage zu klären. Glaubt man dem amtlichen Sprachgebrauch, dann wird im Bundestag doch ständig beraten. Rennt Frau Hamm-Brücher mit ihrer Forderung nach Beratung im Plenum also nur offene Türen ein? 2. Beratung im Bundestag?
Offiziell ist regelmäßig von „Beratung" die Rede. So beendet zum Beispiel die amtierende Präsidentin einen gewöhnlichen Sitzungstag mit den Worten: „Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Beratung angekommen.“ Tatsächlich jedoch war keineswegs beraten worden; vielmehr hatte es den üblichen „Schlagabtausch“ zwischen den Fraktionen gegeben (Haushaltsdebatte). Zutreffender sollte man in diesen Fällen nicht von Beratung sprechen, sondern von Debatte oder Disput. In der konstituierenden Sitzung des 11. Bundestages hat sein Präsident die These vertreten, man müsse „unserem Volk noch mehr als bisher [. . . ] verdeutlichen, daß sich die Arbeit des Deutschen Bundestages nicht in den Plenarberatungen erschöpft“ Wann hat es denn jemals im Bundestag Plenarberatungen über Sachfragen gegeben, die zwischen den Parteien öffentlich umkämpft waren? Diese irreführende Bezeichnung findet sich auch in der Geschäftsordnung. Hier heißt es zum Beispiel, daß Gesetzentwürfe „in drei Beratungen“ behandelt werden (§ 78 GO-BT). Im allgemeinen Sprachgebrauch, sowohl in der Literatur als auch in den Medien, ist in diesen Fällen treffender von Lesung die Rede. Wichtig ist hier nicht der terminologische Aspekt als solcher, sondern seine Bedeutung für das Ansehen des Bundestages in der Öffentlichkeit.
Mit der Bezeichnung der Plenarpraxis als Beratung wird verbal etwas vorgetäuscht, was faktisch nicht existiert. Ein überzeugender Grund für die irreführende Bezeichnung der Praxis ist nicht ersichtlich. Anscheinend handelt es sich um einen unreflektierten Restbestand der klassisch-altliberalen Parlamentstheorie. Das offizielle Festhalten an der Beratungsfunktion der Plenardebatte muß all diejenigen in ihrer Auffassung bestärken, die seit eh und je fordern, daß im Bundestag nun endlich wirklich beraten werde, oder die — wie etwa Frau Hamm-Brücher — das Fehlen von Beratung im Plenum öffentlichkeitswirksam kritisieren. 3. Das Realisierungsproblem Die Forderung nach Herstellung oder Wiederherstellung von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum ist grundsätzlich in zweifacher Hinsicht zu beurteilen. Zum einen stellt sich die Frage: Ist die Forderung in der Praxis realisierbar? Dieses Problem kam kurz als Realisierungsproblem bezeichnet werden. Zum anderen wird zu fragen sein: Sollte sie realisiert werden? Gibt es zwingende Sachgründe für Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum?
Wie könnte die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung realisiert werden? In den letzten hundert Jahren hat sich die Plenarpraxis im großen und ganzen immer mehr von der klassisch-altliberalen Vorstellung entfernt. Die Tatsache, daß im Plenum nicht beraten und individuell entschieden wird, ist nicht auf die Bundesrepublik beschränkt. Wir finden sie im österreichischen Parlament, dem „Nationalrat“ (auch diese Bezeichnung erinnert an die klassisch-altliberale Beratungsfunktion) ebenso wie im dänischen „Folketing“ (Volks-Thing, Beratungsstätte des Volkes oder der Volksvertreter), im britischen Unterhaus ebenso wie in den Parlamen-ten Schwedens. Italiens, Israels und so fort. Der oft beklagte „Verfall der parlamentarischen Beratung und Kontrolle“ ist ein universeller Vorgang. Dies legt die Vermutung nahe, daß es sich um eine bestimmte Gesetzmäßigkeit handelt. Worauf beruht sie?
Die Tatsache, daß im Plenum nicht beraten wird, ist faktisch identisch mit Geschlossenheit nach außen. Warum bemühen sich Fraktionen und Parteien um Geschlossenheit? An dieser Stelle kann nur die zentrale Ursache angesprochen werden: die Konkurrenz.der Machtkampf der politischen Akteure
Die optimale Verwirklichung der eigenen politischen Ziele setzt voraus, daß man über die Mehrheit der Parlamentsmandate verfügt oder — bei Koalitionen — einen möglichst gewichtigen Teil der Regierungsmehrheit darstellt. Nur eine einzige Partei oder Parteienkoalition kann die Mehrheit der Mandate gewinnen. Faktisch jedoch verfolgen stets mindestens zwei dieses Ziel. Deshalb kommt es notwendig zur Konkurrenz, zum „permanenten Wahlkampf* der rivalisierenden Fraktionen und Parteien. Jede ist auf optimale Glaubwürdigkeit angewiesen, um bei der nächsten Wahl möglichst viele Stimmen zu gewinnen. Eine Gruppe, die „mit einer Zunge spricht“, ist angesichts der Ratlosigkeit vieler Wähler überzeugender als eine Gruppe, deren Akteure teils „Hü!“ und teils „Hott!“ rufen. Mangelnde Geschlossenheit ist außerdem ein gefundenes Fressen für den politischen Gegner. „Die wissen ja selbst nicht, was sie wollen“ lautet dann der Vorwurf. So bringt es der Konkurrenzkampf mit sich, daß jede politische Gruppe um möglichst weitgehende Geschlossenheit nach außen bemüht sein muß. Man darf dem politischen Gegner keine Blöße geben; es darf ihm nicht möglich sein, den einen Teil der Fraktion gegen den anderen auszuspielen. Deshalb findet die Willensbildung der Fraktionen überwiegend „hinter verschlossenen Türen“ statt, was zugleich bedeutet: keine Beratung und keine individuelle Entscheidung im Plenum. Die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung realisieren zu wollen ist also gleichbedeutend mit dem Ziel, eine praktisch unvermeidbare Folge des Konkurrenzkampfes abzuschaffen. Wie sollte dies gelingen? Einen auch nur einigermaßen überzeugenden Vorschlag finden wir weder bei Frau Hamm-Brücher noch bei sonstigen Vertretern dieser Auffassung. Um so wichtiger ist die Beantwortung der anderen Frage: Brauchen wir denn unbedingt Beratung im Plenum? 4. Gibt es zwingende Gründe für Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum?
Wie begründet Frau Hamm-Brücher ihre Forderung nach Beratung und individueller Entscheidung im Bundestag? Merkwürdigerweise findet man bei ihr keinen einzigen substantiellen Grund. Ihre Argumentation bewegt sich im Kreis. Stillschweigend setzt sie voraus, daß im Plenum beraten und entschieden werden müßte. Aufgrund dieser Prämisse kommt sie zur Kritik an der „Minimalisierung" der „parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten“ des einzelnen Abgeordneten.
Ihre Prämisse könnte begründet sein, wenn die faktisch bestehende Struktur des politischen Prozesses — die Gruppenstruktur — erhebliche Mängel aufweisen würde gegenüber der Struktur gemäß klassisch-altliberaler Vorstellung. Derartige Mängel sind jedoch nicht erkennbar. Warum sollten sich Abgeordnete nicht fraktionsintem zusammenraufen. um dann in der Öffentlichkeit geschlossen aufzutreten?
Wenn Frau Hamm-Brücher ihre Prämisse — die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung — auch nicht explizit begründet, so formuliert sie doch zwei Kritikpunkte gegenüber der Praxis, die implizit als Argumente für Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum verstanden werden können. Diese beiden Punkte lassen sich zu der These zusammenfassen: Die gegenwärtige Praxis erlaube weder gewissenhafte Politik noch persönliche Verantwortung des einzelnen Abgeordneten. In den „Überlegungen und Vorschlägen zur Parlamentsreform“ der Initiative Parlamentsreform heißt es eingangs: „Abgeordnete aus allen Fraktionen machen sich verstärkt Gedanken über die Bedeutung des Art. 38. 1 GG für die parlamentarische Arbeit. Sie gehen davon aus, daß mit dieser Bestimmung begründet wird — eine persönliche Mitverantwortung des einzelnen Abgeordneten für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Parlaments in der Öffentlichkeit.
— eine persönliche Mitverantwortung für das Gesetzgebungsverfahren. bei der politischen Willensbildung und bei der Kontrolle der Regierung und Exekutive sowie — eine persönliche Verantwortung für die Gewissenhaftigkeit des Verhaltens als . Vertreter des ganzen Volkes* bei . Reden und Handlungen. Wahlen und Abstimmungen*.“
Daß sich Politiker gewissenhaft verhalten, sollte selbstverständlich sein. Gewissenhaftigkeit setzt jedoch nicht voraus, daß sich die Abgeordneten erst im Plenum entscheiden. Auch fraktionsintern kann man gewissenhaft für die eigenen Überzeugungen eintreten und dementsprechend votieren. Aus dem Gesichtspunkt der Gewissenhaftigkeit ergibt sich deshalb keineswegs, daß im Plenum beraten und entschieden werden müßte. Neben der Notwendigkeit gewissenhafter Politik wird in der eben zitierten Passage die persönliche Mitverantwortung jedes Abgeordneten für das Ansehen des Parlaments und die parlamentarische Willensbildung betont: grundsätzlich ebenfalls zu Recht. Wie aber könnte politische Verantwortung der Abgeordneten als einzelner realisiert werden? Frau Hamm-Brücher behauptet, daß mit der „Entpersönlichung des Mandats [. . . ] die Verantwortung für das Parlamentsgeschehen anonymisiert und in den Fraktionen verkadert“ wurde Anonym heißt namenlos. Tatsächlich jedoch sind die für das Parlamentsgeschehen Verantwortlichen keineswegs namenlos. Zum einen handelt es sich um die politischen Gruppen: in erster Linie die jeweiligen Regierungsfraktionen und -parteien. in zweiter Linie die Oppositionsfraktionen und -parteien. Ihre Namen sind bekannt: CDU/CSU und FDP. SPD. DIE GRÜNEN. Zum anderen werden die Gruppen repräsentiert durch ihre führenden Akteure; auch die Namen dieser Akteure sind bekannt. Grundsätzlich liegt also keineswegs eine Anonymisierung der Verantwortung vor.
In einer Hinsicht besteht die Kritik zu Recht: Persönliche. das heißt individuelle Verantwortung kann vom Wähler nicht realisiert werden. Dieser Sachverhalt aber ist nicht eine Folge der Geschlossenheit im Plenum, sondern eine Folge unseres Wahlrechts (und des Handelns der Akteure in Gruppen). Das Wahlrecht ist im wesentlichen nicht ein Persönlichkeitswahlrecht, sondern ein Listen-oder allgemeines Gruppenwahlrecht. Mit der entscheidenden Stimme, der Zweitstimme, entscheidet der Wähler nicht über einzelne Kandidaten, sondern über Mandatsanteile von Gruppen. Die politische Verantwortung des einzelnen Abgeordneten A. B oder C kann er in der Regel nicht geltend machen. Die personelle Auswahl einer Hälfte der grundsätzlich 496 uneingeschränkt stimmberechtigten Bundestagsabgeordneten ist ohnehin seiner Einflußnahme entzogen, da sie über Listen gewählt werden. Von den 248 Wahlkreiskandidaten kann er mit der Erststimme nur einen einzigen wählen, den Kandidaten im eigenen Wahlkreis; aber auch dieser eine ist oft zusätzlich über eine Liste abgesichert. Individuelle politische Verantwortung ist also bei unserem Wahlsystem praktisch nicht zu realisieren. Durch die Einführung von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum würde sich hieran nichts ändern.
Ein überzeugendes Sachargument für Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum ist also nicht ersichtlich. Es bleibt das rechtliche Argument: Artikel 38 I 2 GG. Historisch gesehen ist es begründet. Bei der Formulierung dieser Norm stand die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung Pate. Erfordert also das Grundgesetz die (Wieder-) Einführung von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum? Ist die derzeitige Plenarpraxis verfassungswidrig?
IV. Interpretation der Artikel 38 I 2, 20 II 2 gegen die Intention des Parlamentarischen Rates?
Der Wortlaut des Artikels 38 steht der derzeitigen Praxis nicht entgegen. Von Beratung und individueller Entscheidung im Plenum ist im Grundgesetz nicht die Rede. Die rechtliche Garantie des freien Mandates — „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ — darf nicht verwechselt werden mit einem Verbot, im Plenum geschlossen aufzutreten. Ein derartiges Verbot läßt sich nicht aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ableiten.
Zum immer wieder kritisierten „Fraktionszwang“ sei hier nur folgendes festgestellt. Es läßt sich plausibel begründen, daß die Abgeordneten im Plenum überwiegend freiwillig geschlossen auftreten. Entscheidend beruht dies auf dem schon erwähnten Zusammenhang zwischen Geschlossenheit und politischem Erfolg. Der politische Erfolg jedes einzelnen Abgeordneten setzt den Wahlerfolg seiner Partei und Fraktion voraus. Deshalb die faktische Gruppenstruktur: Für jedes einzelne Sachproblem einigt man sich intern auf einen Kompromiß, den man nach außen gemeinsam vertritt. Gerade ein gewissenhafter, der eigenen politischen Überzeugung gegenüber verantwortungsbewußter Politiker bejaht deshalb die Fraktionsdisziplin
Gleichwohl hat der Parlamentarische Rat grundsätzlich die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung vertreten. Ist deshalb an dieser Intention festzuhalten. oder sollte es nicht doch erlaubt sein, sich sozusagen auf den Wortlaut des Artikels 38 zurückzuziehen? Die faktische Gruppenstruktur und insbesondere die Geschlossenheit der Fraktionen im Plenum wären dann mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Interpretation einer Bestimmung des Grundgesetzes gegen die Intention des Parlamentarischen Rates sollte nur nach besonders sorgfältiger Abwägung aller einschlägigen Aspekte pro und contra erfolgen. Hierzu ist es erforderlich, sich die Situation zu verdeutlichen, in der sich der Parlamentarische Rat 1948/49 befand. 1. Zur Situation des Parlamentarischen Rates Die klassisch-altliberale Parlamentstheorie beherrschte das Denken bis in die Bundesrepublik hinein. Zwar wurde vereinzelt schon im 19. Jahrhundert Kritik geübt; am wichtigsten ist Walter Bagehots Buch über die englische Verfassung (1867). Aber im Kem beschränkte sich seine Kritik auf die Behauptung, daß das Handeln der Akteure in politischen Gruppen zum „Wesen“ parlamentarischer Regierungssysteme gehöre. Eine Begründung für diese Behauptung gibt es bei ihm nicht. Ausführlich legt er den Sachverhalt dar, daß die Praxis im wesentlichen ganz anders strukturiert ist, als es die klassisch-altliberale Theorie behauptet bzw. fordert: Stichwort Gruppenstruktur. Nachdrücklich weist er darauf hin, daß faktisch nicht das Kollegium der Volksvertreter oberste politische Entscheidungsinstanz ist, sondern das Kabinett; für das britische Regierungssystem sei nicht die Trennung von Parlament und Regierung charakteristisch (klassisches Gewaltenteilungskonzept), sondern ihre enge Verbindung, die sogenannte Gewaltenintegration. Eine vergleichende Bewertung der beiden Strukturtypen bzw. Maßstäbe — klassisch-altliberaler Typ und Gruppentyp — findet man bei ihm jedoch nicht, ebensowenig eine Erörterung des Realisierungsproblems. Offenbar hielt er es für selbstverständlich, daß die klassisch-altliberale Theorie abzulehnen, die Gruppenstruktur zu bejahen sei. Auf dieser Linie bewegt sich die „realistische“ Richtung der Politikwissenschaft bis in die Gegenwart. Die faktische Gruppenstruktur wird ohne inhaltliche Begründung zur Norm erhoben. Daß eine derartige Argumentation nicht ausreichen kann, um die klassisch-altliberale Parlamentsvorstellung zu entkräften, liegt aufder Hand. Die weite Verbreitung dieser Vorstellung bis in die Gegenwart kann deshalb nicht überraschen.
Von besonderer Bedeutung für den deutschsprachigen Bereich wurden die Schriften von Gerhard Leibholz. Sein Verdienst besteht darin, massiv die These von der Unvermeidbarkeit des „Parteienstaates“ vertreten und damit wesentlich zur Akzeptierung der Parteien und Fraktionen beigetragen zu haben, allerdings um einen hohen Preis. Denn gleichzeitig hielt er am klassisch-altliberalen Repräsentationsbegriff fest (Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum). Da aber faktisch im Plenum nicht beraten und nicht individuell entschieden wird, kommt er zu der schon erwähnten These von der Ohnmacht des einzelnen Abgeordneten im „Parteienstaat“. „Die Partei“ bzw. „die Fraktion“ stellen bei ihm eine Art „black box“ dar. die den einzelnen Abgeordneten in ihrer Gewalt hat. Scheinbar sind die Abgeordneten im Plenum dem „Fraktionszwang“ ausgesetzt. Die fraktionsinterne Willensbildung wird ignoriert. So ist es nicht erstaunlich. daß das Konzept des „Parteienstaates“ all diejenigen provozieren mußte und nach wie vor provoziert, die eine vordergründige Sichtweise der Praxis ablehnen und an der Verantwortung des einzelnen Abgeordneten festhalten. Eine überzeugende Alternative zur klassisch-altliberalen Theorie kann das Konzept des „Parteienstaates“ daher nicht darstellen.
In welcher Situation befand sich also der Parlamentarische Rat 1948/49? Er konnte gar nicht anders, als grundsätzlich vom klassisch-altliberalen Maßstab auszugehen. Ein gleichwertiger, hinreichend begründeter Alternativmaßstab stand nicht zur Verfügung. Bei Artikel 38 dachte er an Beratung und individuelle Entscheidung im Plenum. In Artikel 21 hat er nicht das Leibholzsche Konzept des „Parteienstaates“ legitimiert, wie weithin behauptet wird, sondern lediglich die Mitwirkung der Parteien bei der „politischen Willensbildung des Volkes“
Hinsichtlich der Gewaltenteilung war man sich in allen demokratischen Fraktionen des Parlamentarischen Rates darüber einig, daß das klassische Konzept maßgebend sein müsse. Dementsprechend wurden „Gesetzgebung“ und „vollziehende Gewalt“ je für sich „besonderen Organen“ zugeordnet (Art. 20 II 2) Jedermann weiß, daß die Bonner Praxis von Anfang an über das klassische Konzept hinweggegangen ist. Zahlreiche Rechtfertigungsversuche. etwa über die Formel, daß die „Staatsleitung“ Parlament und Regierung „zur gesamten Hand“ zustehe, können nichts daran ändern, daß die Praxis der Intention des Parlamentarischen Rates zuwiderläuft. Auch in dieser Hinsicht stellt sich das Realisierungsproblem: Es ist nicht ersichtlich, wie das klassische Gewaltenteilungskonzept mit angemessenem Aufwand verwirklicht werden könnte. 2. Der Gruppentyp als Alternativmaßstab In der Bundesrepublik ist es mehr als drei Jahrzehnte lang nicht gelungen, die klassisch-altliberale Intention des Parlamentarischen Rates zu realisieren. Um so dringender stellt sich das Problem einer überzeugenden Alternative. Gesucht ist ein Maßstab.der nicht nur realisierbar und mit dem Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar ist; er müßte auch mindestens gleichwertig sein. Wie könnte ein derartiger Alternativmaßstab aussehen? Angesichts der tatsächlichen Entwicklung der Praxis seit dem 19. Jahrhundert sowie der Ansätze von Bagehot, Schumpeter.Sternberger und anderen Autoren liegt es nahe, diese Linie weiterzuführen und sich von der faktischen Struktur des politischen Prozesses anregen zu lassen. Der grundlegende Un-* terschied der Praxis gegenüber der klassisch-altliberalen Vorstellung liegt, wie bereits dargelegt, in der Gruppenstruktur. Es bietet sich deshalb an.den gesuchten Maßstab auf der Grundlage der Gruppenstruktur zu erarbeiten. Dementsprechend kann er kurz als Gruppenmaßstab oder Gruppentyp bezeichnet werden.
Es würde hier zu weit führen, alle Einzelmerkmale der beiden Maßstäbe oder Grundtypen parlamentarischer Demokratie sowie die prinzipiell unterschiedliche Struktur der Willensbildung gegenüber-zustellen. Wichtig ist für unseren Zusammenhang der Sachverhalt, daß die von der Initiative Parlamentsreform geforderte Beratung im Plenum aus klassisch-altliberaler Sicht in der Tat unverzichtbar ist. Im Gruppentyp dagegen (bzw. in der dem Gruppentyp entsprechenden Praxis) ist Beratung im Plenum nicht erforderlich. Denn hier wird ständig an anderen Stellen des politischen Prozesses beraten: zum einen in der allgemeinen Öffentlichkeit sowie in zahllosen Beratergremien und Expertenzirkeln in Ministerien und Behörden, in Bundestagsausschüssen. Interessenverbänden usw., zum anderen im Innern der politischen Gruppen, insbesondere in den Arbeitskreisen und Vorständen der Fraktionen. Trotzdem ist die Plenardebatte nicht sinnlos. Sie sollte insbesondere dazu dienen, die jeweilige Politik der Gruppen in Anwesenheit des politischen Gegners öffentlich zu begründen, hierdurch politische Verantwortung zu ermöglichen und sich jeweils um eine möglichst breite Zustimmung der Bürger zu bemühen (einerseits Konsensbildung. andererseits „permanenter Wahlkampf“). Diese vier Aspekte — Begründung. Verantwortung. Konsensbildung und Kampf um Stimmen — sind gemeint, wenn im folgenden vom Plenum als Arena politischer Gruppen gesprochen wird.
Bejaht man die Gruppenstruktur, dann wird damit auch der ständigen Kritik an der „gähnenden Leere des Plenarsaales“ (Hamm-Brücher) der Boden entzogen. Wenn im Plenum wirklich beraten und individuell entschieden werden müßte, dann wäre die faktische Präsenz von oft nur fünf oder zehn Prozent der Abgeordneten in der Tat skandalös. Denn repräsentative Entscheidungen im klassisch-altliberalen Sinne könnten bei so geringer Präsenz nicht zustande kommen. Im Rahmen der Gruppenstruktur dagegen — Plenardebatte nicht als Beratung und Entscheidung einzelner, sondern als Wettkampf politischer Gruppen — ist die faktische Plenarpräsenz ausreichend. Denn die politischen Gruppen sind — über ihre Sprecher — stets hundertprozentig anwesend
Der Gruppentyp ist dann mit dem Grundgesetz vereinbar. wenn man sich auf den Wortlaut der Artikel I 2 und 20 II 2 beschränkt und diese Normen als Kompetenzenregelungen versteht, nicht als inhaltlich-funktionale Regelungen. Dies setzt voraus. 39 daß man differenziert zwischen Beschluß und Entscheidung. zwischen der rechtlich wirksamen Beschlußfassung der Staats-bzw. Verfassungsorgane einerseits und der vorangegangenen inhaltlichen Entscheidungsfindung der Akteure andererseits, zwischen der von der Verfassung geregelten Organ-struktur (Kompetenzen der Beschlußorgane und ihr Verhältnis zueinander) auf der einen Seite und der Struktur des politischen Prozesses auf der anderen Seite. Rechtlich gesehen liegt auch im Gruppentyp die oberste Beschlußkompetenz beim Gesamtparlament; insofern ist auch hier das Parlament der Regierung übergeordnet, es ist in der Tat „Erste Gewalt“, insoweit ebenso wie nach klassisch-altliberaler Vorstellung. Aber oberste politische Entscheidungsinstanz ist im Gruppentyp nicht das Parlament. sondern die Regierungsmehrheit, das heißt Regierung und Parlamentsmehrheit als eine politische Gruppe. So wird das neue Gewaltenteilungskonzept ermöglicht. Es besteht darin, daß die staatsrechtlich normierte Aufteilung der Kompetenzen zwischen den beiden Verfassungsorganen Parlament und Regierung quasi überlagert wird durch das Gegenüber konkurrierender politischer Gruppen: einerseits Regierungsmehrheit, andererseits Öpposition (oder mehrere oppositionelle politische Gruppen). Hinsichtlich der Kompetenzen bleibt es auch im Gruppentyp beim Gegenüber der beiden Staatsorgane Parlament und Regierung. Aber der Sinn und Zweck von Gewaltenteilung — Kontrolle politischer Macht — wird optimal erst erreicht durch die „neue Frontstellung“ zwischen Regierungsmehrheit und Opposition 38). also die öffentliche, an die Wähler der nächsten Parlamentswahl appellierende Konkurrenz rivalisierender politischer Gruppen. Während das klassische, auch von Frau Hamm-Brücher vertretene Gewaltenteilungskonzept primär zwischen den beiden Funktionen „Legislative“ und „Exekutive“ differenziert, deren Ausübung jeweils einem Verfassungs-oder Staatsorgan zugeordnet wird, differenziert das neue Konzept zwischen den beiden Funktionen „Regierung“ (im weiteren Sinne: „Staatsleitung“) und „Opposition“, die durch politische Gruppen wahrgenommen werden. Die Funktion der Regierung in diesem weiteren Sinne umfaßt beide klassische Funktionen, sowohl „Gesetzgebung“ als auch „Vollziehung“.
Während es nach klassisch-altliberaler Vorstellung selbstverständlich ist. daß staatsrechtliche Kompetenz (Beschlußbefugnis) und politische Funktion jeweils einem und demselben Träger zukommen, nämlich einem Staats-oder Verfassungsorgan (klassische Organvorstellung), treten im Gruppentyp — bzw. in der dem Gruppentyp entsprechenden Praxis — Beschlußbefugnis und politische Funktion auseinander. Den Staatsorganen verbleibt das Beschlußrecht, während die beiden Hauptfunktionen des politischen Systems — Regierung (im Sinne von Staatsleitung) und Opposition — von politischen Gruppen wahrgenommen werden, bezeichnet als „Regierungsmehrheit“ und als „Opposition“. (Für die Opposition hat es sich in unserem Sprachgebrauch ergeben, daß die Bezeichnungen der Funktion und des Trägers der Funktion identisch sind.) Träger des politischen Prozesses sind im Gruppentyp nicht Staatsorgane, sondern politische Gruppen. Die neue oder politische Gewaltenteilung — zwischen Regierungsmehrheit und Opposition — verläuft zwar quer zur klassischen Gewaltenteilung (zwischen Parlament und Regierung), setzt aber die klassische Kompetenzenverteilung zwischen den beiden Staatsorganen Parlament und Regierung voraus
Auch das neue Gewaltenteilungskonzept entspricht zwar nicht der Intention des Parlamentarischen Rates. ist aber ebenfalls mit dem Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar. Denn auch wenn die Regierungsmehrheit die oberste politische Entscheidungsinstanz darstellt, so bleiben den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesregierung dennoch die Beschlußkompetenzen der „Gesetzgebung“ und der „vollziehenden Gewalt“ (Art. 20 II 2 GG). Ebenso wie für Artikel 38 I 2 stellt sich deshalb auch für Artikel 20 II 2 die Frage, ob es zulässig ist. diese Norm gegen die Intention des Parlamentarischen Rates zu interpretieren, sich auch hier sozusagen auf den Wortlaut des Grundgesetzes zu beschränken. 3. Stärkung des „Gewichtes“ des Bundestages:
Erste Gewalt im klassisch-altliberalen Sinne oder Arena politischer Gruppen?
Was Frau Hamm-Brüchers öffentlichkeitswirksame Forderung nach einer „Stärkung des einzelnen Abgeordneten“ betrifft: Wer wäre nicht grundsätzlich dafür, den einzelnen gegen die „Mächtigen“ in Schutz zu nehmen? Konkret geht es der Initiative Parlamentsreform um etwas anderes: Beratung und individuelle Entscheidung von den Fraktionen ins Plenum zu verlagern, was jedoch hinsichtlich der „Stärke“ des einzelnen Abgeordneten grundsätzlich nichts ändern würde. Denn die Mehrheitsregel gilt nicht nur fraktionsintern, sondern auch im Plenum — ganz abgesehen vom Problem der Realisierbarkeit.
Problematisch ist auch die zweite Hauptforderung der Initiative: das „politische Gewicht“ des Bundestages zu „stärken“. Während es eben um die Stellung des einzelnen Abgeordneten ging, geht es nun um den Bundestag insgesamt und seine Stellung gegenüber der Bundesregierung. Auch diese zweite Forderung ist zwar, wie eingangs berichtet, schon in der Bundestagsresolution vom September 1984 enthalten. Aber besonders betont und ins Zentrum der Aktivitäten gerückt wurde sie von Frau Hamm-Brücher erst zu Beginn dieser Wahlperiode. In einem „zweiten Anlauf“, so erklärte sie als Sprecherin der Initiative in der Reformdebatte am 18. September 1987 verfolge man nun das „Ziel, das Gewicht und die Funktionsfähigkeit des Parlaments als erster Gewalt im demokratischen Staat und damit vor allem seine Reputation in der Öffentlichkeit zu stärken“ -In dem der Debatte zugrunde-liegenden Antrag wird an erster Stelle das Ziel genannt. das „politische Gewicht des Parlaments und seine Kontrollaufgaben gegenüber der Exekutive“ umfassend zu stärken Zunächst gehe es um eine „nüchterne Positionsanalyse darüber, wie sich die Gewichte zwischen Legislative und Exekutive heute in der Wirklichkeit verteilen, und darum, die Frage zu klären, ob sie sich nicht zunehmend zuungunsten unseres Verfassungsauftrags verschoben haben“. Diese Analyse habe unter anderem zu der „Einsicht“ geführt, „daß unser Parlament noch weit davon entfernt ist. wirklich erste Gewalt im Staat zu sein“
In rechtlicher Hinsicht ist das Ergebnis der „Positionsanalyse“ eindeutig unzutreffend. Niemand macht dem Bundestag das Recht zur letztinstanzlichen Beschlußfassung über die Gesetzgebung streitig (abgesehen von den im Grundgesetz geregelten Kompetenzen des Bundesrates). Es ist kein einziger Fall bekannt und angesichts der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit auch nicht vorstellbar, in dem dem Bundestag die oberste Beschlußkompetenz in Sachen Gesetzgebung genommen worden wäre. In staatsrechtlicher Sicht ist der Bundestag nach wie vor „erste Gewalt im Staat“.
Frau Hamm-Brüchers Kritik zielt auf die Struktur des politischen Prozesses. Ihre Berufung auf den „Verfassungsauftrag“ deutet auch hier den Maßstab an, von dem sie ausgeht: die klassisch-altliberale Parlamentarismustheorie. Nach dieser Theorie soll das Gesamtparlament — das Parlament als Ganzes, das heißt alle Abgeordneten gemeinsam — als „Legislative“ im klassischen Sinne fungieren; ihm soll nicht nur die staatsrechtlich relevante Beschlußfassung zukommen, sondern es soll auch als Kollegialorgan die inhaltlichen Entscheidungen treffen. Gefordert wird ein klares Gegenüber von Parlament und Regierung, also das klassische Gewaltenteilungskonzept, das — wie bereits erwähnt — bei der Formulierung des Artikel 20 II 2 GG Pate stand
Aus klassisch-altliberaler Sicht ist die Kritik berechtigt. Denn faktisch entscheidet über die Gesetzgebung des Bundestages nicht die Gesamtheit der Abgeordneten, sondern lediglich eine Mehrheit unter ihnen. Insbesondere bei öffentlich umkämpften Problemen tritt die Parlamentsmehrheit nach außen gemeinsam mit den Mitgliedern des Kabinetts auf. als eine politische Gruppe oder — im Falle einer Koalition — als eine politische Gruppierung. So entsteht das schon erwähnte Phänomen der Regierungsmehrheit. Da die führenden Akteure der Regierungsmehrheit überwiegend im Kabinett und im Fraktionsvorstand sitzen, kann es nicht überraschen, daß die Mitglieder der Regierungsfraktion(en) den Kabinettsvorlagen meistens zustimmen, jedenfalls in ihren Grundzügen. Da sie über die Mehrheit der Stimmen verfügen, können sie allein über die Beschlüsse des Parlaments — des Parlaments als Staatsorgan — entscheiden. Bei vordergründiger Betrachtung entsteht so der Eindruck. daß die „Exekutive“ die „Legislative“ entmachtet. In Wahrheit „entmachtet“ — wenn man an diesem zweideutigen Ausdruck festhalten will — nicht die Regierung das Parlament, sondern die Mehrheitsgruppe im Parlament die Minderheitsgruppe im Parlament. Wegen der Mehrheitsregel kann die Parlamentsmehrheit allein über die Beschlußfassung des Gesamtparlaments entscheiden. Wirklich „entmachtet“ ist die Parlamentsminderheit jedoch keineswegs: Über die Öffentlichkeit kann sie Druck auf die Entscheidungen der Regierungsmehrheit ausüben
Dieses faktische Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition will die Initiative Parlamentsreform so weit wie möglich beseitigen. Der Bundestag soll „erste Gewalt“ im klassisch-altliberalen Sinne sein: Das Kollegium der miteinander beratenden Abgeordneten soll als Ganzes der Regiening gegenüberstehen und sie „kontrollieren“, entsprechend dem klassischen Gewaltenteilungskonzept. Warum diese Forderung? Warum wird das Plenum als Arena politischer Gruppen abgelehnt? Auch hierzu liefert die Initiative Parlamentsreform kein einziges Sachargument, ebensowenig wie zum Problem der Realisierung ihrer Forderungen.
Bei Parlamentswahlen konkurrieren nicht die Verfassungsorgane Parlament und Regierung um die Stimmen der Wähler, sondern politische Gruppen. Deshalb ist es folgerichtig, daß die politischen Auseinandersetzungen auch während einer Wahlperiode nicht zwischen den Verfassungsorganen stattfinden. sondern zwischen den politischen Gruppen, insbesondere zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Akzeptiert man — wenn auch insoweit gegen die Intention des Parlamentarischen Rates — die faktische Gruppenstruktur, dann sollte die Forderung nach einer Stärkung des „Gewichtes“ des Bundestages folglich bedeuten: alles zu tun. was die Funktion des Bundestages als Arena politischer Gruppen verbessern, sie gegenüber der Öffentlichkeit überzeugender und attraktiver machen kann. Die Stichworte sind bekannt: „lebendigere Debatte“ und „Streitkultur“. Die Initiative Parlamentsreform und auch der Bundestagspräsident haben dazu Vorschläge gemacht, die zu diskutieren hier zu weit führen würde. Am wichtigsten dürfte die Forderung sein, endlich jener Bestimmung der Geschäftsordnung Geltung zu verschaffen. nach der die Redner grundsätzlich frei sprechen sollen (§ 33 GO-BT). Auf Parteitagen sind die Politiker hierzu in der Lage: Warum nicht ebenso im Plenum? Jeder Student im Anfangssemester weiß: Vorlesungen, die wirklich nur Vor-Lesungen sind, langweilen fast immer aufs äußerste. Schreib-stil und Sprechstil sind nun einmal unterschiedlich. In dieser und manch anderer Hinsicht — Fairness der Plenardebatten — könnte sich die Initiative Parlamentsreform um den Bundestag verdient machen.
V. Die Aufgabe für die nächsten Jahre
Sowohl die Äußerungen der Initiative Parlamentsreform selbst als auch etliche positive Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen, wie weit die klassisch-altliberale Idee nach wie vor verbreitet ist. Gleichwohl ist nicht ersichtlich, wie sie mit angemessenem Aufwand realisiert werden könnte. Praktikable Vorschläge gibt es nicht. Von den Anhängern des klassisch-altliberalen Maßstabes ist die Gruppenstruktur bisher nur als Abweichung vom eigenen Ideal wahrgenommen worden, nicht als autonome Alternative. Zunächst kommt es deshalb darauf an, beide Maßstäbe bewußt zu machen. Noch wichtiger ist ihre vergleichende Bewertung. Ist der Gruppentyp dem klassisch-altliberalen Typ. ist das neue dem klassischen Gewaltenteilungskonzept mindestens gleichwertig? Trotz der grundlegenden Bedeutung dieser Fragen sind sie bisher nicht erörtert worden, weder von der Rechts-noch von der Politikwissenschaft Die Lage ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß beide Seiten, sowohl die Anhänger der faktischen Gruppenstruktur als auch die Befürworter der klassisch-altliberalen Parlamentsvorstellung, die jeweils eigene Auffassung für so selbstverständlich halten, daß sie sich nicht um eine angemessene Begründung bemühen. Die Vertreter der Gruppenstruktur begnügen sich damit, die klassisch-altliberale Vorstellung als bloße „Fiktion" oder als „überholt“ abzutun oder von „ideologischen Verzerrungen“ zu sprechen. Eine Antwort auf die Frage, warum allein die Gruppenstruktur „realistisch“ sei. sucht man bei ihnen vergebens. Gleiches gilt für die Gegenseite. Die Initiative Parlamentsreform ist hierfür ein Beispiel. Frau Hamm-Brücher versichert, daß sie „keineswegs an eine Dogmatisierung des Grundgesetzartikels 38 Abs. 1“ denke Versteht man jedoch unter Dog-matisierung, daß man die eigene Interpretation für selbstverständlich, keiner Begründung bedürftig hält, während man die Gegenauffassung ignoriert, dann liegt hier durchaus eine solche Dogmatisierung vor.
In ihrer Bundestagsrede vom 10. Dezember 1986 hat Frau Hamm-Brücher an die Abgeordneten appelliert, „Mut zum Grundgesetz“ zu beweisen Diese Formulierung ist insofern irreführend, als in Wahrheit nicht Mut zum Grundgesetz selbst gemeint ist, zu seinem Wortlaut, sondern Mut zur Intention des Parlamentarischen Rates. Gehört aber letztlich nicht mehr Mut dazu, eine liebgewordene Vorstellung selbstkritisch zu überprüfen und über realisierbare Alternativen nachzudenken?
Welchen Typ parlamentarischer Demokratie wollen wir? Die Diskussion dieser Frage ist die große verfassungspolitische Aufgabe für die nächsten Jahre, vor allem auch im Blick auf das Ansehen des Bundestages in der Öffentlichkeit. Gleiches gilt für die Landtage Das Ziel sollte ein möglichst breiter Konsens über einen Maßstab sein, der — wie auch immer er im einzelnen aussehen mag — mindestens drei Kriterien genügen müßte: Vereinbarkeit mit der Verfassung. Realisierbarkeit in der Praxis und Funktionsgerechtigkeit. Frau Hamm-Brücher hat selbst „nachdrücklich für eine tabufreie Diskussion der Problematik der Anwendung des Grundgcsetzartikels 38 Abs. 1“ plädiert Die tabufreie Diskussion sollte vor allem im Interesse derer liegen, die bisher von der klassisch-altliberalcn Vorstellung ausgehen. Denn nach wie vor ist offen, wie sie realisiert werden könnte. Das unkritische Festhalten an diesem Maßstab führt in eine Sackgasse.