I. Einleitung
Nicht das Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat an sich, wohl aber das Verhältnis Demokratie und katholische Kirche stellt sich aus historischer Sicht zeitweise als äußerst spannungsgeladen dar
Es wäre jedoch falsch, aus diesen Umständen zu folgern, daß nichts in Bewegung und Fortentwicklung sei. Im Gegenteil: Sowohl auf höchster kirchlicher Ebene — Dreh-und Angelpunkt ist dabei das Vatikanum II — wie vor allem in der allgemeinen Diskussion findet sich eine Flut von Stellungnahmen und Erklärungen, Aufsätzen und Kommentaren zum Thema Staat, Gesellschaft und Demokratie. Doch ist charakteristisch, daß in letzterer weitgehend begrenzte Probleme aufgegriffen werden und der größere ordnungspolitische Zusammenhang in den Hintergrund tritt. So bleibt das Verhältnis von traditioneller und neuerer Lehre wie die Verbindung der einzelnen Elemente zum systematischen Ganzen auf den ersten Blick unklar und verschwommen. Und — es wird zu wenig sichtbar, daß sich zum Teil erhebliche Fortentwicklungen vollzogen haben. Damit dürfte im Zusammenhang stehen, daß der offiziellen Lehre der katholischen Kirche, je nach Standpunkt des jeweiligen Wissenschaftlers, eine prinzipielle Zustimmung zur Demokratie oder Vorbehalte gegenüber dieser Staatsform zugeschrieben werden
Angesichts dieser Situation und des Umstandes, daß systematische und grundlegende Arbeiten neueren Datums kaum vorhanden sind, darf nicht verwundern, daß in die nichtkirchenamtliche Diskussion mitunter von außen kommendes Gedankengut unreflektiert und unkritisch übernommen wird oder daß in anderen Denkansätzen entnommene Sprachhülsen und Konzepte „katholische“ Inhalte gegossen werden. Horst Dähn stellt in bezug auf beide Kirchen fest: „(Es) . . . zeigt sich uns ein sehr widersprüchliches Bild. Wir finden in den verschiedensten Thesen, Memoranden, Denkschriften von Theologen, Sozialwissenschaftlern, Publizisten, Organisationen im Bereich der katholischen und evangelischen Kirche, konservative, auf die Bewahrung des politisch-gesellschaftlichen, ökonomischen und soziokulturellen Status-quo ge-richtete Denkstrukturen neben kritisch-progressi- Denkmustern, welche auf der Basis sozio-öko-nomischer Demokratisierungsstrategien orientieven ren.“
II. Historische Entwicklungen, Bedingungen und Hintergründe
1. Katholische Kirche und Demokratie im 19. Jahrhundert In der Lehrtradition der katholischen Kirche findet sich kontinuierlich der Standpunkt der prinzipiell neutralen Haltung gegenüber den verschiedenen Staatsformen insoweit — dies ist der entscheidende Zusatz — die wesentlichen Aussagen über den Staat gewahrt bleiben. Zu diesen Aussagen gehören die Lehre über die Staatsgewalt, über das Verhältnis von Staat und Kirche und über das Gemeinwohl. Die Lehre über das Verhältnis von Staat und Kirche betrifft insbesondere die Verpflichtung des Staates gegenüber der Wahrheit, Wahrheit verstanden im weitesten Sinne des Sittengesetzes
Der rationalistische Individualismus und die totalitäre Demokratie des 19. Jahrhunderts stellten nun gerade diese wesentlichen Aussagen radikal in Frage.
Unter dem Aspekt der diesbezüglichen Verpflichtung des Staates wurden Volkssouveränität, Glaubens- und Gewissensfreiheit zu zentralen Themen der Auseinandersetzung
Dieses Denken, das sich, nachdem es sich in Frankreich mit der Französischen Revolution etabliert hatte, über ganz Europa ausbreitete und insbesondere in den romanischen Ländern von einem in vieler Hinsicht zutiefst illiberalen, militant-kirchenfeindlichen Liberalismus getragen war, hat Murray folgendermaßen charakterisiert: Die philosophische Grundthese des Rationalismus war die Theorie der „conscientia ex lex“, die Lehre von der absoluten Autonomie der individuellen menschlichen Vernunft. Die Umsetzung dieses Grundsatzes in das politische Leben war die Theorie von der absoluten Souveränität des Volkes, die Theorie von der Allmacht und Allzuständigkeit des Staates, in der das Prinzip von der Einheit und Unteilbarkeit der nationalen Herrschaft enthalten war. Das bedeutete die Aufhebung aller Unterscheidungen zwischen Staat und Gesellschaft. Das gesamte soziale Leben unterstand dem Machtanspruch eines totalitär gewordenen Staates, der auch für den religiösen Bereich Vorrechte aus eigener Machtvollkommenheit herleitete. Wie die autonome individuelle Vernunft, deren politische Verkörperung er war, verstand sich der Staat als Schiedsrichter hinsichtlich, der religiösen Wahrheit und der kirchlichen Verfassung. Sein diesbezügliches Urteil, das der Grund-these des Rationalismus entsprach, besagte, daß alle Religionen gleich waren, als gleicher Ausdruck des individuellen Gesetzes des freien Gewissens zu nehmen seien. Man räumte deshalb der katholischen Kirche und den übrigen Kirchen nur den gleichen Status freiwilliger Vereinigungen ein und leitete deren Existenz und Recht zu handeln einzig aus dem rechtlich unbegrenzt zuständigen Staat her. Die Kirche war in die Rechtssprechung des Staates eingegliedert und Untertan eines „principatus sine modo sine lege“; sie besaß praktisch keine öffentliche Existenz, öffentliche Religion war ein Widerspruch in sich selbst. Der Staat und damit das gesamte öffentliche Leben war offiziell atheistisch, Religion eine Privatangelegenheit
Die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Demokratie beginnen zunächst sehr heftig in Frankreich mit der Revolution von 1789. Durch die inneritalienischen Einigungsbestrebungen verlagert sich dann die Aufmerksamkeit der Kirche Mitte des 19. Jahrhunderts nach Italien und auf den Kirchen-staat
Die politisch-historische Bedeutung dieser Vorgänge für das Verständnis der Volkssouveränität ergab sich aus dem Umstand der im
Die grundsätzlich-normative Relevanz der Themen Volkssouveränität, Glaubens-und Gewissensfreiheit sowie Verpflichtung des Staates gegenüber der religiösen Wahrheit lag und liegt darin:
— daß die Volkssouveränität, schon rein formal gesehen, „als Legitimität verleihende , politische Former Ausgangspunkt und Grundlage der modernen Demokratie ist und damit als hypothetische Grundnorm* am Anfang jeder demokratischen Staatslehre steht“
— daß das Recht auf freie Religionsausübung unauflösbar mit dem Konzept von Menschen-und Bürgerrechten strukturell verbunden ist. Dieses setzt zumindest die freiheitlich-rechtsstaatliche Verfassungsdemokratie voraus. Meinungs-, Presse-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit — Rechte, die die freiheitliche Demokratie erst ermöglichen — sind ohne gleichzeitige Freiheit des Glaubens und des Gewissens als Voraussetzung schwer vorstellbar. In der Anerkennung oder gar im Eintreten für Glaubens-und Gewissensfreiheit liegt sowohl der Verzicht auf einen absoluten Gel-tungsanspruch auf der Ebene des Rechts und der Politik als auch die Zustimmung zum Ethos einer freiheitlichen Demokratie, das wesentlich im institutionalisierten Mehrheitsprinzip, in Toleranz und Kompromiß begründet ist
Erst nach langer Zeit ist die Kirche dazu gekommen, die Lehre von der Volkssouveränität nicht nur zu dulden, sondern ihr auch die gebührende und in Anbetracht der Entwicklung notwendige, besondere Hervorhebung zukommen zu lassen. Sie hätte in der scholastischen Lehre von der Volkssouveränität, besonders in der Form, die ihr die spanischen Scholastiker gegeben hatten, für die Auseinandersetzung mit der totalitären Demokratie ein tragfähiges und fortentwicklungsfähiges Fundament gehabt. In dieser Lehre war die freiheitlich-rechtstaatliche Demokratie des 20. Jahrhunderts in ihren Grundzügen bereits angedeutet
Gerade weil die Aufmerksamkeit der Päpste von Pius VI. (1775-1799) bis hin zu Pius X. (19031914) der Eindämmung der revolutionären Ideologien galt, übersah man, daß sich hinter den vordergründigen Erscheinungen des Umsturzes und der Kirchenfeindlichkeit in der Tiefe die Ablösung einer den berechtigten Bedürfnissen der Zeit nicht mehr gewachsenen Ordnung und somit ein Werk des Fortschritts vollzog
Die Kirche übernahm nie den Legitimismus als offizielle Doktrin, aber sie näherte sich ihm in der Praxis an: deshalb die zeitweise starke Betonung des heiligen Charakters der Autorität und der Gehorsamspflicht der Untertanen, das Nichterwähnen der scholastischen Volkssouveränitätslehre im allgemeinen und der darin umrissenen Rechte des Volkes im besonderen, und eine entsprechende, durch das ganze Mittelalter hindurch unbekannte Hervorhebung von Römer 13
Doch noch im Laufe des 19. Jahrhunderts bahnte sich eine langsame Entschärfung an. Die radikalen Elemente des Rousseauschen Demokratieverständnisses erfuhren eine schrittweise Anpassung an das angelsächsische Modell, indem die rechtsstaatlichen Elemente allmählich verstärkt wurden; das Verfassungsdenken entfernte sich vom Verständnis einer Volkssouveränität, „das eigentlich den Begriff der Verfassung als eines Widerlagers der fluktuierenden, politischen Öffentlichkeit und ihrer Willensbildung ausschloß“. Außerdem machten die soziale Frage und die Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung „die Idee einer Demokratie pure“, die auf dem abstrakten Individuum aufbaute, ohne die konkrete Sozialität des situationsbezogenen Menschen zu berücksichtigen, gegenstandslos.
Zusätzlich versuchten schon kurz nach 1848 weitblickende katholische Geistliche und Laien angesichts der Probleme der neuen industriellen Welt, vom Denkschema eines starren Gegenüber von Staat und Kirche wegzukommen; sie setzten dabei statt auf institutionelle Verbürgungen stärker auf eine gesellschaftlich-soziale Aktivität der Kirche. Der politische Katholizismus bahnte aus der Praxis heraus der Kirche den Zugang zum neuen-demokratischen Verfassungsstaat
Es zeigte sich einerseits, daß die „modernen Freiheiten“, dort wo sie sich in einem geläuterten Verständnis in der Konstruktion des rechtsstaatlichen Verfassungsstaates durchsetzten, die Kirche nicht beeinträchtigten, sondern eine erstaunliche Lebenskraft entwickeln ließen
Als das Zweite Vatikanische Konzil zusammentrat, waren aus den ehemals kulturkämpferischen europäischen Staaten vorstaatliche Grundrechte anerkennende, rechtsstaatliche Demokratien geworden, die jede Religion als ein für das Zusammenleben der Bürger im Staat und damit auch für den Bestand des Staates und der Gesellschaft selbst schutzwürdiges Rechtsgut anerkannten und diesem im Bereich des Öffentlichen eine ungehinderte Existenz in völliger Unabhängigkeit von der staatlichen Gewalt garantierten
Diese mannigfachen Umstände und Verhältnisse haben es möglich, aber auch nötig gemacht, in Fragen des politischen Zusammenlebens vom einzelnen Menschen auszugehen, seine Freiheit und seine Rechte zu betonen und es von diesen her nahe zu legen, nach dafür geeigneten politischen Strukturen Ausschau zu halten.
Mit den Enzykliken „Mater et magistra“, „Pacem in terris“, mit der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et spes“, und mit der Erklärung über die Religionsfreiheit, „Dignitatis humanae“ sowie dem Apostolischen Brief „Octogesima adveniens“, um die besonders wichtigen und neueren Dokumente zu nennen, hat die katholische Kirche innerhalb ihrer Lehre in bezug auf Staat und Demokratie eine gewaltige Fortentwicklung vollzogen. Daß dies in ähnlichem Maße auch die weltlichen diesbezüglichen Lehrsysteme berei-chert hätte, läßt sich nur bedingt sagen. Die Kirche hatte dafür einen zu großen Rückstand
Der deutsche Katholizismus verwandte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einen großen Teil seiner Kraft darauf, einen angemessenen Platz im Wilhelminischen Kaiserreich zu erringen: Je mehr er diesem Ziel näherkam, desto stärker wurde seine Bereitschaft, die bestehende Ordnung nicht nur hinzunehmen, sondern sie selber mitzutragen
Das politische Denken im deutschen Katholizismus unterschied sich somit nur graduell, aber nicht grundsätzlich vom Geist der Wilhelminischen Gesellschaft. Diese weitgehende Anpassung an Geist und Wirklichkeit der Vorkriegsepoche war wohl die Hauptursache dafür, daß bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die Demokratie als konkret in Frage kommende Staatsform kein Thema war — das Bekenntnis zur Monarchie war einhellig —, so daß es nach 1918 weiten Teilen des Katholizismus schwer fiel, ein wohlwollendes Verhältnis zur Demokratie zu gewinnen
Das Provisorium der Republik wurde denn auch zunächst ohne den Katholizismus begründet. Er hatte sich während der Revolution weder für noch gegen sie aktiv eingesetzt, wenngleich man den Umsturz allgemein kategorisch ablehnte. Max Pribilla nannte sie einen „einzigartigen, weltgeschichtlichen Frevel am deutschen Volk“
Stand das linke Zentrum und die republikanische Richtung im deutschen Katholizismus von Anfang an vorbehaltlos für die Demokratie und für den bleibenden Bestand ihrer großen Prinzipien wie „Ableitung der Regierungsgewalt von dem Volks-willen . . Bestimmung der Staatsform durch den Willen des Volkes, Versöhnung der Klassen und Stände“
Die sich über das Ja zur Republik empörenden rechten Kreise im deutschen Katholizismus, die zur Weimarer Verfassung und Republik ein grundsätzliches Nein sprachen, waren nur bedingt im Zentrum vertreten. Sie gruppierten sich rechts von ihm, vor allem in den „Historisch-Politischen Blättern“, nachmals „Gelben Heften“, in der „Görres-Korrespondenz“, den Trierer „Petrus-Blättern“, der Frankfurter Zeitschrift „Der Fels“, in der Wiener Zeitschrift „Das Neue Reich“ und von 1920 an in der „Nationalen Arbeitsgemeinschaft deutscher Katholiken“ in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP).
Die grundlegende theoretische Fragestellung, um die es in diesen Auseinandersetzungen ging, war die der Volkssouveränität. Sie war Hauptangriffspunkt der antidemokratischen rechten Katholiken. Diese Kreise verstanden den Begriff der Volkssouveränität nur im absoluten Rousseauschen Sinne, also als Widerspruch zu den grundlegenden katholischen Wahrheiten.
Das Prinzip der Glaubens-und Gewissensfreiheit wie der religiösen Verpflichtung des Staates, das in der Auseinandersetzung Roms mit den katholischen Ländern eine so große Rolle spielte, wurde nur untergeordnet thematisiert
Die Diskussion um die Demokratie im deutschen Katholizismus bis zum Ende der Weimarer Republik war gewissermaßen eine „Diskussion um die Anerkennung und Grundlegung der Demokratie“.
Sie hatte zwei Abschnitte. Während des ersten wurde vor allem unter den Theologen des Jesuiten-ordens im Rahmen von Grundfragen des Staatslebens „die Möglichkeit zu einem Verständnis der demokratischen Staatsverfassung eröffnet“
Dieser innerkatholische Verfassungsstreit, der seine Weiterwirkungen im staatsphilosophischen und staatsrechtlichen Schrifttum seiner Zeit hatte, wurde auf der einen Seite von Persönlichkeiten wie Tischleder, Rommen, Mausbach u. a. geführt, die sich um eine Erneuerung der Scholastik des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihrer Vertragstheorie gegen die traditionelle Staatsphilosophie des 19. Jahrhunderts bemühten. Ihnen standen auf der anderen Seite Wissenschaftler wie Schrörs und Kiefl gegenüber, die als erklärte Monarchisten von der Position einer legitimistisch gedeuteten katholischen Staatslehre her der Republik und damit der Demokratie den schärfsten Kampf ansagten
Eine besondere Zuspitzung erreichten diese Auseinandersetzungen in der Kontroverse Tischleder — Kiefl. Mausbach kam ebenfalls eine spezifische Bedeutung zu. Er hatte als Kirchenrechtler an der Weimarer Verfassung wesentlich mitgearbeitet. So fiel es ihm besonders zu, deren Vereinbarkeit mit der katholischen Auffassung zu rechtfertigen.
Die im Verlauf dieser Auseinandersetzungen im deutschen Katholizismus mehrheitlich akzeptierte scholastische Lehre von der Volkssouveränität war nach nach dem Zweiten Weltkrieg kein Thema mehr. In verschiedensten Erklärungen und Abhandlungen wurde und wird sie zwar wiederholt angesprochen, aber als selbstverständlich vorausgesetzt und dargelegt.
Stellt sich der Weimarer Katholizismus in seiner Einstellung zur Staatsform der Demokratie und zur Weimarer Republik nicht geschlossen dar, so zeigt sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes Bild
Die Diskussionen über „bestimmte Prinzipien, Strukturen und Prämissen der Demokratie“ sowie das „Verhältnis zur Demokratie“ gehen auf unterschiedliche Anlässe zurück. Im einzelnen lassen sich folgende Diskussionsfelder und Diskussionsphasen ausmachen: Es ist dies zunächst die Diskussion um die „Rechtfertigung der Demokratie aus ihren Wesen und Werten“. Diese zielt unter sozial-philosophischen und theologischen Aspekten auf eine nähere wesens-und wertmäßige Bestimmung und Deutung der Demokratie als Staatsform. In einer gewissen Kontinuität zur Weimarer Zeit stehend, ist sie auf die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik beschränkt.
Des weiteren wurde darüber diskutiert, was Demokratie funktional überhaupt sei bzw.sein könne; ob sie ihrem inneren Anspruch nach nur politische Herrschaftsform sei oder ob sie darüber hinaus auch umfassende Lebensform sein könne, ja müsse; ob beispielsweise die theologische Demokratierezeption unter Vernachlässigung der realen Bedingungen Demokratie nicht zu sehr als Emanzipations-, Autonomie-und Freiheitsgeschehen zu deuten versuche und sich damit in eine gefährliche Irrealität begebe. Diese Diskussion wurde seit der Gründung der Bundesrepublik geführt. Im Zuge der allgemeinen Demokratisierungseuphorie und -diskussion Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erreichte sie einen außergewöhnlichen Höhepunkt.
Ein dritter Schwerpunkt der Diskussion ist das Problem einer für alle verbindlichen Werteordnung im Pluralismus und demokratischen Staat, insbesondere die Frage, inwieweit auch der demokratische Staat auf bestimmte Grundwerte festgelegt ist, die ihm als Staat zur Realisierung verpflichtend auferlegt sind — inwieweit diese disponibel sein können — oder, ob sich Demokratie nur auf einen Konsens und eine Garantie in Verfahrensfragen beschränke. Auch diese Diskussion gehört unter dem Stichwort „Wertkonsens und Verfassungskonsens“ zu den ständigen Themen und erreicht mit der sogenannten Grundwertediskussion einen gewissen vorläufigen Höhepunkt und besondere Aufmerksamkeit. Schließlich geht es um die Strukturen und das „Ethos“ der Demokratie. Die nennenswerten Anfänge dieser Diskussion liegen bereits im organischen Staatsdenken der Weimarer Zeit. Besondere Aufmerksamkeit wird ihr vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren gewidmet. Erneute Impulse bringen die Demokratisierungsdiskussion der siebziger Jahre und letztlich auch die Grundwertedebatte.
III. Staat und Demokratie nach dem Zweiten Vatikanum
1. Volkssouveränität Die scholastische Lehre von der Volkssouveränität bildet heute eine der Grundlagen katholischen Denkens über Staat und Demokratie. Die soge-nannte Lehre von Ursprung, Träger und Grenzen der Staatsgewalt innerhalb der katholischen Staatslehre ist mit ihr identisch. Es ist eine Lehre, die die für die Demokratie essentielle Grundbestimmung „Selbstregierung des Volkes“ eindeutig enthält, eine Lehre, nach der Verfassung, Gesetzgebung und Regierung letztlich auf den Willen, den Auftrag und das Vertrauen der Regierten zurückzuführen sind. Ob periodische Versammlungen und Wahlen oder unperiodische Initiativen, Referenden und Plebiszite, ob direkte oder repräsentative Demokratie, ob Verbände, Parteien und Fraktionen als Vermittlungsagenturen oder ob eher mehr Partizipation und Dezentralisierung: für diese und weitere Alternativen bietet diese Lehre keine hinreichenden Entscheidungskriterien
Die scholastische Lehre von der Volkssouveränität nimmt bei Thomas von Aquin ihren Ausgang und bekommt — nach zunehmender Entfaltung — mit Suarez ihre wesentliche Gestalt. Im Verlauf der Geschichte erfreute sie sich unterschiedlicher Zustimmung. Trotzdem ist sie niemals verworfen, allerdings auch nie zur offiziellen Lehre der Kirche erhoben worden
Zum Thema Volkssouveränität heißt es in „Gaudium et spes“: „. . . Offensichtlich sind also die politische Gemeinschaft und die öffentliche Autorität in der menschlichen Natur begründet und gehören zu der von Gott vorgebildeten Ordnung, wenngleich die Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden dem freien Willen der Staatsbürger überlassen bleiben. Ebenso ergibt sich, daß sich die Ausübung der politischen Gewalt in der Gemeinschaft als solcher oder in den für sie repräsentativen Institutionen immer nur im Rahmen der sittlichen Ordnung vollziehen darf, und zwar zur Verwirklichung des Gemeinwohls . . . Dann aber sind auch die Staatsbürger im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet. Daraus ergeben sich die Verantwortlichkeit, die Würde und die Bedeutung der Regierenden. Wo jedoch die Staatsbürger von der öffentlichen Gewalt, die ihre Zuständigkeit überschreitet, bedrückt werden, sollen sie sich nicht weigern, das zu tun, was das Gemeinwohl objektiv verlangt. Sie haben jedoch das Recht, ihre und ihrer Mitbürger Rechte gegen den Mißbrauch der staatlichen Autorität zu verteidigen, freilich innerhalb der Grenzen des Naturrechts.“
Im deutschen Katholizismus war die scholastische Lehre von der Volkssouveränität vor allem im Anschluß an Papst Leo XIII. von den Vertretern der Neuscholastik besonders in der Form, die ihr die Klassiker des 16. und 17. Jahrhunderts gegeben hatten, aufgegriffen, verteidigt und auch abgewandelt worden. Auf dieser Basis wurde dann in der Weimarer Zeit weitergearbeitet. Zu nennen sind Tischleders Veröffentlichungen: „Ursprung und Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas und seiner Schule“ und „Die Staatslehre Leos XIII.“ sowie Rommens Publikationen: „Der Staat in der katholischen Gedankenwelt“ und „Die Staatslehre des Franz Suarez“. Diese machen die scholastische Lehre vom naturrechtlichen Träger der Staatsgewalt dem deutschen Katholizismus zugänglich und liefern so dem Weimarer politischen Katholizismus die bestimmende staats-theoretische Grundlage und entscheidende Argumentationsbasis für die Rechtfertigung der Weimarer Demokratie
Die grundlegenden Ausführungen über das Recht finden sich im zweiten Absatz der Erklärung. Es heißt dort: „Das Vatikanische Konzil erklärt, daß die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlicher Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen — innerhalb der gebührenden Grenzen — nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst begründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muß in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, daß es zum bürgerlichen Recht wird.“
Die katholische Kirche hat hier in der Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche, das sich konkret als das Thema der Glaubens-und Gewissensfreiheit sowie der „cura religionis“ des Staates darstellt, nicht wie bei der Frage der Volkssouveränität einfach eine Tradition, die in ihr gewachsen war und die sie zeitweise in der Praxis zurückgestellt hatte, betont aufgreifen und fortschreiben können. Sie hat sich hier selbst einem Wandel ihrer Auffassung unterzogen. Dies wird deutlich, wenn unter dem Aspekt ihrer verfassungsrechtlichen und politischen Auswirkungen die bis zum Zweiten Vatikanum vertretenen Grundpositionen zusammengefaßt und denen gegenüber gestellt werden, die sich auf die Erklärung über die Religionsfreiheit bezogen. Vor dem Zweiten Vatikanum versuchte man, das Problem a priori und abstrakt zu lösen. Prämisse war, daß nur der „Wahrheit“ und nicht dem Irrtum ein Recht auf Dasein zukommen könne. Man räumte deshalb durchgehend nur dem mit der „Wahrheit“ übereinstimmenden Gewissen, dem „conscientia vera“ die Fülle der religiösen Freiheiten ein
Die verfassungsrechtliche Konsequenz, die sich aus der Prämisse, daß nur der Wahrheit und nicht dem Irrtum ein Recht auf Dasein zukommen könne, war, daß man zwischen einem idealen Sollzustand und dem für die konkrete historische Situation zu findenden Sollzustand unterschied. Dies drückte sich in dem klassischen Begriffspaar: These — Hypothese aus. Die These besagt, daß der Staat nicht nur an die natürliche Ordnung, das Naturrecht, gebunden ist, sondern auch an das positiv göttliche Gesetz. Der Staat hat deshalb die Pflicht, in seinem Verfassungsrecht die katholische Kirche als vollkommene Gesellschaft sui iuris und als einzige religiöse Gesellschaft anzuerkennen. Er hat entsprechend den sich aus der natürlichen Ordnung und den aus dem positiv göttlichen Gesetz sich ergebenden Erfordernissen tätig zu werden, was unter anderem bedeutet, den Irrtum in der Öffentlichkeit zu unterdrücken. Die Hypothese stellt ab auf die „quästio facti“. Je nach dem Grad der Katholizität einer Gesellschaft ist die These anzuwenden bzw. von ihr Abstand zu nehmen, um größere Übel zu vermeiden. Die Grade der zu übenden staatlichen Toleranz können folglich — entsprechend einer differenzierten Güterabwägung — unterschiedlich sein.
Das Zweite Vatikanum hingegen geht von zwei empirischen Tatsachen aus: der pluralen Welt 56) und dem erwachten personalen und politischen Bewußtsein
Die Folgerungen, die sich daraus für die „cura religionis“ des Staates ergeben, sind folgende: Der Staat wird zurückgedrängt auf die Aufgabe, lediglich die strukturell-rechtlichen Voraussetzungen der Religionsfreiheit — und der übrigen Freiheiten — zu schaffen und zu garantieren sowie die materiell-ökonomischen Voraussetzungen dafür entsprechend seinen Möglichkeiten sicherzustellen. Der Staat verliert damit nicht jegliche Verpflichtung gegenüber der Religion — wie man vorschnell meinen könnte —, aber er verliert jegliche Kompetenz hinsichtlich eines Urteils und eines entsprechenden Handelns in bezug auf „Wahrheit und Irrtum“. Damit ist das Wahrheitsproblem aus dem politisch-rechtlichen Bereich herausgenommen. Der Mensch hört auf, Objekt entsprechender staatlicher Maßnahmen zu sein. Die weltliche Rechtsordnung wird nicht primär als Tugend-und Wahrheitsordnung, sondern als Friedens-und Freiheitsordnung gesehen
Die Annäherung der katholischen Kirche an das neuzeitliche Postulat der Menschenrechte erfolgte allerdings nur schrittweise. Trotz ihrer überragenden Bedeutung für die Gerechtigkeit in Staat und Gesellschaft gehörten die Menschenrechte keineswegs zu den traditionellen Grundbegriffen und Hauptthemen der katholischen Sozialethik. Der Weg dahin führte vielmehr von scharfer Kritik über zurückhaltende Beurteilung zur Billigung und letztlich zu einer enthusiastischen Verteidigung und Befürwortung
Die ersten Schritte zur Übernahme der Menschenrechtskonzeption in die katholische Lehre erfolgen bereits mit Papst Leo XIII. Zwar legt dieser in seinen Staatsrundschreiben gegen die modernen Freiheiten äußerste Zurückhaltung an den Tag, doch eröffnet er gleichzeitig mit ihnen erste Wege zu einem Verständnis persönlicher Rechte des Menschen. Vor allem ist in dem Rundschreiben „Rerum novarum" ein gewisser Zugang zu Menschenrechten sozialer Art zu erkennen. Von Papst Pius XI. wird diese Linie fortgesetzt.
Prinzipiell greift jedoch erst Papst Pius XII. die Frage nach den Rechten des Menschen in verschiedenen Stellungnahmen auf, besonders in der Weihnachtsansprache von 1944, in der er sich mit den unverzichtbaren, grundlegenden Rechten des Menschen im politischen Leben befaßt. Er betont die menschliche Person als Träger, Grundlage und Ziel der Wiederherstellung der menschlichen Gemeinschaft auf nationaler und internationaler Ebene. Dieser personalistische Ansatz wird in den späteren Erklärungen — u. a. in „Mater et magistra“ „Gaudium et spes“ und „Octogesima adveniens“ des öfteren wiederholt. Er findet auch seinen Niederschlag in „Pacem in terris".
Mit der Enzyklika „Pacem in terris“, welche geradezu als die Menschenrechtserklärung der katholischen Kirche bezeichnet worden ist
Die Aussagen in „Pacem in terris“ sind in Anlehnung an die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“ vom 10. Oktober 1948, an die „Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 4. November 1950 und an die „Europäische Sozial-charta“ vom 18. Oktober 1961 entfaltet. Es werden ausdrücklich die Menschenwürde, wie sie der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen zugrunde liegt, und der Kernbestand der in diesem Verständnis der Menschenwürde wurzelnden Menschenrechte bejaht. Dabei erfolgt eine organische Einfügung in die katholische Soziallehre: der Katalog der klassisch individuellen Rechte wird erweitert, die Entfaltungsrechte und die Rechte der aktiven Beteiligung von einzelnen, Gruppen und Völkern stärker in den Vordergrund gerückt. Außerdem werden Verhaltensregeln aufgestellt für die Beziehung der Bürger miteinander, für die Beziehungen zwischen Bürgern und Staat und der Staaten untereinander.
Die Entwicklung nach „Pacem in terris" rückt nicht nur weitere Rechte in das Blickfeld, sie bringt auch neue Begründungen, warum sich die Kirche für die Verkündigung und Verteidigung der Rechte des Menschen verantwortlich sieht. Zudem wird der theologische Hintergrund für die Menschenrechte weiter fortgedacht. Es wird, ohne daß damit die Menschenrechte ihre allgemeine, naturrechtliche Verbindlichkeit verlieren, gleichsam nun auch das eigentlich Christliche oder das für den Christen entscheidend Einsichtige und Verbindliche herausgestellt
So übernimmt Papst Johannes Paul II. (seit 1978) den Katalog der Menschenrechte, wie ihn die UNO in ihrer Deklaration aufgestellt hat, knüpft an „Pacem in terris“ an und entwickelt sie vor diesem Hintergrund von Fall zu Fall weiter. Die unverletzliche Würde jedes einzelnen Menschen, die er immer wieder als unveräußerlich und als ursprüngliches Recht des Menschen betont, ist dabei sein fundamentaler Ansatz. Als Charakteristikum kommt hinzu, daß die Konzentration auf den Menschen nicht aus einer allgemein ethisch-naturrechtlichen Argumentation, sondern besonders aus christologischen Überlegungen erfolgt
Während also in den Stellungnahmen bis einschließlich Pius XII. die Menschenrechte im Sinne der traditionellen Naturrechtslehre interpretiert und. begründet wurden, beginnt mit Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanum eine Neuorientierung, insofern eine Besinnung auch auf die Offenbarung und die Heilige Schrift hin erfolgt. Die Dokumente sind weniger philosophisch-naturrechtlich als mehr theologisch gehalten. Mit dieser doppelten Begründung wird in gewisser Weise das naturrechtlich-philosophische Denken fortgeführt, als auch dem biblisch-theologischen Rechnung getragen. Der Mensch und seine Würde stehen im Mittelpunkt, daraus gehen die unverletzlichen Rechte der Person hervor. Die doppelte Begründung erlaubt es, Christen wie Nichtchristen anzusprechen. Zu beobachten ist, daß die Begründung der Menschenrechte aus katholischem Denken und Glauben nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet. Nicht nur philosophisch-naturrechtlich bedarf es der genaueren Entfaltung der Begründungszusammenhänge zu den zugrundeliegenden naturrechtlichen Ansätzen wie einer gedanklichen Verbindung dieser zu einem einheitlichen System selbst; auch theologisch ist über die häufig sehr allgemeinen Aussagen hinaus noch zu einer tiefgreifenden Interpretation vorzustoßen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß in den einschlägigen Dokumenten die Menschenrechte bereits weitgehend zur normativen, unmittelbaren Grundlage des organisierten sozialen Lebens gemacht worden sind. Für Staat, Gesellschaft, Demokratie, Freiheit und Gleichheit der Menschen werden deutlich mit den Menschenrechten neue zwingende Argumentations-und Sichtweisen eröffnet und geboten
Der Staat ist danach eine in der Natur des Menschen wurzelnde Einrichtung, die ins Leben gerufen wird durch die sittliche Entscheidung seiner Glieder, die diese allerdings entsprechend ihrer Sozial-anlage in Freiheit zu vollziehen haben
Das besondere Verhältnis, das sich damit zwischen den sich zum Staate vereinigenden Menschen, der Staatsgewalt und den diese Staatsgewalt Ausübenden ergibt, ist als „philosophische Demokratie“ be-zeichnet worden
Diese Ebene der katholischen Staatslehre, die sich als die Ebene des „A priori“ bezeichnen läßt, ist streng zu unterscheiden von der Ebene des Geschichtlich-Konkreten, auf der sie die Frage der Staatsform erörtert. Das ist auch gemeint, wenn von Nell-Breuning sagt, daß die Demokratie keine Frage der Staatsphilosophie an sich, sondern der praktischen Politik sei; mit anderen Worten: keine Frage der Staatsontologie, sondern der Staats-ethik.
So verlassen die Scholastiker in der Frage der Staatsform bewußt den Boden der Staatsontologie und beginnen nach Zweckmäßigkeitskriterien zu urteilen. Insofern müssen sie aus ihrer Zeit gesehen werden. Dies gilt auch für diesbezügliche Stellungnahmen der Päpste. Formal gelten alle Staatsformen als gleich gut, soweit es um ontologische Aussagen geht und die Staatsformen nicht mit diesen in Widerspruch stehen. Für die konkrete Situation gibt man mitunter einer bestimmten Form unter dem Aspekt des Gemeinwohls den Vorrang.
Die Staatsformen selbst stellen sich in ihrer jeweiligen rechtlichen Gestalt für die herkömmliche katholische Staatslehre stets als eine bestimmte Art von Ordnung der Staatsgewalt dar, als ein bestimmtes Herrschaftssystem, in dem befohlen und gehorcht wird, als die Struktur, nach der sich Zustandekommen und Wirklichkeit des politischen Willens bestimmen. So werden sie denn auch als die .. Form der Staatsgewalt“
Weil also für die katholische Staatslehre die Staatstonn nur das Mittel ist, das unter dem Gesichtspunkt, inwieweit es die Staatszwecke zu erfüllen verspricht, zu wählen ist, lehnt sie im Hinblick auf die Staatsform Demokratie — wie Gundlach es ausdrückt — „die formalistische, sogenannte wertfreie Auffassung in der Gesellschaftslehre, die das De-mokratische zu bestimmen sucht, ohne das Staatliche vorauszusetzen“, ab
Von dieser Position scheinen auch das Zweite Vatikanum und die nachkonziliaren Erklärungen nicht abzuweichen. „Die konkrete Art und Weise, wie die politische Gemeinschaft ihre eigene Verfassung und die Ausübung der öffentlichen Gewalt ordnet, kann entsprechend der Eigenart der verschiedenen Völker und der geschichtlichen Entwicklung verschieden sein . . .“
Zu bedenken ist jedoch, daß durch die Staatsform festgelegt wird, inwieweit der Bürger eher mehr Objekt der Herrschaft oder mehr Mitbeteiligter bei der Ausübung der Herrschaftsgewalt ist, daß sich nach der Staatsform folglich auch der Grad an Freiheit und Mitwirkung bestimmen und daß gerade letztere beiden Werte optimal zu realisieren, Anspruch der Staatsform Demokratie ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich angesichts der besonderen Betonung menschlicher Würde und Freiheit in den konziliaren und nachkonziliaren Dokumenten die Frage, inwieweit aufgrund der eindeutigen Entscheidung für die rechtsstaatliche Verfassungsdemokratie nicht die traditionelle Lehre von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Staatsformen aufgegeben worden ist.
Die Meinungen hierzu sind geteilt. Eine genauere Untersuchung der einschlägigen Stellen und Argumentationsweisen läßt jedoch den eindeutigen Schluß zu, daß sich die alte Neutralitätslehre angesichts des neueren und vertiefteren Verständnisses von der Person, ihrer Würde und ihren Rechten, ihrem Verhältnis zu Staat und Gemeinschaft nur noch negativ formulieren läßt: in dem Sinne, daß „keine der bekannten Staatsformen a limine von der Konkretisierung ausgeschlossen werden kann, grundsätzlich . . . aber die Demokratie den Vorrang vor den anderen Staatsformen“ hat, daß „die präsumtio juris immer für die Demokratie“ spricht, diese „also prinzipiell anderen Staatsformen gegenüber nicht wertgleich ist, sondern stets bevorzugt auf die Möglichkeit ihrer geschichtlichen Konkretisierung geprüft werden muß.“
So ist als Fazit festzuhalten: In den konziliaren und nachkonziliaren Dokumenten wird der Begriff der Demokratie als Staatsform näherhin als Verfassungsdemokratie mit bestimmten Mindestgehalten präzisiert, es wird gleichzeitig erklärt, daß für die heutige konkret-historische Situation für unumgänglich gehalten wird, den Staat als Verfassungsdemokratie zu verstehen und zu gestalten; und es erfolgt bei der abstrakten Beurteilung der Staatsformen eine Höherbewertung und damit eine Vorrangstellung der Staatsform Demokratie vor den anderen Staatsformen. 5. Gemeinwohl und Öffentliche Ordnung In der Erklärung über die Religionsfreiheit, „Dignitatis humanae“ finden sich die Formulierungen:
„Das Gemeinwohl der Gesellschaft besteht in der Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, unter denen die Menschen ihre Vervollkommnung in größerer Fülle und Freiheit erlangen können ... — Da die bürgerliche Gesellschaft außerdem das Recht hat, sich gegen Mißbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können, so steht es besonders der Staatsgewalt zu, diesen Schutz zu gewähren; dies darf indessen nicht auf willkürliche Weise oder durch unbillige Begünstigung einer Partei geschehen, sondern nur durch die rechtlichen Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen und wie sie für den wirksamen Rechtsschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich sind, auch für die hinreichende Sorge um jenen ehrenhaften öffentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht, und die schließlich für die pflichtmäßige Wahrung der öffentlichen Sittlichkeit. Dies alles gehört zum grundlegenden Wesens-bestand des Gemeinwohls und fällt unter den Begriff der öffentlichen Ordnung.“
Diese Formulierungen deuten einen Neuansatz an, der durch den Begriff der „Öffentlichen Ordnung“ signalisiert wird. Dazu gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten: Gemäß der ersten Interpretation wäre der Begriff Gemeinwohl nur der Gesellschaft und der Begriff Öffentliche Ordnung allein dem Staat zuzuordnen. Unter Gemeinwohl wäre das Gemeinwohl der Gesamtgesellschaft im herkömmlichen zweifachen Sinne zu verstehen, unter „Öffentlicher Ordnung“ nur ein Segment daraus. Gegen diese Interpretation ist allerdings einzuwenden, daß sie einem Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis von Staat und Gesellschaft, insbesondere deren gegenseitiger Zuordnung und Aufgaben, gleichkommt. Nach herkömmlichen Verständnis wird der Staat als „societas perfecta et completa"
Die Formel vom Staat als einer „societas perfecta et completa“ wurde zwar in „Pacem in terris" insofern eingeschränkt, als man die Einzelstaaten betont als Gliederungen der weltweit zusammenwachsenden Menschheit einstufte. Die Pastoralkonstitution greift jedoch diese Einschränkung nicht mehr auf, das Zweite Vatikanum fällt insofern wieder zurück. Mit der „communitas politica“ meint es eindeutig den Staat in herkömmlicher Machtvollkommenheit
Bei Murray dagegen — auf ihn stützt sich die erste Interpretation — ist die Gesellschaft dem Staat vor-geordnet, der Staat ist nur Funktion der Gesellschaft, ohne die Fähigkeit „zu erkennen und zu wollen“. Gerade letzteres aber macht den Murrayschen „Funktions“ -staat problematisch soweit es um grundlegende Aufgabenstellungen wertbezogenen Charakters geht
Es ist schwer vorstellbar, daß das Zweite Vatikanum den Staat nicht nur direkter religiöser Verpflichtungen entkleiden, sondern ihm auch den Rückzug von Aufgaben ermöglichen wollte, die ihm bislang aus naturrechtlichen Überlegungen zugeschrieben worden sind. Berücksichtigt man das und hält man dafür, daß das Zweite Vatikanum am traditionellen Staatsverständnis, insbesondere was dessen ordnungspolitische Vorrang-und Garantenstellung gegenüber der Gesellschaft betrifft, festgehalten hat, so kommt man zur zweiten Interpretation: Der Staat behält im Prinzip seinen Charakter im Sinne der herkömmlichen „societas perfecta et completa" -Formel, seine ordnungspolitische Priorität gegenüber der Gesellschaft, aber er wird in seiner Zuständigkeit zurückgenommen und relativ klar begrenzt; die Begriffe „Öffentliche Ordnung“ und „Gemeinwohl“ sind im Murrayschen Sinne zu verstehen; sie beinhalten eine neue — die neue Aufgabenzuschreibung: „Die „Öffentliche Ordnung* und damit nur das , bonum politicum* ist in die Sorge und Pflicht des Staates gegeben, der so — und nur so — auf das Gemeinwohl der Gesellschaft bezogen ist“
IV. Ausblick
Inder heutigen weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft gilt das Prinzip der weltanschaulich religiösen Neutralität des Staates. Der Staat kann nicht mehr als das Instrument einer Verchristlichung der Welt betrachtet werden. Die katholische Kirche hat diesen Tatsachen Rechnung getragen. Künftig wird sie mehr und mehr primär in der gewichtiger gewordenen Gesellschaft ihren Ort sehen müssen.
Die Kirche ist nicht allein als Institution Teil dieser Gesellschaft, sie ist vor allem über ihre einzelnen Glieder mit dieser Gesellschaft verbunden und lebt in ihr. Ihre Freiheit, Wirkmöglichkeit und fundamentale rechtliche Sicherung hängt damit in erster Linie von der Freiheit und rechtlichen Sicherung der Bürger im Sinne verfassungsrechtlicher Grundfreiheiten ab. Grundrechtliche Verbürgungen wie Vereinigungs-, Versammlungs-, Meinungs-und Pressefreiheit, Freiheit der Lehre, besonders aber Glaubens-und Gewissensfreiheit wie allgemeine Kultusfreiheit der Bürger, bekommen somit unter diesem Aspekt existentielle Bedeutung.
Es ist deshalb, trotz der oben erwähnten Schwierigkeit, die Frage angebracht, ob die katholische Kirche nicht, nachdem das Naturrecht aus mancherlei Gründen in Mißkredit geraten ist, die Menschenrechte und die diesen vorausgehenden Grundwerte zum Gegenstand ihrer Gesellschaftslehre und Sozialverkündigung, ja zur Grundlage einer neuen universalen Sozialethik machen könnte und sollte. Dies umso mehr, als offensichtlich in der heutigen, von vielfältigen Interessen und Konflikten gespaltenen Welt angesichts des Fehlens einer gemeinsamen Weltanschauung oder religiösen Überzeugung es so scheint, daß sich nur noch in der Anerkennung der Menschenrechte der allgemeine Normenkonsens für ein friedliches Zusammenleben in Freiheit und Gerechtigkeit finden läßt.
Trotz des allgemeinen Rufs nach Menschenrechten bleibt häufig offen, auf welchen geistigen oder sittlichen Fundamenten diese Rechte beruhen. Zudem ist das ihnen jeweils zugrunde gelegte Freiheitsverständnis durchaus kontrovers. Wie sehr aber Aporien eines Katalogs von Menschenrechten zum Tragen kommen können, wenn die tiefere Begründung und gegenseitige Zuordnung von einem klaren und umfassenden Begriff des Menschen, zumindest von dessen Würde her fehlen, zeigt gerade die Grundwertedebatte. Die künftige Aufgabe der Kirchen gegenüber Staat, Demokratie und Gesellschaft wird deshalb wohl zunächst darin zu sehen sein, auf dem Felde der wissenschaftlichen und theoretischen Klärung der mit den Menschenrechten zusammenhängenden Fragen aus ihrem Menschenbild und Menschenrechtsverständnis heraus klärend und vertiefend an der Diskussion teilzunehmen. Auch wird ihr Beitrag dahin gehen müssen, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und vor ideologischen Mißbrauch zu warnen sowie in einem permanenten Erziehungsprozeß das Bewußtsein für die personale Würde des anderen zu schärfen und zu Verhaltensweisen, die den anderen in seinem Anderssein ernstnehmen, anzuregen und anzuhalten.