I. Protestantischer Pluralismus?
Der gegenwärtige Protestantismus bietet dem Beobachter das Bild eines spannungsgeladenen Pluralismus. Nicht wenigen Zeitgenossen bildet die Vielstimmigkeit und Streithaftigkeit des Protestantismus ein Ärgernis. Sie vermissen die rechte Eindeutigkeit und unverwechselbare Entschiedenheit im öffentlichen Erscheinungsbild der Kirche und der evangelischen Christenheit. Auf der anderen Seite wird der Pluralismus von sehr vielen als Ausdruck und Formprinzip des spezifischen Freiheitssinnes protestantischen Christentums begriffen. Das „Priestertum aller Gläubigen“, mit dem sich die Reformation des 16. Jahrhunderts gegen die hierarchische Autorität der katholischen Kirche stellte, mißt jedem Christen eine eigene Verantwortung zu.
Auffällig ist das Erscheinungsbild des Protestantismus aber vor allem deswegen, weil sein Pluralismus sich heute in erster Linie in politischen Auseinandersetzungen bemerkbar macht und dabei nicht selten in Konflikten und Gegensätzen unter Mitgliedern der Kirche sehr konkret wird. Der gegenwärtige Protestantismus zeigt insofern ein Bild, das für die politische Kultur der liberalen Demokratie in einer offenen Gesellschaft charakteristisch ist. Man muß sich nicht darüber wundem, sondern es ist eigentlich naheliegend und selbstverständlich, daß die Freiheit, die das politische Grundmaß einer demokratischen Gesellschaft ist, mit der Freiheit im protestantischen Selbstverständnis in enger Wechselbeziehung steht. So sind Protestanten in allen relevanten Parteien aktiv, und in den großen politischen Fragen, vor denen das Gemeinwesen heute steht, finden sich Protestanten in allen Meinungslagern. Das ist die Realität, von der man auszugehen hat, wenn man heute eine Ortsbestimmung des Protestantismus im Verhältnis zu Staat und Demokratie vornehmen will. Wer die Demokratie bejaht, kann schwerlich gleichzeitig einen monolithischen, autoritätsgebundenen Protestantismus wollen, der nur mit einer Stimme spricht. Den Kritikern der evangelischen Kirche, die ihr vorwerfen, sie sei zu tolerant und übe zu wenig Autorität aus, ist deswegen entgegenzuhalten, daß sie damit eine Forderung erheben, die dem Geist einer demokratischen Kultur widerspricht.
Die Kritik wäre allerdings vollauf berechtigt, wenn die evangelische Kirche einem schrankenlosen und unbegrenzten Pluralismus ohne Prinzipien und ohne klare Leitlinien das Wort reden würde. So ist es aber nicht. Und gerade der politische Pluralismus, der an der nordamerikanischen, stark vom Protestantismus geprägten politischen Kultur sein größtes Vorbild hat, kann nicht existieren ohne die Anerkennung und die Wahrung bestimmter prinzipieller Überzeugungen und Verfahren, die so etwas wie eine „Autorität der Freiheit“ repräsentieren. Wir werden also die Frage zu beantworten haben, welches diese Überzeugungen und Verfahrensweisen sind und wie sie in der Lehre der evangelischen Kirche und im Selbstverständnis des Protestantismus verankert sind.
Die Geschichte des Protestantismus seit der Reformation ist keineswegs eine Geschichte der Demokratie. Das Verhältnis gerade des deutschen Protestantismus zu den Ideen und zur Verfaßtheit der modernen, westeuropäisch-nordamerikanischen Demokratie ist vielmehr voller Spannungen und Konflikte gewesen. Das hängt in erster Linie damit zusammen, daß Staat und Demokratie nicht einfach identisch sind. Die demokratische Staatsform ist ja das Ergebnis großer und zum Teil revolutionärer Auseinandersetzungen in denen die christlichen Kirchen des europäischen Kontinents lange Zeit auf der Seite der Gegner der modernen Demokratie zu finden waren, während protestantische Gruppen und Bewegungen sich der Förderung und Entwicklung der Demokratie verpflichteten und dabei in Gegensatz zur Kirche gerieten.
II. Die Position des Protestantismus
Um diese geschichtlichen Zusammenhänge zu verstehen und im Lichte der Gegenwart angemessen zu würdigen, ist es aufjeden Fall ratsam, von der Position auszugehen, welche die evangelische Kirche in der Bundesrepublik heute einnimmt, und zu fragen wie sie ihr Verhältnis zu Staat und Demokratie bestimmt, durchaus stellvertretend und in Verantwortung für den Protestantismus insgesamt. Diese Position läßt sich in wünschenswerter Klarheit und Eindeutigkeit beschreiben. Denn die als „Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)“ verfaßte Repräsentanz des Protestantismus hat vor kurzer Zeit darüber ausführlich Rechenschaft abgelegt und in einer Denkschrift ihre Position genau markiert.
Unter dem Titel „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ hat der Rat der EKD, das oberste Leitungsorgan der Kirche, im Oktober 1985 diese Position der Öffentlichkeit vorgelegt 2). Die Synode der EKD hat als wichtigstes Beschlußgremium des Protestantismus dieser Stellungnahme ausdrücklich zugestimmt und in ihre eigene Verantwortung übernommen 3). Insofern liegt das Verhältnis des Protestantismus nicht im Unbestimmten und Ungefähren eines diffusen Pluralismus, sondern es ist klar definiert und durchaus verbindlich bestimmt. Das ist ein k Insofern liegt das Verhältnis des Protestantismus nicht im Unbestimmten und Ungefähren eines diffusen Pluralismus, sondern es ist klar definiert und durchaus verbindlich bestimmt. Das ist ein kirchengeschichtliches Novum. Und es ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Denn diese Ortsbestimmung für das Verhältnis des Protestantismus zu Staat und Demokratie steht am Ende einer langen und, wie schon angedeutet, konfliktreichen Geschichte, in der politische Ordnungsfragen eine oft widersprüchliche Rolle gespielt haben. Sie ist das Resultat von geschichtlichen Erfahrungen, aus denen jetzt die ausdrücklichen Konsequenzen gezogen worden sind. Um welche Erfahrungen handelt es sich?
1. Entschiedene Zustimmung zur Demokratie des Grundgesetzes Die Denkschrift verfolgt das „Ziel, der Zustimmung zur freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes Ausdruck zu geben“ (S. 7) in der Konsequenz der positiven Erfahrungen, die mit dieser Staatsform sozialer Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Willensbildung seit 1949 tatsächlich gemacht worden sind. Die Kirche tritt deswegen dafür ein, „unsere demokratische Staatsform als ein Angebot an die politische Verantwortung anzuneh
men“. Es hat sich erwiesen und bewährt, „daran mitzuwirken, daß der Staat nach menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen auf demokratische Weise dem gerecht wird, was ihm nach Gottes Willen aufgegeben ist“ (S. 12). Der Freiraum zu politischer Mitverantwortung ist für bewußte protestantische Christen uneingeschränkt gegeben, weil die Demokratie „sich nicht auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis beruft“ und keine Zustimmung im Sinne eines Glaubensbekenntnisses verlangt. Gerade weil die Demokratie aufjeden quasireligiösen Absolutheitsanspruch ausdrücklich verzichtet und keine totalen Ansprüche auf die Bürger als Menschen erhebt, wird sie im Grundsatz der Freiheit gerecht, die der Glaube und die christliche Überzeugung für sich in Anspruch nehmen. Die Tatsache, daß man sich offen als Christ bekennt, ist in keiner Weise ein Hindrungsgrund für die Ausübung beruflicher Tätigkeiten und vor allem nicht für aktive Mitverantwortung in Politik und Staat. Hierin liegt ja bis zum heutigen Tage ein schwerwiegender Unterschied zur DDR, der von den dortigen Kirchenführem in der „Kirche im Sozialismus“ bei jeder Gelegenheit beklagt und kritisiert wird. 2. Erfahrungen des Kirchenkampfes Diese positive Erfahrung erhält ihr besonderes Gewicht durch die Erfahrungen der jüngsten deutschen Geschichte. Im Dritten Reich sah sich die Kirche erheblichen Pressionen ausgesetzt, die darauf abzielten, die Ordnung der Kirche dem Führerstaatsprinzip des NS-Regimes gleichzuschalten Eine Reichseinheitskirche von staatlichen Gnaden sollte die Selbständigkeit der Kirche, die ihr gerade erst durch die Verfassung der Weimarer Republik zuteil geworden war, wieder aufheben. Die freie und öffentliche Tätigkeit der Kirche wurde behindert und verboten. Redeverbote, Verfolgungen mit Gefängnis und KZ häuften sich. Das sind heute allgemein bekannte Dinge. Die Namen von Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer stehen stellvertretend für sehr viele Zeugen der Kirchenverfolgung, die die Bekennende Kirche betrafen, weil sie sich der staatlichen Kirchenpolitik widersetzte. Es ist heute auch bekannt, daß die Nazis für den Fall eines siegreichen Endes ihrer Eroberungskriege eine konsequente Ausmerzung der Kirchen und des Christentums planten. Auf die Geschichte des Kirchenkampfes ist hier nicht im einzelnen einzugehen. Die Grunderfahrung aus dieser Epoche deutscher Geschichte ist es jedenfalls, daß die Kirche ihre Selbständigkeit notfalls auch gegen den Staat und im Widerstand gegen seine Gesetze wahren und verteidigen muß und daß ein Staat nur dann Anerkennung und Unterstützung verdient, wenn er in seiner Verfassung und in seiner Praxis uneingeschränkte Religionsfreiheit gewährt. Religionsfreiheit aber ist ein wesensmäßiger Bestandteil der Freiheitsrechte des Bürgers und kann und darf deswegen auch nicht isoliert werden von der Meinungsund Versammlungsfreiheit, der Gewissensfreiheit und der Freiheit zu selbständiger politischer Mitwirkung im Gemeinwesen. Diese negative Grunderfahrung mit einem totalitären Regime einer Einparteienherrschaft ist in die Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes eingegangen. 3. Vorbehalte gegen die Weimarer Republik Die Erfahrung des Nationalsozialismus war aber gerade für den Protestantismus außerordentlich ambivalent. Gerade aus dem Protestantismus, aus den evangelischen Bevölkerungsteilen hat der Nationalsozialismus sehr viel Zulauf und Zustimmung erhalten sowohl in seinem Anspruch, eine nationale Revolution und Erneuerungsbewegung zu sein, als auch in dem Versprechen einer staatlichen Ordnungsmacht gegen widersprechende Kräfte, was sich bis auf die Ebene der Blockwarte und der alltäglichen gesellschaftlich-politischen Kontrolle in einer breiten Akzeptanz des Regimes ausdrückte.
Der Protestantismus stand und steht also vor der Frage, worin die geistig-moralischen Wurzeln für diese unbestreitbare Tatsache des Eingehens auf die Versuchung durch das NS-Regime zu sehen ist. Darum ist eine dritte Grunderfahrung für die gegenwärtige Position von größter Wichtigkeit: Das ist die Erfahrung, die der Protestantismus und hier gerade verantwortliche Kirchenführer mit der ersten deutschen Republik nach 1918 gemacht haben. Obwohl die Verfassung von Weimar die von den protestantischen Kirchen schon lange geforderte Selbständigkeit gegenüber dem Staat brachte, ist die Demokratie damals doch nur mit größten Vorbehalten und innerer Reserve akzeptiert worden. Die demokratische Ordnung galt sehr vielen als eine durch die Niederlage von außen aufgenötigte Staatsform „westlicher“ Prägung, die dem „deutschen“ Wesen nicht entsprach. Die schon damals mögliche politische Mitverantwortung im Gemeinwesen wurde nur halbherzig bejaht, sofern sie den Interessen der Selbständigkeit der Kirche entgegenkam, aber im Grunde überwog doch das Gefühl, daß die Republik eine fremde und unangemessene Staatsform sei. In den heftigen und gegen Ende immer gewaltsamer werdenden politischen Auseinandersetzungen zwischen den die Demokratie bekämpfenden konservativen und nationalsozialistischen Parteien einerseits und den Kommunisten andererseits fanden die liberalen und sozialdemokratischen Kräfte der Mitte keine wirksame und entschlossene, sondern nur geringe und keine mehrheitliche Unterstützung aus dem Protestantismus und dessen führender kirchlicher Elite. Die darin liegende, wie immer historisch zu differenzierende Versagung der Unterstützung für die erste deutsche Demokratie gehört deswegen ebenfalls und keineswegs an letzter Stelle zu den Grunderfahrungen, die die nunmehr formulierte Position einer ausdrücklichen Zustimmung zur demokratischen Staatsform geprägt hat.
III. Erfahrungen mit der Praxis der Demokratie
Die Aufarbeitung dieser Erfahrungen ist zunächst eine Sache tagtäglicher Praxis und Bewährung, die sich im Prozeß des kirchlichen und politischen Alltags vollzieht und konkretisieren muß. In der kurzen Geschichte des Protestantismus in der Bundesrepublik sind diese Erfahrungen in verschiedenen Phasen mit unterschiedlicher Intensität und wechselnden Akzenten diskutiert und bearbeitet worden Dabei hat zu allen Zeiten die Teilung Deutschlands eine große und einschneidende Rolle gespielt. Denn diese Teilung bedeutete für den Protestantismus sehr viel mehr als für den Katholizismus. Die Mutterlande der protestantischen Reformation liegen seit der Teilung Deutschlands in dem unter kommunistischer Herrschaft stehenden Ge-bieten der DDR, und weite Gebiete des deutschen Protestantismus sind durch die Nachkriegsordnung überhaupt nicht mehr deutsches Staatsgebiet.
Durch die gewaltigen Flüchtlingsbewegungen der Nachkriegszeit sind auch die bis dahin noch weitgehend territorial verschiedenen Konfessionsgebiete zu Gebieten durchweg konfessionell gemischter Bevölkerung geworden. Insofern mußte es gerade in der Bundesrepublik zu einem neuen Verständnis der beiden großen Konfessionen untereinander kommen. Die liberale Demokratie hat sich für die Kirchen darum auch als ein besonders günstiger Rahmen politisch-staatlicher Bedingungen erwiesen, innerhalb dessen ein Prozeß ökumenischer Entspannung möglich wurde, der eine jahrhundertelange Koexistenz des weitgehenden gegenseitigen Nichtbeachtens beendete. In diesem Zusammenhang ist es von großer und schwer zu überschätzender Bedeutung, daß der demokratische Prozeß in der Neuphase der zweiten deutschen Republik auch ein Prozeß der Säkularisierung und der Entideologisierung gewesen ist Zwar hat gerade der Begriff „Säkularisierung“ im Verständnis der Kirchen oft nur einen negativen Klang, weil er mit Vorgängen der Entkirchlichung und der Abnahme kirchlichen Einflusses auf die Mitglieder der Kirchen verbunden ist. Aber man muß auch die positive Seite der Säkularisierung sehen. Sie bedeutet im Blick auf Staat und Politik eine Entkonfessionalisierung und einen größeren Spielraum für das Zusammenleben von Bürgern unterschiedlicher konfessioneller Zugehörigkeit. Die praktische Integration der Flüchtlingsströme in der Bundesrepublik und die konstruktiven Leistungen der inneren Neuordnung wären ohne dieses Zu-rücktreten alter, konfessionell bestimmter Ordnungskriterien nicht möglich gewesen. Die vielseitige Praxis des neuen Umgangs mit geschichtlichen Erfahrungen ist erst schrittweise auch von einer mehr grundsätzlicheren Bearbeitung dieser Erfahrungen eingeholt worden, welche doch insgesamt in die heute gültige Position einer begründeten Zustimmung zum demokratischen Staat eingegangen sind.
Wenn wir uns jetzt den theoretischen Fragen zuwenden, die durch die Praxis der Demokratie für das Verhältnis des Protestantismus zum Staat aufgeworfen werden, so empfiehlt es sich, auf die Anfänge der Reformation zurückzugehen. Von ihnen her läßt sich zeigen, wo die Probleme liegen und wo die Kontinuität zu finden ist, die letztlich zu einer positiven Einstellung zur Demokratie führt.
IV. Staatsverständnis und Bibelauslegung
Die protestantischen Kirchen, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, orientieren sich in allen Fragen des Glaubens und des Lebens an der Bibel als dem Wort Gottes, das seinen Willen über die Menschen verkündet. Darum bilden sich die Auffassungen über den Staat und das Verhältnis der Christen zum Politischen in erster Linie in der Auslegung bestimmter Worte und Aussagen der Bibel. Zumal Martin Luther wußte sich gerade in seiner Kritik an der römischen Hierarchie immer in Übereinstimmung mit der Tradition der Bibelauslegung und pochte darauf, daß die Ethik in allen konkreten Weisungen auf dem Bibelwort basieren solle. 1. Der Staat — eine Anordnung Gottes In der Geschichte der Bibelauslegung spielen einige biblische Stellen eine hervorragende Rolle. Mit Recht wird hier an erster Stelle ein Abschnitt aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer genannt Das 13. Kapitel des Römerbriefes ist der klassische biblisch-neutestamentliche Text für die Stellung des Christentums zum Staat. „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.“ Die Auslegungsgeschichte dieses und der folgenden Verse aus Röm. 13 füllt Bibliotheken und zeigt das immer neue Bemühen, den Grundgedanken dieses Wortes, daß nämlich die staatliche Gewalt nicht aus Geschichte, Natur oder menschlichem Vertrag zu bestimmen sei, sondern „von Gott angeordnet“ ist, in seinen Voraussetzungen und Konsequenzen zu bedenken.
Man würde es sich zu leicht machen, wenn man aus diesem Wort eine pure Untertanengesinnung herauslesen wollte. Dem Apostel Paulus war als civis Romanus die Realität des römischen Reiches mit ihren Licht-und Schattenseiten vollauf bekannt. Das Wort über die Obrigkeit als einer Anordnung Gottes steht im Zusammenhang einer längeren ethischen Ermahnung, welches die Gemeindeglieder in Rom aufruft, mit allen Menschen im Frieden zu leben, niemand Böses mit Bösem zu vergelten, sondern überall auf das Gute bedacht zu sein und Nächstenliebe zu üben (Röm. 12, 17— 21).
Die Forderung, der Obrigkeit untertan zu sein, steht ferner im Kontext der Erwartungen des nahenden Endes dieser Welt und der Erwartung des Friedensreiches Christi. Die Christen haben ihr eigenes Bürgerrecht nicht im politischen Gemeinwesen. „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herm Jesus Christus“ (Philipperbrief 3, 20). Die politische Macht ist in der Perspektive des christlichen Glaubens ein Provisorium und der Gehorsam ihr gegenüber zeitlich wie sachlich begrenzt; aber deswegen ist sie nicht belanglos und ohne Bedeutung für das Leben. Der Christ soll vielmehr die vorläufige Ordnung der von Gott geschaffenen Welt respektieren und die damit gegebenen Verpflichtungen achten. Paulus schrieb nicht aus der Position einer aktiven und direkten politischen Mitverantwortung. Von einer solchen konnte für die kleine christliche Min-derheit in der Zeit der Urgemeinde keine Rede sein. Das sind Fragen, die erst später eine Rolle spielen. So hat Röm. 13 in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit vor allem für Luther eine entscheidende Rolle gespielt, um dem Suprematieanspruch des Papstes über Kaiser und weltliche Staatsmacht die eigenständige, von Gott angeordnete Aufgabe und Verantwortung des weltlichen Amtes entgegenzustellen.
Das Wort des Paulus enthält allerdings keine Aussage über die Staatsform oder über die Verfassung des Staates, aus ihr kann keine Staatstheorie abgeleitet werden. Es wird keine bestimmte Ordnung des Staates als göttliches Gebot verkündet, sondern eine Anordnung Gottes. Die Obrigkeit ist „Gottes Dienerin, dir zugut“ (Röm. 13, 4). Wer gut handelt, muß die Obrigkeit deswegen auch nicht fürchten. Die Aufgabe des Staates besteht deswegen in der grundlegenden sittlichen Funktion, Recht und Frieden unter den Menschen zu schützen. Insofern kann man feststellen, daß in der Geschichte der Auslegung der wichtigste Gedanke ist, daß der Staat eine fundamentale Rechts-und Friedensordnung zu gewährleisten habe. Darin besteht sein besonderer göttlicher Auftrag. 2. Kaiser und Gott Paulus verbindet diese sittliche Ermahnung ferner mit der Aufforderung an die Gemeinde, Steuern zu zahlen. Damit wird die Verbindung zu einem Wort Jesu hergestellt, das ebenfalls für die Haltung des Christentums zum Staat eine wichtige Rolle spielt und in der Auslegungstradition immer wieder bemüht worden ist. In den Evangelien wird berichtet, daß die Pharisäer Jesus die Frage vorlegen, ob es geboten sei, dem Kaiser (als Repräsentant der Besatzungsmacht) Steuern zu zahlen. Die berühmte Antwort Jesu lautet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Markus 12, 17, Matthäus 22, 21, Lukas 20, 25). Dieses Wort Jesu wird als prominenter Beleg dafür verstanden, daß Jesus seine eigene Sendung nicht als die eines politischen Revolutionärs gelehrt hat wie die Zeloten seiner Zeit, die zu einem politischen Befreiungskampf aufriefen. Das ist auch ohne jeden Zweifel zutreffend. Doch ist dieses Wort Jesu nicht eine völlig unpolitische Aussage. Denn gegenüber dem religiösen Anspruch des römischen Kaisertums, welches nicht nur die Loyalität der Bürger als Steuerzahler verlangte, sondern auch die gottähnliche Verehrung des Kaisers, bedeutet die Unterscheidung zwischen dem, „was des Kaisers ist“, und dem, „was Gottes ist“, modern gesprochen eine Entideologisierung und Entmythisierung des Kaisertums. Zwischen dem Anspruch des Kaisers und dem Anspruch Gottes besteht kein Parallelgewicht, sondern ein inhaltlicher Unterschied der Verpflichtung.
So hält dieses Wort die Mitte zwischen den extremen Positionen der Revolution gegen das römische Reich einerseits und seiner Glorifizierung andererseits. Für die Auslegung im Protestantismus ist es deshalb«neben dem Wort des Paulus der Ansatzpunkt, um den allein weltlichen Charakter des Staates und seines Auftrags zu betonen. Zugleich aber ist es auch im Kern der Bezugspunkt für die genaue und strikte Unterscheidung zwischen den Kompetenzen des Staates und dem Anspruch der christlichen Verkündigung geworden.
V. Die weltliche Obrigkeit und Gottes Gebot
Nach diesem kurzen Blick auf einige relevante Elemente aus der Auslegungsgeschichte der Bibel läßt sich nun deutlicher auf die spezifischen Züge des reformatorischen Staatsverständnisses hinweisen. Für den Protestantismus insgesamt und dabei wiederum besonders für Martin Luther gilt die Lehre von der Unterscheidung der beiden Regimente Gottes als das Grundmodell, an dem sich die grundlegenden Orientierungen ausgebildet haben. Diese Unterscheidungslehre hat eine lange Geschichte im christlichen Denken. Sie ist zuerst von Augustinus am Anfang des 5. Jahrhunderts ausgebildet worden Augustinus hatte das römische Reich als civitas terrena unter der Herrschaft des Teufels mit der civitas coelestis, dem himmlichen Reich, kon-frontiert und die Christen im Kampf dieser beiden Reiche gesehen. Im Mittelalter wurde diese Lehre staatsrechtlich umgebildet und auf die Konkurrenz zwischen der geistlichen Herrschaft des Papsttums und der weltlichen Herrschaft der Kaiser angewendet, als Lehre von den beiden Regimenten, dem geistlichen und dem weltlichen Schwert. Auf dem Hintergründe dieser Tradition hat Martin Luther seine Position entwickelt. 1. Christliche Freiheit und weltlicher Beruf Im Zentrum stand dabei die Frage nach der Wahrheit des Glaubens, die Frage also, was das Christ-sein des Christen ausmacht. In einer seiner wirksamsten Schriften zur Reform der Kirche „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ stellt Luther einen Grundsatz auf, der in seiner Doppelseitigkeit das Problem sehr genau benennt. Er lautet: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Die Pointe dieser Thesen ist darin zu erblicken, daß der Christ in seinem gläubigen Vertrauen auf Gottes Gnade von keinen äußeren Bedingungen und auch nicht von bestimmten moralischen Leistungen abhängig ist. Der Glaube stellt ihn vielmehr in eine unbedingte Freiheit, die ihn zu innerer souveräner Unabhängigkeit beruft. Gerade wegen dieser Freiheit aber und aus dieser wesentlichen Unabhängigkeit heraus ist er zum Dienst am Nächsten berufen. In diesem Dienst handelt er nicht zu seinem eigenen geistlichen oder moralischen Vorteil, sondern allein zum Nutzen des Nächsten und der Gemeinschaft. Die Freiheit des Glaubens führt in den Beruf zu weltlichem Dienst.
Das protestantische Staatsverständnis hat diesen Glaubensbegriff der Freiheit zur Voraussetzung. Es ist die Autorität der Freiheit, die zur Liebe und zum Beruf für andere Menschen aufruft. Darum ist der Berufsgedanke auch der zentrale Bezugspunkt für die protestantische Ethik geworden. Die anderen großen Reformatoren, vor allem der Genfer Johannes Calvin, sind Luther darin gefolgt. Der „weltliche“ Beruf ist keine rein säkulare und darin letztlich beliebige Angelegenheit, sondern der Beruf ist die konkrete Form, in der die christliche Freiheit sich als Dienst für andere Menschen, für die konkreten Bedürfnisse der Mitmenschen von Gott berufen weiß.
Auf dieser Grundlage wird in der Reformation die Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten Gottes in ihrem inneren Zusammenhang neu bestimmt Das Kriterium, das dabei für die theologische Beurteilung maßgebend ist, hat ganz klare Konturen: Das Handeln soll allein danach beurteilt werden, was mit ihm bewirkt werden kann. Die ethisch gebotenen Werke, die guten Taten müssen danach beurteilt werden, was der Mensch mit ihnen bewirken kann. In keinem Falle können die Werke und Taten des Menschen sein Heil, seine Rechtfertigung vor Gott bewirken. Das tut allein der Glaube als das rückhaltlose Vertrauen in die Gnade Gottes, die ein für allemal durch Jesus Christus bewirkt worden ist. Hier verlangt der Wille Gottes allein den Glauben. Das ist das erste Gebot, wie es auch im Dekalog, den Zehn Geboten, an der Spitze steht.
Die guten Werke des Menschen werden damit indes nicht wertlos. Es ist ein völliges Mißverständnis des protestantischen Christentums, wenn behauptet wird, für den evangelischen Christen spielten die „guten Werke“ überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil, sie bekommen eine klare Zielrichtung in der Orientierung an dem, was mit ihnen bewirkt werden kann und soll: ein friedvolles Zusammenleben der Menschen untereinander, Hilfe für jeden Bedürftigen, die Abwehr von Gewalt und Unrecht; aber dies alles gehört, wie Dietrich Bonhoeffer es genannt hat, zum „Vorletzten“ und dient nicht dem Heil des Menschen, seiner Erlösung. Die Christen stehen hier genauso unter Gottes Gebot wie jedermann. Der Zusammenhang der beiden Dimensionen der Lebensorientierung besteht also darin, daß der Mensch von Gott in Anspruch genommen ist, sowohl im Aufruf zum glaubenden Vertrauen als auch in der tätigen Verantwortung in der Welt. 2. Die weltliche Obrigkeit: Grenzen und Aufgaben Exemplarisch durchgeführt worden ist dieser reformatorische Ansatz von Luther dann für das Staats-verständnis in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ von 1523 Die Obrigkeitsschrift Luthers, wie sie meist genannt wird, ist das klassische Dokument für die Bestimmung der Aufgaben, aber auch der Grenzen des Staates. Dabei tritt oft in den Vordergrund, daß Luther hier der weltlichen Obrigkeit im Sinne des zitierten Wortes von Paulus aus dem Römerbrief eine positive Wertung zuteil werden läßt. Das ist auch nicht falsch; Luther hat später, als er von allen Seiten angefeindet wurde, gesagt, er rechne es sich zum Ruhme an, daß er dem weltlichen Beruf und der weltlichen Obrigkeit wieder zu der ihr gebührenden Anerkennung verhülfen und sie gegen die Herrschaftsansprüche der Kirche in ihrer Selbständigkeit neu ins Licht gerückt habe.
Und es ist auch keine Frage, daß von dieser Position aus entscheidende Wirkungen auf die neuzeitliche politische Geschichte ausgegangen sind. Insofern kann man hier auch, trotz aller Einschränkungen, den Beginn der modernen Staatsgeschichte erkennen. Aber dieses Bild bleibt einseitig, wenn nicht ebenfalls gesehen wird, daß und wie Luther zugleich die Grenzen weltlicher Obrigkeit bestimmt und gezogen hat. Im Kem geht es dabei um die Glaubensfreiheit. Der Anlaß dieser Schrift war nämlich der staatliche Versuch, die Verbreitung der deutschen Bibelübersetzung Luthers zu verhindern und zu verbieten. Dagegen stellte Luther die klare Forderung, daß die Obrigkeit, der Staat, in Glaubensdingen keine Gewalt habe und deswegen in eine „fremde Gewalt“ eingreife, das heißt seine Kompetenzen überschreite, wenn er nicht nur äußerlich über die Menschen seine Herrschaft ausübt, sondern in die Gewissen eingreifen will. So können wir als wichtigsten Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses der Reformation zum Staat die Forderung der Glaubensfreiheit und der Freiheit des Gewissens feststellen. Glaubens-und Gewissensfreiheit ist der materiale Kern protestantischen Staatsverständnisses. Die spätere natur-rechtliche Entwicklung des neuzeitlichen Staatsverständnisses hat die allgemeine Religionsfreiheit dann auch ohne Bezug auf dieses theologische Herkommen universalisiert. Doch die Anfänge liegen hier. 3. Die Bergpredigt und die weltliche Gewalt Innerhalb der Grenzen, die der weltlichen Obrigkeit durch die Freiheit des Glaubens und der Gewissen gezogen sind, setzt sich Martin Luther mit der Frage auseinander, ob Christen dem Staat nicht nur Gehorsam schuldig sind, sondern sich auch an der Aufgabe der weltlichen Obrigkeit aktiv beteiligen sollen und können. Wiederum geht es dabei um die Auslegung der Bibel. Die Bibelauslegung kreist um zwei Schwerpunkte. Zum einen geht es Luther darum, den Nachweis zu führen, daß die weltliche Obrigkeit nach biblischem Zeugnis dem Gebot und der Anordnung Gottes entspricht. Hier werden von ihm die verschiedensten biblischen Zeugnisse zitiert, um die Schriftgemäßheit der Existenz des Staates und staatlicher Gewalt nachzuweisen. Zum anderen geht es um die Frage, ob Christen sich an der Obrigkeit, und das heißt ja immer auch an ihrer Gewaltausübung, beteiligen dürfen. Im Mittelpunkt steht hier die Bergpredigt mit dem Gebot der Feindesliebe, der Gewaltlosigkeit und der Seligsprechung des Leidens.
Die mittelalterliche Kirche hatte sich in diesem Punkte damit geholfen, daß sie eine zweistufige christliche Ethik entwickelte: Während für die normalen Christen im bürgerlichen Leben gilt, daß sie zur Einhaltung der Zehn Gebote und der sittlichen Normen des natürlichen Rechtes verpflichtet sind, gelten die Weisungen Jesu aus der Bergpredigt nur für die Christen, die zu einem besonderen geistlich-religiösen Leben berufen sind, also die Priester, die Mönche und die Nonnen. In dieser Zweistufenethik sah Luther eine Relativierung des biblischen Wortes — vor allem der Verkündigung Jesu. In seiner Kritik an der mittelalterlichen Zweistufenethik geht er davon aus, daß die Weisungen der Bergpredigt für jeden Christen gelten und in allen Lebenslagen befolgt werden müssen. Der Auffassung, daß es „christlichere“ Wege und „weniger christliche“
Wege der Lebensführung gebe, stellt Luther insofern das Prinzip der Gleichheit aller Christen vor dem Gebot Gottes gegenüber.
Das Problem bestand damals und besteht heute aber darin, welche Konsequenzen aus der Bergpredigt für die Politik und für das Verhältnis zum Staat gezogen werden sollen. Luthers Argumentation an diesem Punkte ist ganz klar: Christen, die wahrhaft Christen sind und fest im Glauben stehen, brauchen keine äußeren Gesetze und Rechte, um nach dem Willen Gottes zu leben. Sie erfüllen aus eigenem Antrieb das, was Gottes Willen entspricht. Darum kann Luther auch sagen: Wenn es nur Christen auf der Erde gäbe, dann brauchten wir auch keine Obrigkeit. „Diese Leute bedürfen keines weltlichen Schwertes und Rechtes. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist richtige Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht nötig oder nütze. Denn da sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, daß sie niemand Unrecht tun und jedermann lieben, von jedermann gerne und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod“ bedürfen sie auch keiner äußeren Ordnung. Luther trifft durchaus den Ton, auf den sich viele religiöse Gruppierungen und Bewegungen gerade in der Neuzeit immer wieder berufen haben, wenn er sagt: „Darum ist es unmöglich, daß unter den Christen das weltliche Schwert und Recht etwas zu schaffen finden sollte.“
Aus diesem Ansatz in der Bergpredigt zieht Luther indes andere Folgerungen, als sie von pazifistischen christlichen Bewegungen oder von Gruppen gezogen werden, die aus christlicher Überzeugung die staatliche Ordnung überhaupt ablehnen. Seine Folgerungen gehen in diese Richtung: Weltliche Obrigkeit, staatliche Gewalt, alle Elemente der Rechtsordnung sind nur deswegen notwendig, weil die Menschen nicht von Natur aus gut sind, sondern böse, zur Sünde neigen und daran gehindert werden müssen, daß ihre Bosheit sich zum Schaden anderer und in der Zerstörung der Gemeinschaftsordnungen auswirkt. Man hat in diesem Zusammenhang von einem „anthropologischen Pessimismus“ gesprochen. Man kann die Ansichten Luthers aber auch als einen christlichen Realismus bezeichnen. Denn die Einsicht in die Sündhaftigkeit des Menschen ist ein wesentliches Moment der christlichen Heilslehre und der christlichen Ethik. Wenn es deshalb eine von Gott angeordnete Obrigkeit gibt, dann ist das ein Zeichen der Liebe Gottes: Er überläßt die Welt nicht der Bosheit, sondern setzt die Ordnungen des Rechts dagegen, um die Auswirkungen menschlicher Sünde zu begrenzen und zurückzudämmen.
Der Gedanke, daß auch die Ordnung des Staats und des Rechtes in der Liebe Gottes begründet ist, um dem Bösen zu wehreh, bildet die Brücke zu einer weiteren Folgerung Luthers: Christen sollen sich am Amt und am Auftrag der weltlichen Obrigkeit gerade aus Nächstenliebe beteiligen. Sie üben ein solches Amt nicht um ihrer selbst willen aus, sondern in einem Auftrag und in einem Beruf, den Gott gegeben hat. Und so kann Luther sagen, daß gerade Christen, die um ihrer selbst willen keiner äußeren Ordnung bedürften, um der Liebe willen dazu frei sein sollen, sich am Auftrag der weltlichen Obrigkeit zu beteiligen.
VI. Christliche Staatsordnung?
Man sieht aus diesen Argumentationen deutlich, daß Luther weit davon entfernt ist, die Idee eines christlichen Staates oder einer christlichen Staatsordnung zu propagieren. Der Staat als weltliche Ordnung ist vielmehr ein „weltlich Ding“, dessen Instrumente nur einer innerweltlichen Ordnung dienen. Luther rechnet dabei sehr konkret mit den Kräften des Bösen und der Zerstörung. Aber in diesem weltlichen Auftrag haben wir es eben mit einer Anordnung Gottes zu tun, die aus seiner Liebe folgt, die er den Menschen auch dort nicht entzieht, wo sie seinem Willen nicht von selbst und spontan gehorchen, sondern widerstreben. Mit dieser Begründung ist Luther wie überhaupt der Protestantismus in seinen Anfängen weit entfernt von dem optimistischen Menschenbild, das der späteren Theorie der Demokratie zugrunde liegt. Nicht die Güte des Menschen, die er von Natur aus hat, ist der Ausgangspunkt für die Ordnungsvorstellungen des Politischen. Im Gegenteil, die Notwendigkeit staatlicher Ordnung wird exemplarisch am Recht des Staates festgemacht, die Übeltäter zu strafen. Die Liebe erscheint hier unter ihrem Gegenteil, aber das Ziel eines Handelns aus Liebe zum Nächsten ist darin doch deutlich erkennbar: Es soll das geschehen und getan werden, was dem Menschen nützt und ihm zu einem friedlichen Leben verhilft.
Wenn man nach dem protestantischen Verständnis des Staates fragt, dann stellt sich sofort die Frage, welches die Ordnungsprinzipien und die Strukturelemente staatlicher Ordnung sein sollen, die einer bestimmten ethischen Konzeption entsprechen. Zu dieser Frage werden wir bei Luther und den Reformatoren keine spezifische Antwort finden. Luther spricht nicht über staatliche Strukturen, sondern über konkrete Personen und Ämter, in denen sich die weltliche Obrigkeit darstellt. So endet auch diese klassische Schrift von Luther mit einem „Fürstenspiegel“, das heißt mit einer direkten Anrede an die Fürsten, mit einem Appell an das Ethos ihres Amtes. Die Fürsten, nicht die staatliche Ordnung, werden darauf angesprochen, daß sie ihr Amt mit Vernunft und mit Liebe wahmehmen sollen, daß sie flexibel agieren und reagieren sollen, nicht nach starren Rechtssätzen, sondern mit Vernunft und durchaus situationsgemäß. In diesem ganzen Fragenkreis ist die moderne Problematik von Staat und Demokratie noch nicht präsent.
VII. Calvinismus auf dem Weg zur Demokratie
Ein kurzer Blick auf den anderen großen Flügel des Protestantismus, der von der Schweiz und dem Wirken Calvins ausgeht, soll den Blick nun noch in eine andere Richtung lenken. In allen grundsätzlichen theologischen und ethischen Zügen stimmt Calvin mit Luther überein. Das gilt vor allem für die Unterscheidung der zwei Regimente Gottes, das geistliche und das weltliche Regiment — eine Unterscheidung, mit der der späteren Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat der Weg bereitet wird. Aber Calvin ist, anders als Luther, sehr viel stärker an ethischen Fragen der Kirchenordnung orientiert. Er war von seinem Herkommen nach nicht nur Theologe und Geistlicher, sondern auch Jurist und mit Fragen der staatlichen Administration vertraut. In Genf, wo Calvin lange Zeit wirkte, hat er eine Gemeindeordnung entwickelt, die Vorbild und Maßstab auch für die bürgerliche Ordnung des Gemeinwesens sein sollte. So stellte er in seinen Schriften auch Maßstäbe für die Ordnung des Gemeinwesens auf, die sich an der Ordnung der christlichen Gemeinde orientierten.
Für die geschichtliche Entwicklung ist es nun von besonderer Bedeutung, daß der Calvinismus in den Niederlanden und vor allem in England schon früh einen entschiedenen, auch politisch ausgetragenen Kampf um die Selbständigkeit der reformierten Gemeinden und der Kirche führte. Während die Reformation in Deutschland unter Bedingungen, die mit der Entwicklung innerhalb des Reiches zusammenhingen, die Kirchengemeinden unter den Schutz und die Obhut der jeweiligen Landesherren stellte, ist der Kampf für die Selbständigkeit der Gemeinden im Calvinismus die Quelle und der Ausgangspunkt für weitreichende Entwicklungen, die in die Vorgeschichte der neuzeitlichen Demokratie gehören Man kann diesen, für das Staats-verständnis außerordentlich wichtigen Unterschied am einfachsten auf die folgende Formel bringen: Im deutschen Luthertum herrschte das landesherrliche Kirchenregiment, im niederländischen und angelsächsischen Protestantismus calvinistischer Prägung kam das Prinzip der Freikirchen zur Geltung. Die lutherischen Kirchen haben sich im Grunde erst 1918, mit dem Ende der Monarchie, in einer Situation befunden, in der sie eine organisatorische Selbständigkeit erlangten und damit auch zu einem selbständigen Subjekt gegenüber dem Staat geworden sind. Im angelsächsischen und nordamerikanischen Protestantismus dagegen ist diese Selbständigkeit der Kirchen und Gemeinden ein sicher unruhiges, im Ganzen aber außerordentlich produktives Prinzip für die Entwicklung zur neuzeitlichen Demokratie hin geworden.
VIII. Demokratie zwischen Moral und Regel
Blickt man von diesen theologischen und historischen Voraussetzungen her auf die neuzeitliche Entwicklung, so sind aus der Perspektive des Protestantismus vor allem zwei Grundelemente zu unterscheiden, die unter sich widersprüchlich sind und bis heute in Spannung zueinander stehen. Beide gehören konstitutiv zur neuzeitlichen, liberalen Demokratie westeuropäischer Prägung:
Das eine Grundelement ist ein hoher moralischer Anspruch an die politische Ordnung. Ausgangspunkt hierfür ist der englische Puritanismus, der sich dann vor allem in der Geschichte Nordamerikas ausgewirkt hat. Die politische Ordnung und die Ausübung politischer Herrschaft wird dabei an denselben Kriterien gemessen, die für die Lebensführung des einzelnen Menschen verbindlich sind. Ein .. gutes“ Regiment ist nicht ein solches, welches mit Strenge und Autorität ausgeübt wird. Dieses Element verschwindet zwar nicht, aber es tritt zurück gegenüber der Forderung, daß diejenigen, die ein politisches Amt innehaben und eine Ordnung zu verwalten haben, sich selbst an moralischen Standards messen und von der Gemeinschaft an solchen Standards gemessen werden, die für das Leben nach christlichen Maßstäben überhaupt gelten. Grundlage dieses Maßstabes ist die „Würde des Menschen“, die ihm von Gott verliehen ist und die auch den letzten Maßstab für alle konkreten Verantwortlichkeiten darstellt. Diese Würde des Menschen ist dem Staat vorgegeben. Darum ist die Freiheit des Menschen die Norm, an der jede politische Ordnung zu messen ist. Mit dieser Norm und mit dieser Botschaft ist die Entstehung der modernen Demokratie unlöslich verbunden.
Der andere Grundsachverhalt, der hier eine wesentliche Rolle spielt, ist die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik. Das hängt mit dem ersten Grundsachverhalt aufs engste zusammen; denn es sind ja gerade die freikirchlichen independentistischen Traditionen des Protestantismus, die hier die Entwicklung der politischen Ordnungs-Vorstellungen vorangetrieben haben. Die Trennung von Kirche und Staat ist insofern also nicht die Folge der Religionskritik, sondern die Folge der Auffassung, daß die Religion zur Freiheit und zur Würde des Menschen gehört und von der Regierung und vom Staat unbedingt zu achten ist. Dennoch folgt aus diesem zweiten Sachverhalt eine Grundspannung: Religiöse und moralische Über-zeugungen sollen und dürfen nicht unmittelbar und direkt Gegenstand politischer Ordnung und Inhalt politischer Entscheidungsprozesse sein. Das ist der Lernprozeß, mit dem sich die moderne Demokratie von ihren religiösen, protestantischen Wurzeln auch wieder lösen mußte. Die entscheidende Leistung, die von der liberalen Staatsordnung erbracht werden mußte, war es, einen Unterschied zwischen religiös-moralischen Überzeugungen einerseits und politischen Verfahren und Entscheidungsprozessen andererseits zu entwickeln und zu institutionalisieren. Aus dieser Unterscheidung sind die wesentlichen Prinzipien der modernen Verfahrensdemokratie hervorgegangen. Im Kontext unserer Betrachtung wird dieser Unterschied darin manifest, daß es auf der einen Seite grundlegende Freiheitsrechte des Menschen gibt, die dem staatlichen Zugriff entzogen sind. Zu ihnen gehört, wie bereits ausgeführt, wesentlich die Religions-und Gewissensfreiheit mit allen Folgerungen auf andere Freiheitsrechte, die mit der Unantastbarkeit der Würde der Person verbunden sind. Auf der anderen Seite gehören dazu die ethisch-verbindlichen, aber gerade nur formal zu bestimmenden Verfahrensweisen, mit denen der Machterwerb und der Machtwechsel, das Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten, die Bestimmung und Begrenzung von Gesetzgebungskompetenzen, die Teilung der Gewalten verbunden sind. Während auf dem Kontinent die Schritte, die zur modernen Demokratie geführt haben, in Auseinandersetzung mit den existierenden staatlichen Strukturen monarchisch-konservativer Art erkämpft werden mußten, sind die gleichen Prinzipien im protestantischen Nordamerika ohne die Auseinandersetzung mit diesen manifesten politischen Traditionen errichtet worden.
IX. Die zwei Regimente und die Autorität in der Demokratie
Damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Der deutsche Protestantismus, der im wesentlichen durch die lutherische Reformation und ihre Auswirkungen bestimmt ist, hat in seinen theologischen und kirchlichen Mehrheiten bis in die allerjüngste Zeit dahin tendiert, die faktisch vorhandene Struktur der Obrigkeit mit der von Paulus gelehrten Anordnung Gottes mehr oder minder in eins zu setzen. Erst in allerjüngster Zeit und nach leidvollen und widersprüchlichen Erfahrungen hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß die Unterscheidung der beiden Regierungsweisen Gottes, aber auch die spezifische „Weltlichkeit“ des Staates durchaus ihre angemessene Konkretion in einer demokratischen Staatsform finden kann und findet. Die Unterscheidung zwischen den grundlegenden Menschenrechten über die der Staat nicht verfügen darf, und denjenigen Aufgaben, zu denen der Staat direkt berufen ist, steht in einer erkennbaren Analogie zur Lehre von den zwei Regimenten.
Doch es kommt noch ein wesentlicher Punkt hinzu: Die neuzeitliche Demokratie geht von dem Grundsatz aus, daß alle Gewalt vom Volke ausgehe. Widerspricht dieser Grundsatz nun der biblischen Lehre, daß die weltliche Obrigkeit eine Anordnung Gottes sei? Wie läßt sie sich mit ihr verbinden? In dieser Frage ist lange Zeit ein grundlegender Widerspruch zwischen der christlichen Tradition und der modernen Demokratie gesehen worden. Aber diese Auffassung beruht auf einem Mißverständnis der Demokratie: Auch der demokratische Gedanke geht nicht von einem schrankenlosen Individualismus aus, demzufolge sich die Demokratie, wenn sie sich auf die Gewalt des Volkes beruft, nur als die zufällige Summe der Einzelinteressen darstellt. Das christliche Staatsverständnis bedeutet im Blick auf die Demokratie vielmehr klar und durchaus zeitgemäß, daß jeder einzelne Bürger zu politischer Verantwortung gerufen ist daß die politische Verantwortung nicht in dem Sinne „von oben“ kommt, daß sie alleine bei den Herrschenden liegt, sondern umgekehrt: Wenn der Staat eine Funktion für das Zusammenleben der Menschen hat und diese nach Gottes Gebot wahrgenommen werden soll, dann ist diese Verantwortung des Staates wiederum abgeleitet aus der Verantwortung, die die Menschen als Bürger und darin auch vor Gott für ihr gemeinsames Leben haben. Nicht die Demokratie des schrankenlosen Subjektivismus, sondern die Demokratie der verantwortungsbewußten politischen Bürger bildet darum die Autorität der Freiheit, auf die sich diese Staatsform gründet und an der sie gemessen werden muß.
X. Protestantismus und Demokratie heute
Auf dieser Linie liegt die Position der Evangelischen Kirche und des deutschen Protestantismus, die heute mit jener Zustimmung zur Demokratie des Grundgesetzes formuliert worden ist, von der wir ausgegangen sind. Die Denkschrift der EKD, in der diese Position öffentlich bezeugt ist, benennt alle wesentlichen Punkte, in denen die Grundelemente der Demokratie bestehen, ausgehend von der Würde des Menschen. Und es heißt dort auch, „daß die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag wahrnimmt, eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen. Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen“. Damit ist die Demokratie keine „christliche Staatsform“, aber eine Staatsform, die aus christlicher Verantwortung heraus mitgestaltet, bewahrt und erneuert werden soll. Die Erfahrungen, die zu dieser protestantischen Haltung gegenüber der Demokratie geführt haben, sind dargelegt worden.
Heute erhebt sich die Frage, ob es neue Erfahrungen gebe, die eine „Krise der Demokratie“ bedeuten. In den großen Streitfragen der Gegenwart wie der nuklearen Abschreckung, der Energieversorgung durch Kernenergie, der ökologischen Folgen technischer Zivilisation wird die Frage aufgeworfen, ob hier nicht die Grenzen des demokratischen Entscheidungsverfahrens durch Mehrheiten erreicht sind. Aber wie immer diese Fragen im einzelnen und im ganzen beurteilt werden wir verfügen über keine solchen absoluten Maßstäbe, die aus der Kontroverse herausführen und gleichsam „über den Parteien“ und mit denen jenseits des politi-sehen Prozesses eindeutig entschieden werden könnte.
Gerade eine pluralistische, offene Gesellschaft, für die Freiheit und Gerechtigkeit in einem produktiven Spannungsverhältnis gehalten werden sollen, gibt es, wie auch in der Denkschrift der EKD ausdrücklich festgestellt wird, zur Demokratie keine erkennbare Alternative. „Keine heute bekannte Staatsform bietet eine bessere Gewähr, die gestellten Probleme zu lösen, als die freiheitliche Demokratie. Deshalb bejahen wir die Staatsform als Chance, die durch ernsthaftes Bemühen um Erfüllung und Weiterentwicklung der Demokratie genutzt werden muß“ (S. 40). Die liberale Demokratie gibt nicht nur allen Christen Chancen zur Mitarbeit und zur Mitverantwortung; sie eröffnet auch den christlichen Kirchen Möglichkeiten öffentlicher Wirksamkeit, wie das keine andere Staatsform tut. Das Verhältnis der Kirche zur Demokratie muß deswegen daran gemessen werden, ob die Mahnungen, die Forderungen und die Appelle der Kirchen, auch wo sie aus dem Rechte eigener Überzeugung hervorgehen, praktisch einmünden können in den Prozeß der Demokratie und nicht aus ihm herausführen. Der Optimismus, daß im Entscheidungsprozeß der Demokratie immer nur gute Ergebnisse Zustande-kommen, gehört einer vergangenen Zeit an. Insofern kann man heute auch sagen, daß die Vorbehalte, welche gerade von der protestantischen Theologie gegenüber einem solchen anthropologischen Optimismus immer wieder geltend gemacht worden sind, politisch und ethisch an Aktualität nichts verloren haben. Die Demokratie muß darum unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, daß sie eine Staatsform ist, in welcher Kritik und Korrekturbedürftigkeit auch als prozessuale Korrekturfähigkeit institutionell eingebaut sind. Kritik an politischen Prozessen und politischen Entscheidungen um des „Guten“ willen sind der demokratischen Staatsform nicht wesensfremd, sondern gehören zu ihrem Wesen. Das unterscheidet die demokratische Staatsform von solchen staatlichen Ordnungen, die nur Einparteienherrschaft und keinen Pluralismus kennen. Auch die Stimmen, die aus der Kirche und aus christlichen Bewegungen in die Politik hinein-sprechen, sind nicht unfehlbar und derselben Korrekturbedürftigkeit und Diskussion unterworfen wie alle, die Verantwortung übernehmen wollen. Insofern gilt, ganz auf der Linie der protestantischen Reformation, daß die Politik ein „weltlich“ Ding ist und auch bleibt.
In Staat und Gesellschaft wie in den Kirchen werden heute an vorderster Front Fragen diskutiert, bei denen es um das „Überleben der Menschheit“ geht. Aber es wäre doch ein großes Mißverständnis weltlicher Politik, wenn Fragen des Überlebens ein solcher Rang zugesprochen würde, daß vor ihnen Lebensfragen der Politik zu weichen hätten und keinen Bestand mehr hätten. Niemand kann und soll um des „Überlebens“ willen die Ordnungen, Verfahrensweisen und Institutionen mit Gewalt außer Kraft setzen, die dazu da sind, daß solche Fragen im Leben, auch im Leben des Staates und der Politik, verantwortet werden können. Deswegen ist das Gebot der Stunde, Fragen des Überlebens in Lebensfragen zu überführen, das heißt, sie so anzugehen, daß alle Beteiligten im Maße der von ihnen zu verantwortenden und ihnen möglichen Lebensführung damit umgehen, darüber entscheiden und darin Bestand haben können. Die Bannung von Gewalt ist und bleibt die große Leistung und Aufgabe einer politischen Kultur, die auf dem Boden des Christentums entstanden ist und die darum auch der Gewißheit bedarf, daß die religiöse Über-zeugung das Fundament der Autorität der Freiheit ist.