I. Grundsatzfragen von Kontinuität und Wandel des Systems
Vieles deutet darauf hin, daß wir uns in der für politische Belange wichtigsten Epoche der Nachkriegszeit befinden. Denn das, worauf man lange gewartet hatte und was kaum noch für möglich gehalten wurde, ist nunmehr unverkennbar: Das erstarrte Sowjetsystem ist in Bewegung geraten. Die Bedeutung dieses Vorgangs kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn ein verändertes Sowjetsystem bedeutet eine veränderte Sowjetpolitik, aus der sich wiederum neue Konsequenzen für die Sowjetunion selbst, für die Länder ihres Einzugsbereichs sowie auch für die Ost-West-Beziehungen ergeben können.
Die Beurteilung dessen, was sich in der Sowjetunion verändert hat oder worauf die Umgestaltungen letztlich hinauslaufen, ist freilich schwierig und umstritten. Ist man der Ansicht, daß die Veränderungen nur periphere Bereiche betreffen und auf eine Modernisierung des Systems abzielen, so würde dies eine Fortführung bisheriger Politik mit flexibleren Methoden — gleichsam im neuen Gewände — bedeuten. Hätten wir es aber in weiterer Perspektive mit einer tiefgreifenden, vielleicht sogar „revolutionären“ Umgestaltung des Sowjetsystems zu tun, so wären die Folgen kaum abzuschätzen.
Einstweilen ist der Kurs der neuen Sowjetführung heftig umkämpft, es gibt eine Fülle von Absichtserklärungen, die aber in sich widersprüchlich sind, fast täglich wird man mit überraschenden neuen Ereignissen konfrontiert. Wegen der Bedeutung der Vorgänge in der Sowjetunion aber ist es heute wichtiger denn je, Grundsatzüberlegungen über das Sowjetsystem und seine Wandlungsmöglichkeiten anzustellen, um das Spektrum realer und potentieller Veränderungen abschätzen zu können. Hierzu seien einige methodische Überlegungen vorangestellt.
Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was es bedeuten würde, wenn gewisse Zielsetzungen des Gorbatschow-Kurses, die einstweilen nur in vager Form erkennbar sind, und einige bereits deutlicher artikulierte Leitgedanken aus dem geistigen Umfeld der Gorbatschow-Mannschaft in das Sowjetsystem Eingang finden sollten. Hierzu ist vorwegzuschicken, daß derartige Umsetzungen bislang nur in Randbereichen des Systems vorgenommen worden sind, daß zugleich aber zahlreiche Überlegungen angestellt werden, die, wenn man sie realisieren sollte, das System zutiefst verändern oder gar sprengen würden
\ Ein besonderes Problem liegt darin, daß es außerordentliche Schwierigkeiten bereitet, das Sowjetsystem sachadäquat zu erfassen. Hierzu wird der methodische Weg beschritten, auf jene geistigen Grundlagen zurückzugehen, die vor der Konstituierung des Systems ausgeformt wurden und die dann bei ihrer Umsetzung in die Gesellschaftsordnung gleichsam in der Tiefendimension des Systems „materialisiert“ worden sind. Es wird zu zeigen sein, daß dabei die Auffassungen in der Wahrheitsfrage und hinsichtlich des Menschenbildes eine grundlegende Bedeutung einerseits für das „alte“ System haben und daß sie andererseits den Angelpunkt von Erhaltung und möglicher Wandlung des Systems darstellen. Dabei gilt es zu erkennen, daß bereits geringfügige Veränderungen in den konstitutiven Ideen große Auswirkungen haben.
Es gibt abgeleitete konstitutive Ideen, wie sie zum Beispiel für die Wirtschaft oder für die Außenpolitik kennzeichnend sind. Wichtig für die Beurteilung der Perestrojka ist die Erkenntnis, daß die konstitutiven Ideen aufeinander abgestimmt sind und erst dadurch jene Funktionsfähigkeit erlangen, die die Stabilität des Systems gewährleistet. Dies wiederum bedeutet, daß konstitutive Ideen nicht beliebig herausgebrochen und ausgetauscht werden können, ohne auch alle anderen Komponenten des Systems zu verändern.
Das entscheidende Problem, das sich heute für die Sowjetunion stellt, liegt darin, daß zwischen den konstitutiven Grundlagen des Systems und den realen Entwicklungen, die es zu bewältigen gilt, tiefgreifende Widersprüche entstanden sind. Die Frage, ob oder in welchem Grade die Grundlagen des real existierenden Sozialismus heute umgestaltet werden müssen, um den neuen Erfordernissen zu entsprechen, ist dabei das Kernproblem der Perestrojka.
II. Wahrheitsanspruch und Parteilichkeitsprinzip
Von Lenin stammen die Sätze: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.“ Diese Überzeugung, auf dem richtigen Wege zu sein und für eine bessere Welt zu kämpfen, war letztlich die innere Triebkraft, mit der die um Lenin gescharten Kommunisten die Oktoberrevolution in schweren Kämpfen durchsetzten.
Der Wahrheitsanspruch des Marxismus-Leninismus ist freilich nicht simplifiziert aufzufassen. Er gründet in der Überzeugung, daß nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft inneren Gesetzmäßigkeiten folgt, die von den Klassikern der Ideologie im Prinzip richtig erkannt wurden. Dies wiederum bedeutet, daß der Wahrheitsanspruch mit einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft und Wirklichkeitsdeutung verbunden ist. Man geht davon aus, daß die Wirklichkeit im Prinzip erkennbar ist, wobei die Wissenschaft auf diesem Wege ständig weiter voranschreiten kann. Überträgt man die hier kurz umrissenen Ideen zur Wahrheitsauffassung in eine Gesellschaftsordnung, so hat bereits dieser Ansatz eine fundamentale Bedeutung für die spätere Praxis. Die Verbindung von Wahrheitsauffassung und Wissenschaft führt zu einer bestimmten Form des geistigen Lebens, in der „unwissenschaftliche“ Sichtweisen ausgeblendet oder gar bekämpft werden. Die Orientierung an einer Geschichtsauffassung, der das Gesetz des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus innewohnt, führt zu einer Ausrichtung der gesellschaftlichen Aktivitäten auf den Klassenkampf. Lenin verschärfte die Grundgedanken des Marxismus durch die Feststellung, daß das allgemeine gesellschaftliche Bewußtsein hinter den geschichtlichen Notwendigkeiten nachhinke und deshalb eine Elite, welche als Sachwalter der theoretischen Grundgehalte fungiert, zur Durchführung der Revolution legitimiert sei. Damit wiederum wurden die Grundlagen für das Parteilichkeitsprinzip, das zugleich gegen den geistigen Pluralismus gerichtet ist, gelegt. In der Praxis ergibt sich daraus letztlich jene Parteiherrschaft und „Diktatur des Proletariats“, durch welche das sowjetsozialistische System in entscheidenden Strukturen gekennzeichnet ist.
Auf diesem Hintergrund mußte es hellhörig machen, daß Gorbatschow auf dem Parteikongreß Ende Februar 1986 die Forderung erhob, die Partei solle sich vom „Unfehlbarkeits“ -Komplex freimachen womit bereits in der Wortwahl ein anderer Akzent gesetzt wurde, als er etwa in den traditionellen Begriffen von Kritik und Selbstkritik zum Ausdruck kommt. Auch für sich selbst nimmt der Generalsekretär der Partei die Fehlbarkeit in Anspruch, wenn er sagt: „Ich kann auch Fehler machen, ich erhebe keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit. Die Wahrheit müssen wir zusammen, gemeinsam suchen.“
Auch die Kampagne der Glasnosl und die verstärkte Kampfansage an den „Dogmatismus“ betreffen zumindest teilweise das Parteilichkeitsprinzip. Besondere Beachtung in diesen Zusammenhängen verdient eine von der führenden Fachzeitschrift „Fragen der Philosophie“ im April 1987 veranstaltete Konferenz, bei der vom Chefredakteur der Zeitschrift das berühmte Kapitel „Über dialektischen und historischen Materialismus“ im „Kurzen Lehrgang“ der kommunistischen Partei vom Jahre 1938, das zur ideologischen Grundlage des Stalinismus wurde und bis heute den Aufbau der großen Lehrbücher der Ideologie bestimmt, als Hauptquelle des ideologischen Dogmatismus angeprangert worden ist
Ferner sei darauf verwiesen, daß die dialektische Methode als „kritisches Herzstück“ des Marxismus-Leninismus sowohl von Gorbatschow als auch in der philosophischen Literatur mit besonderem Nachdruck herausgestellt wird. Auch die heute oft angewandte Methode der „Historisierung“ früherer Auffassungen und Ereignisse der sowjetischen Geschichte, für die ein zeitbedingtes Verständnis gefordert wird, trägt zu einer Relativierung der Wahrheitsauffassung bei.
Zugleich aber ist es notwendig, zur richtigen Einordnung dieser Stellungnahmen die von Gorbatschow umrissenen Grenzen der Glasnost sowie der Vorstöße auf das Parteilichkeitsprinzip und die Vergangenheitsbewältigung in den Blick zu bekommen. In einer seiner letzten Reden führte Gorbatschow hierzu aus: „Wenn man fragt, wo die Grenzen der Perestrojka liegen, wo die Grenzen der Glasnost, die Grenzen der Demokratie im Rahmen des Prozesses, den wir in Gang setzen, dann sagen wir: Alles, was den Sozialismus stärkt, darunter auch Glasnost und Demokratie, alles muß unterstützt und begrüßt werden. Aber eben alles, was den Sozialismus stärkt. Wenn jedoch — und damit sind wir schon konfrontiert, — jemand in unserem Land oder jenseits, im Ausland, unsere Offenheit und Glasnost ausnutzen will, um extremistische Elemente, antisozialistische Elemente aufzuhetzen — und diese gibt es, obwohl es sich hier um eine nicht so sehr weit verbreitete, nicht so sehr bedeutende Erscheinung handelt — dann sagen wir sofort offen: Nein, gegen den Sozialismus anzugehen, erlauben wir niemanden. Es wird alles getan werden, den Sozialismus zu stärken. Wer darauf hofft, daß Demokratie und Perestrojka zu einem sozialen und politischen Umsturz in der Sowjetunion führen, der irrt sich. Solche Erwartungen sind vergebens.“ Und direkt auf das Parteilichkeitsprinzip bezogen sagte Gorbatschow bei einer Zusammenkunft mit Vertretern des Presse-und Informationswesens: „Aber eines steht außer Zweifel — die Kritik muß immer parteilich sein, gegründet auf die Wahrheit, und dies hängt von der Parteilichkeit des Redakteurs ab.“
Die hier angeführten Zitate, die durch eine große Zahl von Belegen erweitert werden könnten, lassen einige wesentliche Merkmale für die heutige Behandlung des Problems von Wahrheitsanspruch und Parteilichkeitsprinzip erkennen. Der Wahrheitsanspruch der Partei wird in der Tat eingeschränkt, eine monolithische Wahrheitsauffassung wird auch für die Partei nicht gefordert; der Generalsekretär nimmt für sich selbst die Möglichkeit, Fehler zu machen, in Anspruch. Zugleich aber werden der Kerngehalt des Sozialismus, sein Aufbau und seine Verbesserung, als Maßstab für alle Kritik in den Mittelpunkt der Wahrheitsauffassung gestellt. Gleichfalls unangetastet bleibt — zumindest für alle gesellschaftspolitischen Belange — die Verknüpfung von Wahrheit und Wissenschaft. Mit diesen Bedingungen ist wiederum eine Vielzahl konstitutiver Elemente des Systems verbunden, die erkennen lassen, daß das gesellschaftliche und geistige Leben in der Sowjetunion zwar unter den Bedingungen der Glasnost größere Entfaltungsmöglichkeiten enthält, zugleich aber an entscheidende Strukturen des Systems gebunden bleibt.
III. Probleme des Menschenbildes
Noch dichter als in der Wahrheitsfrage finden die konstitutiven Ideen in der Deutung des Menschen sowie seiner Stellung in der Wirklichkeit und gegenüber dem Mitmenschen ihren Ausdruck. Letztlich steht hinter jeder Verfassung ein Menschenbild. Besonders eindrucksvoll läßt sich dieser Zusammenhang für den Aufbau der amerikanischen Verfassung aufzeigen. Hier sind die konstitutiven Ideen in der Aufklärungszeit entwickelt worden, wobei es für die Praxis vor allem darum ging, die Eigenrechte des Menschen gegen die Machtansprüche des Staates zu schützen und dabei die Einflußmöglichkeiten des Staates auf das unumgänglich notwendige Maß zu minimieren.
Als Marx seine Ideen entwickelte, hatte die industrielle Revolution mit den erschreckenden Auswirkungen des Frühkapitalismus die europäische Geschichte erfaßt. Der Blick von Marx und vielen seiner Zeitgenossen war dadurch nicht mehr primär auf den Einzelmenschen und sein Schicksal, sondern auf die gesellschaftlichen Massenphänomene und deren Gesetzmäßigkeiten gerichtet. Diese Wendung in der Sichtweise aber hatte tiefgreifende konstitutive Konsequenzen. Denn während in der amerikanischen Verfassung der Staat gleichsam um den Menschen herumgebaut wurde, waren bei Marx und Lenin alle theoretischen Überlegungen daraufgerichtet, zunächst die alte Gesellschaftsordnung umzustürzen, um dann in einer neuen Welt den Menschen zu Freiheit und Entfaltung seiner besten Eigenschaften führen zu können.
Darüber aber, was der Mensch ist und wie die neue Lebensform verwirklicht werden könne, haben sich die Klassiker des Marxismus-Leninismus kaum Gedanken gemacht. Kennzeichnend für diese Unsicherheit war der Versuch, nach der Oktoberrevolution einige vage kommunistische Ideale unmittelbar zu realisieren: Gleicher Lohn für alle wurde eingeführt, Dienstränge wurden abgeschafft, Entscheidungen im Rätesystem getroffen, und Freiheit wurde von vielen als Freiheit der Sitten verstanden. Als man erkannte, daß auf diese Weise kein funktionsfähiger Staat entwickelt werden konnte, begann Stalin schließlich mit dem Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“, wobei der Einzelmensch totalitär dem gesellschaftlichen Fernziel untergeordnet wurde. Zwar erlangte im Gefolge der Entstalinisierung auch der „menschliche Faktor“ in Ideologie und Gesellschaft eine wachsende Bedeu37 tung, aber erst in den letzten Jahren ist die Problem-lage, in der man sich dabei befindet, in innersowjetischer Sicht in einer geradezu dramatischen Weise deutlich geworden.
Hierbei kommt jener Entscheidung, die von Engels in der sogenannten „Grundfrage der Philosophie“ gegen den „Idealismus“ und zugunsten des Materialismus getroffen worden ist, eine fundamentale Bedeutung zu. Eindeutiger noch als im Wissenschaftsanspruch wurde auf diese Weise ein gewaltiger Bereich des Geisteslebens, der die ganze menschliche Geschichte zutiefst geformt hat, gleichsam mit einem Federstrich aus dem sowjetischen Weltbild eliminiert Die folgenreichste Konsequenz dieser Grundsatzentscheidung liegt darin, daß damit ein problembewußter Zugang zu den existentiellen Grundsatzfragen verbaut worden ist. Welche Interpretation man diesen Fragen auch gab — man kam nicht weiter als zu der Aussage, daß der Mensch seinen Sinn im Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und im Fortleben im Bewußtsein künftiger Generationen finden müsse. Eine in der Zeitschrift „Fragen der Philosophie“ begonnene Aufsatzreihe über den Sinn des Lebens war in ihrem Verlauf so unbefriedigend, daß die ganze Diskussion schließlich ohne Ergebnis abgebrochen werden mußte A. N. Jakowlew, ein enger Berater Gorbatschows, kommt in einer Akademie-Rede zu der Feststellung, „daß dann, wenn der Mensch über die . ewigen’ Werte, über die quälenden Probleme des Sinns des Lebens“ nachzudenken beginne, er von den Berufsphilosophen keine Antwort erhalte Besonders aktiv haben Schriftsteller die existentiellen Probleme des Menschen aufgegriffen und ihnen bis hin zur Einbeziehung religiöser Fragen Ausdruck verliehen Es ist noch völlig offen, wie diese Fragen dann, wenn man auf sie zum Beispiel in Lehrbüchern eingehen will, zur Darstellung kommen sollen. Zur Verdeutlichung der Suche nach Lösungen und neuen Ansätzen sei auf einen Artikel in der Zeitschrift „Fragen der Philosophie“ vom März 1987 hingewiesen in dem folgendermaßen an diese Thematik herangegangen wird: Man unterscheidet zwischen einer theoretischen, ästhetischen und ethischen Erfassung der Wirklichkeit und trifft zugleich die Feststellung, daß jeder dieser Zugänge bestimmte Aspekte erschließe, aber zugleich Einseitigkeiten aufweise. In diesem Sinn wird der theoretische Bereich der Wissenschaft zugeordnet, jedoch mit dem Nachsatz „Im Theoretischen kann man nicht leben“; der ästhetische Bereich wird der Literatur zugewiesen und der ethische Bereich dem Bildungswesen und in vager Andeutung der transzendenten Problematik. Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen, inwieweit solche Gedankengänge für die Bewältigung der Probleme tragfähig sind. Sie machen jedoch deutlich, wie man versucht, den unbefriedigenden Interpretationsmöglichkeiten des Menschen auf der Basis der traditionellen Ideologie mit philosophischen Hilfskonstruktionen entgegenzuwirken.
Als Beispiel für die politische Relevanz dieser Fragen sei auf Überlegungen hingewiesen, die Je. Jewtuschenko angestellt hat Für ihn sind Glauben und Atheismus persönliche Entscheidungen des Menschen, die gleiche Berechtigung nebeneinander haben. Dies wiederum veranlaßt ihn zu folgender, unbefangen klingenden Frage: Der Sowjetstaat hat eine Trennung von Staat und Kirche vorgenommen. Warum nimmt er nicht auch eine Trennung von Atheismus und Staat vor? Hierzu kann man freilich nur antworten, daß mit einer solchen Konsequenz das ganze Gebäude der Ideologie im Eckpfeiler aus den Angeln gehoben würde. Denn bei einer Gleichberechtigung von materialistischer und religiöser Weitsicht hätte die ganze Hierarchie der theoretischen Ableitungen in der Sowjetideologie einen völlig anderen Ausgangspunkt mit prinzipiell anderen Konsequenzen für Staat und Gesellschaft, als dies heute der Fall ist. Es wird darauf noch zurückzukommen sein.
IV. Planwirtschaft und technische Revolution
Dem sowjetsozialistischen Wirtschaftssystem liegt die konstitutive Idee zugrunde, daß die Rationalität von Wissenschaft und Technik auf der einen Seite und die Rationalität der Planwirtschaft auf der anderen Seite sich wechselseitig bedingen und ein Gefüge hervorbringen, welches kraft seiner Struktur effizienter ist als das des „anarchischen“ Kapitalismus. In diesem Sinne sprach Stalin bereits Anfang der dreißiger Jahre von der Möglichkeit, die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder innerhalb von zehn Jahren „einzuholen und zu überholen“. Der Zweite Weltkrieg brachte zwar einen schweren ökonomischen Rückschlag, verstärkte aber zugleich die Überzeugung von der prinzipiellen Richtigkeit des Weges. Als die Sowjetunion in den fünfziger Jahren schließlich große Pionierleistungen in der Atomphysik, im Flugzeugbau und vor allem in der Erschließung des Kosmos hervorbrachte, begann eine Epoche überaus optimistischer Zukunftserwartungen, so daß Chruschtschow in das Parteiprogramm des Jahres 1961 die Prognose schreiben ließ, daß die Sowjetunion die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder bis zum Jahre 1980 in der Pro-Kopf-Produktion einholen und überholen werde. Hätte sich diese Prognose auch nur annähernd bewahrheitet, wären wir heute sicher auch mit einer anderen Sowjetpolitik konfrontiert.
Es gehört zu den tiefsten Irritationen im Selbstverständnis sowjetischer Funktionäre, daß Mitte der sechziger Jahre deutlich wurde, daß diese Zielsetzungen mit dem bestehenden System nicht zu erreichen sein würden. Daraufhin begannen in der Sowjetunion und in verschiedenen Ländern Ostmittel-europas die Diskussionen um eine Reform des Systems. Die folgenreichste Lageanalyse nahmen die tschechoslowakischen Reformer vor. Sie trafen die Feststellung, daß das von Stalin geformte sowjetsozialistische System den Bedingungen der „ersten“ industriellen Revolution entspreche, während die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende „zweite“ industrielle Revolution andere ökonomische, gesellschaftliche und geistige Verhältnisse erforderlich mache. Es entstand daraus das Reformmodell eines für Information und Kommunikation geöffneten Systems, verbunden mit der Forderung nach einem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“.
Die Sowjetunion war trotz einiger Vorstöße von Reformpionieren auf einen tiefgreifenden System-wandel nicht vorbereitet und unterdrückte mit dem Reformkurs in der Tschechoslowakei auch die Bestrebungen im eigenen Lande. Zur Stabilisierung des eigenen Weges wurde 1971 die Losung ausge39 geben, daß es darauf ankomme, die „Errungenschaften der wissenschaftlichen-technischen Revolution mit den Vorzügen des sozialistischen Systems“ zu vereinen. Mit dieser beschwichtigenden Rahmenkonzeption wurde die konservative Politik der siebziger Jahre gesteuert
Zugleich wurde dabei eine Entwicklung verpaßt, die sich im Westen nahezu lautlos und ohne besondere Planung vollzog, zugleich aber mit außerordentlicher Geschwindigkeit und tiefgreifenden Folgen für alle Lebensbereiche um sich griff. Man kann diese Ende der siebziger Jahre einsetzende Entwicklung als „dritte“ industrielle Revolution kennzeichnen, wobei folgender Unterschied zur vorangegangenen Epoche deutlich wird: Während die „zweite“ industrielle Revolution noch an Großprojekten wie Wasserkraftwerken, Atomkraftwerken oder Weltraumraketen orientiert war, die sich durch zentrale Planung und Schwerpunktkonzentration als relativ isolierte Objekte realisieren ließen, ist die neue Phase der Entwicklung durch eine geradezu explosive Vernetzung aller ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen auf der Basis neuer Informations-und Steuerungstechnologien gekennzeichnet.
Die inzwischen weltweit entwickelten Kommunikationsgeflechte haben in Verbindung mit gewaltigen Kapitalströmen zu einer gravierenden Strukturkrise in traditionellen Industrien geführt, zugleich aber eine sprunghafte Effizienzsteigerung mit einer scharf kalkulierten und punktgenau gezielten Produktion ermöglicht. Wie groß heute der Abstand der Sowjetunion zu dieser strukturellen Vernetzung moderner Industriegesellschaften ist, kann dadurch veranschaulicht werden, daß — sowjetischen Selbstdarstellungen folgend — die Zahl der in der Sowjetunion produzierten Personalcomputer nach einer Angabe aus dem Jahre 1984 nur einige Dutzend betrug und bis 1990 auf 1, 1 Millionen gesteigert werden soll, während allein in den USA inzwischen 30 Millionen PCs hergestellt worden sind Es ist verständlich, wenn von sowjetischer Seite die Situation als alarmierend empfunden wird. Gorbatschow spricht vom „Vorkrisenzustand“ der Wirtschaft und fordert eine beschleunigte Umgestaltung mit dem Hinweis darauf, „daß wir schon Jahre und Jahrzehnte verloren haben“ Nachdem die Marktwirtschaft ihre Überlegenheit in der Adaption moderner Technologien gerade in der neuesten Phase der technischen Revolution erneut erwiesen hat, sieht man sich nunmehr vor die fast unlösbare Aufgabe gestellt, marktwirtschaftliche Funktionsweisen im sozialistischen System zu simulieren. Hierzu gehören Dezentralisierung, Steigerung der Eigenverantwortung von Betrieben und Regionen und vor allem die Verstärkung der „materiellen Anreize“.
Ob auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit grundlegend verändert werden kann, ist zweifelhaft, wenn man sich die Erfahrungen der ostmitteleuropäischen Länder mit „marktsozialistischen“ Mischstrukturen vergegenwärtigt. Ideologisch wird deshalb vorsorglich eine Abkehr von quantitativen Produktionsvergleichen zwischen Sozialismus und Kapitalismus gefordert, wozu Politbüromitglied A. Jakowlew ausführt: „Das Wesen des historischen Wettbewerbs der zwei Systeme wurde faktisch reduziert auf eine quantitative Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus. Nicht der Grad der sozialen Ausgestaltung des Menschen, sondern die Pro-Kopf-Produktion an Roheisen, Stahl, Erdöl und Zement wurden als grundlegende Erfolge des Sozialismus ausgegeben. Das Mittel zur Erlangung des Ziels verwandelte sich in das Ziel selbst und verfestigte sich im gesellschaftlichen Bewußtsein als Axiom der ökonomischen Entwicklung.“ Dies wiederum bedeutet, daß die Bezugs-richtung des Systems von der Schieflage im ökonomischen Wettbewerb zur Sphäre der sozialen und menschlichen Werte gewendet werden soll.
V. Frieden und „neues Denken“
Die konstitutive Idee des Friedens ist in der marxistisch-leninistischen Ideologie und Politik dadurch gekennzeichnet, daß wahrer Frieden erst im Zukunftskommunismus und nach Überwindung des Kapitalismus erreicht werden könne. Lenin war dabei der Überzeugung, daß letztlich ein Krieg zwischen Kommunismus und Kapitalismus unvermeidlich sei, da die alte Ordnung nicht freiwillig von der weltgeschichtlichen Bühne abtreten werde. Zugleich machte er sich die Clausewitz-Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu eigen.
Andererseits hat Lenin eine partielle Kooperation mit den kapitalistischen Ländern durchaus angestrebt, so daß unter Berufung auf ihn später die Formel von der „friedlichen Koexistenz“ zur Leitidee für die sowjetische Außenpolitik wurde. In dieser Konzeption sind die unterschiedlichen Komponenten einer Zusammenarbeit mit den kapitalistischen Ländern bei gleichzeitiger Fortführung des ideologischen Kampfes miteinander verbunden, die jedoch wegen ihrer Widersprüchlichkeit zu einer Quelle ständigen Mißtrauens gegenüber der sowjetischen Außenpolitik wurden.
In der Ära Gorbatschow hat man die Formel von der „friedlichen Koexistenz“ in den Hintergrund treten lassen (wenn auch nicht aufgegeben) und zugleich den Begriff vom „neuen Denken“ herausgestellt. Der wichtigste Leitgedanke der damit verbundenen Konzeption kann durch den „kategorischen Imperativ“ des Atomzeitalters gekennzeichnet werden, der auf die Feststellung hinausläuft, daß ein Nuklearkrieg alle politischen Aktivitäten, den Klassenkampf eingeschlossen, hinfällig machen würde
Die Korrektur früherer Auffassungen Lenins wird dabei durch eine „Historisierung" seiner Sichtweise vorgenommen, indem A. Jakowlew zum Beispiel unter Berufung auf ein Lenin-Wort feststellt: „Nicht einmal 70 Marxe hätten die Zukunft der neuen Gesellschaft, alle ihre Entwicklungsphasen, im Detail vorhersehen können.“ Flankierend unterstützt wird diese Konzeption mit Ausführungen darüber, daß die „allgemeinmenschlichen Werte“, bedingt durch die neue Entwicklung, einen höheren Rang einnehmen als die notwendig partikularen Interessen des Klassenkampfes. Untersucht man allerdings die sowjetischen Darstellungen im Kontext des Gesamtspektrums der auch heute vertretenen Ideen der Sowjetpolitik, so sieht man, daß die Erwartung des Endsiegs des Sozialismus im Weltmaßstab von niemandem in Frage gestellt wird, daß man an der Auffassung von der Unvermeidbarkeit des Klassenkampfes festhält und daß sich die „allgemeinmenschlichen Werte“ schließlich als identisch mit den Werten des Sozialismus erweisen Auch von einer „geistigen Koexistenz“, die Giscard d’Estaing einmal bei einem Besuch in Moskau gefordert hat ist nicht die Rede.
Ungeachtet dieser Einschränkungen aber hat die sowjetische Friedenskonzeption bereits einen so starken Einfluß auf die Meinungsbildung erlangt, daß bei Umfragen der Abrüstungswillen der Sowjetunion höher eingstuft wird als der der USA Meinungsumfragen bedürfen einer differenzierenden Analyse, die hier nicht vorgenommen werden kann, aber dennoch erscheinen in diesem Zusammenhang einige grundsätzliche Überlegungen angezeigt. Jeder, der die sowjetischen Verhältnisse kennt, wird von dem tief verankerten Friedenswillen der sowjetischen Bevölkerung nachhaltig beeindruckt sein. Zugleich aber wäre es unzulässig, den Völkern westlicher Demokratien weniger Friedenswillen zu unterstellen. Auch die Aufrechnung des Verhaltens der Großmächte in weltpolitischen Konflikten trägt zur Klärung der Problematik wenig bei. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Tatsache, daß zwischen den westlich-demokratischen Staaten jene Feindbilder, welche die frühere Geschichte in der Wellenbewegung von Krieg und Frieden geformt haben, in der Nachkriegszeit buchstäblich aufgelöst und entschwunden sind, so wird erkennbar, wie bestimmte geistige Voraussetzungen in Verbindung mit modernen Entwicklungsprozessen in der Tat einen dauerhaften Frieden hervorbringen können. Betrachtet man die Situation im sowjetsozialistischen Lager, so genügt ein Blick auf die dortigen Grenzverhältnisse, um zu sehen, daß dort dieser Friedensprozeß noch nicht in gleichem Maße vorangeschritten ist.
VI. Die Spannweite der Perestrojka
In den vorangegangenen Ausführungen wurden einerseits konstitutive Ideen aufgezeigt, die das „alte“ sowjetsozialistische System strukturell geformt haben und andererseits Ideen der Gorbatschow-Ära, die dann, wenn man sie in das Sowjet-system umsetzen würde, eine tiefgreifende Veränderung des Gefüges im Gefolge hätten. Es dürfte klar sein, daß im Rahmen der Diskussionen zur Perestrojka ungleich mehr Ideen geäußert werden, als später konstitutiv in das System eingehen, so daß die Überlegungen und Forderungen im Vorfeld des bestehenden Systems als präkonstitutive Ideen gekennzeichnet werden können.
Legt man sich die Frage vor, welche der präkonstitutiven Ideen der vergangenen zweieinhalb Jahre inzwischen in das System umgesetzt wurden, so dürfte die weitaus wichtigste Veränderung in der Einschränkung der Zensur und einer durch höchste Instanzen gedeckten Abschirmung der Glasnost liegen. Dennoch ist nicht klar, was auf diesem Gebiet bereits geregelt wurde und was noch geschehen soll, zumal Gorbatschow kürzlich bei einem Treffen mit Vertretern der Massenmedien die Forderung erhob. die Atmosphäre der Glasnost und die Prozesse der Demokratie auf eine juristische Grundlage zu stellen Hingewiesen sei ferner auf den Teilaspekt einer Rechtsreform durch Einführung des „Beschwerderechts gegen unrechtmäßige Handlungen von Amtspersonen“ Andere Maßnahmen betreffen das Wahlrecht bei der Einsetzung von Betriebsleitern und gewisse Eingriffe in den Wirtschaftsmechanismus wobei der Zulassung von Kleinkooperativen — bis hin zu Familienkooperationen in der Landwirtschaft — eine besondere Bedeutung zukommen dürfte. Insgesamt jedoch erscheint die Feststellung gerechtfertigt, daß von den präkonstitutiven Ideen bislang nur wenige eine konstitutive Bedeutung erlangt haben.
Die wahrscheinlich wichtigste Veränderung, die zwar nicht „gesetzlich“ festgeschrieben ist, aber dennoch als real angesehen werden kann, betrifft ein neues Selbstverständnis bei denjenigen, die sich für die Umgestaltung engagieren. Dieser individuelle Aspekt wird von einem Sowjetphilosophen im Diskussionskreis der Zeitschrift „Fragen der Philosophie“ folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Wir alle leben gegenwärtig mit der Perestrojka. Was hat sie uns schon gebracht? Ich glaube, daß auf diese Frage eine gute Antwort M. S. Gorbatschow gegeben hat: Wenn man von der Perestrojka spricht (ich zitiere nicht, sondern interpretiere den Sinn), was hat sich dann während der letzten Jahre verändert? Verändert haben wir uns selbst, und wir wollen schon nicht mehr zu dem zurückkehren, was früher gewesen ist. Wir leben schon in einem anderen sozialen Klima, in einer anderen Atmosphäre. So, wie ich heute Vorlesungen halte, wie ich vor den Leuten auftrete, welche Artikel wir drucken, so wie wir hier heute unsere Probleme diskutieren — das ist schon etwas Neues.“
Auf der anderen Seite gibt es freilich noch genügend Anhänger des „alten Denkens“. Dabei geht es nicht allein um die oft angeprangerte Furcht der Bürokraten vor dem Verlust von Privilegien oder um Gedankenträgheit. Wichtiger ist der moralische Impetus jener Sowjetbürger, die die Identität mit ihrer eigenen Vergangenheit und den Idealen, für die sie gekämpft haben, zu wahren suchen.
Die Perestrojka ist noch voll im Gange, und Gorbatschow sieht sich am Beginn eines langen Weges, aufdem er die kommenden 18 Monate, wie er Ende September 1987 zum Ausdruck brachte, für entscheidend hält. Ungeachtet der Frage, wie weit der neue Kurs in der Praxis vorangebracht werden kann, ist es jedoch wichtig, in einem hypothetischen Vorgriff die Maximalpositionen möglicher Umgestaltung auszuloten, um dadurch einen Maßstab für die Einordnung der konkreten Vorgänge zu gewinnen.
Dabei kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Angelpunkt einer „revolutionären“ Umgestaltung des Systems unmittelbar mit der sogenannten „Grundfrage der Philosophie“, dem Wahrheitsanspruch und dem Menschenbild verbunden ist. Wie hier eine Änderung vorgenommen werden kann — wenn sie einmal erfolgen sollte —, ist ziemlich klar. Denn es kann nicht darum gehen, die Basis des Materialismus gegen die des „Idealismus“ auszutauschen, da dies Konsequenzen mit umgekehrten Vorzeichen zur Folge hätte. Der einzig tragfähige Weg würde darin bestehen, im staatlich-gesellschaftlichen Bereich Abstand zu nehmen von einer Allaussage, für deren Beantwortung nicht der Staat oder die Partei kompetent sind, sondern der gegenüber der Einzelmensch zur Antwort aufgerufen ist.
Letztlich geht es um einen Wandel von einem dogmatischen Ansatz in der Wahrheitsfrage zu einer problembewußten Einstellung des Staates gegenüber dem Kernbereich menschlicher Existenz.
So beiläufig eine solche Wendung in Worten erscheint, so wahrhaft revolutionär wären die Folgen. Die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit könnte neu definiert werden, sein Eigenrecht gegenüber Staat und Gesellschaft erhielte eine prinzipiell neue Begründung, die Unantastbarkeit seiner Würde ließe sich in ähnlicher Weise festschreiben, wie dies in demokratischen Verfassungen der Fall ist, geistiges Leben könnte in völlig anderer Weise zur Entfaltung gebracht werden als bisher.
Nicht weniger dramatisch wären die Folgen für den Marxismus-Leninismus: Der Wahrheitsanspruch der Ideologie wäre bereits im Ansatz in Frage gestellt, ein tiefer Bruch mit ‘dem Leninismus wäre vollzogen, die bisherige Grundlage von Führungsanspruch und Arbeitsmethode der Partei wäre zerstört, die ideologische Erziehung hätte in zentralen Fragen keinen Sinn mehr.
So berechtigt alle Vorbehalte gegen die Annahme der Möglichkeit eines Umbruchs im sowjetischen Weltbild sein mögen — ausgeschlossen werden sollte eine solche Perspektive nicht, denn die Geistesgeschichte ist über den dialektischen Materialismus längst hinweggegangen. In der Sowjetunion sind starke Kräfte erkennbar, die zu neuen Horizonten drängen; die Akzeptanz für neue geistige Grundlagen dürfte in einer Bevölkerung, die in ihrer Geschichte zutiefst religiös verwurzelt ist, groß sein; die Führung könnte in einer solchen Wendung die Chance zu einer neuen Identitätsfindung mit dem Volk sehen.
Das alles entscheidende Problem liegt allerdings darin, ob eine Änderung der bisherigen Position in der „Grundfrage der Philosophie“ zu explosiven Konsequenzen im Gebäude der Sowjetideologie — mit entsprechenden Folgewirkungen im Sowjetsystem — führen würde oder ob durch das politische und sozialphilosophische Rahmengefüge das „Erdbeben“ im Zentrum der Ideologie aufgefangen werden könnte. Wegen des Systemcharakters der Sowjetideologie würde der Umbruch im Systemansatz in jedem Fall weitreichende Konsequenzen für alle Bereiche von Ideologie und Praxis der Sowjetunion haben. Mehr als alles andere gilt es, die Vorgänge in diesem Bereich im Auge zu behalten, wenn man die längerfristigen Perspektiven der Sowjetentwicklung einschätzen will.
Ausgehend von der Konfiguration der zuvor umrissenen revolutionären Umgestaltung auf der einen Seite und den relativ geringen Systemänderungen, die wir heute faktisch erkennen können, auf der anderen Seite, lassen sich nunmehr verschiedene Zwischenstufen der Umgestaltung einordnen. Dabei kommt der „halben Perestrojka“ eine besondere Bedeutung zu, die von vielen Beobachtern der sowjetischen Szenerie gleichsam als Resultante aus dem umkämpften Kurs prognostiziert wird. Hierzu läßt sich wiederum vorhersagen, daß sich mit einer solchen halben Lösung zwar viele Modernisierungen erreichen lassen, die Grundwidersprüche des Systems, insbesondere im kulturell-geistigen Bereich, aber nicht beseitigt werden können. Es mag genügen, an das Bildungswesen zu denken, wo im Gefolge der inzwischen aufgebrochenen geistigen Unruhe notwendig eine zunehmende Verunsicherung auftreten muß.
VII. Herausforderung und Chancen
Einstweilen ist völlig offen, wie groß die Dimension der sowjetischen Umgestaltung sein wird. Zugleich aber ist es für den Westen wichtig, das Spektrum möglicher Veränderungen ständig im Blick zu behalten und in den jeweiligen Folgen zu bedenken. Dabei ist davon auszugehen, daß die Herausforderung für den Westen umso größer sein wird, je mehr die Fundamente des sowjetischen Systems in die Umgestaltung einbezogen werden. Hierzu gilt es zu bedenken, daß insbesondere in Europa eine idealisierte Konzeption der Synthese von Sozialismus und geistiger Freiheit eine lange Tradition hat, die durch das abschreckende Bild des real existierenden Sozialismus zwar verdrängt wurde, aber dennoch erneut mobilisiert werden kann. Es kommt hinzu, daß im Westen ein oft beklagtes Wert-und Orientierungsdefizit besteht, in welches ein ganzheitliches Weltbild, das neue geistige Perspektiven eröffnet, einströmen kann. Besondere Bedeutung kommt dabei der Tatsache zu, daß die Sowjetpolitik -wie sich bereits in der Friedensthematik gezeigt hat — über ungleich wirksamere Instrumente verfügt, um ein umfassendes Weltbild zu entwickeln und breiten Bevölkerungsschichten näherzubringen, als dies in demokratisch verfaßten Systemen möglich wäre.
Der Westen kann sich einer solchen Herausforderung gegenüber, wenn sie auf ihn zukommen sollte, nur systemadäquat verhalten. Dies wiederum würde bedeuten, daß — gleichsam auf der Folie eines von außen kommenden Weltbildes — die Welt der eigenen Werte in pluralistischer Weise stärker verdeutlicht werden müßte, als dies bislang der Fall ist. Und hier zeigt sich alsbald, daß die westliche Demokratie durch die Kerngehalte vom Eigenrecht des Menschen und seiner geistigen Freiheit auf einem unüberholbar festen Fundament steht, daß hier geistiges Leben, Kreativität und unterschiedliche Lebensformen in großer Spannweite zur Entfaltung gebracht werden können und daß sich in der westlichen Gemeinschaft die in der Demokratie liegenden geistigen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden bereits bewährt haben.
Die Entwicklungen in der Sowjetunion sind jedoch nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance zu betrachten. Sie liegt vor allem darin, daß mit einem Wandel in der Tiefendimension des Systems auch die Basis für den Ausbau des geistigen Friedens zwischen Ost und West herausgebildet werden könnte. Denn ähnlich wie ein Staatsgefüge bedarf auch der Frieden eines geistigen Fundaments, um eine tragfähige Struktur zu erlangen. Die Möglichkeit zur Gewinnung des geistigen Friedens wiederum ist als eine entscheidende Voraussetzung für die Überwindung des politischen Gegensatzes zwischen Ost und West anzusehen.