Einige Jahre bevor Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, habe ich zusammen mit Christian Hacke von der Universität der Bundeswehr in Hamburg die sowjetische Position zur Frage eines europäischen Krieges schon einmal wie folgt zusammengefaßt: „Die höchste Priorität richtet sich auf die Vermeidung eines Krieges zwischen den beiden Blöcken. Wenn es dennoch zu einem solchen Krieg käme, würde die Sowjetunion — gestützt auf ihre verbesserten Fähigkeiten auf der konventionellen Ebene — sich so verhalten, daß die gesamte Verantwortung für den Einsatz nuklearer Waffen dem Westen zufallen würde. Das sowjetische nukleare Potential hätte in diesem Kontext die Funktion, der NATO ihre eigenen nuklearen Optionen zu verweigern. Wenn dies erfolglos bliebe und der Krieg sich zum Nuklearkrieg ausweiten würde, würde Moskau versuchen — ohne viel Hoffnung auf Erfolg — zumindest das Überspringen auf die strategische Ebene zu verhindern. All dies würde jedoch nicht im Sinne der westlichen Eskalationstheorie geschehen, sondern in Übereinstimmung mit der eigenen Strategie, die den verbundenen Einsatz aller Waffen vorsieht.“
Im Grunde genommen treffen diese Feststellungen auch heute noch zu. Allerdings hat es hier beträchtliche Veränderungen bei der Gewichtung gegeben.
Diese ergeben sich auf der einen Seite aus einer Fortentwicklung des militär-strategischen Denkens in der UdSSR und auf der anderen Seite aus den waffentechnischen Fortschritten. Diese Veränderungen betreffen sowohl die Militärdoktrin als auch die Militärstrategie Moskaus. Darüber hinaus gibt es Anzeichen, daß die sowjetische Führung im Rahmen ihres „neuen politischen Denkens“ in Erwägung zieht, mit dem Westen auch hierüber in Gespräche einzutreten, sobald der Abbau der nuklearen Raketen eingesetzt hat.
Angesichts der sich abzeichnenden neuen Lage in Europa liegt es nahe, zu fragen, wie die Vorstellungen und Überlegungen beschaffen sind, die die politische und militärische Führung der UdSSR hierzu angestellt hat. Über eine Analyse der vorhandenen Potentiale hinaus geht es dabei um die Untersuchung der sowjetischen Perzeptionen Die vorhandenen wie die künftigen Potentiale und überhaupt die gesamte militärische „Posture“ sind ja schließlich eine Folge der sowjetischen Lagebeurteilung. Eine Analyse dieser Perzeptionen verspricht auch Hinweise darauf, welchen Stellenwert Rüstungskontrollverhandlungen im Rahmen der sowjetischen Militärdoktrin und Militärstrategie haben.
Zur sowjetischen Militärdoktrin
In der Sowjetunion gibt es eine ungebrochene Tradition militärpolitischen Grundsatzdenkens, das nun schon seit sieben Jahrzehnten Bestand hat. Es ist ein Denken, das bei Carl von Clausewitz, Friedrich Engels und Wladimir Lenin seinen Anfang genommen hat und das die sowjetische Militärgeschichte im Lichte dieser Konzeptionen reflektiert. In diesem Denken gilt der Primat der Politik. Der gesamte militärische Bereich wird so als ein Instrument der politischen Führung verstanden. Das gilt auch für die Beziehung zwischen Politik und Krieg. Der wichtigste Satz von Clausewitz, daß jeder Krieg eine Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer. nämlich militärischer Mittel ist, kann auch im Nuklearzeitalter so aufgefaßt werden, daß selbst ein Atomkrieg eine Fortsetzung der Politik wäre, jedoch die Fortsetzung einer unverantwortlichen, abenteuerlichen und unmoralischen Politik. Bis vor kurzem ist dies auch in der Sowjetunion die überwiegende Interpretation gewesen. Erst im Rahmen des „neuen politischen Denkens“ hat man damit begonnen, der zentralen Aussage von Clausewitz ihre Berechtigung im Atomzeitalter abzusprechen. Der Primat der Politik bleibt davon jedoch unberührt. Für den Bereich der Militärdoktrin heißt das, daß diese von den Politikern gemacht wird und nicht von den Militärs. Sie wird im Rahmen der sowjetischen Militärpolitik vom „Rat der Verteidigung“ festgelegt. Sie ist eine Vorgabe der politischen Führung, bei deren Formulierung Militärs nicht mitzuentscheiden haben. Allenfalls werden sie wegen ihres Sachverstandes mit herangezogen. Dies gilt für beide Bereiche der Militärdoktrin, den „politischgesellschaftlichen“ und den „militär-technischen“. Die Militärdoktrin (nicht die Strategie) befaßt sich mit den folgenden Problemen:
— Welcher Staat würde im Falle eines künftigen Krieges der Hauptgegner sein? Auf welche Verbündeten kann er rechnen? Wer wird auf der eigenen Seite als Verbündeter stehen? Welche Länder werden neutral bleiben? Welche Staaten der gegnerischen Koalition oder der Neutralen könnten vielleicht für die eigene Sache gewonnen werden? Als konkreter Hauptgegner gelten die USA, und ein künftiger möglicher Krieg wird als ein Koalitionskrieg zwischen NATO und Warschauer Vertragsorganisation aufgefaßt
— Welches sind die politischen Ziele, denen die militärische „Posture“ zu dienen hat? Hier geht es um die Sicherheit der Sowjetunion, um die Erhaltung des sozialistischen Systems, um strategische Parität und um die Verhütung eines Krieges zwischen den Blöcken
— Was würde das Wesen eines künftigen Krieges sein? Welche Technologien werden voraussichtlich eingesetzt und welche Arten von Waffen werden von daher benötigt?
-Welche militärischen Ziele müßte die operative Kriegführung erreichen, und wie müßte dementsprechend die Militärstrategie aussehen? (Die militärische Strategie ist so lediglich ein Aspekt der Militärdoktrin).
-Welche Art von Krise könnte zu einem Krieg führen? Wie würde das antizipierte Kriegsbild aussehen? Wie würde insbesondere die Anfangsphase eines solchen Krieges verlaufen? Hier geht es um die Rolle des Faktors Überraschung und um den Ersteinsatz oder Nichtersteinsatz nuklearer Waffen. -Auf welche Weise müssen das Land und seine Verbündeten für den Krieg ökonomisch und logistisch vorbereitet werden?
Da man in Moskau davon ausgeht, daß ein Krieg mit dem Westen auf jeden Fall ein Koalitionskrieg sein würde, erfordert dies, daß die verbündeten Armeen im Falle eines Krieges unter strikte sowjetische Kontrolle kommen. Die Streitkräfte der eigenen Koalition müssen als eine geschlossene Einheit agieren. Zugleich dürfen aber Chancen nicht ausgelassen werden, die gegnerische Koalition gegebenenfalls aufzuspalten.
Da nur ein Atomkrieg für das Territorium der UdSSR wirklich katastrophale Folgen haben würde, kommt es ihr natürlich in erster Linie darauf an, diesen aufjeden Fall zu vermeiden. Ein konventioneller Krieg in Europa dagegen würde sowjetisches Territorium kaum in Mitleidenschaft ziehen. Da aber auch ein solcher regionaler Krieg leicht zum großen Atomkrieg eskalieren könnte, will die sowjetische Führung auch dieses Risiko ausschließen. Die Abschreckungskonzeptionen der NATO sind hier nicht ohne Wirkung geblieben. Deshalb ist die Militärdoktrin gegenüber dem Westen eine Kriegsverhinderungsdoktrin. Die Sowjetunion möchte ihre politischen Ziele gegenüber dem Westen mit allen möglichen Mitteln erreichen — mit politischen, ideologischen, diplomatischen, propagandistischen, ökonomischen und finanziellen Mitteln, aber eben nicht mit einem Krieg gegen Europa. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Sowjetunion nun — weltweit gesehen — eine Kriegsverhinderungspolitik betreiben würde. Die sowjetischen Führer sagen immer wieder, daß es in bestimmten Bereichen der Welt auch in Zukunft Kriege geben dürfte. Wenn beispielsweise — wie 1956 in Ungarn oder 1968 in der CSSR — die Gefahr bestünde, daß ein Bündnisland aus dem Pakt ausscheidet oder daß die Kommunisten dort die Macht verlieren, dann könnte das Militär gegebenenfalls als Mittel zur Wiederherstellung dieser Macht eingesetzt werden. Daß die verbündeten Staaten kommunistisch und im sowjetischen Block bleiben, wäre dann wichtiger als der Frieden. Auch Afghanistan ist ein Beispiel dafür, unter welchen Umständen die Sowjetunion bereit ist, ihr militärisches Instrument auch einzusetzen. Darüber hinaus geht man aber auch davon aus, daß es in der Dritten Welt immer wieder zu Krisen kommen kann und daß die Sowjetunion die Freiheit behalten will, dort die eine oder die andere Seite zu unterstützen, wenn auch nicht mit eigenen Truppen. So schrieb Prawda-Herausgeber Afanasjew erst kürzlich: „Marxisten sind nicht Pazifisten, sie halten gerechte Verteidigungskriege und Befreiungskriege für natürlich und gesetzmäßig.“ Kriegsverhinderung als wichtigste politische Zielvorgabe gegenüber der NATO bedeutet also nicht Kriegsverhütungspolitik generell. Allerdings sieht man auch in Moskau die Gefahr, daß ein regionaler 5 Krieg irgendwo in der Welt möglicherweise auf den europäischen Schauplatz überspringen könnte. In dem vorstehenden Sinne treffen die regelmäßig wiederholten sowjetischen Aussagen zu, daß ihre militärische Doktrin defensiv sei. Diese Aussagen beziehen sich aber nur auf die Militärdoktrin, nicht auf die Militärstrategie.
Beide Begriffe können in der sowjetischen Terminologie niemals synonym verwendet werden. Mehr noch: Aus sowjetischer Sicht gibt es keinen Widerspruch zwischen einer defensiven Doktrin und einer offensiven Strategie. Letztere sieht gegenüber Europa eine offensive Kriegführung vor, und zwar aus sowjetischem Verständnis heraus mit dem Ziel, auf diese Weise zur Kriegsverhütung mit beizutragen. Das Risiko, einen Krieg in Europa zu verlieren, soll die westlichen Politiker davon abhalten, in Europa oder gegenüber dem Warschauer Pakt eine riskante militärische Politik zu betreiben. Für den Fall eines solchen Krieges droht die Sowjetunion militärisch damit, die NATO zu Lande zu besiegen, die amerikanischen Streitkräfte vom Kontinent zu vertreiben und wesentliche Teile Westeuropas unter ihre Kontrolle zu bringen
Die Verbindung von politischer Defensive und militärischem Offensivkonzept wird in der sowjetischen Literatur üblicherweise wie folgt formuliert: „Unsere Militärdoktrin hat zutiefst defensiven Charakter. Indessen bestimmt dies auch die hohen Anforderungen zur Führung aktiver und entschlossener Handlungen gegenüber einem potentiellen Aggressor.“ Ähnlich formulierte auch Marschall Ogarkow, der ebenfalls ausführt, daß die Militärdoktrin defensiv sei, daß sie aber auch „die Führung von aktiven und entschlossenen Kampfhandlungen unter Ausnutzung der militärischen Macht des Staates und seiner bewaffneten Streitkräfte bis zur vollständigen Zerschlagung des Aggressors vorsieht“
Hier liegt die eigentliche Crux für die sicherheitspolitische Lage in Europa: Solange der Warschauer Pakt an seinem militärischen Offensivkonzept festhält, ist die NATO gezwungen, an ihrem dieser Bedrohung entsprechenden Verteidigungskonzept festzuhalten. Das hat Bundesverteidigungsminister Wörner erst kürzlich wieder herausgestellt: „In dieser Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts in Mitteleuropa liegt das Kernproblem unserer Sicherheit — ein Problem, das . . . mehrere Jahre durch die Verengung der Debatte auf Nuklearwaffen in den Hintergrund getreten war. Wenn wir die politische und militärische Lage in Mitteleuropa dauerhaft stabilisieren wollen, muß diese Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts — vorrangig im Wege der Abrüstung — abgebaut werden. Wir müssen dies der Sowjetunion abfordern.“
Sowjetische Militärstrategie in Europa
Je mehr sich die sowjetischen Führer über die katastrophalen Folgen eines nuklearen Krieges für ihr eigenes Land klar wurden, um so mehr befaßten sie sich mit Überlegungen, auf welche Weise sie ihr Land am besten vor dem nuklearen Desaster bewahren könnten. All die Veränderungen, die im letzten Jahrzehnt stattgefunden haben oder die gegenwärtig vorgenommen werden, sind in der einen oder anderen Weise auf dieses Ziel hin orientiert. Die sowjetische Diplomatie hat dabei die Aufgabe, den Krieg zwischen Ost und West politisch zu verhindern, während das Militär vor einem solchen Krieg abschrecken soll.
Abschreckung (sderzivanie) allein reicht indessen nicht aus. Sollte die Abschreckung versagen, so müssen die militärischen Fähigkeiten der WVO (Warschauer Vertragsorganisation) und die Art, wie ihre Truppen disloziert sind, ausreichend sein, die gesetzten militärischen Ziele zu erreichen. Und das hieße im gegebenen Fall, einen Sieg oder Teil-sieg in Europa zu erkämpfen. Auch wenn man inzwischen in Moskau davon ausgeht, daß es in einem Atomkrieg keinen Sieger mehr geben kann, so schließt das doch keineswegs aus, in Europa einen solchen Sieg unter Vermeidung eines allgemeinen Atomkriegs zu erringen.
Und dies erfordert eben ein Kriegsführungskonzept, das möglichst ganz auf den Einsatz nuklearer Waffen verzichtet. Sollte es in Europa — entgegen den sowjetischen Absichten — zu einem Kriege kommen, so würde Moskau sein Äußerstes tun, um ein Überspringen des Krieges auf die nukleare Ebene zu verhindern. Im Rahmen solcher Überlegungen macht es immer weniger Sinn, nuklearen Waffen militärische Ziele in Europa zuzuweisen. Insbesondere der Ersteinsatz von nuklearen Waffen entsprach so nicht mehr dem sowjetischen Interesse. Bedingt durch östliche Überlegenheit bei der konventionellen Kriegführung bliebe Westeuropa in der Rolle der potentiellen Geisel gerade dann. wenn es nicht zum Ersteinsatz nuklearer Waffen käme Der vom damaligen Außenminister Gromyko 1982 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärte völkerrechtliche Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen lag also ganz in der Linie dieser Logik und war darüber hinaus ein vorzügliches Mittel für die propagandistische Beeinflussung der übrigen Welt.
Ungeachtet der Stationierung der nuklearen Mittelstreckenwaffen SS-20 hat sich dieser Denkprozeß weiter fortgesetzt. Immer fraglicher wurde es offensichtlich für die sowjetische Führung, ob man den eigenen nuklearen Systemen in Europa überhaupt sinnvollerweise militärische Aufgaben zuweisen könnte. Alles spricht dafür, daß man hier im Laufe der letzten Jahre zu einer Reihe konkreter Schlußfolgerungen gelangt ist, die sowohl im operativen Denken als auch im Streitkräfteaufbau (voennoe stroitel'stvo) reflektiert werden. Sie laufen alle auf eine Konventionalisierung eines möglichen europäischen Krieges hinaus. Drei Teilbereiche lassen sich hier unterscheiden:
1. Entnuklearisierung, 2. operative Manövergruppen und 3. ein neues operatives Konzept eines „modernen Krieges“. Auf diese drei Bereiche soll im folgenden zunächst eingegangen werden. 1. Entnuklearisierung Bei den publizierenden sowjetischen Militärs hat sich in den achtziger Jahren ein Konsensus über die abnehmende Rolle nuklearer Waffen in einem modernen Krieg herausgebildet Nicht zuletzt angesichts der verbesserten Zielgenauigkeit konventioneller Waffensysteme sahen sie sich offensichtlich zunehmend in der Lage, „konventionelle Lösungen für nukleare Probleme zu finden“ Mit anderen Worten: Ziele, die bisher nur durch eine nukleare Explosion zerstört werden konnten, können nun durch Präzisionswaffen mit konventionellen Gefechtsköpfen vernichtet werden. General Alten-burg hat in einem SPIEGEL-Interview hierzu folgendes ausgeführt: „Die bisherigen Bundeswehr-pläne gehen in die neunziger Jahre, nicht ins Jahr 2000. Das darf uns aber nicht daran hindern, über die neunziger Jahre hinaus zu denken. Und da sehen wir, daß die Sowjetunion in der Lage ist, Raketen bestimmter Reichweite und Cruise Missiles nicht nur mit nuklearen Sprengköpfen auszustatten, sondern auch mit konventionellen und chemischen . . . Die Sowjetunion konfrontiert uns mit einem neuen Problem. Sie stattet, zu unserer Über-raschung, ballistische Raketen, die bisher nur Nuklearträger waren, konventionell aus.“ Dies gilt offenbar sowohl für die Kurzstreckenraketen SS-21 (Reichweite 80 bis 100 km) und SS-23 (Reichweite bis 500 km) als auch für Systeme mit noch kürzerer Reichweite wie z. B.den BM-27-Raketenwerfer (Reichweite ca. 40 km). Dafür wird eine Reihe von konventionellen Einzel-und Tochtergefechtsköpfen entwickelt, darunter Spreng-, Splitter-und Brandladungs-Gefechtsköpfe. „Auffällig ist das besondere Interesse der Sowjets an Raketengefechtsköpfen mit Aerosol-bzw. FAE-(Fuel Air Explosives) -Sprengladungen.“ Auf diese Weise werden neue Einsatzoptionen gegenüber der NATO aufgebaut. Verschiedene sowjetische Autoren haben darauf hingewiesen, daß die neuen konventionellen Mittel dieselben Aufgaben bewältigen können, für die man früher auf nukleare Waffen angewiesen war
Ausgehend von der Annahme, daß ein Krieg in Europa gegebenenfalls über längere Zeit unterhalb der nuklearen Schwelle gehalten werden kann, hat die sowjetische Führung ihre Streitkräfte nicht zuletzt dadurch besser vorbereitet, daß diese für 60 bis 90 Tage konventionell munitioniert werden und auch für diese Zeit mit Treibstoff ausgestattet sind
Diese Entwicklungen entsprechen auch den Publikationen der prominentesten sowjetischen Militär-Autoren. Hier wären insbesondere Generalstabschef Sergej Achromeew, Marschall Nikolaj Ogarkow oder der Stellvertretende Generalstabschef Generaloberst Machmut Gareew zu nennen. Besonders kommt dies bei Ogarkow zum Ausdruck, wenn man dessen Bücher von 1982 und 1985 miteinander vergleicht In seiner neueren Publikation erscheinen die nuklearen Streitkräfte nicht mehr als essentieller Bestandteil, sondern nur noch als entfernte Möglichkeit in einem modernen Krieg. Auch das Militärenzyklopädische Wörterbuch ist in der neuesten Ausgabe in dieser Hinsicht „entnuklearisiert“ worden. Unter dem Stichwort „Militärstrategie“ hieß es noch in der Ausgabe von 1983: „Das Erreichen der Operationsziele ist nur durch die vereinten Anstrengungen aller Teilstreitkräfte und Waffengattungen zu erreichen, die eng untereinander sowohl unter den Bedingungen der Anwendung konventioneller als auch nuklearer Waf-fen kooperieren.“ In der Ausgabe von 1986 fehlt bei sonst unverändertem Text der Hinweis „sowohl unter den Bedingungen der Anwendung konventioneller als auch nuklearer Waffen“ Die sowjetische Führung hat so in Theorie und Praxis versucht, das sich ihr bietende „Window of Conventional Opportunity“ optimal zu nutzen 2. Operative Manövergruppen (OMG)
Spätestens seit den fünfziger Jahren gilt die Anfangsphase eines Krieges im sowjetischen militärischen Denken als mitentscheidend für den Ausgang eines Konfliktes. Angesichts der sowjetischen Absicht, einen künftigen europäischen Krieg möglichst auf der konventionellen Ebene zu halten, erscheint es deshalb ausschlaggebend, der NATO die Option eines nuklearen Ersteinsatzes zu verweigern. Für diesen Zweck ist es dann weit besser und weit verläßlicher als die Drohung, mit nuklearen Waffen zurückzuschlagen, die nuklearen Systeme der westlichen Seite so früh wie möglich mit konventionellen Mitteln soweit wie möglich auszuschalten. Dies würde die operative Kampfaufgabe (boevaja zadaöa) der sogenannten OMGs sein, die im Russischen „operativnye gruppirovki vojsk“ heißen Eine OMG ist nicht durch ihre Mannschaftsstärke definiert. Es kann im gegebenen Fall ein Regiment sein, es könnten aber auch mehrere Divisionen sein. Von der operativen Aufgabe hängt es ab, wie groß die Stärke ist. Ihre Strukturen sind in Friedenszeiten nicht ohne weiteres auszumachen, weil es auch bei den modernen Methoden der Aufklärung nicht möglich ist, festzustellen, welche Verbände unter Umständen aus den übrigen Streitkräften herausgelöst und mit solchen operativen Aufgaben betreut werden.
Ein wesentliches Charakteristikum ist es, daß diese beweglichen Gruppierungen keine Rücksicht auf die Verbindung mit der eigenen Front nehmen, daß man überhaupt im sowjetischen operativen Denken davon ausgeht, daß es in einem künftigen europäischen Krieg voraussichtlich keine geschlossene Frontlinie mehr geben wird. Für die OMGs ergibt sich also die Notwendigkeit, ihre Kampfaufgabe mit den vorhandenen Mitteln zu lösen.
Solche beweglichen Gruppierungen dürften vor allem Luftwaffenverbände sein (Hubschrauberverbände, Kampfbomber, Fallschirmjäger). Luftgestützte OMGs können so eine Art Substitut für frühere Konzepte eines nuklearen Erstschlages sein. Die Kampfaufgabe, die nuklearen Systeme des Gegners auszuschalten, kann in einer Reihe von Fällen natürlich auch von bestimmten Heeresverbänden ausgeführt werden. Diese würden dann mit großer Schnelligkeit unter Loslösung von der eigenen Truppe nach Westen vorstoßen. Im Rahmen einer Koalitionskriegführung könnten insbesondere Verbände der Nationalen Volksarmee der DDR solche Aufgaben zugeordnet bekommen.
Schließlich könnten solche beweglichen Gruppierungen auch von der Marine gestellt werden. Landungsschiffe, Luftkissenfahrzeuge, Unterseeboote und auch reguläre Überwasserkriegsschiffe würden Landungsoperationen mit operativer Kampfaufgabe durchführen. Je nach Zielsetzung und Umfang sind solche „Desant" -Operationen, wie sie im Russischen heißen, auf der strategischen, der operativen, der operativ-taktischen und der taktischen Ebene vorgesehen sowie auch als „Desant-Operation mit spezieller Bestimmung“ (Desant specnaz) Insbesondere würde die baltische Flotte die Aufgabe haben, im Kriegsfall so schnell wie möglich die Ostseeausgänge zu besetzen, um Störungen dieser Operationen durch NATO-Seeverbände auszuschalten
In Verbindung mit oder als Teil von OMGs würden auf der taktischen Ebene (im Gegensatz zur operativen Ebene) auch kleine Gruppen spezieller Kampftruppen eingesetzt werden (specnaz), die im Auftrag des militärischen Geheimdienstes GRU (der Hauptverwaltung Aufklärung der Streitkräfte) operieren. Diese würden sowohl zur Aufklärung operativer Ziele als auch zur Neutralisierung feindlicher Kommando-, Stabs-und Kommunikationszentralen sowie Atomwaffenanlagen eingesetzt werden
Die operativen Manövergruppen sind auf diese Weise sowohl auf der operativen wie auch auf der taktischen Ebene ein wesentlicher Bestandteil des Prinzips offensiver Operationen, die die gesamte Tiefe des zu erwartenden Kriegsschauplatzes einbeziehen. 3. Operatives Konzept eines „modernen Krieges“
In vieler Hinsicht sind die neuen sowjetischen Konzepte operativer Kriegführung eine Abweichung von Richtlinien, die in den sechziger Jahren unter dem Namen von Marschall Sokolowski erschienen waren Alle sowjetischen Experten stimmen heute darin überein, daß das Sokolowski-Buch heute in wesentlichen Teilen überholt ist. Insbesondere Generaloberst Gareew hat sich damit ausein-andergesetzt und hat Sokolowski — These für These — korrigiert Dabei ist es sicher nicht uninteressant, daß manche der Konzepte eines „modernen Krieges“ denen der vor-nuklearen Zeit sehr ähnlich sind, wie sie in den dreißiger Jahren schon unter Marschall Tuchatschewski entwickelt worden waren Die auffälligste Veränderung erstreckt sich auf die territoriale Dimension, die eine moderne operative Offensive haben würde. Die neue Dimension geht nicht mehr von der „FrontOperation“ aus wie noch im Zweiten Weltkrieg, sondern vom „Theater militärischer Handlungen“ (TVD). Eine sowjetische Front-Operation im Zweiten Weltkrieg erfolgte im allgemeinen in einer Breite von 200 bis 300 km und einer Tiefe von 300 bis 400 km. Eine solche Operation dauerte 15 bis 20 Tage, und das Angriffstempo betrug 15 bis 20 km pro Tag Heute dagegen gilt die Annahme, daß eine moderne Operation das gesamte TVD umfassen wird Im Verlaufe einer derartigen Operation würden mehrere Front-Operationen miteinander integriert und möglichst ohne Pausen oder nur mit ganz geringen Unterbrechungen bis zum Ende durchgeführt werden. Eine derartige großangelegte strategische TVD-Operation würde somit in einer Breite von etwa 500 bis 750 km erfolgen und eine Angriffstiefe von 500 bis zu 1 000 km anzielen Wenn man eine Angriffsgeschwindigkeit von 60 km in 24 Stunden zugrunde legt, dann läuft das darauf hinaus, daß dieses TVD-Konzept vorsieht, den größeren Teil von Westeuropa innerhalb von 12 bis 18 Tagen mit den Streitkräften des „TVD West“ zu überrennen. Das offensichtliche Ziel dieses Konzeptes ist es, „die Forderung der sowjetischen Militärstrategie zu verwirklichen, einen Konflikt auf dem Hauptkriegsschauplatz durch eine teilstreitkraftübergreifende strategische Operation mit dem Ziel der Vernichtung des Gegners auf dessen Territorium rasch siegreich entscheiden zu können. In dem Zusammenspiel von materiellen Fähigkeiten und operativen Konzepten ist die Bedrohung durch die Invasionsfähigkeit der Streitkräfte des Warschauer Paktes inhaltlich begründet.“
Dabei steht der massierte Durchbruch motorisierter und gepanzerter Verbände mit Luftunterstützung, Feuerunterstützung aus der Tiefe und nach-geführter Feuerunterstützung durch bewegliche Artillerie wieder im Vordergrund der Angriffsplanungen. Neu ist bei diesen Planungen vor allem die Schnelligkeit, mit der die Operationen vorgetragen werden sollen, und die Präzision der Truppenführung (upravlenie vojskami).
Ein solches Konzept erfordert eine wesentliche Verbesserung der C 3-Struktur (Command, Control, Communication) des Warschauer Paktes. Vor allem aber erfordert es, daß die nuklearen Systeme der NATO in der ersten Phase des Krieges weitgehend ausgeschaltet werden. Denn dann bestünde nicht mehr die Gefahr, daß die massierten Verbände der WVO von wenigen nuklearen Gegen-schlägen vernichtet werden könnten.
Für ein solches Konzept ist der Einsatz von nuklearen Waffen — zu dieser Auffassung scheint man in der Sowjetunion gelangt zu sein — sinnlos. Der Einsatz von Nuklearwaffen sowjetischerseits würde das Vormarschtempo der eigenen Truppen nach erfolgtem Durchbruch keineswegs beschleunigen, sondern möglicherweise behindern. Auch von daher gesehen ist also der Verzicht aufden Ersteinsatz nuklearer Waffen durchaus glaubhaft, denn er würde das eigene operative Konzept behindern. Immer mehr westliche Beobachter sind sogar zu der Auffassung gelangt, daß die Sowjetunion im Falle eines selektiven NATO-Ersteinsatzes von Atomwaffen asymmetrisch reagieren würde. Das heißt, sie würde nicht mit Atomwaffen zurückschlagen. Sie würde es voraussichtlich vorziehen, die Kampfhandlungen auf der konventionellen Ebene zu halten, wenn es ihr erst einmal gelungen ist, den größeren Teil des westlichen Atompotentials zu eliminieren. Eventuell verbleibende westliche Nuklear-kapazitäten könnten dann durch eine ganze Reihe von konventionellen Optionen ausgeschaltet werden
Abschließend wäre in diesem Zusammenhang noch zu erwähnen, daß das sowjetische Konzept eines modernen Krieges nicht unbedingt einen totalen militärischen Sieg in Westeuropa erfordert. Entsprechend den politischen und militärischen Rahmenbedingungen könnte auch ein Teilsieg genügen. Ein Teilsieg hieße beispielsweise, den Krieg gegen die NATO in Europa abzubrechen, wenn die nuklearen Systeme der NATO in Europa zerstört sind und die Bundesrepublik von Warschauer-Pakt-Truppen besetzt wäre. Zusammenfassendes Merkmal der sowjetischen Planungen für das europäische TVD ist es also, den Einsatz nuklearer Systeme möglichst ganz zu vermeiden. Der NATO sollen ihre nuklearen Optionen bereits in der Anfangsphase weithin genommen werden. Offensichtlich geht man in Moskau davon aus, daß ein solches Konzept der Konventionali-sierung dem sowjetischen Interesse wesentlich mehr entspricht als frühere Konzepte: Sowjetisches Territorium würde im Falle eines solchen Krieges kaum betroffen werden, und es erscheint zugleich eher möglich, eine Eskalation zum strategischen Schlagabtausch mit den USA zu vermeiden
Schlußfolgerungen und Konsequenzen
Die sowjetischen Vorstellungen vom Nutzen nuklearer Waffen haben sich somit im Laufe der letzten Jahre radikal gewandelt. Inzwischen geht man davon aus, „daß nukleare Waffen nicht länger irgendwelchen rationalen politischen oder militärischen Zielen dienen können“, und deshalb „mag es Moskau sehr ernst sein mit seinem Wunsch nach Verminderung nuklearer Waffen“ Aus der Sicht der militärischen Planer der UdSSR erscheint so eine möglichst umfassende und möglichst weitgehende Verminderung der Anzahl nuklearer Waffen in Europa als militärisch vorteilhaft: Je geringer nämlich die Anzahl dieser Systeme in Europa ist, um so leichter läßt sich die Vernichtung dieser Systeme mit konventionellen Mitteln planen, und die Wahrscheinlichkeit, eine möglichst große Anzahl von ihnen in der allerersten Phase eines europäischen Krieges zu zerstören, würde größer. Jede Form von Null-Lösung, einfach, zweifach, dreifach, liegt daher im sowjetischen Interesse. Auf der anderen Seite würde sich die militärische Planung der NATO durch diese Entwicklung keineswegs erleichtern. Nicht nur im Objekt-Schutz würden sich neue und komplexe Anforderungen ergeben, deren Bewältigung auch mit erheblichen Kosten verbunden wäre. Das zentrale Problem — die militärische Invasionsfähigkeit der WVO in Mitteleuropa — würde sich noch schärfer akzentuieren.
Darüber hinaus erhebt sich die Frage, ob dann auch die nukleare Abschreckung weiter wie bisher funktionieren würde. Aus deutscher Sicht ist die Abschreckung ein ganz zentrales Moment der Kriegsverhütungs-und Sicherheitspolitik. Vieles spricht dafür, daß der Zustand des Friedens in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Verfügbarkeit von nuklearen Waffen ist. Auch wenn es unmöglich ist, die Kausalität eines Nicht-Ereignisses zu beweisen, so kann immerhin gezeigt werden, daß die Einstellung der politischen Entscheidungsträger im Hinblick auf die Frage von Krieg und Frieden sich gegenüber der Vorkriegszeit wesentlich verändert hat: Die Bereitschaft, einen Krieg als Instrument der Politik zu wagen, hat sehr abgenommen. Das hohe Maß an Vorsicht, das die Politiker heute zeigen, ist eben auch eine Konsequenz des Wissens um die ungeheure destruktive Kraft der Atomwaffen. Ein zu weitgehender Abbau der nuklearen Abschreckung in Europa könnte deshalb die Wahrscheinlichkeit eines konventionellen Krieges wieder vergrößern. Im Hinblick auf das bisherige Funktionieren nuklearer Abschreckung wäre daher eine vollständige Entnuklearisierung aus europäischer Sicht nicht wünschenswert. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund ihrer geostrategischen Situation würde ein Krieg zwischen den Blöcken auf jeden Fall auf deutschem Territorium ausgetragen werden. Deshalb kommt es für uns Deutsche darauf an, jeden Krieg zu vermeiden, nichtnur den Atomkrieg. Für uns Deutsche liegt die entscheidende Schwelle nicht zwischen konventionellem und nuklearem Krieg, sondern zwischen Krieg und Nichtkrieg.
Eine weitgehende Entnuklearisierung würde darüber hinaus den existierenden Ungleichgewichten zwischen WVO und NATO ein noch größeres Gewicht verleihen. Die Machbarkeit der oben beschriebenen sowjetischen konventionellen Optionen würde sich verbessern. Das dürfte auch der Grund dafür sein, daß die UdSSR ihre frühere Ablehnung der Null-Lösung inzwischen revidiert hat. Damals, zu Beginn der achtziger Jahre, wurden insbesondere die SS-20-Systeme noch als unverzichtbar angesehen. Diese Waffensysteme haben aus heutiger sowjetischer Sicht keine sinnvolle militärische Aufgabe mehr zu erfüllen. In einem rein konventionell geführten Krieg könnten sie höchstens noch die Funktion einer nuklearen Gefechtsfeldreserve haben
Dadurch, daß die sowjetische Führung die ursprünglichen amerikanischen Vorschläge aufgegriffen, sich zu eigen gemacht und erweitert hat, zeichnet sich für sie in der Perspektive eine insgesamt günstigere militärische Ausgangsposition ab. Für die NATO kann man das nicht ohne weiteres sagen. Denn die Invasionsfähigkeit der Warschauer Vertragsorganisation ist — bei verminderter nuklearer Abschreckung — weiter geblieben. Noch dazu un-ter dem Motto: Noch schneller, noch präziser, noch entschiedener! Zwar will die sowjetische Führung auf keinen Fall einen Krieg in Europa, doch genügt das allein nicht, dem Westen hinreichende Sicherheit zu geben. Denn nach wie vor bleibt ja die defensive politische Militärdoktrin der UdSSR mit einer offensiven Militärstrategie gekoppelt. Mehr noch: „Die vorhandenen militärischen Fähigkeiten (capabilities) der Sowjetunion könnten vor allem in Krisensituationen ihre politischen Absichten (intentions) beeinflussen.“ Wenn die sowjetische Führung es mit ihrem „neuen politischen Denken“ dauerhaft ernst meint, dann werden auch hier Änderungen eintreten müssen. Immerhin gibt es in dieser Richtung zumindest einige zu Hoffnungen berechtigende Änzeichen.
Neueste Entwicklungen und Perspektiven
Die Gorbatschow-Führung hat die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten mit einer ganzen Reihe von bislang unerhörten Rüstungskontroll-und Abrüstungsinitiativen überhäuft. Angesichts des propagandistisch brillanten Feuerwerks sowjetischer Vorschläge, Angebote, Erklärungen und außenpolitischer Gesten hat sich beinahe so etwas wie eine Abrüstungseuphorie entwickelt. Hier stellt sich die Frage nach dem realen Hintergrund.
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß die Sowjetunion sich all diese immer neuen Abrüstungsvorschläge schon deshalb leisten konnte, weil sie sich in der Vergangenheit einen Vorsprung errüstet hatte, der ihr in Europa insgesamt eine Übermacht eingebracht hatte. Ebenso muß konstatiert werden, daß sich die sowjetische Außenpolitik in ihren entscheidenden Grundzügen noch nicht verändert hat. Die Prioritäten haben sich zwar zugunsten der Innenpolitik geändert, der Stil hat sich geändert sowie die Erklärungen, die in die Zukunft weisen. Und auch die bisherigen Vereinbarungen im Bereich der Sicherheitspolitik und der Abrüstung beziehen sich in allererster Linie auf den Bereich der nuklearen Kriegführung, und das sind zugleich die am wenigsten kostspieligen Waffensysteme. Im Bereich der konventionellen Kriegführung dagegen wird, wie gezeigt wurde, nach wie vor am Offensivkonzept gegenüber Europa, an der Invasionsfähigkeit, festgehalten. Wie ebenfalls gezeigt wurde, begünstigen die bisherigen Rüstungskontroll-und Abrüstungsvereinbarungen sogar die Machbarkeit der „dritten Revolution“ in der sowjetischen Militärstrategie, die offenbar von der Gorbatschow-Führung akzeptiert und weitergeführt worden ist
Auf der anderen Seite muß aber auch festgehalten werden, daß nicht alles, was die sowjetische Seite bisher an „neuem politischem Denken“ präsentiert hat, im rhetorischen Bereich steckengeblieben ist. Die KVAE-Vereinbarungen vom September 1986 enthalten zumindest einige substantielle sowjetische Zugeständnisse, die sich in Europa für die Sicherheit positiv erweisen dürften und die auch die Vertrauensbildung begünstigen (obligatorische Manöverbeobachter, Luftinspektionen, Vorankündigungen).
Neue Elemente des politischen Denkens finden sich auch im sogenannten Budapester Appell vom 11. Juni 1986 und in der Berliner Erklärung vom 29. Mai 1987 sowie in der Rede Gorbatschows auf dem Moskauer Friedensforum am 16. Februar 1987 Zum ersten Mal zeigt sich eine sowjetische Bereitschaft, Asymmetrien im konventionellen Bereich abzubauen.
Zum ersten Mal ist die Bereitschaft angedeutet worden, über die militärischen Konzeptionen und Doktrinen nicht nur zu sprechen, sondern auch in Verhandlungen einzutreten mit dem Ziel, zu mehr sicherheitspolitischer Stabilität zu gelangen. Offensichtlich hat die sowjetische Führung unter Generalsekretär Gorbatschow eine „allseitige Analyse der Gegebenheiten der nuklear-kosmischen Ära“ vorgenommen
Eine zentrale Rolle besitzt seitdem der Begriff der „Hinlänglichkeit" (dostatonost’). Der konzeptionelle Leiter der sowjetischen Außenpolitik, ZK-Sekretär Anatoli Dobrynin, hat hier möglicherweise den amerikanischen Begriff „Sufficiency" übernommen. Er definiert die „vernünftige Hinlänglichkeit“ bei den Bewaffnungen so, daß diese nur noch ein Niveau haben dürften, das für die Lösung ausschließlich defensiver Aufgaben erforderlich sei -Was darüber hinaus die „Evolution“ der militärischen Doktrinen angeht, so hat der Stellvertretende Direktor des Moskauer Amerika-Institutes dazu folgendes ausgeführt: „In der Militärdoktrin des Warschauer Vertrages haben die neuen Anschauungen über Streitkräfteaufbau und die Probleme der Kriegsverhütung Gestalt angenommen. Hauptaufgabe der Streitkräfte wird die Verhütung eines Krieges — sowohl eines nuklearen als auch eines gewöhnlichen . . . Äußerst wesentlich ist die Frage einer Entsprechung zwischen den politischen und militär-technischen Bestandteilen der militärischen Doktrinen. Die politischen Bestimmungen der Militärdoktrin der WVO sind für die Kriegskunst und den Aufbau der sowjetischen Streitkräfte und der uns verbündeten Armeen verpflichtend. Grundmethode der Aktionen der sowjetischen Streitkräfte bei der Abweisung einer Aggression werden nicht die offensiven, sondern die defensiven Operationen und Kampfhandlungen sein.“ Hier wird also die Bereitschaft zumindest angedeutet, das zentrale sicherheitspolitische Problem Europas, die Invasionsfähigkeit der WVO, in Verhandlungen einzubringen. Das erfordere jedoch, daß der Westen bereit sei, die Konzeptionen von Follow-on-Forces-Attack (FOFA) und Air-Land-Battle ebenfalls zur Disposition zu stellen.
Generalsekretär Gorbatschow hat sich erst vor ganz kurzer Zeit in einem ähnlichen Sinne geäußert, als er dem finnischen Präsidenten sagte: „. . . Wirstellen jetzt die Frage nach . vernünftiger Hinlänglichkeit‘ und nach , nichtoffensiver Verteidigung* " 42a).
Wenn derartige Überlegungen und Vorschläge wesentlicher Bestandteil des sowjetischen „neuen politischen Denkens“ sind, dann erfordert dies zwangsläufig auch ein neues militärisches Denken in der Führung der sowjetischen Streitkräfte. Zumindest von Seiten der sowjetischen Politik und der sowjetischen Wissenschaft ist das auch schon so dargestellt worden. So hat beispielsweise der ehemalige Bonn-Botschafter Valentin Falin auf die Frage, ob die Militärs ihre bisherige Doktrin zu korrigieren hätten, geantwortet: „Vieles wird neu zu gestalten sein. Wenn man auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet, wenn man überhaupt auf Atomwaffen als solche verzichtet und wenn man weiter bereit ist, auf alle Arten offensiver oder konventioneller Waffen zu verzichten, dann bedeutet dies, daß die Truppe auf ganz neue Art aufzubauen und zu trainieren ist.“ Hier wird sowjetischerseits auch ein Zusammenhang zwischen der nuklearen und der konventionellen Rüstungskontrolle signalisiert. Es erscheint zumindest logisch, daß die sowjetische Seite im konventionellen Bereich dann eher zu Zugeständnissen bereit sein könnte, wenn ein wesentlicher Teil der NATO-Nuklearwaffen nicht mehr existiert. Insbesondere wären dann diejenigen OMGs nicht mehr erforderlich, die bisher die operative Kampfaufgabe der Zerstörung eben dieser Systeme haben.
Aber es gibt auch noch weitergehende Vorschläge, bei denen die bisherige WVO-Haltung in Frage gestellt würde. So schreibt der stellvertretende Außenminister V. Petrowski in der Januar-Nummer der Zeitschrift des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen: „Die prinzipielle Position der UdSSR ist so: Sie möchte überhaupt nicht, daß ihre Streitkräfte sich irgendwo außerhalb ihrer nationalen Grenzen befänden. Die gegebene Frage ist auch offen zur Diskussion.“ Und in der August-Nummer dieser Zeitschrift greifen die Autoren die Aufforderung von ZK-Sekretär Dobrynin auf, nach neuen Konzeptionen zu suchen. Die militärischen Konzeptionen in Europa müßten ausschließlich auf defensiven Prinzipien beruhen. So wäre der Grundsatz der „vernünftigen Hinlänglichkeit" am besten realisierbar. Unter Bezug auf die Berliner Erklärung der WVO und auf den sogenannten Jaruzelski-Plan vom 8. Mai 1987 schreiben sie, daß eine Veränderung des Charakters der Militärdoktrinen in Ost und West auf eine solche Weise durchaus möglich wäre, daß sie von beiden Seiten wechselseitig als defensiv anerkannt würden. Besonders bezeichnend sei der Teil der Berliner Erklärung, der sich mit „den Methoden der Realisierung des defensiven Wesens der Militärdoktrin der Länder des Warschauer Vertrages auf der Ebene der Strategie und der Taktik“ befaßt. Konkret heiße das. daß keine der Seiten über ein Potential zum plötzlichen Angriff auf die andere Seite verfügen dürfe. Dies aber erfordere bestimmte Veränderungen in der Art und Weise, wie die Berufs-Militärs denken. Ein .. Umdenken einer Reihe allgemein anerkannter Postulate der militärischen Theorie und Praxis“ sei nötig. Das gelte insbesondere für die Auffassung, daß nur ein entschiedener Angriff zum Sieg führen könne In diesem Zusammenhang verweisen sie auch auf Carl von Clausewitz und seine klassische Formulierung der Kriegskunst, die laute, daß die Verteidigung die stärkere Form der Krieg-führung sei Analog dem historischen Beispiel der Sommerschlacht von Kursk von 1943 schlagen sie vor, ein Konzept strategischer Defensive — vor allem gestützt auf Panzerabwehr — zu entwickeln. Der Erfolg in dieser Schlacht habe gezeigt, daß sich eine gut vorbereitete Vorneverteidigung auch gegenüber einem mächtigen Ansturm effektiver Offensivsysteme erfolgreich behaupten könne
Ansätze zu einem neuen militärischen Denken sind also in Moskau neuerdings tatsächlich zu finden. Aber es sind bisher nur erste Ansätze, die sich nicht einmal primär an den Westen richten. Hauptadressat ist offensichtlich die innersowjetische Diskussion und hier wohl vor allem in erster Linie die militärische Führung. Und von deren Seite gibt es bisher nur sehr vorsichtige Äußerungen Nur die Zukunft kann zeigen, ob das „neue politische Denken“ hier zu wesentlichen Veränderungen führt. Immerhin hat der neue Verteidigungsminister Jazow — anders als sein Vorgänger Sokolow — größere Teile des sowjetischen Militärs einer scharfen und prinzipiellen Kritik unterworfen Auch wenn sich diese Kritik vornehmlich auf die innere Struktur der Streitkräfte bezieht, so wird doch immerhin erwähnt, daß die Politik der , perestrojka'auch die von der „Partei ausgearbeitete(n) Militär-doktrin mit ihren neuen Ansichten bezüglich des militärischen Aufbaus und der Probleme der Verhinderung des Krieges“ einbezieht Und in einem nachfolgenden Prawda-Artikel schreibt Jazow, „daß die alte Vorstellung bezüglich des Gebrauchs des Krieges als Mittel zur Erreichung politischer Ziele überholt sei“. Deshalb sei die „Nichtzulassung des Krieges, sowohl des nuklearen als auch des konventionellen, die Hauptaufgabe der Militärdoktrin des Warschauer Paktes“ Der Begriff der „vernünftigen Hinlänglichkeit" ist auch hier übernommen worden. Weitergehende Schlußfolgerungen erlaubt die militärpolitische Literatur der Sowjetunion zur Zeit nicht. Immerhin hat Verteidigungsminister Dmitri Jazow, zu dessen Stärken insbesondere die Personalpolitik zählt, deutlich gemacht, daß diejenigen Militärs, die sich der , pere-strojka’ nicht ernsthaft annehmen, Gefahr laufen, ihre Posten zu verlieren Mit den personalpolitischen Veränderungen, die in den letzten Monaten in der militärischen Führung stattgefunden haben, sind so zumindest die Voraussetzungen gegeben, daß „neues politisches Denken“ auch in ein neues militärstrategisches Denken umgesetzt werden könnte.
Bisher gibt es somit nur einige sowjetische Erklärungen, die darauf hindeuten, daß man bereit sein könnte, in Verhandlungen mit dem Westen die bisherige Invasionsfähigkeit zur Disposition zu stellen. Substantielle Veränderungen bei dieser Invasionsfähigkeit oder beim strategischen Offensivkonzept hat es bis jetzt noch nicht gegeben. Und zu Verhandlungen zwischen Ost und West über den ganzen Bereich konventioneller Kriegführungsdoktrinen ist es ebenfalls noch nicht gekommen. Allenfalls sehen die Perspektiven angesichts der sowjetischen Erklärungen heute günstiger aus als früher. Da das westliche Bündnis die Chance ungenutzt gelassen hat, eine Verminderung seiner Nuklear-streitkräfte von Reduzierungen der konventionellen sowjetischen Offensivfähigkeit abhängig zu machen, gibt es eigentlich „keinen Anreiz, in einer Verhandlung die konventionellen Vorteile und militärischen Optionen aufzugeben, die er (der War-schauer Pakt, W. P.) durch kostspielige Anstrengungen erworben hat“ Somit bleibt der NATO nur die Hoffnung, daß die östliche Seite aus internen Überlegungen heraus eine Veränderung ihrer Militärstrategie anzielt.
Derzeit verfügt das westliche Bündnis angesichts der gegnerischen Potentiale und den Anforderungen der eigenen Strategie kaum über irgendwelche disponiblen Potentiale, die als Verhandlungsmasse dienen könnten Dafür sind aber andererseits zumindest die Ziele klar, die die westliche Seite bei derartigen Verhandlungen zu verfolgen hätte, nämlich: 1. die Beseitigung der Invasionsfähigkeit der Warschauer Vertragsorganisation, 2. die Beseitigung bestehender Ungleichgewichte, die die WVO begünstigen, und 3. die Vereinbarung von effektiven Verifikationsmaßnahmen
Die sowjetischen Erklärungen, die sich mit dem „neuen politischen Denken“ der Gorbatschow-Führung verbinden, stehen zu diesen drei Hauptzielen nicht grundsätzlich im Widerspruch. Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte deutet sich so eine sowjetische Bereitschaft an, auf die zentralen Sicherheitsbedürfnisse der Westeuropäer einzugehen. In den kommenden Gesprächen zwischen den NATO-und den WVO-Staaten sollte deshalb gründlich ausgelotet werden, inwieweit das „neue politische Denken“ in der UdSSR zu einem „neuen militärstrategischen Handeln“ hinführt.