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Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural | APuZ 44/1987 | bpb.de

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APuZ 44/1987 Artikel 1 Zur Friedensfähigkeit von Demokratien Betrachtungen zur politischen Theorie des Friedens Rüstungskontrolle und Menschenrechte Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural Hat das sowjetische „neue politische Denken“ auch zu einem neuen militärischen Denken geführt?

Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural

Sigurd Boysen

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Februar 1987 werden parallel zu den Genfer Verhandlungen über nukleare Rüstungskontrolle in Wien Vorgespräche über einen neuen Ansatz für die konventionelle Abrüstung geführt. Ziel der Beratungen ist der Beschluß eines Mandats für eine neuzuschaffende Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle (KRK). die im Rahmen des KSZE-Prozesses über Truppenreduzierungen der NATO und des Warschauer Pakts verhandeln soll. Die KRK soll konventionelle Stabilität in ganz Europa auf einem niedrigen Niveau der Rüstungen schaffen. Die Frage ist, ob ein solches Vorhaben nach den wenig ermutigenden Erfahrungen mit MBFR erfolgreich sein kann. Die Sowjetunion geht bei den beabsichtigten Verhandlungen von einem bereits bestehenden Gleichgewicht an Streitkräften aus. Dies sei eine gute Grundlage für beiderseitige, gleichgewichtige Reduzierungen. Die NATO geht dagegen von einer bis zu dreifachen Überlegenheit des Warschauer Pakts in Europa aus und erwartet von den Verhandlungen eine Verringerung der personellen und materiellen Überlegenheit des Warschauer Paktes bis hinunter zur Parität und erst dann den Einstieg zu weiteren Reduzierungen auf beiden Seiten. Erfahrungsgemäß werden bei Rüstungskontrollverhandlungen die Ausgangspositionen recht hoch angesetzt. um im Verlaufe der Verhandlungen Spielraum für Kompromisse zu haben. Es muß aber offen bleiben, ob die sich abzeichnende NATO-Forderung, daß der Warschauer Pakt sich zunächst von zwei Dritteln seines Potentials trennen müsse, ehe beiderseitige Reduzierungen einsetzen könnten, noch unter die Rubrik „hohe Ausgangspositionen" fallen können. Die sowjetische Bereitschaft zum asymmetrischen Abbau von Mittelstreckenflugkörpern kann kein Beleg dafür sein, daß die Sowjetunion auch zu asymmetrischen Reduzierungen konventioneller Kräfte bereit sein würde. Ohne eine Weiterentwicklung der beiderseitigen Verhandlungspositionen wird es daher auf der KRK zu keinen Lösungen kommen-

I. Zur Struktur der Verhandlungen

Seit dem 17. Februar 1987 werden parallel zu den Genfer Verhandlungen über nukleare Rüstungskontrolle in Wien Vorgespräche über einen neuen Ansatz für die konventionelle Abrüstung geführt. Die Vorbereitungen für den bevorstehenden Abschluß eines Abkommens über den Abbau aller Mittelstreckenflugkörper haben diese Wiener Vorarbeiten für eine Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle etwas in den Hintergrund treten lassen. Spätestens aber im kommenden Jahr wird sich das außenpolitische Interesse auf die sich daraus ergebenden neuen Verhandlungen konzentrieren, denn Nuklearwaffen und konventionelle Waffen stehen militärstrategisch in einem unauflösbaren Zusammenhang. Die bisher übliche Trennung der nuklearen und der konventionellen Verhandlungen steht im Gegensatz zu ihrer engen Verzahnung in der militärischen Operationsplanung. Einschnitte bei den einen haben unvermeidliche Auswirkungen auf die anderen. Die Stationierung nuklearer Mittelstreckenflugkörper in Europa hatte u. a. auch eine Funktion im Hinblick auf die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts. Werden diese Waffen abgebaut, stellt sich die Frage einer politischen und militärischen Antwort in verschärfter Form. Im Westen wird schon jetzt als Reaktion auf den Gipfel der Ruf nach Stärkung der konventionellen Verteidigungskomponente laut

Der neue konventionelle Rüstungskontrollansatz fügt sich ein in den Rahmen der bisherigen Verhandlungen zur Abrüstung in Europa, die seit 1973 auf der KSZE einschließlich ihrer drei Folgekonferenzen und bei den MBFR-Gesprächen in Wien stattfinden Diese Verhandlungen sind teilweise erfolglos geblieben, teilweise erbrachten sie aber auch anerkennenswerte Ergebnisse.

Bei MBFR, wo die beiden Bündnisse NATO und Warschauer Pakt Block-zu-Block-Verhandlungen über die Reduzierung von Truppen auf einem begrenzten mitteleuropäischen Territorium führen, ist es bisher in 14 Verhandlungsjahren nicht zu Vertragsabschlüssen gekommen. Dennoch werden die Verhandlungen solange fortgeführt, bis ein geeigneteres Forum verfügbar gemacht werden kann.

Die KSZE, deren Teilnehmer alle 33 europäischen Staaten mit Ausnahme Albaniens sowie die USA und Kanada sind, war dagegen erfolgreicher. Sie befaßte sich bisher mit den etwas leichter lösbaren Problemen der Vertrauensbildung und konnte dazu 1975 mit dem Schlußdokument von Helsinki erste Ergebnisse vorlegen. Im Anschluß daran entschied sich das zweite KSZE-Folgetreffen, das von 1980 bis 1983 in Madrid tagte, für einen Ausbau der in Helsinki vereinbarten Maßnahmen und verabschiedete ein Mandat für eine neuzuschaffende KVAE.

Die KVAE sollte sich im Rahmen der 35 KSZE-Teilnehmer in einer ersten Phase mit weiteren vertrauensbildenden Maßnahmen befassen und in einer zweiten Phase dann mit Abrüstungsschritten. Sie nahm ihre Arbeit 1984 in Stockholm auf und beendete ihren ersten Konferenzabschnitt rechtzeitig vor Beginn des dritten KSZE-Folgetreffens, das im November 1986 in Wien begann. Auf dem Wiener Folgetreffen setzte sich dann bei der Mehrheit der Teilnehmer bald die Auffassung durch, daß die KVAE fortgesetzt werden solle, daß aber konkrete Truppenreduzierungen nach Möglichkeit im Rahmen einer anderen Konferenz verhandelt werden sollten, die besser auf die Besonderheiten der militärischen Lage in Europa eingehen könne. Die Konferenzteilnehmer waren der Meinung, daß eine sinnvolle Behandlung der militärischen Potentiale, die zu einer Gegenüberstellung herangezogen werden können, nur unter Bezugnahme auf die beiden Bündnissysteme möglich sei. Daher versammelten sich auf Einladung der NATO-Außenminister im Februar 1987 Vertreter der 23 Staaten der NATO und des Warschauer Pakts, um Vorschläge für kon-ventionelle Truppenreduzierungen vom Atlantik bis zum Ural zu erarbeiten. Diese Vorschläge sollen in ein Mandat für die KRK münden, die Konferenz für konventionelle Rüstungskontrolle, die ihre Arbeit unter dem Dach der größeren KSZE bereits 1988 aufnehmen könnte.

Die Frage ist, ob ein solches Vorhaben nach den wenig ermutigenden Erfahrungen mit MBFR erfolgreich sein kann. Seit dem Amtsantritt des Generalsekretärs Gorbatschow haben die Rüstungskontrollverhandlungen zweifellos neue Impulse erhalten, die in zwei wichtigen Bereichen auch zum Erfolg führten. Die KVAE konnte 1986 mit zufrieden-stellenden Ergebnissen vorläufig abgeschlossen werden, und bei den Verhandlungen über Mittelstreckenflugkörper konnte 1987 sogar die doppelte Null-Lösung vereinbart werden. Geht dieser Prozeß so weiter? Gelingt es auch in dem Bereich der konventionellen Waffen, der für die Sicherheit der Europäer noch kritischer ist als der Bereich der Mittelstreckenwaffen, zu einem Ergebnis zu kommen? Kann das Abkommen über Mittelstreckenwaffen zum Wegbereiter für konventionelle Abrüstungsschritte werden?

Im Rahmen des Mittelstreckenwaffenabkommens ist die Sowjetunion bereit, für den Preis einer NullLösung etwa dreimal mehr nukleare Gefechtsköpfe zu vernichten als der Westen. Gibt es berechtigte Gründe zu der Annahme, die Sowjetunion könnte auch bei konventionellen Waffen in Europa zu asymmetrischen Reduzierungen im gleichen Verhältnis bereit sein, oder gelten hier andere Abhängigkeiten? Der bisherige Verlauf des Rüstungskontrollprozesses bietet eine Fülle von Material, um auf diese Fragen einzugehen.

II. Die Mandatsverhandlungen für die KRK

Die komplexen Verhandlungsstrukturen der KSZE und die häufig divergierenden Interessen ihrer 35 Teilnehmerstaaten gewähren zahlreiche Möglichkeiten zum Einbringen von Sonderinteressen und zum Hinauszögern des Konferenzendes. Dennoch besteht die Hoffnung, noch zum Jahresende 1987 die Wiener KSZE-Folgekonferenz abzuschließen und ein Mandat sowohl für einen weiteren Abschnitt der KVAE als auch für die KRK zu verabschieden

Der Abschluß der Mandatsverhandlungen ist eng gekoppelt an den Erfolg der KSZE. Insbesondere die westlichen Staaten dringen darauf, Fortschritte in bezug auf die militärische Sicherheit nur im Zusammenhang mit Fortschritten bei der Behandlung von Menschenrechtsfragen zuzulassen. Gegenwärtig ist in Wien vor allem die Bewertung des Berner Treffens über menschliche Kontakte noch strittig. Für den Westen ist ein Abschluß des Wiener Treffens ohne eine Bestätigung der Ergebnisse des Berner Treffens, ohne bessere Vereinbarungen für Ausreisewillige, ohne Verbesserung bei Besuchsangelegenheiten und ohne verbesserte Informationsmöglichkeiten über die Handhabung der Menschenrechte in Osteuropa kaum denkbar. Hinsichtlich des Abschlußtermins für die KSZE gibt es also noch Unwägbarkeiten.

Für die NATO ist das Ziel der KRK die Schaffung konventioneller Stabilität in ganz Europa auf einem niedrigen Niveau der Rüstungen. Im Vergleich zu den erfolglos gebliebenen MBFR-Verhandlungen bietet die KRK aus NATO-Sichtzwei neue Dimensionen: Erstens wird der geographische Geltungsbereich auf ganz Europa erweitert. Ein wesentlicher Grund für die zögernde Haltung des Westens bei den MBFR-Verhandlungen war immer die Sorge, daß die Sowjetunion bei einem Abkommen ihre Truppen zwar im begrenzten MBFR-Reduzierungsraum hätte abziehen müssen, daß ihr aber für die unmittelbar an den Reduzierungsraum angrenzenden Gebiete, vor allem für die drei westlichen Militärbezirke Weißrußland, Baltikum und Karpaten, keine Beschränkungen auferlegt worden wären. Dieser Mangel ist jetzt behoben. Zweitens kann die Einengung auf unzulängliche Verhandlungsparameter aufgehoben werden. Zwar hatte das MBFR-Mandat aus dem Jahr 1973 „Verhandlungen über die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen“ vorgesehen aber im Verhandlungsverlauf hatte sich der Verhandlungsgegenstand bald auf die reinen Truppenstärken der beiden Bündnisse verengt. Auf der KRK soll insbesondere auch über kampfentscheidendes Großgerät, wie z. B. Panzer und Artilleriegeschütze, verhandelt werden.

Im Rahmen der von der Gesamt-KSZE abgesetzten 23. Verhandlungsrunde haben die NATO-Staaten am 27. Juli 1987 und die Staaten des Warschauer Pakts am 22. Juni 1987 eigene Mandatsentwürfe für die KRK vorgelegt. Der sowjetische Entwurf nimmt Bezug auf den Budapester Appell vom 11. Juni 1986 mit dem schon vor Jahresfrist Elemente für ein Mandat vorgelegt worden waren. Im Unterschied zum Westen beabsichtigt die Sowjetunion, auch über taktische Nuklearwaffen mit Reichweiten unter 500 km zu verhandeln. Außerdem strebt sie an, über taktische Luftangriffsflugzeuge zu verhandeln, einschließlich der Maschinen, die auf amerikanischen Flugzeugträgern stationiert sind. Den geographischen Anwendungsbereich der KRK-Vereinbarungen will die Sowjetunion teils erweitern, indem auch der asiatische Teil der Türkei berücksichtigt werden soll, teils reduzieren, indem sie versucht, die Streitkräfte im Militärbezirk Transkaukasus, die dem Iran gegenüberliegen, auszuklammem. Die NATO-Staaten treten demgegenüber dafür ein, Nuklearwaffen mit einer Reichweite unter 500 km auf einer gesonderten, bilateralen amerikanisch-sowjetischen Konferenz zu verhandeln. Besonders nachdrücklich wendet sich Frankreich gegen jede Einbeziehung von Nuklearwaffen in die KRK und läßt durchblicken, daß es in diesem Punkt keinesfalls kompromißbereit sei. Bezüglich des geographischen Anwendungsbereichs vertritt der Westen die Auffassung, daß dieser nicht kleiner sein dürfe als bei der KVAE bereits vereinbart. Die Einbeziehung von Flugzeugen will er nicht von vornherein ausschließen, sieht diesen Punkt aber nicht als prioritär an.

Unterschiedliche Auffassungen zwischen NATO und Warschauer Pakt gibt es in der Frage der Ausgangsdaten, die bei Konferenzbeginn zugrunde zu legen wären. Der Osten geht davon aus, daß es bereits ein Gleichgewicht gibt und daß jetzt dieses Streitkräfteniveau auf beiden Seiten in gleichen Schritten symmetrisch reduziert werden soll. Der Westen geht dagegen von einer erheblichen sowjetischen Überlegenheit aus, die zunächst einmal abgebaut werden müsse. Zuerst sei Stabilität zu erreichen, und dann könne daran gegangen werden, diese stabilen Kräfteverhältnisse auf ein niedriges Niveau zu bringen.

Der Westen will daher gleiche Obergrenzen, aber keine gleichen Reduzierungen. Zahlenmäßig gleiche Reduzierungen würden nach westlicher Auffassung das gegenwärtig bestehende Mißverhältnis nur noch akzentuieren.

Im Verlauf der bisherigen Mandatsverhandlungen war es besonders schwierig, den französischen Wünschen Rechnung zu tragen. Frankreich lehnte zunächst Block-zu-Block-Verhandlungen im 23erRahmen ab und wollte als eigenständiger Staat bei der KRK auch Positionen einbringen können, die vorher nicht in der NATO abgestimmt werden müssen. Frankreich will vermeiden, auf dem Umweg über die KRK wieder in die NATO-Struktur integriert zu werden.

Vorbehalte gegen Verhandlungen im 23er-Rahmen haben auch einige neutrale und ungebundene Staaten, insbesondere Jugoslawien und Schweden. Auch die Sowjetunion würde gerne den 35er-Rahmen für die KRK verwirklicht sehen, will sich aber Kompromissen in diesem Punkt nicht verschließen.

Als Lösungsmöglichkeit zeichnet sich das Angebot ab, daß die 23er-Gruppe das 35er-Plenum der KSZE über den Fortgang der Gespräche zwar unterrichtet bzw. ihm regelrecht Bericht erstattet, die Verhandlungen aber verfahrensmäßig autonom führt. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Vorgehensweise bewährt.

Als Zwischenbilanz läßt sich also feststellen, daß die Standpunkte der Konferenzteilnehmer in einer Reihe von Fragen noch weit auseinanderliegen. Im Rahmen der Mandatsverhandlungen wird daher voraussichtlich keine Einigung erzielt werden können. Das Mandat wird manche Bereiche offenlassen müssen und die Einigung dann dem Plenum der KRK übertragen.

III. Die Mandatsverhandlungen für die KVAE

Die nächste Phase der KVAE soll sich nach dem Willen der Gesamt-KSZE weiter mit Vertrauensbildenden Maßnahmen befassen. Die KVAE-Delegationen werden voraussichtlich versuchen, solche Vorschläge, die während der ersten Stockholmer Konferenzphase nicht erfolgreich behandelt werden konnten, erneut aufzugreifen

Für die Sowjetunion gehört zu den unerledigten Punkten das Ausdehnen der KVAE-Bestimmungen auch auf die Manöver von Luft-und Seestreitkräften in dem an Europa angrenzenden Luftraum bzw. im angrenzenden Seegebiet. Sie wird darüber hinaus versuchen, auch das nordamerikanische Territorium wenigstens teilweise mit in die Vereinbarungen einzubeziehen. Weiterhin wird die Sowjetunion erneut ihre Zonenkonzepte vortragen, die als Vorstüfe zur Abrüstung in Mitteleuropa nuklearwaffenfreie, chemiewaffenfreie und panzerfreie Zonen vorsehen.

Der Westen beabsichtigt, in der nächsten KVAE-Phase insbesondere die Beobachtungsparameter für Manöver zu verbessern und die Schwelle für Notifizierung und verpflichtende Beobachtung zu senken. Im einzelnen könnten dies sein:

— Senkung der Ankündigungsschwelle für Manöver, die jetzt bei 13 000 Soldaten liegt, auf 6 000. Viele Manöver in Ost und West werden im Divisionsrahmen mit zwei bis drei Brigaden bzw. Regimentern durchgeführt. Bei einem Limit von 6 000 Mann werden die Divisionsübungen zuverlässig erfaßt, bei der heute geltende 000 Soldaten liegt, auf 6 000. Viele Manöver in Ost und West werden im Divisionsrahmen mit zwei bis drei Brigaden bzw. Regimentern durchgeführt. Bei einem Limit von 6 000 Mann werden die Divisionsübungen zuverlässig erfaßt, bei der heute geltenden 13 000-Mann-Grenze jedoch nicht.

— Senkung der Schwelle für die Einladung von Beobachtern zu Manövern von gegenwärtig 17 000 auf ca. 10 000 bis 12 000 Mann. — Entwicklung verbesserter Fernmeldeverbindungen und Kommunikationsmittel zwischen den Teilnehmerländern.

Weiterhin steht das Vereinbaren eines Informationsaustausches nicht nur über Manöver auf dem Programm, sondern ebenfalls für statistische Daten wie z. B. Ortsangaben über Kasernen und die in diesen Kasernen untergebrachten Truppenverbände. Auch Vereinbarungen über die Beschränkung der Zahl und des Umfangs von Manövern sind vorstellbar. Neu hinzukommen könnte ein Informationsaustausch über militärische Beschaffungsprogramme und Militärdoktrinen.

IV. Erfahrungen und Folgerungen aus den bisherigen Verhandlungen über Vertrauensbildung und Truppenreduzierung

Die Verhandlungen über Vertrauensbildende Maßnahmen, die bisher mit Schwerpunkt auf der KVAE geführt wurden, sollen zu einer schrittweisen Verminderung von Mißtrauen und Furcht zwischen den Nationen beitragen und damit einen grundlegenden Beitrag zu einer allgemeinen Entspannung leisten. Dem politischen Konfliktpartner soll versichert und verdeutlicht werden, daß eine Absicht, den politischen Konflikt mit militärischen Mitteln auszutragen, nicht besteht und daß bestimmte militärische Aktivitäten anderer Staaten keine Bedrohung der eigenen Sicherheit darstellen 11). Die bisher vorgelegten Konferenzergebnisse und die ersten praktischen Erfahrungen in der Durchführung der Manöverbeobachtungen entsprechen weitgehend diesen Zielsetzungen. Es kann erwartet werden, daß auch der nächste Abschnitt der KVAE Fortschritte ermöglichen wird. Über die Grenzen der Wirksamkeit Vertrauensbildender Maßnahmen in bezug auf die Stabilität in Europa kann es jedoch keinen Zweifel geben. Durch Vertrauensbildende Maßnahmen wird die Einsatzflexibilität und die Optionsvielfalt der Streitkräfte nicht soweit eingeschränkt, daß ein bewußt geplanter Angriff oder eine Verteidigung nicht mehr möglich wären. Die bisher getroffenen Vereinbarungen können einen Krieg nicht verhindern und einen Überraschungsangriff höchstens erschweren 12).

Die beabsichtigten KRK-Verhandlungen werden auf die Erfahrungen der 14jährigen MBFR-Verhandlungen zurückgreifen können und versuchen, die bei MBFR aufgetretene Blockade zu vermeiden. Positiv zu bewerten sind insbesondere die Verfahren zur sachlichen Zusammenarbeit, die auch unter schwierigen Bedingungen entwickelt werden konnten. Die Haupthindernisse bei MBFR 13) sind dagegen bis heute immer noch der „Datenstreit“ und die „Verifikation“. Im Datenstreit geht es um die Frage, wieviele Truppen der Osten in der DDR, in der CSSR und in Polen stationiert hat. Der War-schauer Pakt hatte sich in den ersten Verhandlungsjahren zunächst geweigert, Zahlen über die Stärke seiner eigenen Streitkräfte zu nennen, und wollte nicht auf den Vorwurf der NATO reagieren, daß im östlichen Teil des Reduzierungsraums ca. 200 000 Mann mehr stationiert seien als im westlichen Teil, wo es unstrittig 1 000 000 Soldaten gibt. 1976 legte er dann erstmals Zahlen über seine eigenen Umfänge vor: 805 000 Mann bei Landstreitkräften und 183 000 bei Luftstreitkräften, zusammen also 987 300 Mann und damit 13 000 weniger als die NATO.

Im Verlauf der Verhandlungen kam man den Ursachen für die Diskrepanz zwischen den östlichen Stärkeangaben und westlichen Aufklärungsergebnissen wenigstens teilweise auf die Spur. Es stellte sich heraus, daß sich ein großer Teil der umstrittenen Daten auf polnische und tschechoslowakische Soldaten bezog, die nach östlicher Auffassung auch nicht-militärische Aufgaben wahrnehmen und daher keine Berücksichtigung finden dürfen. Eine weitere Diskrepanz entstand dadurch, daß die west-liehe Aufklärung nicht alle Warschauer Pakt-Soldaten einzeln zählen kann, sondern nur die Anzahl der dislozierten Verbände. Diese Zahl wird dann mit der üblicherweise vorhandenen Sollstärke multipliziert, unabhängig davon, ob der einzelne Verband seine Sollstärke erreicht oder nicht. Nach wie vor ungeklärt bleibt aber ein Kontingent von etwa 50 000 sowjetischen Soldaten, was drei kampfstarken Divisionen entspricht.

Zahlendifferenzen in dieser Größenordnung fallen aus dem Rahmen dessen, was man üblicherweise als Schätz-oder Zählfehler verbuchen kann. Über die Gründe für dieses sowjetische Verhaken gibt es unterschiedliche Vermutungen. Vielleicht wollte man den Westen täuschen, um sich insgeheim eine Überlegenheit im Reduzierungsraum zu bewahren. Vielleicht hatte es sich auf sowjetischer Seite aber auch nur um einen schlichten Zahlenirrtum bei der ersten Vorlage der Daten gehandelt, und jetzt scheut sich die Sowjetunion, diesen Fehler öffentlich zuzugeben. Politischen Willen vorausgesetzt, müßte der Datenstreit im Rahmen zukünftiger Verhandlungen also lösbar sein.

Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch in der Frage der Verifikation. In den ersten Verhandlungsjahren hatte der Warschauer Pakt gezögert, über Verifikationsmaßnahmen überhaupt zu sprechen. Erst Anfang der achtziger Jahre gab der Osten seine starre Haltung auf, indem er vorschlug, während des Zeitraums der Reduzierungen gemischt besetzte Beobachtungsposten an den geographischen Ein-und Austrittspunkten für Truppen an der Peripherie der Reduzierungszone zuzulassen. Wenig später gab es aber eine Korrektur. Nun hieß es, die Beobachtungsposten könnten zwar während des ganzen Geltungszeitraumes eines MBFR-Abkommens permanent stationiert sein, doch sollten alle sowjetischen Truppen, die im Rahmen der routinemäßig zweimal im Jahr stattfindenden Personalrotation in der DDR, der CSSR und Polen ausgetauscht werden, nicht der Verpflichtung unterliegen, die Ein-und Austrittspunkte zu passieren. Dadurch würde pro Jahr die Bewegung mehrerer hunderttausend Soldaten der Erfassung an den Durchlaufpunkten entzogen, und alle anderen Verifikationsmaßnahmen würden damit praktisch unterlaufen. Demgegenüber bestand der Westen immer auf Vor-Ort-Inspektionen. Jede Seite sollte die Möglichkeit haben, durch Inspektionstrupps nach vorheriger Anmeldung verdächtig erscheinende Bereiche der Gegenseite im ganzen Reduzierungsraum durch direkte Inaugenscheinnahme überprüfen zu können. Aber auch hier hat es Bewegungen gegeben. Die neuerliche Bereitschaft der Sowjetunion, im Bereich der Nuklearwaffen auch Vor-Ort-Inspektionen zuzulassen, könnte im Rahmen der KRK den Einstieg zu neuen, befriedigenden Verifikationsregeln bedeuten.

Neben Daten und Verifikation spielen aber auch militärstrategische Überlegungen eine Rolle. Die Sowjetunion ist hier nie auf westliche Befürchtungen eingegangen. Nach jetzigem Verhandlungsstand müßte die NATO nach einem Vertragsabschluß ihre Truppenstärke um etwa 100 000 Mann reduzieren, d. h. um etwa sechs kampfstarke Divisionen. Da die geringe Präsenz der Truppen der nicht-deutschen europäischen Verbündeten kaum noch Reduzierungen zuläßt, müßten sich die Bundesrepublik Deutschland und die USA in etwa die Reduzierungen je zur Hälfte teilen. Der Aufbau einer raumdeckenden Vorneverteidigung nach kurzer Vorwarnzeit auf einer durchgehenden Linie zwischen Lübeck und Passau wäre dann nicht mehr möglich. Das Fehlen von sechs Divisionen würde in die heute noch zusammenhängenden, perlenschnurartig aufgereihten Verteidigungsräume entlang der innerdeutschen Grenze bei den wichtigsten Truppen Lücken reißen, die sich nicht mehr füllen ließen. Anders würde die Lage beim Warschauer Pakt aussehen. Dieser müßte nach Vertragsabschluß zwar auch 100 000 Mann oder mehr reduzieren, unterläge aber als Angreifer, nicht dem Zwang zu einer gleichmäßigen und raumdeckenden Verteilung seiner Kräfte.

Analysiert man die militärischen Optionen, die der NATO und dem Warschauer Pakt nach Abschluß eines MBFR-Abkommens zur Verfügung stehen würden, stünde die NATO also deutlich schlechter da. Sie könnte ihren Auftrag der Vorneverteidigung kaum noch erfüllen. Reduzierungen von 100 000 Mann in Westeuropa sind nicht vergleichbar mit Reduzierungen von 100 000 Mann in Osteuropa. Ein MBFR-Abkommen entsprechend dem jetzigen Verhandlungsstand würde die militärische Lage in Mitteleuropa weniger stabil machen, wenn nicht zusätzliche flankierende militärische Maßnahmen ergriffen würden.

Die wichtigste Folgerung, die die NATO aus den MBFR-Verhandlungen ziehen müßte, hieße also, eine neue Strategie zu entwickeln, mit der eine Vorneverteidigung auch bei deutlich geringerem Personaleinsatz verwirklicht werden könnte. Gelingt es nicht, eine solche Strategie zu entwickeln, dann werden auch die neuen Verhandlungen im Grunde nicht über die Beschäftigung mit den sekundären Problemen der Daten und der Verifikation hinauskommen.

V. Die sowjetische Ausgangsposition für die KRK

Die sowjetische Haltung zur KRK umriß Gorbatschow erstmals am 18. April 1986 auf dem Parteitag der SED in Ost-Berlin Er schlug vor, den engen MBFR-Reduzierungsraum auszuweiten sowie die Reduzierung aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Luftstreitkräfte der europäischen Staaten und der auf ihrem Territorium dislozierten Kräfte der USA und Kanadas in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, anzugehen. Gleichzeitig mit den konventionellen Streitkräften sollten auch die Nuklearwaffen operativ-taktischer Reichweite abgebaut werden.

Weitere Präzisierungen der sowjetischen Position erfolgten auf dem Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts am 11. Juni 1986 in Budapest: Die Reduzierung der konventionellen Rüstung soll schrittweise und unter ständiger Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts auf niedrigem Niveau erfolgen, ohne die Sicherheit irgendeiner Seite zu beeinträchtigen. Der erste Schritt solle eine Reduzierung beider Militärbündnisse um 100 000 bis 150 000 Mann innerhalb von ein bis zwei Jahren sein. In einem zweiten Schritt sollen die Land-und Luftstreitkräfte dann um 25 Prozent des heutigen Niveaus reduziert werden. Dies würde einen Abbau von 500 000 Mann auf jeder Seite ausmachen, zusammengenommen also eine Million Soldaten in Europa. Ein dritter Schritt könnte zu noch weitergehenden Reduzierungen führen, denen sich dann auch die Staaten, die nicht Mitglieder der NATO und des War-schauer Pakts sind, anschließen könnten.

Ein auf die westlichen Bedenken hin noch weitergehenderes Entgegenkommen zeigte Gorbatschow, als er am 10. April 1987 in Prag erklärte, die Sowjetunion sei auch bereit, Ungleichgewichte und Überlegenheiten dort, wo sie bestehen, einseitig abzubauen Parität solle durch Abrüstung dessen, der Überlegenheiten besitzt, erreicht werden, und nicht durch Aufrüstung.

In der westlichen Presse lösten die Prager Formulierungen euphorische und weitreichende Spekulationen aus. Sie wurden als Hinweis darauf gedeutet, daß Gorbatschow — allerdings mit aus sowjetischer Sicht nicht rational nachvollziehbaren Gründen — bereit sein könnte, die erdrückende Überlegenheit seiner konventionellen Truppen ohne größere Gegenleistung des Westens abzubauen. Die Sowjetunion wird im Laufe der Verhandlungen damit rechnen müssen, an die Prager Zusagen nachdrücklich erinnert zu werden.

VI. Die Ausgangsposition der NATO für die KRK

Die NATO zieht für eine genauere Analyse der Gefahren und der Chancen einer KRK nicht nur das zahlenmäßige Gleichgewicht ins Kalkül, sondern auch die Unterschiede zwischen den Bündnissen, die sich aus der geostrategischen Lage, der Bündnisorganisation und der Militärdoktrin ergeben und die zu gänzlich unterschiedlichen militärischen Optionen führen

Geostrategisch ist der Warschauer Pakt in Mitteleuropa im Vorteil, weil er an der „inneren Linie“ kämpft und seine operativen Schwerpunkte daher schneller verschieben kann. Seine Verstärkungen und seinen Nachschub kann er auf kurzen Landwegen von wenigen hundert Kilometern nachführen, die durch die NATO kaum nachhaltig unterbrochen werden könnten. Dagegen ist die NATO auf Verstärkungen aus den USA angewiesen, die auf dem Atlantik der Gefährdung durch die stark ausgebaute sowjetische Marine ausgesetzt sein würden.

Von der Bündnisorganisation her ist der War-schauer Pakt ebenfalls im Vorteil, weil im Kriegsfall alle osteuropäischen Divisionen in die sowjetische Heeresstruktur eingegliedert würden. In der NATO dagegen sind zwei bedeutende Bündnis-mitglieder, Frankreich und Spanien, nicht in die militärische Struktur integriert und von den 16 Bündnismitgliedern beteiligen sich nur sieben an der Vomeverteidigung in Mitteleuropa. Außerdem behalten die meisten NATO-Mitglieder starke Teile ihrer Streitkräfte im eigenen Land zur Wahrnehmung territorialer Aufgaben zurück.

Auch von der Militärdoktrin und der Strategie her gesehen ist der Warschauer Pakt im Vorteil, weil er als Angreifer, für dessen Rolle er allein strukturell in Frage käme, Ort und Beginn des Gefechts bestimmen und die operativen Vorteile der Überraschung und der Zusammenfassung seiner überlegenen gepanzerten Verbände zu schnellen Stößen in die Tiefe nutzen könnte. Die Befähigung zu einer überraschenden Offensive bliebe für den War-schauer Pakt auch noch erhalten, wenn er seine Streitkräfte um 100 000 Mann reduzieren würde, was Gorbatschow als Einstieg in die Verhandlungen in Budapest vorgeschlagen hatte. Um dies alleszu berücksichtigen, hat die NATO zur Erarbeitung ihrer Verhandlungsposition für die KRK eine hochrangige Arbeitsgruppe, die soge-nannte „High-Level-Task-Force" (HLTF) eingesetzt Die HLTF legte den NATO-AußenminiStern auf ihrem Treffen am 11. Dezember 1986 die ersten Arbeitsergebnisse vor. Danach soll die KRK ein stabiles Kräfteverhältnis konventioneller Streitkräfte in Europa bei gleichzeitiger Gewährleistung einer wirksamen Abschreckung erreichen. Der Behauptung Gorbatschows, in Europa bestünde ein konventionelles Gleichgewicht, wird widersprochen. Die gegenwärtige Lage sei vielmehr durch Asymmetrien und Unausgewogenheiten gekennzeichnet. Der Warschauer Pakt verfüge über vier Millionen präsenter Soldaten, die NATO nur über 2, 8 Millionen. Dazu käme das materielle Übergewicht des Warschauer Pakts, der Transparenzmangel in Osteuropa und die geostrategischen Asymmetrien. Als westliches Verhandlungsziel schlug die HLTF daher vor:

— die Beseitigung von bestehenden Ungleichgewichten, — das Gewährleisten unverminderter Sicherheit aller Teilnehmerstaaten in jeder Phase des Prozesses, -die Beseitigung der Fähigkeiten zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung großangelegter Offensiven, — die Vereinbarung von Vertrauens-und Sicherheitsbildenden Maßnahmen, — die Ausdehnung des Anwendungsgebietes auf ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural unter Berücksichtigung auch regionaler Ungleichgewichte sowie — die Notwendigkeit wirksamer Verifikation einschließlich eines Informationsaustausches und von Inspektionen vor Ort.

Nach Auffassung der HLTF besitzt der Warschauer Pakt — mit der sowjetischen Armee als Kern — die Fähigkeit zur Führung eines konventionellen strategischen Überraschungsangriffs zum Zweck der Inbesitznahme Europas. So lange diese konventionelle Option des Warschauer Pakts konkret fortbesteht, kann die NATO auf eine ausreichende nukleare Option zur Verhinderung eines Krieges nicht verzichten. Die nuklearen Streitkräfte der NATO sind daher auf absehbare Zeit unersetzlich und können nicht auf Null reduziert werden.

Die Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts resultiert aus einer Summe von Vorteilen gegenüber der NATO in Europa. Das materielle Übergewicht bei kampfentscheidendem Großgerät besteht sowohl regional als auch in Gesamteuropa und stellt sich wie folgt dar: Der Warschauer Pakt verfügt bei Kampfpanzern, anderen gepanzerten Fahrzeugen, Artilleriegeschützen und Kampfhubschraubern über eine Überlegenheit von 3 : 1, bei Kampfflugzeugen von 2 : 1 und beim Personal von 1, 4 : 1. Diese Zahlen enthalten nicht die sowjetischen Kräfte östlich des Urals, aber auch nicht die amerikanischen außerhalb Europas. Sie erfassen alle französischen und spanischen Kräfte wie auch die türkischen im asiatischen Teil der Türkei.

Des weiteren führen die Einschränkungen von Grundfreiheiten in den geschlossenen Gesellschaften Osteuropas zu einem erheblichen Transparenz-defizit. Die Einschränkung der Informations-und Pressefreiheit, des Rechts auf Freizügigkeit und auf Bewegungsfreiheit, das Fehlen einer demokratisch legitimierten Opposition, übertriebene Geheimhaltung, Reisebeschränkungen für Ausländer und anderes mehr lassen Kriegsvorbereitungen erst relativ spät erkennbar werden.

Aus diesen Überlegungen heraus schlägt die HLTF für die KRK folgende Verhandlungsschritte vor: — die Verringerung der materiellen Überlegenheit des Warschauer Pakts bis zur Parität und erst dann den Einstieg zu weiteren Reduzierungen auf beiden Seiten, — die Beseitigung des Transparenzdefizits in den geschlossenen Gesellschaften Osteuropas, — die Kompensierung der geostrategischen Asymmetrie durch beschränkende Maßnahmen.

Die Beseitigung der strategischen Vorteile des War-schauer Pakts und die Reduzierung seines militärischen Übergewichts muß nicht nur europaweit, sondern auch in den europäischen Teilregionen erreicht werden. Es muß z. B. verhindert werden, daß der Warschauer Pakt Kräfte, die in einem Gebiet reduziert werden, so verlagert, daß neue Bedrohungen, etwa an den Flanken, entstehen. Dazu ist es notwendig, Europa in Teilregionen aufzuteilen und Truppenverschiebungen zwischen den Teil-regionen zu unterbinden.

Der Grundgedanke dieses „Regionalkonzeptes“ ist das Vergleichen der jeweiligen NATO-Kräfte mit denjenigen Kräften des Warschauer Pakts, die in einem Kriegsfall deren jeweilige Gegner wären. Auf Mitteleuropa bezogen würde das z. B. bedeuten, die NATO-Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland und in den Benelux-Staaten mit den Kräften des Warschauer Pakts in der DDR, der CSSR und in Polen in Beziehung zu setzen. Nach dem gleichen Schema würden auch die Kräfte in der Tiefe einander zugeordnet. So würden die zweiten Staffeln des Warschauer Pakts in den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion mit den NATO-25 Kräften in Frankreich und Großbritannien verglichen. Auch an den Flanken der Bündnisse müßten regionale Gegenüberstellungen erfolgen.

Als Ergebnis aller Verhandlungen ist nach Auffassung der HLTF Parität bei kampfentscheidendem Großgerät in den vergleichbaren Teilregionen und als deren Summe eine Parität in Gesamteuropa vom Atlantik bis zum Ural anzustreben.

Aus der Sicht der HLTF macht die große materielle Überlegenheit des Warschauer Pakts gegenüber der NATO deutlich, daß vor allem die Warschauer-Pakt-Kräfte einseitig reduziert werden müssen: In den erwähnten Waffenkategorien hat der Westen keine Verhandlungsmasse. Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle machen aus Sicht der NATO nur Sinn, wenn sie die Bedrohung entscheidend reduzieren und gleichzeitig die für die Sicherheit notwendigen militärischen und politischen Fähigkeiten aufrechterhalten. Aufgrund der materiellen Unterlegenheit der konventionellen NATO-Land-und Luftstreitkräfte in Europa besteht nur begrenzter Spielraum für NATO-Reduzierungen. Die HLTF kommt daher zu dem Ergebnis, daß der Warschauer Pakt aufgrund seiner dreifachen Überlegenheit den Großteil der Leistungen erbringen muß. Insbesondere gilt das in der Anfangsphase.

VII. Schlußfolgerungen

Erfahrungsgemäß werden bei Rüstungskontrollverhandlungen die Ausgangspositionen recht hoch angesetzt, um im Verlaufe der Verhandlungen Spielraum für Kompromisse zu haben. Es muß aber offen bleiben, ob die sich abzeichnenden NATO-Forderungen, daß der Warschauer Pakt sich zunächst von Zweidritteln seines Potentials trennen müsse, ehe beiderseitige Reduzierungen einsetzen könnten, noch unter die Rubrik „hohe Ausgangsposition“ fallen können.

Welche Motive könnten die Sowjetunion dazu bewegen, aus freien Stücken ihre militärische Überlegenheit aufzugeben? Der Vergleich mit den erfolgreich abgeschlossenen Mittelstreckenverhandlungen kann hier nicht herangezogen werden. Zahlenmäßig „opferte“ die Sowjetunion für diesen Vertrag zwar dreimal mehr nukleare Gefechtsköpfe als der Westen, erreichte dafür aber das für sie wichtige Ziel einer Eliminierung der nuklearen Bedrohung aus Westeuropa. Bei den Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle ist jedoch kein vergleichbarer Preis in Sicht, den der Westen zahlen könnte oder wollte. Die sowjetische Bereitschaft zum asymmetrischen Abbau der Mittelstreckenflugkörper kann kein Beleg dafür sein, daß die Sowjetunion auch zu asymmetrischen Reduzierungen konventioneller Kräfte bereit sein würde.

Die Sowjetunion betreibt ihre Rüstungskontrollpolitik primär aus der Perspektive ihrer Weltmachtgeltung Dabei genießt das Verhältnis zu den USA Vorrang vor den Beziehungen zu allen anderen westeuropäischen Nationen. Auf nuklearstrategischem Gebiet hat sie sich mit den USA auf das Prinzip der Kräftegleichheit geeinigt und konnte dies 1972 auch vertraglich fixieren. Im konventionellen Bereich ist es aber nie zu einer vergleichbaren Übereinkunft gekommen, weil die Sowjetunion bisher immer Vorbehalte gegen eine konventionelle Parität in Europa erhoben hat.

Die Sowjetunion argumentiert, daß sie sich ungeachtet der nuklearstrategischen Parität global im Nachteil gegenüber den USA befinde und daher eines Ausgleichs in Europa bedürfe. Sie führt an, daß sie militärisch allein in der Welt dastehe und alle anderen mächtigen Staaten wie die europäischen NATO-Mitglieder, Japan und China auf Seiten der USA zu finden seien und einen Einkreisungsring von Stützpunkten um die Sowjetunion gelegt hätten Damit könnten die USA sowjetisches Heimatgebiet von beliebigen Stellen aus bedrohen. In einem eventuellen Krieg müsse die Sowjetunion damit rechnen, gegen alle anderen größeren Militärmächte zugleich anzutreten. Sie habe sich daher über vier Jahrzehnte hinweg eine konventionelle militärische Überlegenheit in Europa bewußt aufgebaut, um im Falle einer Auseinandersetzung mit den USA militärische und geostrategische Unterlegenheiten in anderen Teilen der Welt ausgleichen zu können. Hinter der sowjetischen Rüstung dürfte die Absicht stehen, im Bedarfsfall ihre fehlende Machtpräsenz in anderen Weltregionen durch politischen und militärischen Druck auf Westeuropa zu sublimieren.

Vor dem Hintergrund dieser sowjetischen Interpretation der Kräfteverhältnisse und bei Beachtung des Prinzips der gleichen Sicherheit im Verhältnis zu den USA wird deutlich, daß sich die Zielsetzung sowjetischer Rüstungskontrollpolitik in einigen Bereichen deutlich vom westlichen Rüstungskontrollverständnis unterscheidet. Identisch mit westlichen Vorstellungen dürfte die Absicht der Verhinderung eines großen Krieges und der Minderung von Kriegsgefahr sein, soweit diese gegen sowjetisches Territorium gerichtet ist. Unterhalb dieser Ebene dürfte die Rüstungskontrollpolitik aber konsequent zum Absichern und Festschreiben des nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten territorialen und militärischen Machtzuwachses benutzt werden und zum Verbessern der sicherheitspolitischen Lage der Sowjetunion. Letzteres kann sowohl durch Ausbau der eigenen Militärmacht geschehen als auch dadurch, daß der Gegner über rüstungskontrollpolitische Initiativen daran gehindert wird, militärische Ungleichgewichte zum Nachteil der Vorrangstellung der Sowjetunion auszubalancieren.

Obwohl Gorbatschow in der Sicherheitspolitik bisher mit zahlreichen sowjetischen Tabus gebrochen hat, gibt es keine Anzeichen, daß er beabsichtigt, von den überlieferten Grundsätzen sowjetischer Außenpolitik abzuweichen. Aus sowjetischer Sicht besteht in Europa bei Berücksichtigung aller relevanter Faktoren ein Machtgleichgewicht. Westeuropa hat in dieser Machtbalance deutliche Vorteile hinsichtlich der Bevölkerungszahl, der Wirtschaftskraft, der Attraktivität der Gesellschaftssysteme bei gleichzeitigen Defiziten im militärischen Bereich. Die Sowjetunion glaubt, die westlichen Vorteile durch den Ausbau ihres militärischen Potentials ausgeglichen zu haben. Wenn sie nun im Rahmen der KRK dazu veranlaßt werden soll, ihre militärische Überlegenheit einseitig abzubauen, ließe sich das wahrscheinlich nur erreichen, wenn sie im Vorfeld der Verhandlungen zu einem anderen Verständnis und zu einer anderen Deutung der europäischen Kräfterelationen finden würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle (KRK). Arbeitstitel. Konferenzbeginn frühestens 1988.

  2. Vgl. Dieter Wellershoff, Standortbestimmung, in: Material für die Presse. Der Bundesminister der Verteidigung. Informations-und Pressestab. 2. 6. 1987.

  3. KSZE = Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. 1973-1975 in Helsinki.

  4. Der MBFR-Reduzierungsraum umfaßt im Westen die Bundesrepublik Deutschland und die Beneluxländer, im Osten die DDR. die CSSR und Polen.

  5. Europa-Archiv, (1975) 17. S. 437— 484.

  6. Auswärtiges Amt. Mitteilung für die Presse Nr. 1155/87 vom 22. 9. 1987.

  7. Europa-Archiv. (1986) 11, D 308.

  8. Presse-und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin Nr. 80 vom 30. 6. 73.

  9. Europa-Archiv. (1986) 16. D 450— 453.

  10. Zur KVAE vgl. Sigurd Boysen. Vertrauensbildende Maßnahmen in der sowjetischen Außenpolitik. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Köln 1985; ders.. Kein blindes Vertrauen, sondern auch etwas Kontrolle, in: Europäische Wehrkunde, (1986)

  11. Vgl. Sigurd Boysen, Der Beitrag der Rüstungskontrolle zu Stabilität in Europa, in: Erhard Forndran/Hans-Joachim Schmidt (Hrsg.). Konventionelle Rüstung im Ost-West-Vergleich. Baden-Baden 1986.

  12. Europa-Archiv. (1986) 16. D. 435-. 437.

  13. Presse-und Informationsamt der Bundesregierung. Ostinformationen vom 13. 4. 1987.

  14. Vgl. Sigurd Boysen. Gorbatschows Abrüstungsvorschläge. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1987.

  15. Eine ausführliche Stellungnahme zur Arbeit der HLTF enthält Rolf Hüttel, Vom Atlantik bis zum Ural, in: Loyal, (1987) 5, S. 24-26.

  16. Vgl. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion und die Rüstungskontrolle. in: Außenpolitik, (1985) 1. S. 25 ff.

  17. Das Sowjetische Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit, Europa in Gefahr, Moskau 1981. S. 10 ff.

Weitere Inhalte

Sigurd Boysen, Dr. phil., geb. 1940; Eintritt in die Bundeswehr 1959, Generalstabsoffizier; Studium der Politischen Wissenschaft in Bonn; Referent für Rüstungskontrolle im Bundesministerium der Verteidigung, außenpolitischer Referent der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Veröffentlichungen u. a.: Zum Verhältnis von Militärstrategie und Rüstungskontrolle in: Buchbender u. a. (Hrsg.), Sicherheit und Frieden, Herford 1983; Der Beitrag der Rüstungskontrolle zur Stabilität in Europa, in: Forndran (Hrsg.), Konventionelle Rüstung im Ost-West-Vergleich, Baden-Baden 1986; Vertrauensbildende Maßnahmen in der sowjetischen Außenpolitik, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1985; Gorbatschows Abrüstungsvorschläge, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1987.