I Kriegsstatistik und Segmentierung des Friedens
Die Frage: „Ist Frieden möglich?“ gehört zweifellos zu der Kategorie von Fragen, an die sich die höchsten Erwartungen an eine Auskunft der Wissenschaft knüpfen — und deren Beantwortung durch die Wissenschaft häufig genug Enttäuschungen bereitet. Sie (die Wissenschaft) neigt dazu, die eine „große Frage“ in eine Vielzahl „kleiner Fragen“ aufzulösen, und selbst dann hält sie nicht immer eindeutige Ja-oder Nein-Antworten bereit. Bei der Beschäftigung mit der oben genannten Frage weisen die Antworten der Wissenschaft ein breites Spektrum auf: Sie reichen von den philosophischen und gesellschaftstheoretischen Entwürfen für einen „ewigen Frieden“ bis hin zu minutiöser empirischer Detailforschung darüber, welche Art der Machtverteilung zwischen zwei Staaten oder im Staatensystem insgesamt den Ausbruch von Kriegen wahrscheinlicher oder vermeidbarer macht.
Beginnen wir mit der einfachsten definitorischen Festlegung, daß Frieden gleichbedeutend mit dauerhafter, verläßlicher Abwesenheit von Krieg sein soll, so sehen wir uns sogleich mit den unterschiedlichsten Informationen und Behauptungen konfrontiert. Ein Autor, der Gesellschaften mit langen Friedensperioden untersucht hat, kommt zu der verblüffenden (und methodisch keineswegs abgesicherten) Schlußfolgerung: „Frieden ist eine Tatsache, nicht eine Vision. Er ist allgegenwärtig, existiert unaufhörlich und ist normal. Frieden gibt es an an den meisten Orten zu den meisten Zeiten.“ Weniger pauschal, aber die epochale Möglichkeit einer friedlichen Staatenwelt unterstreichend, stellten die führenden Politiker der westlichen Welt am 40. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges fest: „Wir bekennen, daß wir es . . . schuldig sind, Frieden ... in unseren Ländern und in der Welt aufrechtzuerhalten. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Das Ende des Krieges war zugleich ein Neubeginn.“
Schon ein oberflächlicher Blick auf die Statistik der Kriege nach 1945 — der zwischenstaatlichen, aber auch der innerstaatlichen — muß Zweifel an der Richtigkeit dieser optimistischen Aussagen über die Beschaffenheit der politischen Verhältnisse innerhalb wie zwischen den Staaten wecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind rund 160 Kriege zu verzeichnen, von denen 30 noch andauern, manche schon seit vielen Jahren. Die wenigsten fanden in Europa statt, gar keine in Nordamerika, der Rest von ca. 150 verteilte sich auf die verschiedenen Regionen der Dritten Welt. Zwischenstaatliche Kriege im engeren Sinne stellten eine kleine Minderheit dar. Das Gros aller Kriege machten innerstaatliche militärische Auseinandersetzungen aus, an denen sich aber in erheblichem Umfange Drittstaaten beteiligten. In den bislang beendeten Kriegen waren die Initiatoren nur in etwa einem Viertel der Fälle militärisch siegreich, in fast der Hälfte aller Fälle mußten sie eine militärische Niederlage hinnehmen, und die übrigen blieben militärisch unentschieden. Darüber hinaus hatten die Initiatoren von Kriegen überwiegend einen totalen politischen Mißerfolg zu gewärtigen.
Da dieses Kriegsvorkommen nach 1945 keinen abnehmenden Trend der Kriegshäufigkeit erkennen läßt, drängt sich der Eindruck der Allgegenwart des Krieges und des Ausnahmecharakters des Friedens auf. Diesem Eindruck könnte indessen ein logischer Ausarbeitung eines Vortrags, den der Verf. im Rah- men einer Ringvorlesung über „Wissenschaft und Frieden“ im Winter-Semester 1986/87an der Universität Tübingen gehalten hat. Herrn cand. phil. Mathias Kälberer schulde ich Dank für seine Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts. Fehlschluß zugrundeliegen, der darauf beruht, daß wir nicht sorgfältig genug zwischen der Aggregationsebene der Staatenwelt und der , Lebensgeschichte'einzelner Staaten unterschieden haben. Da das gesamte Kriegsvorkommen nicht gleichmäßig über die Staatenwelt verteilt ist, besagt seine gleichbleibende Häufigkeit noch nichts Definitives über die Kriegsanfälligkeit oder die Friedensfähigkeit einzelner Staaten.
Aber auch die individualisierende Betrachtung einzelner Staaten scheint die Skepsis hinsichtlich einer deutlicher zutage tretenden Friedensfähigkeit zu bestätigen: Von den Westmächten haben seit 1945 Großbritannien siebzehnmal, Frankreich vierzehn-mal und die USA dreizehnmal Krieg geführt; von den sozialistischen Großmächten waren die Sowjetunion dreimal und die VR China neunmal an Kriegen beteiligt. Ein prominenter Dritte-Welt-Staat wie Indien brachte es bislang immerhin auf zehn Kriegsbeteiligungen. Diese Daten legen den Schluß nahe, daß gerade mit Blick auf die führenden Staaten die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden nicht gegeben zu sein scheinen.
Die individualisierende Betrachtung einzelner Staaten trägt indessen dazu bei, das Bild einer vom Krieg durchdrungenen friedlosen Staatenwelt zu korrigieren. So läßt sich feststellen, daß es gerade unter den älteren, schon vor dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Staaten etliche Fälle gibt, die entweder gar nicht, nur als Opfer eines Angriffs oder doch äußerst selten und in der jüngsten Vergangenheit gar nicht mehr in zwischen-und innerstaatliche Kriege verwickelt waren. Zu den illustrativen Beispielen für diese Kategorie von Staaten zählen die nordischen Staaten, insbesondere Schweden, in Europa ferner die Schweiz, in Nordamerika Kanada, ferner Mexiko. Als bemerkenswert mag auch verzeichnet werden, daß jedenfalls die Aggressoren und Verlierer des Zweiten Weltkrieges — Deutschland, Italien und Japan — als kriegsbeteiligte Staaten nach 1945 nicht mehr in Erscheinung traten.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf einzelne Staatenpaare, so wird auch hier deutlich, daß friedliche internationale Beziehungen jedenfalls nicht so selten waren und sind, wie es die globale Kriegsstatistik nahelegt. Nehmen wir als ein Beispiel den nordamerikanischen Halbkontinent, auf dem nun seit vielen Jahrzehnten drei Staaten — USA, Kanada und Mexiko — unbeschadet etlicher Konflikte ohne Krieg koexistieren und in vielem kooperieren. Auffällig ist auch, daß die drei am häufigsten in Kriege verwickelten westlichen Staaten — USA, Großbritannien und Frankreich — untereinander seit langem friedliche Beziehungen pflegen und z. T. einander durch enge Kooperation verbunden sind. Weitere Beispiele wie das Subsystem der Benelux-Staaten oder der nordischen Staaten seien zur Vervollständigung erwähnt.
Es besteht somit kein Zweifel, daß die individualisierende , lebensgeschichtliche'Analyse der Kriegs-anfälligkeit und Friedensfähigkeit von Staaten ein deutlich differerenzierteres Bild entwirft als die systematische Analyse der Staatenwelt. Eine Schlußfolgerung aus diesem Befund könnte lauten, daß nur (oder erst) in bestimmten Segmenten der Staatenwelt Frieden möglich und in anderen Segmenten (noch) unerreichbar ist.
II. Traditionsstränge der politischen Theorie des Friedens
Der hier angedeutete Befund einer möglichen Segmentierung des Friedens steht in deutlichem Gegensatz zur Tradition philosophischer und gesellschaftstheoretischer Analyse und Reflexion über die Bedingungen des Friedens, der die vollständige und dauerhafte Aufhebung des Rechts auf gewaltsame Selbsthilfe zum Inhalt hat. Gemäß dieser Tradition wird Frieden als prinzipiell unteilbar und als eine unumkehrbare Zustandsveränderung in der Menschheitsgeschichte angesehen: der . ewige Frieden'gilt für die gesamte Menschheit und für alle Zukunft.
Diese Schlüsselkategorie fortschrittsoptimistischer Aufklärungsphilosophie und Gesellschaftstheorie ist uns heute abhanden gekommen. Nach Hiroshima, Auschwitz, dem Archipel Gulag und all den anderen Barbareien dieses Jahrhunderts fällt es schwer, die Vorstellung von politischen Entwicklungsprozessen theoretisch zu begründen, welche die Befreiung von der Geißel des Krieges — innerstaatlich wie zwischenstaatlich — verheißt. Die Verdunkelung der Zukunft durch die ungeheure, Wissenschaft und Technik geschuldete Ausdehnung der menschlichen Verfügungsmacht — und d. h. auch Zerstörungsmacht — über Natur und Gesellschaft hat ein Zaudern beim gedanklichen Vorgriff auf eine bessere Zukunft bewirkt. Die inflationäre Beschwörung der Zukunft in der tagespolitischen Rhetorik lenkt zudem von ihrer inhaltlichen Leere ab, und mehr noch: von der Gefahr realer Zukunftslosigkeit. Frieden als Zukunft für alle erscheint geradezu als Fehlspekulation.
Dennoch: Zur Schärfung unseres Verständnisses für rational begründbare Möglichkeitshorizonte einer friedlicheren Zukunft mag ein Blick auf die Traditionsstränge der politischen Theorie des Friedens hilfreich sein Wir wollen im Folgenden zwei dieser Traditionslinien aufzeigen und daran anschließend den im Vergleich dazu zwar bescheidenen, aber durchaus gehaltvollen Beitrag zeitgenössischer erfahrungswissenschaftlicher Forschung über die Bedingungen des Friedens skizzieren. Abschließend will ich nochmals auf die These von der Segmentierung des Friedens zurückkommen und sie dahingehend diskutieren, ob sich in dieser Segmentierung ein entwicklungsgeschichtlich bedeutsames Veränderungspotential ansammelt, oder darin eher das Auftreten von gegen die Kriegsunbilden sich abschirmenden Enklaven privilegierter Staaten zu erblicken ist. 1. Universal-konstitutionalistische und föderalistische Theorien Die älteste dieser Traditionslinien der politischen Theorie des Friedens setzt an der dezentralen Organisation der Staatenwelt, an der Inanspruchnahme des Rechts auf gewaltsame Selbsthilfe durch den souveränen Territorial-bzw. Nationalstaat an. Das Fehlen einer übergeordneten, effektiven Streitschlichtungsinstanz läßt der Anarchie freien Lauf. Ihren Ausdruck findet diese Anarchie im Sicherheitsdilemma der Staaten, die sich angesichts der Ungewißheit über die Sicherheitsstrategien ihrer Nachbarn möglichst effektive eigene Schutzvorrichtungen zulegen, damit aber beim Nachbarn wiederum den Verdacht erregen, daß damit Erzwingungs-oder Angriffsmaßnahmen vorbereitet werden. Als Folge der wechselseitigen Ungewißheit über die Sicherheitsstrategie des jeweils anderen Staates liegt der Rückgriff auf militärische Aufrüstung besonders nahe. Diese wiederum schafft über die real vorhandenen Konflikte hinausgehende Spannungen und läßt die Gefahr des gewaltsamen Konfliktaustrags zum ständigen Begleiter internationaler Politik werden.
Gegen diese strukturell angelegte Kriegsgefahr im dezentral organisierten Selbsthilfesystem mehr oder minder mächtiger Staaten wenden sich universal-konstitutionalistische Theorien, welche die Unterordnung unabhängiger Territorialherrschaften und Staaten unter eine Weltregierung im Interesse aller für möglich und erforderlich erklären. Einer der ersten bemerkenswerten Entwürfe, der in diese Richtung zielt, findet sich schon in Dantes Schrift „De Monarchia“ (um 1310)
Dantes Lösungsvorschlag orientierte sich am mittelalterlichen Universalismus des Heiligen Römischen Reiches und suchte in der Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt einen Damm gegen die Herausbildung einer Vielzahl neuer, miteinander rivalisierender und kriegsführender Machtzentren aufzurichten. Die Durchsetzung des unabhängigen Territorial-und später Nationalstaates in der Neuzeit brachte die anarchische Grundstruktur der internationalen Beziehungen und das ihr entspringende einzelstaatliche Sicherheitsdilemma erst voll zur Geltung. Dauerhafte Friedensstiftungverlangte nunmehr nach einem Konzept, das dem in der Unabhängigkeit liegenden Anspruch auf Gleichheit bzw. Gleichbehandlung Rechnung trug. Dem Gleichheitspostulat entsprach das Prinzip des Konsens für die friedliche Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen. Sollten diese Beziehungen so verändert werden, daß militärische Selbsthilfe zur Wahrung eigener Interessen und Rechte überwunden wurde, mußte ein den Status aller Beteiligten gleichermaßen bekräftigender wie ändernder Vertrag geschlossen werden: ein Bundesvertrag.
In dem wohl bedeutendsten frühen Entwurf einer föderalistischen Theorie des Friedens, den „Memoires pour rendre la paix perpetuelle en Europe“ (1716) des Abbd de Saint-Pierre steht das Konzept einer staatenbündisch organisierten Weltregierung im Mittelpunkt — ein Konzept, das bis in die jüngere Vergangenheit und Gegenwart unter dem Namen der Internationalen Organisation nachwirkt Ohne auf Einzelheiten des durchaus . modern* anmutenden Entwurfs des Abb de Saint-Pierre einzugehen, verdient die innere Logik des friedenstheoretischen Konzepts des Staatenbundes unterstrichen zu werden: Der Zusammenschluß der potentiellen Feinde stellt den eigentlichen Friedens-akt dar. Damit wird die Anarchie der Staatenwelt aufgehoben und die strukturell begründete Tendenz des Kampfes aller gegen alle beseitigt. Der Krieg als Modus des Konfliktaustrags kann durch Entscheidungsfindung aufgrund konsensfähiger Regeln ersetzt werden. 2. Herrschaftsform und Friede Diese Konzeption der Friedenswahrung durch einen hündischen Zusammenschluß der potentiellen Feinde hatte den absolutistischen Staat vor Augen und unterstellte die überwiegend einheitliche Herrschaftsform der dynastisch begründeten Monarchie als selbstverständlich. Damit blendete diese frühe föderalistische Theorie des Friedens aber einen Bedingungszusammenhang aus, dessen Aufgreifen zu der Frage hätte führen müssen, ob denn überhaupt absolutistisch regierte Monarchien die Leistung der Interessenvermittlung und Konsensbildung erbringen können, die nicht nur die Gründung sondern auch die Fortdauer eines Friedensbundes zwischen ihnen erfordert. Die rationalistische Annahme eines Zusammenfallens von Eigen-und Kollektiv-interesse aller Beteiligten an der Überwindung des Systems militärischer Selbsthilfe war insofern problematisch, da die Existenzgrundlage absolutistischer Herrschaft in der Machtbildung um (nahezu) jeden Preis lag. Daraus ergab sich, daß der absolutistische Staat die Neigung ausbildete, die Zuverlässigkeit als Bundesgenosse der Sicherung selbst nur kurzfristiger Vorteile in der machtpolitischen Konkurrenz der Staaten unterzuordnen.
Dieser Zusammenhang zwischen Herrschaftsform und friedlichen internationalen Beziehungen stellt das Thema einer zweiten, uns hier beschäftigenden Traditionslinie in der politischen Theorie des Friedens dar. In der Neuzeit wird er von zwei Autoren formuliert, deren Wirken die Epoche des Absolutismus zeitlich begrenzen — Niccolo Machiavelli (1469-1527) und Immanuel Kant (1724-1804). In den „Discorsi“ analysiert und argumentiert Machiavelli, daß Republiken und zumal aus Republiken gebildete Bünde einer friedlichen Außenpolitik fähig seien, weil sie sowohl auf Expansion verzichteten als auch wenig Anreiz für eine Eroberung durch andere Staaten böten
Immanuel Kant greift auf dieses Argument Machiavellis zurück und vermittelt es mit den verschiedenen Strömungen der neuzeitlichen politischen Philosophie Seine theoretische Konstruktion sucht zwei aufeinander bezogene Thesen zu entfalten und zu begründen: In der ersten behauptet Kant, daß die praktische Verwirklichung der drei Definitivartikel, die er für einen fiktiven „ewigen“ Friedensvertrag vorschlägt, den „ewigen Frieden“ zu garantieren vermag Die zweite These besagt, daß die praktische Verwirklichung dieser Definitiv-artikel möglich und aufgrund angebbarer Entwicklungstendenzen — unbeschadet von Unterbrechungen und Rückschlägen — auch zu erwarten sei.
Der erste Definitivartikel bindet den „ewigen Frieden“ an eine bestimmte Staatsverfassung, die republikanische. Diese schließt für Kant die Beibehaltung des monarchischen Staatsoberhaupts nicht aus, verwirklicht aber die Selbstbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft, ihre wirtschaftliche Freiheit und Rechtssicherheit dadurch, daß die Bürger am staatlichen Willensbildungsprozeß entscheidenden Anteil haben. In der Selbstbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft finden die machtpolitischen Expansionsinteressen des monarchischen Staatsapparates ihre Schranke. Da nach der republikanischen Verfassung „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten . . ., sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“.
Der zweite Definitivartikel gründet den „ewigen Frieden“ auf einen „Föderalism freier Staaten“, also einen Bund von Republiken. Kant spricht hier von einem „Friedensbund“, der alle Kriege auf immer ausschließen soll, im Unterschied zu einem „Friedensvertrag“, der einen bestimmten Krieg beendet. „Dieser Bund“, so führt Kant weiter aus, „geht auf keinen Erwerb irgendeiner Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staates für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb . . . öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen dürfen.“
Kant präzisiert sein Konzept eines Friedensbundes, indem er es sowohl gegen den „Völkerstaat“ als auch gegen die „Weltrepublik“ abgrenzt, die er teils für unmöglich, teils für potentiell tyrannisch erklärt. Der „Föderalism freier Staaten“ ist nach Kant gleichzusetzen mit der Konzeption „eines den Krieg abwehrenden, bestehenden undsich immerausbreitenden Bundes“ (Hervorhebungen von mir), der aber solange mit der Möglichkeit des Kriegs-ausbruchs koexistieren muß, wie sich die republikanische Verfassung nicht universell durchgesetzt hat.
Die praktische Durchsetzung seiner theoretisch entfalteten Konzeption des „ewigen Friedens“ sucht Kant mit universalhistorischen Hypothesen zu erklären. Grundlage seines Erklärungsansatzes ist die Annahme — ähnlich wie bei Adam Smith — einer sich hinter dem Rücken der Handelnden durchsetzenden entwicklungsgeschichtlichen Vervollkommnung gesellschaftlicher Ordnungen: Der in der Gesellschaft angelegte Antagonismus der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen, des Widerspruchs zwischen seinem Vergesellschaftungs-und Vereinzelungsstreben, stelle die grundlegende Triebkraft der Entwicklung von der „Rohigkeit“ zu immer höheren Stufen der Kultur dar
Die Bedingungen der Möglichkeit republikanischer Verfassungen sieht Kant nun gerade in der Gefährdung der Staaten durch Kriege. Die einheitsstiftende Wirkung republikanischer Verfassungen weist diese Staaten gegenüber Bedrohungen von außen als überlegen aus; die für Republiken kennzeichnenden Schranken politischer Machtübertragung und -ausübung lassen kriegstreibende Sonderinteressen nur schwer zum Zuge kommen. Kants Argument geht dahin — und man fühlt sich dabei an Max Webers berühmte Streitschrift für die Parlamentarisierung des Wilhelminischen Reiches erinnert —, daß entwicklungsgeschichtlich der Gefahr des Untergangs durch Krieg nur republikanisch verfaßte Staaten entgehen.
Der Friedensbund republikanischer Staaten wird nicht nur durch die aus der republikanischen Verfassung fließende Zurückhaltung in der Bereitschaft zum Kriege, sondern vor allem auch dadurch ermöglicht, daß sich zwischen Republiken eine selbstverständliche Achtung ihrer wechselseitigen Unabhängigkeit und ihres Rechts auf Selbstbestimmung einstellt.
III. Sozialwissenschaftliche Forschung über Bedingungen des Friedens
Halten wir an dieser Stelle unserer Vergewisserung über einige Traditionslinien der politischen Theorie des Friedens zunächst einmal inne und fragen uns, welche Gültigkeit ihre Aussagen im Lichte der sozialwissenschaftlichen Forschung beanspruchen können. Wir prüfen zuerst die auf den Abb de Saint-Pierre zurückgehende staatsföderalistische Konzeption, wonach der Zusammenschluß souveräner Staaten, der potentiellen Feinde, zu einem Staatenbund den „ewigen Frieden“ verbürge. Sodann gehen wir näher auf die Tragfähigkeit der durch Kant repräsentierten liberal-republikanischen bzw. -demokratischen Konzeption ein, die den „ewigen Frieden“ aus dem Zusammenwirken von republikanischer Verfassung und hündischem Zusammenschluß von Republiken (und der Befolgung der Freihandelsmaxime) erwartet. 1. Internationale Organisation und Friede Die staatsföderalistische Konzeption des Abb^ de Saint-Pierre, den „ewigen Frieden“ auf die Schaffung eines das Selbsthilferecht der Staaten mediatisierenden Staatenbundes zu gründen, fand in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Anhänger in der (wissenschaftlichen) Publizistik und politischen Praxis. Ihren Durchbruch in der Praxis der internationalen Politik erfuhr sie im Gefolge der beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts — zunächst in Gestalt des Völkerbundes, sodann durch die Errichtung der Vereinten Nationen und analog ausgerichteter Regionalorganisationen. In diesen staatenbündischen Institutionen, nunmehr Internationale Organisation genannt, schlug sich das Bemühen nieder, den internationalen Konfliktaustrag zu pazifizieren, indem sich ihre Mitglieder auf einen friedenspolitischen Prinzipien-katalog einigten — bestehend aus Aggressionsbzw. Gewaltverbot, kollektive Sicherheit, friedliche Streitbeilegung und Rüstungskontrolle bzw. Abrüstung
Der empirische Befund, wie er sich aufgrund systematischer Analyse der Praxis der Internationalen Organisation darbietet, widerlegt die hochgesteckten Erwartungen, die an sie als Instrument der Friedenswahrung geknüpft wurden. Auch wenn man einräumt, daß sich der Wirkungsbereich der Internationalen Organisation auf die zwischenstaatlichen Beziehungen beschränkt, ist das Kriegsvorkommen doch zu hoch, um eine durchschlagende friedenspolitische Effektivität annehmen zu können. Darüber hinaus findet sich schon in der Charta der Vereinten Nationen eine ihren friedenspolitischen Anspruch relativierende Bestimmung des Inhalts, daß das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht der Staaten als ein dem Rechtssystem der Internationalen Organisation vorgeordnetes Recht anerkannt wird
Nichtsdestoweniger war und ist die Internationale Organisation friedenspolitisch nicht folgenlos. Sie wurde und wird immer wieder mit der friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten be-12 faßt Ihre Leistungsbilanz auf diesem Gebiet weist indessen Erfolge nur bei Konflikten geringen Intensitätsgrades und vor allem bei der Dekolonisation auf, durch die unsere Welt erst ganz zur Staatenwelt wurde. Die konfliktregelnde Wirksamkeit der Internationalen Organisation beruht dabei weniger auf sanktionsbewehrter Autorität (Erzwingungsmacht) als vielmehr auf ihrer Inanspruchnahme als unbeteiligte Dritte, der die Fähigkeit zugeschrieben wird, zwischen widerstreitenden Sicherheitsinteressen zu vermitteln.
Diese durchaus reale, aber in ihrer Reichweite deutlich eingeschränkte Fähigkeit zur Vermittlung widerstreitender Interessen im Bereich der Sicherheit von Staaten wie auch (und mehr noch) in anderen Politikbereichen, beweist die Internationale Organisation auch bei den Bemühungen um Rüstungskontrolle bzw. Abrüstung als Mittel der Verringerung von Kriegsgefahren sowie bei der Festigung und Fortentwicklung des Völkerrechts. Der Internationalen Organisation kommt hier vor allem eine Thematisierungsmacht zu, durch die einzelne Staaten auch gegen ihr Widerstreben zur Teilnahme an Verhandlungsprozessen bewogen werden — es sei denn sie sind in der Lage und bereit, den Preis weitgehender diplomatischer Isolation zu zahlen.
Auf einer grundsätzlicheren Ebene betrachtet, bietet sich die Internationale Organisation einmal als institutionalisierter Aushilfsmechanismus an, derer sich Staaten in Konfliktsituationen bedienen können, wenn ihnen die Kosten militärischer oder mit anderen Erzwingungsmitteln betriebener Selbsthilfe zu hoch erscheinen. Insoweit stellt sie doch im Ansatz eine Transformation der vollkommen dezentralisierten, anarchischen Staatenwelt dar, in der den Staaten die Altemativoption der kollektiven friedlichen Konfliktbehandlung nicht zur Verfügung stand.
Darüber hinaus aber fungiert die Internationale Organisation als metastaatliche Koordinationsstelle, die den unterschiedlichen Interessen der Staatseliten aller oder doch der meisten Mitgliedstaaten zum Ausdruck und — soweit miteinander vereinbar — zur Durchsetzung verhilft. Angesichts des hohen Konsensbedarfs für das Zustandekommen kollektiver Entscheidungen in der Internationalen Organisation spricht die — im Einzelfall widerlegbare — Vermutung dafür, daß sie Regeln der Verfahrensgerechtigkeit und elementaren Grundsätzen der Verteilungsgerechtigkeit nicht widersprechen. Der Verhandlungs-und Regelmechanismus der Internationalen Organisation begünstigt den Kompromiß, der zwar gegen die vorgegebene Machtverteilung alles andere als blind ist, aber sie in seinem Ergebnis eher zugunsten des (der) Schwächeren korrigiert. So ist es nicht ganz verwunderlich, daß es gerade die mangelnde Akzeptanz der Internationalen Organisation durch die mächtigsten Staaten ist, die häufig ihre friedenspolitische Effektivität untergräbt. 2. Demokratie und Friede Eine entscheidende Schwäche der traditionellen Lehre von der Internationalen Organisation als Friedensstrategie liegt darin, daß sie von einem letztlich formalen völkerrechtlichen Staatsbegriff ausgeht — Staat definiert durch das Vorhandensein von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Angesichts der staatsrechtlichen und soziologischen Verschiedenartigkeit der Staaten schien ihr auch gar nichts anderes übrig zu bleiben, wollte sie an ihrem universalistischen Friedenskonzept festhalten, das die ganze Staatenwelt einschloß. Kants grundlegender Beitrag zur politischen Theorie des Friedens, der auch für die Theorie der Internationalen Organisation Konsequenzen hatte, bestand hingegen vor allem darin, die innere Verfassung von Staaten, das Verhältnis von Politik und Gesellschaft zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Mit seiner These von der in Republiken strukturell verankerten Kriegsabstinenz und ihrer Fähigkeit, einen Friedensbund miteinander einzugehen, legte er den Grundstein für eine bis auf den heutigen Tag andauernde wissenschaftliche und politische Debatte darüber, ob Republiken bzw, in heutiger Sichtweise: liberale Demokratien in ihren internationalen Beziehungen friedfertiger sind als andere Staaten.
Dieser Debatte kam und kommt darüber hinaus eine zentrale ideologische Funktion bei der Bewertung unterschiedlicher Herrschaftsformen zu. So diente die Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Herrschaftsform und Frieden im Kontext des Ersten Weltkrieges wie auch zu Zeiten des Kalten Krieges nach 1945 dazu, die moralische Überlegenheit oder Verwerflichkeit eines bestimmten politischen Systemtyps zu begründen. Woodrow Wilson, der die USA 1917 auf Seiten der Entente-Mächte in den Krieg führte, griff auf das in der liberal-republikanischen bzw. -demokratischen Friedenstheorie implizit enthaltene Argument zurück, daß erst die Beseitigung autoritärer, militaristischer Herrschaftsformen (wie die des Wilhelminischen Deutschland und Österreich-Ungarns) einen dauerhaften internationalen Frieden ermögliche
Nach der Niederkämpfung des Faschismus im Zweiten Weltkrieg und der Verschärfung des Ost-West-Konflikts im Kalten Krieg in der Mitte dieses Jahrhunderts diente in diesem Zusammenhang die Totalitarismus-Theorie dazu, die Quelle der Kriegsgefahr eindeutig beim Systemgegner der liberalen Demokratien, d. h. bei den parteikommunistischen Diktaturen — wie zuvor schon bei den faschistischen Diktaturen — zu verorten: Totalitäre Systeme, die im Innern auf Gewalt, Mißtrauen und hoher Machtkonzentration beruhen, seien strukturell dazu disponiert, die gleichen Merkmale in ihren Außenbeziehungen zu reproduzieren, also nach kontinentaler oder gar globaler Vorherrschaft notfalls mit den Mitteln militärischer Macht zu streben,
Der systematischen sozialwissenschaftlichen Forschung über den Zusammenhang zwischen Herrschaftsform und Kriegsanfälligkeit bzw. Friedensfähigkeit der Staaten ist bislang eine vollständige Klärung nicht gelungen. Soweit es sich dabei um Studien handelt, die mit statistischen Verfahren der quantitativen Datenanalyse arbeiten, liegt die Disparatheit der Befunde z. T. darin begründet, daß die einschlägigen Untersuchungen in methodischen Details stark voneinander abweichen. Gleichwohl lassen sich zwei Haupttendenzen der Forschung ausmachen: Die eine geht von der Gesamtheit der Staaten aus und vergleicht — entweder über einen Zeitraum seit 1815 oder über kürzere Zeiträume danach — die Verteilung ihrer Kriegsbeteiligungen aufder Grundlage klassifikatorischer oder typologischer Unterscheidungen von Herrschaftsformen. Die andere konzentriert sich allein auf liberal-demokratische Staaten und ihre bilateralen Beziehungen und vergleicht diese mit den Zweierbeziehungen gegeneinander kriegführender Staaten.
Die ersten, in den sechziger und siebziger Jahren publizierten Arbeiten kamen überwiegend zu dem Ergebnis, daß sich kein systematischer Zusammenhang zwischen Herrschaftsform und Kriegsbeteiligung bzw. Beteiligung an militärisch ausgetragenen Konflikten nachweisen lasse; Demokratien schienen also demnach ebenso kriegsanfällig zu sein wie Nichtdemokratien. Eine einzige Gegenstimme erhob sich indessen schon damals (Michael Haas), die darauf aufmerksam machte, daß aggressives Außenverhalten bei Demokratien weniger häufig auftrete als bei Nichtdemokratien, wenngleich die Differenz, statistisch betrachtet, unterhalb der Signifikanzschwelle bleibe.
Daran anknüpfend und auf der Grundlage erheblich verbesserter Datensätze haben sich in der jüngsten Vergangenheit erneut eine Reihe von Autoren mit dem Zusammenhang zwischen Herrschaftsform, insbesondere des liberal-demokratischen Systems, und der Kriegsbeteiligung bzw. Kriegsabstinenz befaßt Einige Befunde lassen es zwar als möglich erscheinen, daß in bestimmten kürzeren Zeitabschnitten (Dekaden) Demokratien sich weniger an militärisch ausgetragenen Konflikten beteiligten als Nichtdemokratien — wie z. B. während der siebziger Jahre; auf längere Zeiträume bezogen verwischt sich dieser Unterschied aber wieder.
Gerade diese jüngeren Arbeiten legen aber den Blick frei für die Entdeckung einer Invarianz, die sich fast als Gesetz formulieren läßt: Alle stimmen darin überein, daß es zwischen liberal-demokratischen Staaten selbst nicht zu Kriegen bzw. militärisch ausgetragenen Konflikten kam und kommt Dieser alles andere als triviale Befund bestätigt sich unter Zugrundelegung unterschiedlicher Datensätze und Zeiträume für das 19. und 20. Jahrhundert. Der Kerngedanke von Kants Theorie, daß demokratische Verfassungsstaaten untereinander Frieden zu halten vermögen, scheint durch die historische Erfahrung nicht widerlegt, sondern vorerst eindrucksvoll bestätigt worden zu sein.
Aber mehr noch drängt sich bei weiterer Betrachtung der internationalen Beziehungen liberal-demokratischer Staaten auf: Sie zeichnen sich durch die intensivsten, auf Freiwilligkeit und Konsens beruhenden, organisierten wie informellen Politikverflechtungen aus — ganz abgesehen davon, daß sie die höchsten Partizipationsraten in der Gesamtheit der Internationalen Organisation aufweisen Am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft, mit Abstrichen auch im Hinblick auf das transatlantische Verflechtungssystem, erweist sich somit auch der andere Grundgedanke von Kants Theorie weiterhin als tragfähig, nämlich daß liberal-demokratische Staaten zu mehr oder minder institutionalisierten Zusammenschlüssen fähig sind, mittels derer sie friedlichen Interessenausgleich und Kooperation verwirklichen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die in der Europäischen Gemeinschaft oder auch im Europarat vereinigten demokratischen Verfassungsstaaten im Binnenverhältnis einen Friedensbund darstellen.
IV. Implikationen der föderal-demokratischen Theorie des Friedens
Angesichts dieser Befunde drängt sich eine Reihe von Fragen auf, deren gründliche Behandlung im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich ist. Ich möchte einige davon andeuten und jeweils eine Beantwortung skizzieren.
1. Der empirische Befund, daß liberal-demokratische Staaten untereinander bisher Frieden gehalten haben, könnte möglicherweise mit Hilfe anderer Faktoren erklärbar sein als durch eine in ihrer Herrschaftsform angelegte intrasystemar-spezifische Kriegshemmung. So ließe sich fragen, ob von der Weltmarktintegration der kapitalistischen Ökonomien liberal-demokratischer Staaten die entscheidende pazifierende Wirkung ausgeht, oder ob die ungebrochene Dominanz des Ost-West-Konflikts einen gewaltsamen Konfliktaustrag zwischen liberal-demokratischen Staaten wegen seiner destabilisierenden Wirkungen auf das eigene Lager unmöglich macht. Oder verhindert vielleicht die Hegemonie der USA durch den Aufbau struktureller Abhängigkeitsverhältnisse unter den liberal-demokratischen Staaten den Ausbruch direkter militärischer Gewalt?
Alle genannten Faktoren sind von Bedeutung, sie stellen aber keinesfalls hinreichende Bedingungen zur Erklärung des empirischen Befundes dar: Die Weltmarktintegration hat Kriege zwischen kapitalistischen Staaten unterschiedlichen Systemtyps (Demokratien — Nichtdemokratien) nicht verhindern können; trotz der Dominanz des Ost-West-Konflikts gab es gewaltsame Konflikte selbst zwischen NATO-Partnern (z. B. zwischen den damaligen Militärdiktaturen Griechenland und Türkei); und die Hegemonie der USA wirkte alles andere als kriegsverhindemd selbst dort, wo sie sich am stärksten auswirkt (Lateinamerika und Karibik).
2. Wenn wir davon ausgehen können, daß liberal-demokratische Staaten untereinander Frieden halten, schließen wir logisch keineswegs aus, daß auch Staaten mit einer bestimmten anderen Herrschaftsform dieselbe Leistung vollbringen können. Umgekehrt hat die auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückgehende Kapitalismuskritik und Theorie des Sozialismus/Kommunismus argumentiert, daß kapitalistische Staaten (ob nun liberal-demokratisch verfaßt oder nicht) nicht dauerhaft friedensfähig seien. Zu friedlichen internationalen Beziehungen seien demgegenüber nur Gesellschaften in der Lage, die den Sozialismus/Kommunismus aufbauten bzw. verwirklichten Ohne hier näher auf den Begründungszusammenhang dieser sehr verkürzt wiedergegebenen These eingehen zu können, steht die bisherige Praxis der Beziehungen zwischen sogenannten realsozialistischen Ländern nicht im Einklang mit dem erhobenen Friedensanspruch: Militärische Interventionen erheblichen Ausmaßes (DDR 1953; Ungarn 1956; CSSR 1968) sowie bewaffnete Auseinandersetzungen geringeren Umfangs zwischen der Sowjetunion und China und größeren Umfangs zwischen China und Vietnam lassen nur die Schlußfolgerung zu, daß es neben dem friedlichen Subsystem der liberal-demokratischen Staaten kein zweites der sogenannten realsozialistischen Länder gibt. Da sozialistische Staaten keine Trennung zwischen politischem und ökonomischem System aufweisen, werden zwischengesellschaftliche Konflikte sofort in zwischenstaatliche Konflikte verwandelt. Darüber hinaus ist die freiwillige Integrationsbereitschaft zwischen den Staaten des real existierenden Sozialismus offensichtlich niedriger als zwischen liberal-demokratischen Staaten. Zusammengenommen resultiert daraus eine geringere Fähigkeit zur Konfliktregelung durch Verhandlungen und Kompromisse 3. Der Befund, daß jedenfalls liberal-demokratische Staaten dauerhafte und verläßliche friedliche Beziehungen miteinander pflegen, paßt augen-scheinlich nicht zu der vor allem von Ekkehart Krippendorff mit Nachdruck vertretenen These, daß es der Staat selbst sei, der Frieden unmöglich mache: Der Staat, die auf das Legalmonopol physischer Gewaltsamkeit gegründete Herrschaftsorganisation, gäbe sich demnach mit dem Verzicht auf die Option der gewaltsamen Durchsetzung existentieller Interessen selbst auf Solange Staaten als Gewaltmonopolisten fortbestehen, werde es Kriege geben. Krippendorffs These ignoriert zum einen, daß es durchaus Staaten im strengen Sinne des Begriffs gibt, die seit mehr als einem Jahrhundert keinen Krieg mehr geführt haben. Zum anderen verkennt er, daß es die Unterschiede der Herrschaftsform sind, durch die der Verfügungsmacht über das Gewaltmonopol enge oder weite Schranken gesetzt werden In liberal-demokratischen Staaten jedenfalls ist das staatliche Gewaltmonopol insoweit funktionslos geworden, als es gegenüber ihresgleichen nicht zum Einsatz kommt. Daraus folgt, daß nicht der Staat, sondern die — nichtdemokratische — Herrschaftsform die Möglichkeiten des Friedens beschneidet.
4. Die Einsicht, daß liberal-demokratische Staaten untereinander zum Frieden fähig sind, verblaßt — jedenfalls in den Augen vieler —, wenn man sich des Befundes erinnert, daß sie sich kaum weniger kriegsanfällig gegenüber nichtdemokratischen Staaten zeigen als diese gegenüber Demokratien oder ihresgleichen. Die Gründe für diese mangelnde Kriegsabstinenz von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien sind vielfältig. a) Liberal-demokratische Staaten werden als „Opfer“ militärischer Aggression in Kriege verwickelt. Dies ist vor allem der Fall bei kleineren, schwächeren Demokratien, die der expansionistischen Sicherheitsstrategie einer nichtdemokratischen Großmacht im Wege stehen — so beim Überfall der Sowjetunion auf Finnland oder NS-Deutschlands auf seine europäischen Nachbarn (ausgenommen Polen, das seinerseits ein nichtdemokratischer Staat war). Diese Erfahrung vor allem des Zweiten Weltkrieges hat die kleineren, schwächeren Demokratien zu der Schlußfolgerung geführt, künftighin den Schutz ihrer Sicherheit entweder einer förmlichen Allianz mit einer oder mehreren liberal-demokratischen Großmächten anzuvertrauen oder im Schatten solcher Allianzbildung eine aktive Neutralitätspolitik zu betreiben b) Liberal-demokratische Staaten beteiligen sich an Kriegen gegen Nichtdemokratien auch als „Täter“. Hier gilt es aber zu differenzieren: Generell beteiligen sich machtranghöhere Staaten häufiger an Kriegen als machtrangniedrigere (wobei ab einer bestimmten Machtrangstufe diese nichts mehr über etwaige Unterschiede in der Kriegsbeteiligung von Staaten aussagt) Dies gilt auch für die Kategorie der liberal-demokratischen Staaten. Kriege gegen Nichtdemokratien werden also vor allem von den liberal-demokratischen Großmächten initiiert, wohingegen kleinere Demokratien kaum die Initiative zum militärischen Konfliktaustrag ergreifen, wohl aber gelegentlich eine liberal-demokratische Großmacht auch militärisch unterstützen. c) Gegenüber Nichtdemokratien besteht in liberal-demokratischen Staaten keine intrasystemar-spezifische Kriegshemmung. Genauer: Der auf die Gleichartigkeit der Herrschaftsform gegründete Respekt vor der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des jeweils anderen gleichgerichteten Staates weicht der Disposition zur Eindämmung und Intervention gegenüber Nichtdemokratien, die sich u. a. einem entwicklungsgeschichtlichen Überlegenheitsbewußtsein verdankt Dieses muß sich indessen nicht in einer Praxis unablässiger politisch-ökonomischer oder militärischer Militanz niederschlagen, ja kann sogar im anderen Extremfall zu Selbstgefälligkeit und Sorglosigkeit führen. Der Zwischenbereich einer Außenpolitik gegenüber Nichtdemokratien, die sich durch selbstbewußte Mäßigung und Herstellung kalkulierter Reziprozität auszeichnet, gerät mitunter in Gefahr, im demokratischen Meinungs-und Parteienkampf beschnitten zu werden. Eine von allzu unbekümmerter ideologischer Selbstsicherheit getragene Außenpolitik — vor allem, wenn sie gepaart ist mit ökonomischer und militärischer Militanz — wirkt auf die Staatseliten in Nichtdemokratien verunsichernd und löst dort Reaktionen aus, die nach der Logik des Systems der Staatenanarchie ablaufen: Stärkung militärischer Macht soweit wie möglich, Verschärfung der Kontrollen über das wirtschaftliche und kulturelle Leben und über die dazu gehörigen Austauschbeziehungen. Diese rufen wiederum neue Spannungen und Bedrohungswahrnehmungen hervor, die der Bereitschaft zum Einsatz militärischer Machtmittel in liberal-demokratischen Staaten, vor allem in den mächtigeren unter ihnen, Vorschub leisten — unbeschadet einer sich dort in aller Regel lautstark artikulierenden Opposition. Betrachtet man die Gesamtheit der Beziehungen zwischen liberal-demokratischen Staaten und Nichtdemokratien, so haben wir es mit einer Gemengelage von regulativen Prinzipien zu tun. Im Bereich der politisch-territorialen Sicherheit orientiert sich die Politik beider Staatenkategorien in ihrem Verhältnis zueinander noch immer überwiegend an der Minimierung des Sicherheitsdilemmas mit Mitteln der militärischen Machtbildung einschließlich militärischer Allianzen. In diesem Problembereich der internationalen Politik folgen zumal die militärisch führenden Staaten modifizierten Regeln der Lehre vom Mächtegleichgewicht (nukleare Abschreckung) Auch der in der sozialwissenschaftlichen Forschung ausgetragene Streit darüber, ob Bipolarität, Multipolarität oder eine kombinierte Bi-/Multipolarität der (nuklear-) mili-tärischen Machtverteilung und der Verteilung von Allianzbindungen die Gefahr eines Kriegsausbruchs verringern hilft, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß jede praktizierte Variante der Balance-of-Power-Lehre wegen ihrer politischen Perspektivlosigkeit und inneren Labilität einen dauerhaften und verläßlichen Frieden nicht in Aussicht stellen kann Die von der Einsicht in diese brüchige Sicherheit (durch Abschreckung) genährten Bemühungen, die militärische Machtkonkurrenz — nicht nur in Europa — bestimmten rüstungskontrollierenden sowie vertrauens-und sicherheitsbildenden Regeln zu unterwerfen, stehen indessen erst am Anfang.
V. Perspektiven
Kehren wir schließlich zurück zu unserer eingangs geäußerten Vermutung, daß uns die Vorstellung von einem universellen „ewigen Frieden“ fragwürdig geworden ist und daß Frieden, wenn überhaupt, nur in segmentierter Form auftritt. Der empirische Befund, daß Demokratien (und bis heute offenbar nur Demokratien) untereinander dauerhaft und verläßlich Frieden zu halten vermögen, und daß nur eine Minderheit von Staaten sich als Demokratien qualifizieren, bestätigt diese Vermutung. Dennoch bedarf diese Feststellung einer Ergänzung, die perspektivisch den Blick freigibt auf eine Zukunft in Frieden für einen sich erweiternden Teil der Menschheit.
Diese Ergänzung trägt den Charakter einer Extrapolation hochaggregierter Trends über einen verhältnismäßig langen Zeitraum. Sie geht davon aus, daß die Gesamtzahl der Staaten, die sich zunächst als liberale bzw. republikanische, dann als demokratische Herrschaftssysteme qualifizierten, seit dem frühen 19. Jahrhundert beständig zugenommen hat, obschon natürlich einzelne Staaten auch wieder in die Kategorie der Nichtdemokratien überwechselten. Zwar stellen demokratische Staaten derzeit lediglich etwa ein Viertel aller Staaten dar (mit einem Anteil an der Weltbevölkerung von deutlich weniger als einem Viertel), doch erweist sich eine Betrachtung der Wachstumsrate der Demokratien als aufschlußreich 1820: 2, 1860: 6, 1910: 16, 1950: 32, 1980: 40.
Ist die Ausbreitung der Demokratie — und damit die Verwirklichung einer — vielleicht nicht notwendigen, aber hinreichenden — Bedingung der Möglichkeit von Frieden — unaufhaltsam? Dies gewiß nicht; gegenüber zu weitgehenden Homogenisierungserwartungen ist Skepsis geboten. Doch besteht andererseits kein Grund zur Annahme, daß die entwicklungsgeschichtliche Dynamik der Demokratie schon gebrochen ist. Die Forderung nach demokratischen Veränderungen in Nichtdemokratien äußert sich nach wie vor vernehmlicher als umgekehrt das Eintreten für nichtdemokratischen Wandel in Demokratien. Der darin zum Ausdruck kommende evolutionäre Wettbewerbsvorteil der Demokratie sollte Ansporn für die politische Praxis von und in Demokratien sein, Nichtdemokratien so zu behandeln als seien sie künftige Partner eines dauerhaften und verläßlichen Friedens. Auf keinen Fall taugt der hier vorgetragene Befund dazu, ihn für missionarische Zwecke umzudeuten. Vielmehr sollte er Anlaß für liberal-demokratische Staaten sein, die eigene außenpolitische Praxis selbstkritisch zu reflektieren und nicht selber als das größte Hindernis einer demokratischen Entwicklung in anderen Staaten (insbesondere in der Dritten Welt) im Wege zu stehen. Die Maximen der Toleranz und der Solidarität, ohne deren Beachtung der demokratische Verfassungsstaat von innen her zusammenbräche, stellen auch in der Außenpolitik — wenn mit Klugheit und Umsicht befolgt — vernünftige Wegweiser dar.