I. Arbeitslosigkeit als Politikum
Die Zahl der bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslosen in der Bundesrepublik überschritt 1982 die Zwei-Millionen-Grenze. Trotz des 1983 einsetzenden kontinuierlichen Aufschwungs mit einer „Traumkonstellation der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ wurde dieser Sockel bis heute nicht abgebaut. Alle ernstzunehmenden Untersuchungen rechnen mit einer Fortdauer der Massenarbeitslosigkeit bis weit über das Jahr 2000 hinaus. Das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) und die Prognos AG etwa rechnen bei einem durchschnittlichen realen Wachstum von 5 % 2) mit folgender Entwicklung: Die Arbeitslosigkeit einschließlich der „stillen Reserve“ steigt von 6 Millionen Personen 1984 auf% 2) mit folgender Entwicklung: Die Arbeitslosigkeit einschließlich der „stillen Reserve“ steigt von 3, Millionen Personen 1984 auf 4, 3 Millionen 1990 und sinkt mit 3, 2 Millionen Personen im Jahr 2000 etwas unter das heutige Niveau 3). Von gewerkschaftlicher Seite werden die verschiedenen Voraussetzungen dieser Berechnung allerdings als noch viel zu optimistisch kritisiert .
Um eine Vorstellung der qualitativen Dimensionen der Arbeitslosigkeit und ihrer Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft zu vermitteln, sei hier auf folgende wenig bekannte Tatsache verwiesen: Durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit 1970 in den USA um nur 1, 4 % starben — ausgelöst durch den mit der gestiegenen Existenzunsicherheit erhöhten Streß — nach einem Intervall von fünf Jahren, also 1975, mehr als 50 000 Menschen zusätzlich, die sonst am Leben geblieben wären 6). Angesichts dieser Tatsachen, die auch für die Bundesrepublik Bedeutung haben dürften, erscheint es nicht vermessen, von einem dringenden sozial-und wirtschaftspolitischen Handlungsbedarfzu sprechen — ja, er ergibt sich m. E. zwingend aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.
Sieht man einmal ab von der zunehmend an Relevanz gewinnenden Praxis der aktiven und passiven Verdrängung der Problematik der Arbeitslosigkeit (die bis hin zum bewußten Verschweigen der Arbeitslosenzahlen und ihrer Ersetzung durch die viel weniger aussagekräftige Zahl der Beschäftigten reicht so besteht — politisch und wissenschaftlich zwar nur verbal, aber immerhin — ein breiter gesellschaftlicher Konsens, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein vorrangiges wirtschaftspolitisches Ziel sei. Allein die Wege zu diesem Ziel unterscheiden sich. Grob lassen sich dabei zwei Positionen unterscheiden: Vertraut die eine Position mehr auf die Kräfte des freien Marktes und versucht Vollbeschäftigung durch verschiedene Maßnahmen der Wachstumsförderung zu erreichen — vor allem durch Kostenentlastungen der Unternehmen, die zu höheren Gewinnen und damit an-geblich zu mehr Investitionen führen —, so ist die andere Position unter Hinweis auf die Entwicklung seit 1982 skeptischer. Da niemand davon ausgeht, daß Wachstumsraten, die hoch genug wären, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, erreichbar sind (realgüterwirtschaftlich betrachtet auch nicht einmal sinnvoll wären), fordert diese Position, die Arbeitslosigkeit vor allem über Beschäftigungsprogramme 9a) und Arbeitszeitverkürzungen zu bekämpfen. So sinnvoll und wichtig aus verschiedenen Gründen heraus eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ist, so deutlich ist mittlerweile geworden — so sogar der Vorsitzende der IG Metall, Steinkühler — , damit die Massenarbeitslosigkeit zwar etwas verringert, aber keineswegs beseitigt werden kann.
Bei eventuellen Konjunktur-und BeschäftigungsProgrammen, die in gigantische Ausmaße erreichenden Dimensionen vorgeschlagen werden, ist der zentrale Streitpunkt die Frage der Finanzierung. Will die eine Position die Finanzierung über eine erhöhte Staatsverschuldung und eine Belastung der oberen Einkommensschichten ermöglichen, so hält die andere Position gerade dies für schädlich.
Es soll an dieser Stelle nicht interessieren, daß auch nach der Regierungsübernahme durch die konservativ-liberale Koalition die Verschuldung des Bundes insgesamt um weitere 106 Mrd. DM von 309 Mrd. DM 1982 auf über 415 Mrd. DM 1986 gestiegen ist Aufjeden Fall hat die sozialliberale Koalition mit ihren Beschäftigungsprogrammen — auch wenn kritisiert wird, sie wären nur halbherzig durchgeführt worden — den Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht aufhalten können, geschweige denn sie beseitigt. Bei dem Versuch der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit sind also die wirtschaftspolitischen Strategien der beiden großen gesell-schaftlichen Lager in der Bundesrepublik gescheitert.
In der politischen und wissenschaftlichen Diskussion über die Möglichkeiten der Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit werden aber im wesentlichen weiterhin immer verfeinertere Argumente, die grob den beiden Grundpositionen entsprechen, ausgetauscht, ohne daß sich letztlich produktiv damit etwas bewegen würde. Man „gewinnt leicht den Eindruck, daß man sich mit dem Phänomen der nun schon seit Jahren anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit mehr oder weniger abgefunden hat“ Vergegenwärtigt man sich die anfangs angedeuteten Dimensionen der Problemlage Arbeitslosigkeit sowie die aktuell und perspektivisch damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen, so sollte man nicht davor zurückscheuen, auch ungewöhnliche, dem gängigen ökonomischen Denken fremde Wege zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit — die vor allem auch „billiger“ sind — zu diskutieren. Darum geht es im folgenden.
Es soll zunächst einmal aufgezeigt werden, in welchem Ausmaß einerseits die Möglichkeit einer „billigen“ Beseitigung der Arbeitslosigkeit besteht, wenn statt Arbeitslosigkeit Arbeit finanziert wird, und in welchem Ausmaß andererseits ein erheblicher gesellschaftlicher Bedarfan arbeitsintensiveren Problemlösungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen besteht, der nicht befriedigt wird, weil die zusätzlich dafür benötigten Arbeitskräfte (angeblich) nicht finanziert werden können.
Es soll gezeigt werden, daß es keine ökonomischen Sachzwänge im engeren Sinne sind, die die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit verhindern, sondern vor allem soziale Restriktionen, ein Mangel an sozialer Innovation, der verhindert, daß die sich bietenden Möglichkeiten nicht wahrgenommen werden. Die Frage, wie die Möglichkeit der „billigen“ Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und die arbeitsintensiveren Problemlösungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen „zueinandergebracht“ werden können, wird dann weiter verfolgt. Anknüpfungspunkt dafür ist die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik, die kurz dargestellt und kritisiert wird, um daran anschließend erste Bemerkungen zu einem Konzept einer Arbeitsmarktpolitik als Beschäftigungs-und Strukturpolitik (die vielleicht gar nicht mehr Arbeitsmarktpolitik genannt werden kann) zu formulieren — ein Konzept, das dem eben genannten Anspruch eher gerecht wird.
II. Die Kosten der Arbeitslosigkeit und die Kosten der Beschäftigung
Ausgangspunkt der Überlegung, daß die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit kein ökonomisches Problem im engeren Sinne darstellt, ist die Tatsache, daß auch die gegenwärtige Arbeitslosigkeit „den Staat“ (Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungsträger) eine Menge kostet. Das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) argumentiert in seinen Berechnungen dazu nicht etwa mit dem Ausfall an Wertschöpfung für die Gesellschaft, der vermieden worden wäre, hätten die Arbeitslosen gearbeitet; nicht mit sozialen und gesundheitlichen Folgekosten der Arbeitslosigkeit; nicht mit der Vernichtung von Humankapital durch Verluste an beruflicher Qualifikation usw. — alles Elemente, die in eine vernünftige volkswirtschaftliche Kostenberechnung eigentlich eingehen müßten. Das IAB klammert alle diese Kosten aus, weil sie schwer zu ermitteln sind — geht damit faktisch also von deren Nicht-Existenz aus —, und beschränkt sich auf die direkt rechenbaren Kosten, die „dem Staat“ an Mehrausgaben und Mindereinnahmen gegenwärtig durch die registrierte Arbeitslosigkeit entstehen
Das sind im einzelnen: Die Mehrausgaben durch die Zahlung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-hilfe, von Renten-und Krankenversicherungsbeiträgen für Arbeitslose, von Sozialhilfe und Wohngeld sowie die Mindereinnahmen bei Renten-und Krankenversicherung bei der Bundesanstalt für Arbeit, bei der Einkommensteuer und den indirekten Steuern. Diese Mehrausgaben und Mindereinnahmen betrugen 1984 für „den Staat“ pro Arbeitslosengeldempfänger 29 700 DM, pro Arbeitslosenhilfeempfänger 27 500 DM und pro Arbeitslosen ohne Leistungsbezug immerhin noch 15 600 DM. Ausgehend von den Anteilen der drei Gruppen an der Gesamtzahl der registrierten Arbeitslosen von 37, 9%, 26, 4% und 35, 7%, ergeben sich für 1984 durchschnittliche gesamtfiskalische Kosten in Höhe von 23 900 DM pro Person und Jahr — d. h. bei 2, 27 Millionen registrierten Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt Gesamtkosten in Höhe von 54, 1 Mrd. DM. 1985 sind diese Kosten aus ver-schiedenen Gründen auf 24 700 DM pro Person und Jahr oder insgesamt 57 Mrd. DM gestiegen. Von diesen Gesamtkosten entfielen 1984 nur knapp 30 % auf Zahlungen von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe (1985 nur noch 27 %). Gut die Hälfte der Gesamtkosten besteht aus Mindereinnahmen, knapp die Hälfte aus Mehrausgaben. Stellt man diesen Kosten der Arbeitslosigkeit die Kosten einer Beschäftigung — etwa in einer tariflich bezahlten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) — gegenüber, so ergibt sich nur eine geringe Differenz (dazu weiter unten). „Selbst wenn nur unmittelbare Entlastungswirkungen einbezogen werden, finanzieren sich die ABM . . . bereits zu 65 % selbst. Bezieht man zusätzlich mittelbare fiskalische Wirkungen mit ein, so erhöht sich die Selbstfinanzierungsquote auf 91 %.“
Den durchschnittlichen Kosten einer ABM-Beschäftigung im Jahre 1985 von 39 000 DM pro Person und Jahr stehen gesamtfiskalisch unmittelbare Entlastungen von über 25 000 DM gegenüber. Nimmt man die durch Vorleistungs-und Einkommensmultiplikatoreffekte bedingten Arbeitsmarktentlastungswirkungen dazu, so erhöht sich die gesamtfiskalische Entlastung auf 35 000 DM „Weitere positive Wirkungen von ABM — wie z. B. vermiedene psychosoziale und gesundheitliche Belastungen und unterbliebene Dequalifizierung infolge von Arbeitslosigkeit — sind in diesem Kostenvergleich nicht berücksichtigt. Auch der gesamtgesellschaftliche Nutzen der durch ABM erbrachten Leistungen . . . wurde nicht einbezogen. Beides dürfte. . . das ohnehin geringe rechnerische Finanzierungsdefizit mehr als aufwiegen.“ Gesamtfiskalisch betrachtet, betragen die Kosten der tariflich bezahlten Beschäftigung von zwei Millionen Arbeitslosen für „den Staat“ also nur 8 Mrd. DM mehr. Selbst wenn man ausschließlich von den unmittelbaren Entlastungen ausginge (d. h. ohne Vorleistungs-und Einkommensmultiplikatoreffekte zu berücksichtigen) — Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialversicherungsträger also in den Genuß erheblicher „Gratiseffekte“ kämen —, beliefen sich die Kosten der Beschäftigung von zwei Millionen Arbeitslosen zu tariflichen Bedingungen für den Bund nur auf 28 Mrd. DM. Gemessen an der gegenwärtig diskutierten Steuerentlastung in Höhe von 44 Mrd. DM und gemessen an der Wichtigkeit, die verbal dem Problem der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit zugemessen wird, sind Kosten in dieser Höhe zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit keine ökonomische Restriktion im engeren Sinne. Diese Erkenntnis ist wichtig, um von der ökonomischen Sachzwang-und „Sparzwang“ -Ebene der bisherigen Diskussion zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit wegzukommen. Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, es handele sich beim Beschreiten dieses Weges zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit um eine Patentlösung, die einfach in die Tat umzusetzen wäre. Der Durchsetzung einer daran anknüpfenden Strategie zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, die nicht so sehr auf klotzige Ausgabenprogramme, sondern eher auf soziale Phantasie und soziale Innovation setzt, stehen mächtige und sehr durchsetzungsfähige Interessen, soziale Mechanismen und Bewußtseinsstrukturen entgegen.
III. Der gesellschaftliche Bedarf an arbeitsintensiveren Problemlösungen
Besteht also einerseits für „den Staat“, wenn gesamtfiskalisch und nicht partialbürokratisch kalkuliert wird, grundsätzlich die Möglichkeit, ein Millionenheer von Arbeitskräften über den jetzigen Zustand hinaus tariflich bezahlt zusätzlich zu finanzieren, so gibt es andererseits in vielen gesellschaftlichen Bereichen und zur Lösung vieler gesellschaftlicher Problemlagen einen erheblichen Mehrbedarf an Arbeitskräften. Dieser Bedarf soll zunächst kurz erläutert werden.
Hier ist als erstes der große Bereich der humanen Dienste, nämlich Bildung (Aus-, Fort-und Weiterbildung), Gesundheit sowie soziale Dienste und Pflege zu nennen. Im Vergleich mit anderen großen Industrienationen ist hier ein erheblicher Nachholbedarf 18a) für die Bundesrepublik festzustellen (vgl. Tabelle 1).
Dieser Bereich hat aus verschiedenen Gründen in allen hier betrachteten Ländern zugenommen, der Rückstand der Bundesrepublik ist allerdings dabei erhalten geblieben bzw. hat sich im Bereich der sozialen Dienste sogar erheblich verschärft. Beträgt der Anteil der Beschäftigten im Humanbereich An-fang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik nur 10, 7 %, so sind es demgegenüber in den USA 17, 8 % und in Schweden sogar 25, 5 %.
Dieser Trend scheint sich unabhängig von der jeweiligen Organisationsart (staatlich/privatwirtschaftlich) zu ergeben. In den USA wurde vorrangig der Weg der Kommerzialisierung der Dienste im Humanbereich beschritten — mit der Folge einer recht ungleichmäßigen Inanspruchnahme dieser Leistungen: Nur wer entsprechend bezahlen kann, erhält eine gute Versorgung, so daß hier nur ein Teil des gesellschaftlichen Bedarfs gedeckt wird. In Schweden fand dagegen die Ausweitung der humanen Dienste im wesentlichen im öffentlichen Sektor statt — mit der Folge einer egalitären Verteilung des Angebotes dieser Dienste Welcher Weg in den anderen Industrienationen auch eingeschlagen wurde — Tatsache ist der erhebliche Rückstand der Bundesrepublik in diesem Bereich. Der Rückstand wird sogar noch größer, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in Schweden und den USA die Erwerbsquote (bedingt durch die sehr hohe Erwerbstätigkeit der Frauen) größer ist als in der Bundesrepublik, pro Kopf der Bevölkerung — und das ist eigentlich der richtige Maßstab für die Qualität der Versorgung im Bereich der humanen Dienste — der Rückstand der Bundesrepublik also noch größer ist, als ihn die Prozentzahlen ausweisen. Stellt man einmal — im Bewußtsein der Problematik solcher Vergleiche, nur um Größenordnungen aufzuzeigen — den Vorsprung der USA am Anteil der Beschäftigten in den humanen Diensten von sieben Prozent oder den von Schweden von sogar 15 Prozent der Arbeitslosenrate in der Bundesrepublik von etwa neun Prozent (der Gesamtzahl der Beschäftigten) gegenüber, so wird deutlich, in welchem Ausmaß hier Beschäftigungspotentiale bestehen
Der Rückstand der Bundesrepublik gegenüber anderen Industrienationen im Bildungsbereich ist zwar nicht mehr ganz so kraß wie Anfang der sechziger Jahre, er ist jedoch nach wie vor evident: 4, 6 Prozent der Beschäftigten sind hier im Bereich der Bildung tätig, demgegenüber 7, 8 bzw. 7, 6 Prozent in den USA bzw. in Schweden. Wurde wegen des Rückstandes im Bildungsbereich Ende der sechziger Jahre Alarm geschlagen, ein Rückfallen in die Zweitrangigkeit befürchtet und dementsprechend der Ausbau des Bildungswesens forciert vorangetrieben, so wird heute allgemein von einer „Überversorgung“ gesprochen und entsprechende Einsparungen getätigt.
In den Schulen etwa könnte auf Grundlage der vorhandenen Anzahl voll ausgebildeter, aber z. T. arbeitsloser Lehrer die Bildung und Ausbildung wesentlich verbessert werden. Aber einen pädagogisch begründeten Mehrbedarf an Lehrern melden angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Stimmung der Deutsche Beamtenbund, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bundeselternrat nur noch verschämt an Und wissenschaftlich heißt es auch nur noch defensiv: „Grundsätzlich kann die pädagogische Wünschbarkeit einer offensiven Einstellungspolitik der Länder nicht bestritten werden.“ Statt dessen werden die demographischen Entwicklung und die Anzahl ausgebildeter Lehrer zusammen mit dem angeblichen „Spar-Zwang“ in „den“ öffentlichen Haushalten als Argument zum Beweis der Uberversorgung benutzt. Aber allein — um beim internationalen Vergleich zu bleiben — ein Aufholen des Rückstandes in der Schüler-Lehrer-Relation gegenüber der DDR hätte schon 1984 der zu-sätzlichen Einstellung von 86151 Lehrern bedurft In der Bundesrepublik gab es nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 1985 71 700 arbeitslose, voll ausgebildete Lehrer
Ein erheblicher Mehrbedarf an Beschäftigung im Bildungsbereich ergäbe sich schließlich aus einer Verwirklichung gewerkschaftlicher Forderungen von denen hier nur die wichtigsten erwähnt seien: Da verschiedene Studien eine tatsächliche Arbeitszeit der Lehrer von über 45 Stunden pro Woche ausweisen soll die wöchentliche Pflichtstundenzahl aus Gründen der Arbeitszeitgerechtigkeit gesenkt werden. Von der Verwirklichung der 35-Stunden-Woche im Bereich der Schule verspricht sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft neben der um 60 000 Personen erhöhten Beschäftigung grundsätzlich eine verbesserte Qualität der pädagogischen Arbeit Von dem im Rahmen der Gewerkschaft diskutierten „Sabbathjahr“ (einem längeren Urlaub zur Fortbildung) wird erwartet, daß es neben dem Effekt eines einmaligen Mehrbedarfs von 70 000— 80 000 Lehrern erstmals eine echte, intensive Fortbildung ermöglicht Aufdas Schulwesen im Rahmen der Bildungspolitik ist hier wegen des quantitativen Gewichts und der besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit etwas intensiver eingegangen worden. Ähnlich läßt sich für die weiterführende Bildung, für die Erwachsenenbildung insgesamt argumentieren.
Neben dem quantitativen, im internationalen Vergleich offenkundigen Rückstand an Beschäftigten im bundesdeutschen Gesundheitswesen weisen vor allem zwei Problembereiche auf einen erhöhten Beschäftigungsbedarf und auf arbeitsintensivere gesundheitspolitische Lösungen hin: Der Anteil der chronisch Kranken an der Gesamtzahl der kranken Personen hat sich in den letzten Jahren drastisch erhöht Der Dominanz chronischer Krankheiten sowohl bei den Todesursachen als auch im Krankheitsgeschehen steht die heutige, überwiegend auf Kuration ausgerichtete Medizin relativ hilflos gegenüber bzw. verrichtet faktisch eine Sysiphusarbeit. „Eine sinnvolle Behandlung ist in erster Linie als Betreuung zu verstehen, d. h. als Unterstützung bei der Bewältigung von Krankheit.“ Die Abkehr von der Medikalisierung des Krankheitsverhaltens, die mit einer solchen Behandlungsmethode verbunden wäre, kann letztlich auch zu erheblichen Einsparungen führen: „Eine inhaltliche Umorientierung macht auch Mittel frei, die personal-intensive persönliche und soziale Hilfen ermöglichen.“ Mit den oben aufgezeigten Möglichkeiten einer „billigen“ Finanzierung tariflich bezahlter Arbeitskraft ließe sich zudem dem interessenbedingten, gegenwärtig noch sehr durchsetzungsfähigen Widerstand gegen solche arbeitsintensiveren Problemlösungen leichter begegnen.
Das weit überproportionale Anwachsen der chronischen Krankheiten bei Personen unter 65 Jahren weist darauf hin, daß diese Zunahme nicht primär demographisch, sondern vor allem durch Umwelt-faktoren im weitesten Sinn bedingt ist (z. B. zunehmende Allergien bei Kindern). Überhaupt dominieren heute Todesursachen, die „durch Umwelt-faktoren und Verhaltensformen bedingt (sind), die sich die Menschen selber geschaffen haben“ und denen bisher „die Medizin mit medizinischen Maßnahmen hilflos gegenübersteht“
Neben der Behandlung als Betreuung tut sich also ein weites Feld von Primärprävention d. h.des Identifizierens und Zurückdrängens krankheitserregender Umwelteinflüsse auf. Erfolge bei einer Verbesserung der Volksgesundheit sind vor allem an dieser „Front“ der Gesundheitspolitik zu erwarten, denn trotz der gegenwärtigen Kostenlawine im Medizinsektor hat sich der Gesundheitsstatus der Gesamtbevölkerung nicht zum Besseren verändert Zur Verwirklichung dieses arbeitsintensiveren Wegs der Primärprävention zur Verbesserung der Volksgesundheit wird gegenwärtig u. a. eine Reaktivierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der kommunalen Gesundheitspolitik diskutiert Ebenfalls im Gespräch sind „regionale arbeitsmedizinische Zentren nach dem Vorbild der italienischen Arbeitermedizin, in denen Arbeitsmediziner, Schadstoffexperten, Sicherheitsingenieure, Arbeitsrechtler und entsprechend ausgebildete Sozialarbeiter zusammenarbeiten“
Im Bereich der sozialen Dienste und der Pflege ist der Rückstand der Bundesrepublik gegenüber anderen Industrienationen besonders ausgeprägt. Die demographische Entwicklung, d. h.der wachsende Anteil der alten Bevölkerung sowie die aus verschiedenen Gründen sich verringernden Möglichkeiten der familiären Pflegepraxis weisen auf einen weiter wachsenden Bedarf in diesem Bereich hin Gegenüber den „reinen Lehren“ der Vermarktung der Pflegedienste und der Hilfsbedürftigkeit, der Rückverlagerung solcher Dienste in die Familie bzw. „ins Ehrenamt“ oder dem Ersetzen bisheriger Selbsthilfepotentiale durch professionelle Erwerbsarbeit in sozialen Großorganisationen (bei der Altenbetreuung polemisch „Pflegefabriken außerhalb der Gemeinschaft“ genannt) gegenüber diesen „reinen Lehren“ haben sich in den letzten Jahren konzeptionell und praktisch im Zusammenhang mit der Selbsthilfebewegung grundlegend andere, arbeitsintensivere „humanere“ Problemlösungen herauskristallisiert, die entgeltliche und unentgeltliche personale Dienstleistungen bzw. Eigenarbeit zu verknüpfen versuchen und damit zu einem ganz anderen, qualitativ sehr viel höher einzuschätzenden Niveau der Versorgung kommen. Als bekanntestes Beispiel dafür sei etwa auf die Sozialstationen verwiesen Derartige Ansätze bedürfen dringend weiterer Förderung. Insgesamt kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß sowohl quantitativ wie qualitativ unter verschiedenen Kriterien erhebliche Defizite in den Bereichen der humanen Dienste vorhanden sind. Zur Behebung dieser Defizite bedarf es kaum großer Investitionen, sondern vor allem zusätzlicher (tariflich bezahlter) Arbeitskraft und einer größeren Sensibilität für soziale Innovation.
Neben dem großen Bereich der humanen Dienste, in dem relativ einfach — die Betonung liegt auf relativ — die Beschäftigung ausgeweitet werden kann, gibt es ein weites Feld von gesellschaftlichen Problemlagen, bei denen — zumindest von einem sehr großen Teil der Bevölkerung — die arbeitsintensiveren Lösungen als die vernünftigeren angesehen werden. Hier ist allerdings die höhere Beschäftigung jeweils mit größeren Investitionen bzw. mit größeren Umstrukturierungen verbunden.
Vernünftigere Lösungen im Bereich der Energiepolitik sind in erheblichem Ausmaß mit einer Zunahme von Arbeitsplätzen verbunden:
Durch das Vermeiden von Energieverlusten im Umwandlungsbereich, etwa durch Kraft-Wärme-Koppelung und den Ausbau der Fernwärmeversorgung sowie durch Wärmedämmprogramme könnte z. B.der Brennstoffverbrauch der Bundesrepublik für Heizzwecke auf ca. 40 % abgesenkt werden Die bilanzierten Beschäftigungsgewinne eines derartigen Programms betragen für einen Zeitraum von 15 Jahren 180 000 bis 200 000 zusätzliche Arbeitsplätze „Für Investitionsprogramme im Bereich rationeller Energieverwendung spricht vor allem, daß für jede in diesem Sektor ausgegebene Mark drei-bis viermal so viele Arbeitsplätze geschaffen werden, als wenn dieses Geld für Ölimporte ausgegeben wird.“ Hält man die gegenwärtig vorrangigen Energiequellen Kohle, Öl und Kernenergie aus Gründen der Umweltverschmutzung, der außenwirtschaftlichen Abhängigkeit und der Unfallgefahren für problematisch, bietet sich neben der allgemeinen Verringerung des Verbrauchs eine Erhöhung des Anteils anderer Energiequellen wie Sonne, Umweltwärme, Wind und Wasser an. Bei der Substitution erschöpfbarer durch unerschöpfliche Energie ergäben sich „beachtliche Beschäftigungseffekte“
Der Umweltschutz beispielsweise ist entgegen der früher weitverbreiteten Meinung kein „Job-Killer“
geworden — im Gegenteil „Ohne Umwelt-schütz hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland deutlich mehr Arbeitslose.“ Das Ifo-Institut nennt für 1980 einen saldierten Gesamteffekt der Umweltschutzmaßnahmen in der Bundesrepublik von 410 000 Arbeitsplätzen Durch weitergehende Umweltschutzmaßnahmen als gegenwärtig könnten der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Gesundheits-, Material-und Vegetationsschäden in Milliardenhöhe erspart bleiben Lutz Wicke vom Umweltbundesamt etwa rechnet bei Verwirklichung seines Programms „Umwelt, Markt und Arbeit“ mit 250 000 bis 300 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Der Bereich der Stadt-und Dorferneuerung „ist heute eine Querschnittsaufgabe, die vielfältige kommunale Aufgabenbereiche umfaßt wie z. B.
— die Stadtsanierung im engeren Sinn, — die Revitalisierung von Großwohnanlagen, — den Verkehrsbereich, — die technische Entsorgung (Abwasser-und Abfallbeseitigung, Altlastensanierung), — kommunale Energieversorgung, — Gewerbeflächenrecycling und Gewerbestandortsicherung
Dies sind alles Aufgaben mit hohen Beschäftigungseffekten. In der Abfallwirtschaft z. B. sind im Gegensatz „zur heute vorherrschenden Abfalldeponierung, die nur ein Minimum an Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, . . . höherwertige Verfahren der Abfallvermeidung und Abfallverwertung wesentlich beschäftigungsintensiver“ Zur Verwirklichung derartiger Verfahren sind zusätzliche Arbeitsplätze in der Größenordnung von über 100 000 erforderlich
Eine Verschiebung der Prioritäten in der Verkehrspolitik von den verkehrstechnischen Großinvestitionen hin zur kommunalen Verkehrssanierung hätte ebenfalls erhebliche beschäftigungspolitische Effekte. „Das rechnerische jährliche Beschäftigungsvo-lumen der kommunalen Verkehrssanierung beträgt 480 000 Arbeitsplätze. Es ist etwa siebenmal höher als das vergleichbare Beschäftigungsvolumen, das eine ähnlich große Summe im Bereich verkehrlicher Großinvestitionen sichern könnte.“
Die ökonomische und ökologische Misere der Landwirtschaft in der Bundesrepublik ist bekannt Die Untersuchungen über eine stärker ökologisch orientierte Landwirtschaft kommen u. a. zu dem Ergebnis, daß sie einen höheren Arbeitseinsatz erfordert Es wird geschätzt, „daß der ökologische Landbau derzeit pro Hektar Landnutzungsfläche gut 20 Prozent mehr Arbeit benötigt als die konventionelle Landwirtschaft“
Diese Hinweise mögen hier als Überblick zu den arbeitsintensiveren, aber qualitativ zumeist sinnvolleren Problemlösungen genügen — seien sie mit relativ geringen Investitionen verbunden, wie z. B. im Bereich der humanen Dienste, oder seien sie eingebettet in umfangreichere Investitionsprogramme und Umstrukturierungen, wie sie im zweiten Teil der Darstellung aufgezeigt werden.
Wie wären nun die Möglichkeiten „des Staates“, also von Bund, Ländern und Kommunen, anstelle der Finanzierung von Arbeitslosigkeit tariflich bezahlte zusätzliche Arbeitskraft in großem Umfang zur Verfügung zu stellen und die von vielen der genannten Problemlagen her sich anbietenden arbeitsintensiveren Lösungen „zusammenzubringen“? Als Weg bietet sich auf den ersten Blick an, an die bisherige aktive Arbeitsmarktpolitik anzuknüpfen. Ob dieser Weg auch wirklich gangbar ist, soll im folgenden erwogen werden.
IV. Zum Konzept der bisherigen aktiven Arbeitsmarktpolitik
Das Konzept der „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ wurde Anfang der fünfziger Jahre von Rudolf Meidner und Gösta Rehn in den Forschungsabteilungen der schwedischen Gewerkschaften entwikkelt. Es geht davon aus, daß die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung immer wieder konjunkturelle und strukturelle Arbeitslosigkeit erzeugt, die auch die staatliche Wirtschaftspohtik nur begrenzt bekämpfen kann, da globale Nachfrageausweitungen inflationär wirken und Erhaltungssubventionen die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährden Soll Arbeitslosigkeit trotzdem vermieden werden, so muß die Arbeitsmarktpolitik dazu einen Beitrag leisten, und zwar vor allem durch Förderung der geographischen und beruflichen Mobilität, durch berufliche Qualifizierung und Umschulung und schließlich (zweitrangig), wenn andere Maßnahmen ausgeschöpft sind, durch das vorübergehende Angebot von Ersatzarbeitsplätzen
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die „aktive Arbeitsmarktpolitik“ 1969 nach den Erfahrungen der Rezession 1966/67 und auf Empfehlungen der OECD und der ILO mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gesetzlich fixiert Ziele und Instrumente entsprechen weitgehend der schwedischen Konzeption. Der zentrale Unterschied gegenüber dem schwedischen Modell besteht darin, daß in Schweden die aktive Arbeitsmarktpolitik aus Steuergeldem finanziert wird, in der Bundesrepublik demgegenüber aus dem Aufkommen der Arbeitslosenversicherung; nur die Defizite im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit (BA) müssen vom Bundeshaushalt getragen werden Mit den Maßnahmen nach dem AFG soll „ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert und damit das Wachstum gefördert“ werden (§ 1 AFG). „Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beizutragen, daß . . . weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten und fortdauern“ (§ 2 AFG). Neben beschäftigungsfördernden und beschäftigungserhaltenden Instrumenten wie Kurzarbeitergeld (1986: 200 000 Empfänger) Zuschüsse zum Vorruhestand (1986: 60 000 Fälle), Eingliederungsbeihilfen, Winterbauförderung etc. besteht das Instrumentarium der BA gegenwärtig im wesentlichen aus Vermittlungsaktivitäten. Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung (Unterhaltsbeihilfeempfänger 1986: 130 000) und aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (1986: 100 000). Ließen sich nun, auf dem Hintergrund der gesetzlichen Verpflichtung zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung mit dem Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik durch die BA — insbesondere dem der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — die anfangs dargestellten Möglichkeiten „des Staates“, tariflich bezahlte zusätzliche Arbeitskraft in großem Umfang zur Verfügung zu stellen, mit den arbeitsintensiveren Problemlösungen in vielen Bereichen zusammenbringen? Entgegen der an anderer Stelle etwas optimistisch geäußerten Vermutung, daß durch eine weitgehende Demokratisierung, eine Art „Instandbesetzung der Bundesanstalt für Arbeit“ derartiges in die Wege geleitet werden könne sollen hier stärkere Zweifel angemeldet werden.
Als erstes steht dem das Selbstverständnis der BA entgegen. Sie fühlt sich entgegen der Zielformulierung im AFG nicht primär für die beschäftigungspolitischen Aufgaben der Gesellschaft verantwortlich Faktisch liegt „die Verantwortung für die Entstehung und Beseitigung von Arbeitslosigkeit nach wie vor in der Zuständigkeit der Konjunktur-und Wachstumspolitik, während in Schweden die Wirtschaftspolitik sich eher auf die Arbeitsmarkt-politik verlassen hat — konsequenterweise, da diese ja gerade konzipiert worden war, um die Wirtschaftspolitik von dem inflationstreibenden Zwang einer Vollbeschäftigung um jeden Preis zu entlasten“ Dementsprechend wird gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland von der BA die Zahl von 122 000 ABM-Beschäftigten als absolute Obergrenze dessen genannt, was der „zweite Arbeitsmarkt“ leisten könne
Entsprechend diesem Selbstverständnis der BA gelang es in der Bundesrepublik Deutschland nicht — obwohl ein ähnliches Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorhanden ist wie in Schweden —, den Anstieg der Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. In Schweden waren 1984 nur 2, 8 % der Arbeitskräfte arbeitslos gemeldet (1985: 2, 5 %) aber 4 % aller Erwerbspersonen waren in verschiedenen Arbeitsbeschaffungsprogrammen tätig In der Bundesrepublik Deutschland betrug 1984 die Quote der registrierten Arbeitslosigkeit 9, 1 % (1985: 9, 3 %) während nur ungefähr ein Prozent von der aktiven Arbeitsmarktpolitik erfaßt wurde Dieser geringe Erfolg der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik legt die Vermutung nahe, daß in der Institution der BA und bei den Politikern nicht nur ein anderes Selbstverständnis vorherrscht, sondern offenbar auch der Wille, auf jeden Fall eine Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, nicht so ausgeprägt vorhanden ist wie in Schweden. In Schweden hatte 1976 bis 1982 sogar die bürgerliche Koalitionsregierung nach vierzigjähriger sozialdemokratischer Herrschaft, während der die Vollbeschäftigung zur unantastbaren gesellschaftlichen Norm geworden war, eine derartige Furcht vor dem Anstieg der Arbeitslosen-zahlen, daß sie weitreichende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergriff, die auch erfolgreich waren.
Das Argument, daß für den Unterschied zwischen Schweden und der Bundesrepublik Deutschland vor allem unterschiedliche Finanzierungsmodi verantwortlich seien greift m. E. nicht. Die schwedische Finanzierung über den Staatshaushalt ist sogar noch leichter Sparoperationen zugänglich als der Finanzierungsmodus in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem der Staatshaushalt nur für die gegebenenfalls entstehenden Defizite der Bundesanstalt für Arbeit aufzukommen hat. Neben dem eben aufgezeigten anderen Selbstverständnis der BA ist dafür ursächlich, daß auch in den Jahren erheblicher Überschüsse dort diese Überschüsse nicht in relevantem Maße zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit verwandt, sondern anderen Verwendungszwecken zugeführt wurden (s. u.). Das waren natürlich auch politische Entscheidungen. Da aber die Politiker häufig nur das durchsetzen, was „ihre“ Verwaltung will bzw. politische Entscheidungen gegen den erklärten Willen der Verwaltung nicht oder nur sehr schwer durchzusetzen sind, so trifft die Kritik an bestimmten politischen Entscheidungen auch die gesamte entsprechende Verwaltung — hier die Arbeitsverwaltungen im Ministerium und der BA. Das gilt auch für die 1975 mit dem Haushaltsstrukturgesetz vorgenommene Schwerpunktverschiebung weg von der „vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik“ (1969 noch vom damaligen CDU-Bundesarbeitsminister Katzer als große Errungenschaft gefeiert) hin zur „reaktiven Bewältigung und Absicherung des Risiko-falls Arbeitslosigkeit“ Damit zusammenhängend wurde ein ursprünglich programmatischer Bestandteil aktiver Arbeitsmarktpolitik, nämlich die Beeinflussung der Arbeitsplatzstruktur, immer mehr aus der Problem-und Zieldefinition öffentlicher Arbeitsmarktpolitik ausgeblendet Gerade hier aber hätte eine Strategie der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit über die Förderung arbeitsintensiverer Problemlösungen für verschiedene gesellschaftliche Bereiche gut anknüpfen können. Statt dessen steht gegenwärtig eindeutig die „Zielgruppenorientierung“ im Vordergrund. Es wird fast ausschließlich, am Kriterium der Vermittelbarkeit ansetzend, versucht, personengebundene Defizite bzw. Vermittlungshemmnisse abzubauen — als ob damit die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen wäre.
Ob diese Ausrichtung der Politik der Arbeitsverwaltung verändert werden kann hin zu einer Phantasie, Kreativität und Engagement erfordernden Struktur-und Beschäftigungspolitik, wie der weiter unten dargelegte Vorschlag es impliziert, erscheint allerdings zweifelhaft. Der — gemessen an den schwedischen Aktivitäten — geringe Wille zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit sowie der Verzicht, Einfluß auf die Arbeitsplatzstruktur zu nehmen — d. h. letztlich die unzureichende Erfüllung des gesetzlichen Auftrages — setzen sich fort in der offenbaren Schwierigkeit, das eigene Ressort und damit den eigenen Haushalt gegenüber dem Zugriff fremder Interessen zu verteidigen bzw. auszuweiten. So ist der Haushalt der BA — etwas überspitzt formuliert — zu einem „Selbstbedienungstopf“ geworden, von dem viele profitieren, ohne daß die Arbeitslosigkeit damit beseitigt würde: Bereits 1977/78 wurde die vorübergehend bessere Finanzlage der BA zum Auffüllen der Rentenkassen durch Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose genutzt Der Haushaltsüberschuß der BA Ende 1984 in Höhe von drei Mrd. DM wurde ebenfalls wenig für aktive Arbeitsmarktpolitik genutzt. Von einem Tausch der Beitragssätze, d. h. von der befristeten Erhöhung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung der Arbeiter, der Angestellten und in der knappschaftlichen Rentenversicherung um 0, 2 Prozent bei gleichzeitiger unbefristeter Senkung des Beitragssatzes zur BA in entsprechendem Umfang profitierten ebenfalls die Rentenkassen. Im Zeitraum 1985 bis 1988 gelangen sie durch diese Maßnahme in den Genuß von Mehreinnahmen in Höhe von 6, 5 Mrd. DM zulasten von entsprechenden Mindereinnahmen der BA Nach Ablauf der befristeten Erhöhung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung profitieren u. a. die Unternehmen von dieser Senkung der Lohnneben-kosten. Weiterhin ist geplant, bisherige Aufgaben des Bundes (z. B. Sprachförderung von Aussiedlern, Förderung benachteiligter Jugendlicher) in Zukunft durch die BA finanzieren zu lassen (Kosten: jährlich fast eine Mrd. DM Und durch die Mitfinanzierung der Vorruhestandsregelung aus Mitteln der BA wurde einer Spaltung des Gewerkschaftslagers im Kampf um die 35-Stunden-Woche Vorschub geleistet
Bei den Ausgaben für die berufliche Bildung ist im Etat 1987 die Rekordsumme von 5, 6 Mrd. DM vorgesehen. Viele Unternehmen profitieren davon, daß sie ihre , „ureigene Aufgabe“ der beruflichen Weiterbildung und den Ausgleich von Mängeln der beruflichen Erstausbildung von den Arbeitsämtern finanzieren lassen „Die wirklichen Problem-gruppen des Arbeitsmarktes werden mit der Weiterbildung der Arbeitsämter jedenfalls nicht erreicht.“ Es handele sich hierbei um „eine offene Subventionierung der Betriebe“ aus den Mitteln der BA Zudem werden in zunehmendem Maße mit diesen Mitteln private Bildungsinstitutionen finanziert, deren Unübersichtlichkeit, mangelnde Koordination und mangelnde Effektivität vielfach beklagt wird Außerdem werde durch Weiterbildung an sich, gesamtgesellschaftlich gesehen, die Arbeitslosigkeit — außer durch die neuen Stellen für die Ausbilder — nicht reduziert
Ohne die Qualifizierungspolitik insgesamt grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, sei hier festgehalten, daß gegenwärtig mit den Mitteln der BA im Bereich der beruflichen Bildung eine Effektivierung derjenigen Wirtschaftsentwicklung betrieben wird, die ja gerade mit zur Massenarbeitslosigkeit geführt hat und die diese Entwicklung alleine, auch bis weit über das Jahr 2000 hinaus, nicht beseitigen wird. Wäre es da im Interesse der Beseitigung der Arbeitslosigkeit nicht sinnvoller, die Mittel der BA wesentlich stärker für Qualifizierungsmaßnahmen zugunsten einer die anfangs aufgezeigten arbeitsintensiven Problemlösungen bevorzugenden Struktur-und Beschäftigungspolitik einzusetzen? Ein ganz zentraler Bereich der Praxis der BA schließlich, der diskutiert werden muß, um beurteilen zu können, ob eine die arbeitsintensivere Problemlösungen fördernde Strategie daran anknüpfen könnte, sind die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Nach §§ 91— 96 AFG erhalten bestimmte Träger wie Kommunen, Wohlfahrtsverbände, freie gemeinnützige Träger etc., in Ausnahmefällen auch die Privatwirtschaft, auf Antrag von der BA, d. h. vom örtlichen Arbeitsamt, zwischen 60 und 100% des tariflichen Arbeitsentgelts (bis zu 90 % der Projektkosten) für eine zeitlich befristete Tätigkeit (in der Regel zweimal ein Jahr, das dritte Jahr nur bei Übernahmeverpflichtung des Trägers), wenn sie einen schwervermittelbaren oder Langzeitarbeitslosen einstellen. Diese Tätigkeit muß im öffentlichen Interesse liegen sowie „zusätzlich“ sein (d. h. diese Tätigkeit darf sich nicht dafür eignen, auf dem freien Markt erbracht zu werden, und sie darf nicht in den tradit AFG erhalten bestimmte Träger wie Kommunen, Wohlfahrtsverbände, freie gemeinnützige Träger etc., in Ausnahmefällen auch die Privatwirtschaft, auf Antrag von der BA, d. h. vom örtlichen Arbeitsamt, zwischen 60 und 100% des tariflichen Arbeitsentgelts (bis zu 90 % der Projektkosten) für eine zeitlich befristete Tätigkeit (in der Regel zweimal ein Jahr, das dritte Jahr nur bei Übernahmeverpflichtung des Trägers), wenn sie einen schwervermittelbaren oder Langzeitarbeitslosen einstellen. Diese Tätigkeit muß im öffentlichen Interesse liegen sowie „zusätzlich“ sein (d. h. diese Tätigkeit darf sich nicht dafür eignen, auf dem freien Markt erbracht zu werden, und sie darf nicht in den traditionellen Aufgabenbereich einer staatlichen Institution oder eines freien Trägers fallen). 1986 waren etwa 100 000 Beschäftigte in diesem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt tätig 92). Hinsichtlich der offiziell formulierten Ziele haben sich in der Praxis folgende arbeitsmarktpolitische Probleme ergeben:
— Die Maßnahmenträger (vor allem die Kommunen) bauen reguläre Arbeitsverhältnisse ab und lassen ABM-Kräfte die entsprechende Tätigkeit verrichten. — Es bietet sich normalerweise für die ABM-Geförderten keine Perspektive nach Beendigung der Maßnahme. Weniger als sieben Prozent (!) werden anschließend in Dauerarbeitsverhältnisse übernommen 93).
— Der „stillen Reserve“, d. h.den etwa 1, 3 Millionen nicht beim Arbeitsamt registrierten Arbeitslosen, ist der Zugang zu solchen Stellen verwehrt.
Die politisch-gesellschaftlichen Probleme der ABM-Strategie sind in folgendem zu sehen:
— Sie trägt insgesamt zur politischen Beruhigung, zur geringeren Empörung über den Skandal der Arbeitslosigkeit bei.
— Sie trägt dazu bei, Arbeitsverträge auf Zeit gesellschaftlich „hoffähig“ zu machen bzw. gesellschaftlich durchzusetzen.
— Sie effektiviert die „Sortierung“ der Arbeitslosen, indem die ABM-Zeit oft eine permanente Probezeit für die wenigen Dauerstellen ist.
— Sie ist vor allem eine Aufbewahrungsstrategie ohne Perspektive, mit der die Zahl der registrierten Arbeitslosigkeit vermindert wird (1986 wurde mit dem Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente die Zahl der registrierten Arbeitslosigkeit um etwa 300 000 Personen gesenkt 94)).
— Sie erfüllt die Funktion der Durchsetzung einer Reallohnsenkung für alle Qualifikationsniveaus, indem zwar tariflich bezahlt wird, häufig aber nur 2/3-, 3/4-etc. Stellen vergeben werden, auf denen faktisch oft die gleiche Arbeit zu verrichten ist wie auf einer Vollzeitstelle 95). Politisch engagierte Arbeitsmarktforscher wie z. B. Grottian und Strümpei unterstützen faktisch diesen Effekt, indem sie „dem System“ immer „billigere“ Angebote zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit machen — nämlich mit diesen 2/3-oder 3/4-Stellen 96).
— Und schließlich — ganz besonders wichtig — trägt die ABM-Strategie, mit der häufig Tätigkeiten in den Bereichen Soziales, Umwelt, Kultur etc. finanziert werden, zur gesellschaftlichen Entwertung, zur geringeren Wertschätzung dieser Bereiche bei, da der ABM-Strategie immer etwas von Beschäftigungstherapie anhaftet, die damit finanzierten Arbeiten also gesellschaftlich angeblich nicht so wichtig sind.
Die aufgezeigte Praxis, die sichtbar gewordene politische Funktion der ABM-Strategie sprechen eher dagegen, eine an arbeitsintensiven Problemlösungen orientierte Struktur-und Beschäftigungspolitik hieran anknüpfen zu lassen. Auch wird der gegenwärtige Umfang der ABM in Höhe von 122 000 . Beschäftigten — der die Massenarbeitslosigkeit ja keineswegs beseitigt — von der BA als absolute Obergrenze dessen genannt, was mit diesem Instrument zu leisten sei Weiterhin hat die „Stop-andgo-Politik" der letzten Jahre bei den ABM das Herausbilden verläßlicher, kontinuierlicher Strukturen, mit denen Institutionen auch längerfristig kalkulieren könnten, verhindert. Es spricht wenig dafür, daß sich das so ohne weiteres ändern ließe. Ebenso behindern die relativ kurzen Laufzeiten der ABM die Kontinuität, die erforderlich ist, um arbeitsintensivere Problemlösungen anzugehen.
Vor allem aber dürfte eine derartige Struktur-und Beschäftigungspolitik die qualifikationsmäßige Kompetenz der BA bzw. vor allem der örtlichen Arbeitsämter bei weitem überfordern. Um sie zu verwirklichen, wäre ein hochqualifizierter Stab von Leuten notwendig (näher dazu weiter unten), die sowohl die Personalpolitik der betroffenen Institutionen beurteilen (um z. B. einen ungerechtfertigten Abbau von Beschäftigung auf Kosten der Beschäftigungssubvention zu verhindern) als auch die angestrebten arbeitsintensiven Problemlösungen unterstützen können. Schließlich müßte auch eine Verrechnungsinstitution gegründet werden, die für den gesamtfiskalischen Ausgleich sorgt, auf dessen Hintergrund „der Staat“ ja nur in der Lage wäre, so „billig“ tariflich bezahlte Arbeitskraft in so großen Dimensionen, wie anfangs dargelegt, zur Verfügung zu stellen.
Ob das alles im Rahmen der bestehenden Institution der Bundesanstalt für Arbeit bzw.der Arbeitsämter ohne so große Friktionen möglich wäre, daß damit nicht das Erreichen des eigentlichen Zieles be-oder gar verhindert wird, ist zwar nicht völlig auszuschließen, erscheint aber doch sehr zweifelhaft. Zweifelhaft vor allem deshalb, weil für eine derartige neue Politik sich die politische Zusammensetzung der Entscheidungsgremien der BA verändern müßte. Dazu kann hier kein konkreter Vorschlag gemacht werden, aber neben den Gewerkschaften, Unternehmern und Vertretern der öffentlichen Hand gehörten m. E. zur Verwirklichung des genannten Weges zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit auch Vertreter eines „sanfteren Zukunftsmodells“, der Arbeitsloseninitiativen etc. in die Entscheidungsgremien der BA. Dies dürfte letztlich aber wohl schwerer durchsetzbar sein, als eine neue Institution zu gründen.
Aber selbst wenn dies politisch durchzusetzen wäre, ist auf dem Hintergrund des bisher Gesagten zu vermuten, daß die Verwaltung der BA hier wohl einfach „mauern“ würde. In England z. B. mußte die Labour-Party in den Kommunen, in denen sie die politische Mehrheit hatte, zur Verwirklichung ihrer lokalen beschäftigungspolitischen Vorstellungen teilweise völlig neue Institutionen parallel zur bestehenden Verwaltung gründen, da dort mit unterschiedlichsten Methoden Boykott betrieben wurde Die Gesamteinstellung der Verwaltung, auch der Arbeitsämter „vor Ort“, könnte sich also (muß es allerdings nicht notwendigerweise) als ein zentrales Hindernis herausstellen. Und vielleicht sollte man schon allein, um der gesellschaftlichen Entwertung von über das Arbeitsamt finanzierten Tätigkeiten vorzubeugen — hier der arbeitsintensiven Problemlösungen — daran denken, eine völlig neue Institution für diese neuen Aufgaben zu schaffen.
V. Eine neue Institution zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit?
Wie könnte nun eine solche Institution aussehen? Institutionen sind , geronnene'gesellschaftliche Machtverhältnisse und in gewissen Grenzen vorweggenommene Entscheidungen. Daß die derzeitigen Institutionen zur Koordination des Arbeitsmarktes kein akzeptables Gesamtergebnis zustandebringen, kann eigentlich nur bezweifeln, wem die gegenwärtigen Massenarbeitslosigkeit und ihre perspektivische Fortexistenz bis weit über das Jahr 2000 hinaus gleichgültig oder — aus welchem Grund auch immer — ins eigene Interessenkalkül paßt.
Die Neugründung einer Institution, die die Möglichkeiten „des Staates“, in großem Umfang relativ „billig“ tariflich bezahlte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, mit einer Förderung der oben aufgezeigten arbeitsintensiveren Problemlösungen „zusammenbringt“, könnte die gegenwärtigen „geronnenen“ gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die festgefahrene Situation auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen — bzw. umgekehrt: Nur eine breite Koalition gesellschaftlicher Kräfte, verbunden mit einer breiten gesellschaftlichen Basisbewegung, könnte die Gründung einer derartigen neuen Institution zustandebringen. Sie wäre dann allerdings auch der Ausdruck der Tatsache, daß in unserer Gesellschaft nicht nur — wie gegenwärtig vorherrschend — ein profit-und machtorientiertes technisch-administratives Ideal für die Praxis in vielen gesellschaftlichen Bereichen bestimmend ist, sondern dies institutionell korrigiert wird durch ein sozialeres, sanfteres, auch stärker ökologisch orientiertes Ideal.
Mit dem Wegfall des „Totschlag-Argumentes“ der ökonomischen Sachzwänge im engeren Sinne gegenüber vielen vernünftigeren Lösungen gesellschaftlicher Problemlagen könnte eine neue Aufbruchstimmung zur Schaffung einer sozialeren, humaneren Kulturgesellschaft entstehen. Und ohne utopische Intentionen gibt es keine sozialen Bewegungen. Aber das ist zunächst Zukunftsmusik, und wir wollen uns wieder den handfesteren praktischen Problemen der Gründung einer solchen Institution zuwenden.
Eine derartige Institution hätte als erstes entsprechend einer gesamtfiskalischen Betrachtungsweise die Kosten, die gegenwärtig durch die Massenarbeitslosigkeit bei den verschiedenen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen anfallen (vgl. Tabelle 2), als Kapital für die oben aufgezeigte relativ billige Finanzierung tariflich bezahlter Arbeitskraft zusammenzubringen.
Diese verschiedenen Institutionen müßten sich verpflichten, ihre beim jetzigen Stand der Arbeitslosigkeit anfallenden Kosten bzw. die Mehreinnahmen beim Abbau dieser Arbeitslosigkeit der gesamtfiskalischen Verrechnungsstelle der neuen Institution zuzuführen. Dieser „bürokratische Solidarpakt“ sollte vorerst für die Dauer etwa eines Arbeitslebens von 30 oder 40 Jahren für zwei Millionen Menschen geschlossen werden, damit Dauerstellen entstehen, mit denen, langfristig kalkuliert, Struktur-politik betrieben werden kann und sich entsprechende funktionsfähige soziale Strukturen herausbilden können (im Gegensatz zu der oben kritisierten Kurzfristigkeit und dem Charakter von ständigen Übergangslösungen bei den ABM). Diese Dauer des Solidarpaktes kann bis zum Jahr 2000 mit den entsprechenden Perspektivrechnungen zum Ausmaß der Arbeitslosigkeit legitimiert werden. Darüber hinaus ist ja erstens keineswegs gesagt, daß die Arbeitslosigkeit danach geringer sein wird, und zweitens kann zur Legitimation weiterhin (neben dem Hinweis auf die „stille Reserve“) mit einer gesellschaftspolitisch erwünschten Erhöhung der Erwerbsquote argumentiert werden, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Erwerbsquote in der Bundesrepublik 64, 3% beträgt, während sie etwa in Schweden bei 81, 5% liegt „Solidarpakte“ zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit sind schon viele vorgeschlagen worden. Der hier einer gesamtfiskalischen Betrachtungsweise entspringende Vorschlag eines Solidarpaktes verschiedener staatlicher und halbstaatlicher Institutionen hat zuerst einmal den — die Akzeptanz sicher erhöhenden — Vorteil, daß er sie „nichts kostet“. Allein der Bund müßte — wie anfangs aufgezeigt — den übrigbleibenden Differenzbetrag für die tarifliche Bezahlung zusätzlich aufbringen (für die Er-werbstätigkeit von zwei Millionen gegenwärtig Arbeitslosen also etwa acht Mrd. DM).
Ginge man nur von den unmittelbaren, direkt rechenbaren Entlastungen aus (das würde die Belastung des Bundes, wie anfangs aufgezeigt, auf etwa 28 Mrd. DM erhöhen — gemessen an den 44 Mrd. DM für die geplante Steuerreform immer noch ein keineswegs unrealistischer Betrag), so ergäbe sich sogar ein erheblicher materieller Anreiz für die verschiedenen staatlichen Institutionen, sich an diesem „bürokratischen Solidarpakt“ zu beteiligen, da sie damit rechnen können, über Multiplikatoreffekte und mittelbare fiskalische Wirkungen zu erheblichen Zusatzeinnahmen zu kommen.
Daneben gäbe es weitere Anreize, die von einer Umsetzung der arbeitsintensiven Problemlösungen ausgehen: Die Krankenkassen z. B. könnten mittel-bis langfristig bei einer zunehmenden Abkehr von der Medikalisierung des Krankheitsverhaltens mit erheblichen Kosteneinsparungen rechnen. Ferner würden sich insgesamt geringere Belastungen der Gemeinden durch die mit dem Abbau oder der Verminderung der Arbeitslosigkeit verringernden sozialen Probleme ergeben.
Um diesen „gesamtfiskalischen Solidarpakt“ zu-standezubringen, müssen eine ganze Reihe damit zusammenhängender juristischer Probleme gelöst werden, aufdie hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, die aber auf jeden Fall verschiedene Gesetzesänderungen im Bundestag zur Voraussetzung haben. Wenn auch Teile der CDU mittlerweile gesellschafts-und sozialpolitisch überraschend innovativ sind, so dürften die hier angestrebten Veränderungen doch geänderte Mehrheitsverhältnisse im Bundestag zur Voraussetzung haben. Das hängt u. a. mit einem in diesem Zusammenhang auftauchenden ideologischen Problem zusammen. Diese zu gründende Institution würde sicherlich als eine Art gesamtgesellschaftliche Planungsinstanz angesehen — und ist es natürlich auch in gewisser Weise. Obwohl gegenwärtig staatliche Instanzen ebenfalls „planerisch“ Strukturpolitik betreiben (es sei nur an die geplanten bzw. zum Teil bereits beschlossenen 30 Mrd. DM für die Luft-und Raumfahrt bis zum Jahr 2000 erinnert die in keinem „freiheitlichen Marktprozeß“ eine Grundlage haben), so würde doch gegen eine solche „Planungsinstitution“ ein heftiges „Sperrfeuer“ einsetzen in dem Sinne, daß derartiges nicht mehr systemkonform sei.
Ein ganz erhebliches Problem, das bei der Gründung einer solchen Institution zu lösen ist, wäre schließlich die Qualifikation der Mitarbeiter. Sie müssen über Kenntnisse der Verwaltungswissenschaften, über handfestes ökonomisches, insbesondere betriebswirtschaftliches Wissen verfügen, um die Personalpolitik der geförderten Institutionen beurteilen und kontrollieren zu können. Sie müssen bis ins Detail qualifiziert sein, um die Sinnhaftigkeit arbeitsintensiverer Lösungen von Problemlagen in den unterschiedlichsten Bereichen beurteilen und propagieren zu können. Sie müssen über ein breit angelegtes gesellschaftspolitisches Wissen verfügen, um den Mittelweg zu finden zwischen staatlicher Unterstützung (u. a. über Beschäftigungssubvehtionen) und Entfaltung von Eigeninitiative. Und sie müssen schließlich über ein Kriteriensystem verfügen, auf dessen Grundlage die zu fördernden Bereiche ausgewählt werden (dazu gleich weiter unten).
Daß es sich trotz solcher anspruchsvollen Erfordernisse um keine quantitativ marginale Berufsperspektive für wenige handelt, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine derartige Institution, soll sie vernünftig funktionieren, überall in der Bundesrepublik „vor Ort“ gut ausgestattet präsent sein müßte. Es sei an dieser Stelle aber noch einmal betont, daß das alleine nicht ausreicht. Dieses Modell kann nur funktionieren, wenn es mit sozialer Innovation verbunden ist, wenn „von unten“ in die gleiche Richtung Phantasie und Engagement entfaltet wird.
VI. Zum Kriteriensystem der Vergabe von Beschäftigungssubventionen
Es ist an dieser Stelle unumgänglich, zumindest einige kurze Bemerkungen zu dem Kriteriensystem der Vergabe dieser Art von Beschäftigungssubventionen zu machen. Arbeitsmarktpolitische Instrumentarien sind durchaus in relativ weiten Grenzen für ganz unterschiedliche Ziele einsetzbar. Das wird u. a. an den Erfahrungen nach 1933 deutlich. Die Nationalsozialisten haben zur Beseitigung der damaligen Massenarbeitslosigkeit nur die bis dahin entwickelten Instrumente aufgegriffen, sie dann aber teils offen, teils verdeckt vorrangig für die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung im weitesten Sinne eingesetzt Es ist also wichtig, ein anderes, durchaus auch Emotionen ansprechendes, zur Selbstverständlichkeit werdendes Zukunftsmodel] zu entwickeln, das mit den dann vorhandenen Instrumentarien angestrebt wird. Dazu können allerdings — wie gesagt — an dieser Stelle nur einige kurze Bemerkungen gemacht werden.
Ein Grundprinzip muß sein, daß es diese Beschäftigungssubvention nicht „umsonst“ gibt. Wir leben nun einmal in einer Tauschgesellschaft. Von einer „Ökonomie des Schenkens“ sind wir weit entfernt. Die „Gegenleistung“ besteht hier im Einleiten von Schritten in die Richtung der arbeitsintensiveren Lösungen gesellschaftlicher Problemlagen, die — wenn auch nicht immer — häufig die „vernünftigeren“ Lösungen sind. Diese Art von „Tausch“ verlagert die Problematik staatlicher Beschäftigungsprogramme aber auf eine ganz andere Ebene als die, auf der bisher diskutiert wird. Es geht nicht mehr vorrangig um Knappheiten und „Sparzwänge“, um eine eventuelle Erhöhung der Staatsverschuldung oder die Belastung höherer Einkommensgruppen und der Unternehmen zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen; es geht auch nicht mehr primär um eine eventuelle Umlenkung von Ressourcen aus Bereichen, die angeblich zukunftsträchtiger sind als die in Beschäftigungsprogrammen präferierten Bereiche; es geht nicht mehr um die unterschiedlichsten Formen von Solidarbeiträgen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen; es geht schließlich insbesondere nicht mehr um Lohnverzicht und Teilzeitarbeit zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit usw.
Die Probleme einer Beschäftigungssubvention, die, ökonomisch gesehen, fast umsonst vergeben werden könnte, sind aber trotzdem keineswegs leicht zu lösen. Wenn mit der geldmäßig bewerteten Knappheit nicht mehr kalkuliert und damit allein nicht mehr auf rein rechentechnische Weise optimiert werden kann — was sind dann die Kriterien? Es können dann offensichtlich nur globale, ganzheitliche, politischen Prioritätensetzungen entspringende Kriterien sein, die — da kein ökonomischer Sachzwang vorgeschoben werden kann — auch offen politisch kontrovers diskutiert und entschieden werden müssen. Dazu fehlt bisher noch jeder institutionelle Rahmen, in dem dieser komplexe soziale Prozeß erfolgen könnte. Die bis „vor Ort“ reichende Institution zur Vergabe und Verrechnung der Beschäftigungssubventionen muß daher zu einem Gremium werden, in dem bzw. um das herum ein derartiger sozialer Prozeß demokratischer Abstimmung kultiviert wird, sich die Kultur einer neuen Moralökonomie entwickelt.
Ein Element der Kultivierung dieses Prozesses ist die Entwicklung von allgemein akzeptierten Kriterien der Vergabe. Dazu kann in der ökonomischen Theorie nur auf weniges zurückgegriffen werden; der Gebrauchswert der produzierten Güter und Dienstleistungen ist hier ein relativ seltenes Thema. Joan Robinson spricht daher von einer zweiten Krise (nach der ersten, die der Keynesianismus halbwegs löste) der ökonomischen Theorie, „welche den Inhalt der Beschäftigung nicht erklären kann“ Von sich marxistisch verstehenden Ökonomen wird ebenfalls meistens der Gebrauchswert aus dem Betrachtungskreis der politischen Ökonomie ausgeklammert. Erst Roman Rosdolsky hat herausgearbeitet — übrigens ohne große Folgen —, daß für Marx der Gebrauchswert durchaus ein wichtiges Element der Analyse gewesen sei — und zwar dort, wo der Gebrauchswert die sozialen Verhältnisse beeinflußt oder er von ihnen beeinflußt wird In jüngerer Zeit hat Karl Georg Zinn diese Problematik unter dem Aspekt der „Verteilungsethik“ historisch aufgearbeitet und den „Verzicht auf den wissenschaftlichen Versuch einer Begründung vernünftiger Produktion“ heftig angeprangert Wie könnte nun aber ein solches Kriteriensystem zur gebrauchswertmäßigen Beurteilung vernünftiger Produktion oder Dienstleistung, die mit Beschäftigungssubventionen gefördert werden sollten, aussehen? Die Beurteilung sollte insgesamt als Gegengewicht zur jetzigen Entwicklung mehr einem sozialen als einem technischen und administrativen Ideal folgen. Die zu fördernden Problemlösungen und Bereiche (die Reihenfolge soll keine Prioritätensetzungen implizieren) sollten — friedlichen Zwecken dienen;
— sozialen Zusammenhalt und soziale Fähigkeiten fördern;
— nicht zur Reproduktion von Macht und Herrschaft dienen, sondern eher zu ihrer Reduktion beitragen
— nicht zur Reproduktion von Hunger und Armut in der Dritten Welt beitragen
— ressourcen-und umweltschonend sein;
— nicht schädlich, gefährlich oder unsinnig im weitesten Sinne sein — nicht oder zumindest nicht vorrangig defensive Lösungen unterstützen
— nicht oder nicht vorrangig zum Bereich der positioneilen Ökonomie zählen
— insgesamt, gesamtgesellschaftlich gesehen, nicht kontraproduktiv sein;
— im Arbeitsprozeß selbst auch der Entfaltung und Selbstverwirklichung dienen, Gesundheitsgefährdungen und Belastungssituationen vermindern, Selbstverwaltungsansätze fördern, ein bewußtes und verantwortungsvolles Sich-Beziehen auf andere Teile der Gesellschaft unterstützen etc.
Diese kurzen Bemerkungen erheben natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und müssen unter vielen Aspekten in Zukunft weiter diskutiert werden. Hier sollte nur beispielhaft ungefähr die Richtung einer derartigen Diskussion angedeutet werden, die insgesamt auf eine andere Art von ökonomischer Rationalität als die gegenwärtig vorherrschende hinauslaufen dürfte Denn: Für das, was wirklich Wert hat, fehlen uns in unserer Gesellschaft immer noch die Maßstäbe.
Um das Ganze schließlich noch einmal an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Die örtliche Institution zur Vergabe dieser Beschäftigungssubventionen, in deren Entscheidungsgremium nicht (wie gegenwärtig bei der BA) nur Gewerkschaften, Unternehmer und öffentliche Hand, sondern auch die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, also z. B. auch Naturschutzverbände oder Arbeitsloseninitiativen vertreten sind, beschließt nach eingehender Diskussion u. a. unter den eben genannten Kriterien, z. B. einem örtlichen Krankenhaus 100 neue Stellen aller Qualifikationsniveaus zur Verfügung zu stellen, wenn dieses sich verpflichtet, als Gegenleistung dafür bestimmte Schritte zur Prävention von Krankheiten und bestimmte Schritte zur Abkehr von der zunehmenden Medikalisierung des Gesundheitsverhaltens einzuleiten. Die Beispiele ließen sich beliebig ausdehnen.
Insgesamt eröffnet sich damit die Möglichkeit einer neuen Art von demokratisch legitimierter Politik der Beschäftigungssubvention „vor Ort“, die Arbeitslosigkeit verhindert oder abbaut und gleichzeitig eine Konversionspolitik ist, die in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen vernünftigere Problemlösungen durchsetzt und damit „dem Staat“ zusätzlich noch — wie in dem eben genannten Beispiel des Gesundheitswesens — langfristig gesehen erhebliche Kosteneinsparungen bringt.
Wie dies alles konkret ausgestaltet sein sollte, damit es auch funktioniert, bedarf noch langer, intensiver Diskussionen und der praktischen Erprobung. Auf jeden Fall eröffnet sich hier ein großes Politikfeld; dabei müssen allderdings „Roß und Reiter“ der zu überwindenden Widerstände — entgegen der jetzigen Situation mehr oder weniger anonymer Sachzwänge — im einzelnen benannt und in die politische Auseinandersetzung mit einbezogen werden. In einer Welt, in der kaum noch etwas gestaltet werden kann, bietet dieses Politikfeld eine Gestaltungschance, die bisher nur von wenigen sozialpolitisch Engagierten in ihrem tatsächlichen Ausmaß erkannt worden ist.