Wenn es eine auffallende Gesamtprägung des heutigen sogenannten Realsozialismus im allgemeinen und der DDR-Gesellschaft im besonderen gibt, dann ist es die einer zunehmenden sozioökonomischen und soziokulturellen Angleichung an das westliche Vorbild. Dieses Grundmuster begann in einer Zeit hervorzutreten, da die offizielle Eigen-darstellung anfing, eher das Gegenteil zu betonen. Der reale Sozialismus, so wurde und wird gesagt, sei in ein Stadium eingetreten, in dem er sich nunmehr auf seinen eigenen Grundlagen entwickele. Die „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, wie der gesellschaftliche Prozeß seit Anfang der siebziger Jahre auch in der DDR genannt wird, definiert sich wesentlich durch diese Formel.
Der Bezug auf die eigenen Werte des Realsozialismus steht genetisch in engem Zusammenhang mit dem Scheitern der ökonomisch-technologischen Überholprogrammatik der Sowjetführung und ihrer Verbündeten vom Ende der fünfziger Jahre. Das wurde zumindest in der sowjetischen Literatur auch recht deutlich dargestellt. Aus den praktischen Erfahrungen seit dem Machtantritt Chruschtschows und den schweren Verwerfungen, die zu dessen Sturz führten, wurden folgende Schlüsse gezogen: — Die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus, die „ohne die Nutzung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution in allen Zweigen der Volkswirtschaft und der Leitung unmöglich“ sei, erfordere als äußerst komplizierte Aufgabe zu ihrer Realisierung eine historisch längere Frist und bedeute nicht, daß der Sozialismus unmittelbar in seine höhere Entwicklungsphase hinüberwachsen könne. — Ein solcher Übergang erfordere die Weiterentwicklung des Bestehenden und das Heranreifen notwendiger materieller, geistiger und organisatorischer Voraussetzungen. Eine der wichtigsten bestehe darin, „die sozialistische Gesellschaft, ihre Wirtschaft und alle anderen Bereiche nach konsequent wissenschaftlichen Prinzipien zu leiten“
Bemerkenswert ist, daß da nicht von „marxistischen“ oder „marxistisch-leninistischen“ Prinzipien die Rede war, sondern eben von „wissenschaftlichen“ — was die Deutung nahelegt, daß nach diesem Perzeptionsmuster die sowjetische realsozialistische Gesellschaft und ihre Bereiche vorher offenbar nicht gemäß wissenschaftlichen Grundsätzen geleitet worden sind
Nach dem Verzicht auf kurzfristige Zielsetzungen, so hieß es weiter, sei „eine wachsende Systemintegrität“ und zugleich „ein hohes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung und Reife“ erreicht worden Als Streben nach Systemintegrität läßt sich die realsozialistische gesellschaftspolitische Entwicklung seit Ende der sechziger Jahre, verstärkt durch die Erfahrungen der damaligen Unruhen in Polen seit Anfang der siebziger Jahre, in der Tat auffassen. Und „Reife“ war mehr als eineinhalb Jahrzehnte lang ein Kernpunkt realsozialistischer Selbstdarstellung, bis Gorbatschow anfing, unter Bezug auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten in der Sowjetunion andere Akzente zu setzen.
Im alten Kontext, der nicht nur in der DDR, sondern auch in der Sowjetunion noch lange nicht der Vergangenheit angehört, ergab sich aus dem vermeintlich erreichten Stadium ein Rückzug auf spezifische Werte und eigentümliche „Vorzüge“ des bestehenden Realsozialismus. Für diesen sei charakteristisch, daß — im Gegensatz zu allen bisherigen Gesellschaftsordnungen — seine Vorzüge im Prozeß seiner Entwicklung immer stärker hervorträten. Das Überholen des Kapitalismus nach allen „Hauptkennziffern“ des wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus sei wichtig. Aber es stehe außer Zweifel, daß „die sozialistische Ordnung selbst bei einem bisher relativ geringeren Produktionspotential“ in der Lage sei, „den Werktätigen im Komplex der materiellen und geistigen Güter, der sozialen Möglichkeiten und Perspektiven mehr zu geben als der Kapitalismus“. Entscheidend dafür sei „die inhaltliche Charakteristik der sozialistischen Lebens-weise — das moralische Klima, die Arbeits-und Lebensbedingungen des Menschen, sein Denken und Handeln und seine Beziehungen zu anderen Menschen“ Der Realsozialismus erscheint also, wenn schon nicht mehr als welthistorische revolutionäre Alternative zu einem abgelebten Kapitalismus, so doch als die vergleichsweise bessere industrielle Gesellschaft.
I. Empirische Befunde
Wie verhält es sich nun tatsächlich mit der Eigenständigkeit und der damit verbundenen kulturellen Wertigkeit des heutigen Realsozialismus? In bezug auf das Wirtschaftssystem ist festzustellen, daß alle in den letzten fast 35 Jahren vorgenommenen Ansätze zu Veränderungen und Reformen keineswegs systemeigenen Grundlagen des realen Sozialismus entsprungen sind, sondern durchweg zu den Strukturen und Prozeßsteuerungen tendieren, die im kapitalistischen Westen herrschen, pauschal gesagt: zu einer Art von „sozialistischer Marktwirtschaft“ in mehr oder minder — bisher meist weniger — strikter Konsequenz der Durchführung.
Gleich nach Stalins Tod, noch unter Malenkow, gab es bedeutsame Modifizierungen der wirtschaftspolitischen Strategie, indem vorübergehend vom Primat der Produktionsmittelindustrie abgegangen wurde und die Konsumgüterproduktion sowie zum Teil auch die Landwirtschaft schwerpunktmäßige Förderung erfuhren Nach dem 20. Parteitag der KPdSU Anfang 1956 kam es zu der ersten großen Welle ordnungspolitischer Diskussionen. Dabei spielte Polen mit seiner Modelldiskussion eine folgenreiche Vorreiterrolle. In Ungarn suchte man an die Diskussionen der Jahre 1953/55 anzuknüpfen, in der DDR gab es die bekannte Behrens/Benary-Kontroverse, in der UdSSR unterbreitete Liberman seine ersten Vorschläge, die jedoch noch nicht viel Beachtung fanden.
In den sechziger Jahren intensivierten sich diese Diskussionen, nicht zuletzt durch Krisen und wirtschaftliche Schwierigkeiten in mehreren realsozialistischen Ländern. Die Liberman-Diskussion in der Sowjetunion ermöglichte weitere Reformkonzepte; in der SSR wurde ein „Markt-Plan-Modell“ ausgearbeitet. Die entsprechende Praxis begann Mitte der sechziger Jahre: das „Neue Ökonomische System“ in der DDR (seit 1963) und analoge Politiken in der SSR und Ungarn. Die UdSSR und Polen folgten gebremst. Die militärische Intervention in der Tschechoslowakei 1968 hatte hier Unterbrechungen zur Folge. Nur in Ungarn (und Jugoslawien) wurde der eingeschlagene Weg fortgesetzt und der „Neue Ökonomische Mechanismus“ auch in den achtziger Jahren weiter ausgebaut. Wenn in der DDR. CSSR und UdSSR nun mehr auf die Rationalisierung des Leitungssystems und die Instrumentalisierung der Kostenfaktoren statt auf einschneidende Reformen gesetzt wurde, so ist doch anzunehmen, daß alles in allem die künftige Entwicklung in größerer Nähe zum Modell des heute schon weitgehend marktwirtschaftlich orientierten Ungarn verlaufen wird In ihrer Summe haben diese Ansätze und Veränderungen bisher zwar gegenüber den Verfahren der sozialistischen zentralen Planwirtschaft Neues gebracht, aber nicht gegenüber den Konzepten des modernen Kapitalismus.
Beträchtliche Veränderungen gab es in den achtziger Jahren in der DDR hinsichtlich der Sozialstruktur. Dies ist von besonderer Relevanz, denn die gesellschaftlichen Umbrüche und Neuerungen, für die der Sozialismus eintritt, sollen sich vor allem in diesem Bereich vollziehen. Mit der Abschaffung der Herrschaft einer ausbeutenden Minderheit will der Sozialismus die breiten Massen der Arbeitenden, voran die Industriearbeiter, an die politische Macht bringen und soziale Gleichheit herstellen. Eben dieses Ziel sozialer Gleichheit wird aber neuerdings in Frage gestellt. Statt dessen rekurriert man auf die stimulierende Wirkung sozialer Unterschiede. Im Zusammenhang von Rationalisierung und Intensivierung, Steigerung der Wirtschaftskraft und Mitbestimmen der ökonomisch/technologischen Weltspitze wird gesellschaftliche Immobilisierung in der DDR nicht nur konstatiert, sondern als Thema zur Grundlage von Theorie und Sozial-technologie gemacht.
Es wird festgestellt, daß das zahlenmäßige Wachstum der Arbeiterklasse sich in allen realsozialistischen Ländern verringere oder ganz aufhöre. Alle Schichten, ausgenommen die Intelligenz, sollen ihre soziale Position konservieren, aber nicht mehr wesentlich verändern. Wichtiger als soziale Mobilität, d. h.der Übergang in eine andere soziale Schicht — nicht lediglich in eine andere Berufs-oder Statusgruppe — als eine Voraussetzung für die Herstellung sozialer Gleichheit, sei heute die „Sicherung der sozialen und politischen Stabilität“ Die einzige Schicht, die nicht nur nach Qualifikations-und (konformem) Bewußtseinsniveau, sondern auch zahlenmäßig wachse, sei die Intelligenz. Sie reproduziere sich überproportional aus sich selber sowie aus der Schicht der Angestellten, der sie umgekehrt Personal liefere, während die Arbeiter vorzugsweise durch Änderung der Arbeitsinhalte und des Qualifikationsniveaus „mobil“ seien. Ein „bestimmtes Maß der überproportionalen Reproduktion der Intelligenz aus sich selbst und mithin der Immobilität“ hänge „mit Triebkräften und Effektivitätspotenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ zusammen. Denn für ein hohes Tempo dieses Fortschritts sei „eine effektiv arbeitende, leistungsorientierte Intelligenz von ausschlaggebender Bedeutung“
Dabei ist nicht zu vergessen, daß im Realsozialismus die Intelligenzschicht weitgehend identisch ist mit der Schicht der Leiter, d. h.der Entscheidungsund Machtträger bis hinauf zur Spitze der sozialen Hierarchie. Zwar ist nicht jeder Angehörige dieser Schicht ein solcher Leiter, aber doch ein großer Teil, und umgekehrt gilt die gesellschaftlich dominierende Macht-sowie Leistungselite nach realsozialistischen Maßstäben schlicht als der Intelligenz zugehörig. Genauer: Sie gehört zu dieser Schicht, doch werden in der ideologischen Sicht gerade die Spitzen der Hierarchie davon ausgenommen. Die oberste Partei-und Staatsleitung ebenso wie die Generalität und das ganze Offizierskorps der bewaffneten Organe sowie andere Inhaber hoher Leitungsposten rechnen ausnahmslos zur „Arbeiterklasse“
Im Hinblick auf die Ausprägung sozialer Ungleichheit wird seit Beginn der achtziger Jahre argumentiert, man dürfe sich überhaupt nur an der Triebkraftwirkung von sozialen Differenzierungen orien-tieren Vorschnelle Nivellierungen könnten zwar vordergründig soziale Differenzierungen abbauen, aber nur um den Preis „von Rückschlägen in Leistungsbereitschaft und Leistungsverhalten“. Ungenügende Differenzierung hemme die Entfaltung von Verhaltensweisen, die für den internationalen Rang und die Weltmarktfähigkeit von Wissenschaft/Technik und Wirtschaft der DDR unerläßlich seien
Der Sache nach scheint diese Sichtweise alte antisozialistische Argumente aufzunehmen, die in der vom Sozialismus erstrebten sozialen Gleichheit nur eine Ordnung verallgemeinerter Faulheit erkannten. Das Effizienzkriterium tendiert dazu, zum Selbstzweck zu werden, ohne Rücksicht auf die Menschen, die produktiv und effizient sein sollen und denen Effizienz der Wirtschaft angeblich zugute kommt. Damit spricht dieser Ökonomismus selbst das Urteil über seine kulturelle Wertigkeit.
Was den sozialistischen Anspruch betrifft, so ist mit Recht gesagt worden, in dem feststellbaren Wandel in der DDR komme eine deutliche Orientierung an industriegesellschaftlichen Kriterien zum Ausdruck, „die den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch sozialistischer Politik weitgehend zurücknimmt“. Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erweise sich zunehmend „als die Entfaltung einer industriell entwickelten Gesellschaft. Die strukturelle Differenz beider deutscher Staaten beinhaltet gleichzeitig eine prozessuale Parallelität beider deutscher Gesellschaften.“ Dies äußert sich in vielen soziokulturellen Bereichen. Veränderte Bedürfnisse bringen da veränderte Konzeptionen hervor, die ihrerseits programmatisch und orientierend auf die geübten Praktiken wirken. Hinsichtlich der Konzeptionen kann von einem Paradigmenwechsel die Rede sein Das heißt, daß bisherige wahmehmungsund handlungsleitende Grundkonzepte von anderen, häufig entgegengesetzten abgelöst werden, analog zur These von der „industriegesellschaftli-chen“ Parallelentwicklung des Realsozialismus im Vergleich zum westlichen Konkurrenz-und Partnersystem.
Faktisch ist ein Wechsel vom Klassen-und Formationsmodell der Gesellschaft zum Industriegesellschaftsmodell erfolgt. Der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus als antagonistischen Gesellschaftsformationen tendiert in Ideologie und Gesellschaftstheorie der DDR zur Auflösung beider Systeme in einer modernen Epoche, die als Einheit früheren sozial-und kulturhistorischen Epochen gegenübergestellt wird Man geht von „der zeitgenössischen Kultur und Zivilisation“ aus, die „bestimmte Ähnlichkeiten zwischen sozialistischer und kapitalistischer Lebensweise“ bewirke, was „die Arbeitsmittel, die Technologien, die Produktionsbedingungen sowie die Formen des Alltags-und Familienlebens, die Freizeitbeschäftigung usw.“ betreffe. Alle widerspiegelten „im Grunde gleichermaßen charakteristische Merkmale der Epoche“ Entsprechend werden soziokulturelle Erscheinungen, die früher als historisch und soziologisch konkret bestimmt galten — und dies auch tatsächlich sind — nun als allgemein-menschliche Charakteristika angesehen.
Dies kommt insbesondere im Bereich der massenhaften Alltagskultur zum Tragen. Frühere schwächliche Versuche, z. B. in der Unterhaltungskunst zu eigenen Formen zu finden, sind gescheitert und wurden längst aufgegeben. Weil man dem Zustrom westlicher Erzeugnisse auf diesem Gebiet nichts entgegenzusetzen hat, wird ihnen eine universelle Qualität zugeschrieben, was die DDR-Kulturproduktion der Notwendigkeit enthebt, sich um Eigenes zu bemühen. Ein vor nicht langer Zeit abgehaltenes Kolloquium des Staatlichen Komitees für Unterhaltungskunst der DDR hat den Verzicht auf jede Eigenständigkeit in diesem Feld sehr deutlich dokumentiert Was bleibt, ist dann — analog zu Wissenschaft/Technik und Wirtschaft — lediglich das Ziel, auch im Unterhaltungsbetrieb das Weltniveau zu erreichen und mitzubestimmen, und — gemäß dem Grundmuster vom Realsozialismus als der besseren Industriegesellschaft — der Rock-Musik, den Schlagern usw. andere, systemkonforme Inhalte zu geben. Während im Westen die Unterhaltungsindustrie und ihre Produkte auch sehr kritisch betrachtet werden ist ihre Rezeption in der DDR im Zuge der Angleichungswelle eher unreflektiert affirmativ, jedenfalls im Bereich der anerkannten Kulturwissenschaft. Ähnlich verhält es sich mit der Mode. Auch früher schon hatte der Realsozialismus da nichts Eigenes zu bieten und mußte sich darauf beschränken, die westlichen Trends mit Verspätung nachzuvollziehen. Inzwischen hat sich auch hier die Konzeptionsbildung der Praxis angepaßt. Über seinen Rundfunk erfährt der Hörer in der DDR, es gebe keine speziell sozialistische Mode, Mode existiere im Sozialismus nicht mit spezifisch eigenem Charakter. Es würden lediglich nicht alle Modetrends übernommen, sondern die, die praktischen Lebenserfordemissen nicht widersprächen. Soziales Wohlbefinden werde gefördert, wenn das Bedürfnis nach modischer Kleidung befriedigt werde, und auch als ökonomischer Faktor erscheint Mode begrüßenswert: Massenhafter Konsum des Gleichen fördert die Massenproduktion, d. h. verbilligt die Herstellung. Nur am Rande steht dagegen, Mode könne „auch Ideologie sein“ In kulturellen Bereichen, die für die Geschmacks-, Bewußtseins-und Persönlichkeitsbildung breiter Schichten der Bevölkerung, insbesondere auch der Jugend, von hoher Bedeutung sind, muß so der Realsozialismus seinen Bankrott als gesellschaftliche Alternative — worauf er doch grundsätzlich immer noch Anspruch erhebt — zugeben.
Der Verlust sozialistischer (marxistischer) Spezifik und die Hinwendung zu westlichen als den allgemeingültigen Mustern zeigt sich, beginnend schon früh in den sechziger Jahren und seitdem ständig zunehmend, auch in den Sozialwissenschaften. Die frühere DDR-Gesellschaftswissenschaft hat sich durch Aufnahme der modernen Soziologie weithin gewandelt. Als „marxistisch-leninistische“ Soziologie hat sie in dem, was sie direkt aussagt, kaum etwas von dem kritischen und aufklärerischen Element, das die westliche Soziologie stark prägt. Wohl aber liefert sie mit umfangreichen und zunehmend differenzierten Datenerhebungen empirisches Material, das mitunter in deutlichem Gegensatz zu den konformistischen Bekenntnissen steht, in die es eingehüllt ist, denn diese Soziologie hat in erster Linie Herrschaftswissen bereitzu-stellen Ihre Beschaffenheit als nur noch äußerlich marxistisch-leninistisch hergerichtete Sozialwissenschaft vertieft im geistigen Leben der realsozialistischen DDR die Diskrepanz zwischen Offizial-und Arbeitsideologien d. h. sie fördert ganz wesentlich die Entleerung der formell von der politischen Führung noch beibehaltenen marxistischen Leitsätze und Formeln, die einen schon häufig konstatierten Grundzug der aktuellen realsozialistischen Entwicklung darstellt.
II. Kulturauffassung und Lebensstile
Das Streben nach Systemintegrität, nach qualitativer Umwandlung der realsozialistischen Gesellschaft in ein einheitliches Ganzes als Antwort auf die vielfältigen inneren und äußeren Herausforderungen, denen der Realsozialismus ausgesetzt ist, hat die Herausbildung eines weiten Kulturbegriffs in der DDR gefördert. Dieses umfassende Kultur-konzept entspricht den Führungsbedürfnissen einer kulturellen Gesellschaftspolitik, einer „Kunst der kulturpolitischen Leitungstätigkeit“, deren Gegenstand eine Gesamtheit kultureller Äußerungen und Bereiche sein soll: Arbeitskultur und Umwelt, menschliche Beziehungen und persönlicher Lebensstil, Weiterführung und Verbreitung der offiziellen Weltanschauung, Förderung von Wissenschaft und Bildungswesen, Pflege und Popularisierung des Erbes, Aufschwung und Wirksamwerden der Kunst, Entwicklung „aller schöpferischen Begabungen und Talente“ des Volkes
Dementsprechend beschränkt sich der Kulturbegriff nicht mehr auf bestimmte geistige Bereiche — vor allem Wissenschaft, Kunst, höhere Bildung —, sondern zielt betont auf eine Gesamtheit menschlich-gesellschaftlicher Lebensäußerungen einschließlich der materiellen Kultur und der alltäglichen Lebensweise. Zugleich bezieht er sich weit mehr als frühere Fassungen direkt auf die Bedürfnisse der Kulturpolitik Diese betreffen vor allem „die realen Anforderungen an das Verhalten, an die Handlungs-und Leistungsfähigkeit der Menschen, wie sie aus den Erfordernissen gesellschaftlicher Entwicklung folgen“. Kulturarbeit soll „das subjektive Kulturniveau aufjene Höhe bringen, die es den Menschen ermöglicht, die gesellschaftlich gestellten Aufgaben auch zu erfüllen und selbstbewußt und sozial erfolgreich zu handeln“ Deutlich wird hier die Instrumentalisierung von Kultur und Kulturarbeit als politikbestimmter Leistungsfaktor. Der weite Kulturbegriff der DDR scheint sich mit der Kulturauffassung zu berühren, wie sie in der westlichen Sozialwissenschaft in den letzten Jahren hervorgetreten ist und die ebenfalls jene frühere enge Sicht der Kultur hinter sich gelassen hat. Doch ist in der theoretischen Kulturwissenschaft der DDR die Rezeption westlicher Errungenschaften längst noch nicht so weit gediehen wie etwa in der Soziologie. Das ethnosoziologische Kulturverständnis, das sich in der westlichen Sozialwissenschaft durchzusetzen beginnt, hat die DDR-Kultur-wissenschaft noch nicht erreicht.
Worum geht es bei dieser ethnosoziologischen Kulturauffassung? Ihre Grundmuster lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:
1. Es gibt nicht die menschliche Kultur, sondern eine Vielzahl von Kulturen, die in enger Verbindung mit den Ethnien (Völkern, Nationen, Regio-nen) zu sehen sind, die sie hervorgebracht haben und die ihre Träger sind. Ein solches Verständnis kann vor Eurozentrismus im allgemeinen wie vor dem heute aktuellen vermeintlichen Universalismus eines Ablegers der „abendländischen“ Kultur im besonderen bewahren. 2. Materielle und geistige Kultur bilden eine Einheit, wobei die zweite auf der ersten basiert. Es kommt, in den Worten des französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu, darauf an, daß . „Kultur* im eingeschränkten und normativen Sinn von . Bildung* dem globaleren ethnologischen Begriff von . Kultur* eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird“ 3. Kultur schließt, wie in der Sicht der Ethnologie oder der Archäologie und anderer Geschichtswissenschaften, materiell-technische Gegenstände und Verfahren, die Inhalte von Arbeit und Erholung, die sozialen Beziehungen in Verbindung mit dem Alltagsleben der großen Mehrheit der Menschen ein. Spitzenleistungen von Wissenschaft und Kunst, die Lebensweise gesellschaftlicher Oberschichten oder auch religiöse Bindungen bleiben Elemente der Kulturen, aber sie gelten nicht mehr als deren Inbegriff. Politisch gewendet hat diese Auffassung also mehr mit Demokratie als mit Elitarismus zu tun.
Ethnosoziologisches Kulturverständnis richtet sich auf bestimmte Strukturen. Es geht davon aus, daß Kultur historisch nicht als amorphes Gebilde existiert, sondern als eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturen, die erst in ihrem Zusammenspiel die jeweilige Menschheitskultur ausmachen. Aber auch jede Kultur in sich ist nicht spezifisch strukturiert. Dafür hat sich in der Wissenschaft der Begriff der Kulturmuster eingebürgert. Darunter sind relativ beständige soziokulturelle Prägungen zu verstehen, die sich in den verschiedenen Gesellschaften historisch herausbilden: sozial hervorgebrachte und vermittelte Grundfiguren von Wahrnehmung und Handeln der Menschen, „systematische Konfigurationen von Eigenschaften und Merkmalen“ gesellschaftlicher Praxis In ihrem Ensemble bringen die existierenden Kulturmuster eine Gesamtprägung der jeweiligen Gesellschaft hervor, die auch als deren Stil bezeichnet werden kann. So lassen sich auch die bisher behandelten und die weiter zu behandelnden aktuellen Prägungen einer realsozialistischen Gesellschaft als Kulturmuster verstehen, die in ihrer Gesamtheit die besondere Beschaffenheit oder den spezifischen soziokulturellen Stil dieser Gesellschaft ausmachen.
Die genannten beiden Strukturen oder Struktur-ebenen — die Kulturenpluralität (damit auch Kulturrelativität) und die soziokulturellen Prägemuster — können als die wichtigsten Strukturierungen jeder Gesellschaft bzw.der jeweiligen Gesamtheit von Gesellschaften auf der Erde angesprochen werden, zumindest unter kulturanalytischem Aspekt Zur ersten Ebene, der Pluralität von Kulturen, sollen noch einige Anmerkungen gemacht werden, die ihre Anwendung auf gegenwärtige internationale Gegebenheiten betreffen. Der Pseudo-Universalismus, der heute der Pluralität der Kulturen entgegensteht, ist vor allem der sogenannte Amerikanismus — eine spezielle Ausprägung industrieller europäischer Spätzivilisation, die hauptsächlich in den USA beheimatet ist und sich von dort weltweit ausbreitet. Sie ist nur scheinbar universell, insofern sie die Prägung durchaus partikularer, keineswegs menschheitlich-allgemeiner, sondern historisch-ethnisch sehr bestimmter Muster trägt. Ihre gegenwärtige herausgehobene Position steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Stellung der USA als immer noch bedeutendstem Industriestaat und — zusammen mit der Sowjetunion — militärisch dominierender Super-macht. Diese Position ist nicht aus besonderen inneren Qualitäten der fraglichen Spätkultur ableitbar, denn diese zeichnet sich, für sich genommen, eher durch Veräußerlichung, Simplizität und selbst einen gewissen Infantilismus aus. Es gibt auch keinen Grund für die Annahme, daß die Absorption der gesamten Menschheit durch dieses Gebilde ein unausweichliches Schicksal darstellt.
Der Realsozialismus allerdings verhält sich derzeit in seiner Rezeption westlich-amerikanistischer Massenkultur und anderen importierten Kulturguts so, als wäre diese Soziokultur tatsächlich eine universelle menschheitliche Errungenschaft, auf der Höhe der Erfordernisse „unserer Epoche“. Dabei ist nicht zu übersehen, daß es sich um einen „Uni-versalismus" ausschließlich des industrialisierten Nordens der Erde handelt, was konzeptionell wie vor allem praktisch-politisch äußerst relevante Fragen der internationalen Position der Dritten Welt und des Verhältnisses des globalen Nordens zu ihr aufwirft.
Der Realsozialismus bezieht sich in diesen kulturellen Pseudo-Universalismus in mehrfacher Weise ein. Zum einen direkt durch Aufnahme der entsprechenden Kulturmuster in den verschiedenen realsozialistischen Staaten, zum anderen vermittelt über einen Teiluniversalismus, repräsentiert durch die politisch durchgesetzte Dominanz der sowjetischen Soziokultur — zumindest wesentlicher Prägungen, die sie strukturieren — im Bereich der „sozialistischen Staatengemeinschaft“. Nun ist diese Soziokultur nicht einmal teilweise übernational, etwa als höhere Einheit aus den verschiedenen Kulturen und den sie tragenden Ethnien, die in der UdSSR politisch zusammengefaßt sind, sondern sie ist ganz wesentlich russisch bestimmt — ethnisch-historisch, sprachlich und kulturell —, und diese Prägung nimmt nicht etwa ab, sondern im Zuge der vom Moskauer Zentrum praktizierten Nationalitätenpolitik deutlich zu. Das Russisch-Nationale dominiert in der angeblich übernationalen Sowjetkultur unter Diskriminierung der anderen in der Sowjetunion präsenten national-und ethnisch-kulturellen Elemente, nicht unähnlich dem Verhältnis, in dem im Amerikanismus das englische und anglophone Element dominiert. Beide erweisen sich so als bloße Schein-Universalismen, als durchaus partikulare Ethnokulturen, die — teils mehr mit machtpolitischen, teils mehr mit kommerziellen und überhaupt wirtschaftlichen Mitteln forcierte — universelle Geltung lediglich beanspruchen. In dem Maße, wie sich — pauschal gesagt — der Realsozialismus amerikanisiert, in dem Maße tendiert der Pseudo-Universalismus dazu, sich auf seine Ausprägung zu reduzieren.
Dieser nur vorgebliche kulturelle Universalismus ist, über seine unmittelbar schädigenden Folgen hinaus, vor allem ein schweres Hindernis für einen wirklichen Universalismus menschheitlicher Kultur. Zu diesem tendiert die gesellschaftliche Entwicklung, ausgehend von der Wirtschaft; es wäre verfehlt, der ethnischen Pluralität mehr Bedeutung zuzuschreiben als nur eine historische, keine über-zeitliche. Aber die eine Menschheitskultur kann nicht auf herrschaftlichem Wege entstehen, durch angemaßte Dominanz einer oder einiger weniger Ethnokulturen über alle anderen, sondern nur auf demokratischem Wege durch Verbindung und Zusammenwachsen der verschiedenen Kulturen zu umfassenderen Einheiten und schließlich zu der einen Menschheitskultur — was sicherlich eine lange historische Periode in Anspruch nehmen wird. Eine notwendige Voraussetzung für den Beginn dieses Prozesses ist zweifellos die Korrektur der zunehmenden Disproportionen und Diskrepanzen, die in der Weltwirtschaft zuungunsten der Entwicklungsländer bestehen.
Für die ethnosoziologische Kulturauffassung ist die gesellschaftliche Bedingtheit, das gesellschaftliche Eingebettetsein und die gesellschaftliche Identität aller Kultur eine grundlegende Prämisse. Dagegen hat die realsozialistische Sicht mit der Gesellschaftlichkeit der Kultur ihre Schwierigkeiten, was sich unter anderem in der Fassung des Zusammenhangs von Individuum und Kultur ausdrückt. Der in der DDR durchgesetzte weite Kulturbegriff zeigt einen auffälligen Hang zu bürgerlich-ideologischem Individualismus, von einer Art, die in der bürgerlichen (nichtmarxistischen) Soziologie längst überwunden ist Neuerdings liegt zu dieser Problematik eine Studie von Irene Dölling vor, die zu den wichtigsten Vertretern der Kulturtheorie in der DDR gehört. Durch die Untersuchungen der Autorin zum Kulturbegriff in der DDR kann die dortige Diskussion exemplarisch dargestellt werden.
Irene Dölling hat in der Vergangenheit mehrfach festgefahrene Muster von Parteiideologie und Gesellschaftswissenschaften in der DDR konzeptionell in Bewegung gebracht — so z. B. eine Kultur-auffassung, die in recht mechanistischer Weise die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit, vermehrt durch die der Gegenwart, gleichsam als einen aufgehäuften Schatz ansah, den man sich nur anzueignen brauchte, damit alles in Ordnung käme. Dies war die Parteilinie der SED seit Ende der fünfziger Jahre. Kultur und Menschen blieben bei solcher Sicht im Grunde getrennt, konnten nur ganz äußerlich zusammenkommen. Dagegen brachte Dölling einen Ansatz vor, der eine solche Trennung zwischen objektiver und subjektiver Kultur aufheben wollte und außerdem wichtige politische Konsequenzen einschloß. Sie wandte sich gegen „harmonisierende Konzeptionen“, die aus dem Schema gefolgert wurden, die objektive Kultur sei schlechthin gegeben und sie müsse der Arbeiterklasse durch Heranführen an die Schätze der Kultur nur subjektiv vermittelt werden. Das aber sei eine „Verniedlichung und Simplifizierung der langwierigen und komplizierten revolutionären Umwälzung aller Lebensbereiche, aller Lebensbedingungen“, die nach der sozialistischen Revolution bis zum „Abschluß der ersten Phase des Kommunismus zu leisten“ sei. Sozialistische Kulturrevolution als Prozeß, „in dem* alle Lebensbedingungen der Werktätigen . . . umgestaltet werden, als Voraussetzung für eine historisch neue Art und Qualität zu leben“, schließe das Hervorbringen „nicht nur der subjektiven, sondern auch der objektiven Kultur der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines geschichtlich bisher nicht erreichten Grades der Produktivkräfte und der sozialen Beziehungen“ ein Mit einem solchen Entwurf lag ein ganz anderes Bild von den Erfordernissen sozialistischer Kulturentwicklung vor, als es heute die beflissene Aufnahme der gängigen und modischen Erzeugnisse spätbürgerlicher Massenkulturindustrie durch den realsozialistischen Kulturbetrieb darbietet.
Der Sache nach bedeutete dieses Konzept zugleich eine starke Kritik an Manipulation und „Erziehung“ als bloßer Anpassung des Bewußtseins der Menschen an die bestehenden Verhältnisse. Sozialistische Kulturrevolution sei „nicht auf das Heranführen der Massen an eine — vorgegebene — Kultur zu reduzieren“, sondern als objektive Kultur sei letztlich nur das zu bewerten, „was in den Lebensbedingungen der (Klassen-) Individuen real vergegenständlicht ist, und was ... in den tatsächlichen Aneignungsprozeß einbezogen, zu subjektiver Kultur ausgebildet wird“. Dölling ging es um die „Bewertung von sozialen Lebensbedingungen hinsichtlich ihrer positiven und negativen Folgen für die Individuen“, um Anerkennung und Analyse der Widersprüche zwischen Gesellschafts-und Individualentwicklung im Realsozialismus und das Aufzeigen von gesellschaftlichen Möglichkeiten für die Lösung dieser Widersprüche. Kulturrevolution bedeute „nicht einfach massenhafte Veränderungen im Verhalten der Individuen per Erziehung, sondern auch wesentlich Schaffung der objektiven Bedingungen für die Ausbildung historisch neuer Verhaltensqualitäten“ Der Akzent lag auf den wirklichen sozialen Verhältnissen; abgelehnt wurde ein Schematismus und Doktrinarismus, der alle Veränderungsbedürftigkeit in das subjektive Bewußtsein der Werktätigen als den Erziehungsobjekten der Partei verlegen wollte.
Von dieser Sicht ist in Irene Döllingsjüngstem Buch nicht viel übriggeblieben. Statt weiterführender Ansätze überwiegen darin Konformismen; was die Autorin ein Jahrzehnt früher kritisiert hatte, dem hat sie sich nun selbst auf zeitgemäße Weise sehr angenähert. Ein solcher Weg mag nicht ganz unty-pisch sein für die persönliche Entwicklung mancher Wissenschaftler und Kulturschaffender der DDR, bei denen der Elan und die Kritikbereitschaft jüngerer Jahre nicht anhält.
Beherrschender Gesichtspunkt von Döllings neuer Analyse ist „Leistungsfähigkeit“ — sei es die ihrer eigenen Wissenschaftsdisziplin, sei es die der Menschen in der DDR -Die Untersuchung geht von folgenden Voraussetzungen aus: 1. „Prozesse der Ausbildung einer dem Sozialismus eigenen Lebensweise“, deren „Bedeutung als Moment der Gesellschaftsentwicklung seit Anfang der siebziger Jahre ihren Ausdruck in der Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik findet“ hätten die kulturwissenschaftliche Forschung stark beeinflußt. 2. Gewachsenes kulturwissenschaftliches Interesse an den Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichem und individuellem Reproduktionsprozeß „und der damit verbundenen Funktionsbestimmung (!) von Kultur“ schließe eine genauere Beschäftigung mit den kulturellen Formen, Institutionen usw. ein, „in denen sich die Individuen in ihrer konkreten Gesellschaftlichkeit ausbilden“. Hier hat bei Dölling auch die Alltagskultur ihren Platz, aber kaum als reale Betätigungsweisen und Handlungsinhalte, mehr als „Wahmehmungs-und Deutungsmuster, Normen. Werte, Symbole usw.“, vornehmlich in Gestalt verfestigter Traditions-und Sitten-elemente. Das Interesse geht ganz auf deren „Funktionalität hinsichtlich einer historisch bestimmten individuellen Handlungsfähigkeit“. 3. Es gehe um „die Spezifika des individuellen Verhaltens, der psychischen Strukturen, die dem Handeln der Individuen zugrunde liegen“, und zwar besonders unter zwei Aspekten: Der eine ist die Bedürfnisproblematik als „vor allem praktisch wichtige Frage, wovon Leistungsverhalten und -bereitschaft der Individuen abhängen“. Der zweite Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen „gesellschaftlichen und biologischen Determinanten individuellen Verhaltens“. Soziales und „Biologisches“ mit Betonung des zweiten ist seit einer Reihe von Jahren ein bevorzugtes Thema in der Philosophie, auch in der Kulturwissenschaft der DDR. Dabei tritt ein unhistorischer Biologismus hervor, indem zu wenig oder gar nicht beachtet wird, daß für den Menschen, d. h. in der Gesellschaft, Biologisches nur im Sozialen aufgehoben existiert, nicht außerhalb und neben dem Sozialen, womöglich gar als dieses bestimmendes Moment. (Eine solche Sicht würde direkt zum Sozialdarwinismus führen.) Bei Dölling führt der verfehlte Dualismus von Gesellschaft und .. Biologie“ zur Hinwendung auf die frühkindliche Phase der individuellen Persönlichkeitsentwicklung, wobei auch von einer „Natur“ der Individuen die Rede ist
Diese Wiedergabe von Döllings eigener Darstellung ihres Ansatzes zeigt bereits, wie sehr sich die Akzente ihres Erkenntnisinteresses verschoben haben. Die detaillierte Analyse, die sich um Bestimmungen und Differenzierungen von Begriffen bemüht, könnte wenigstens insofern etwas bringen, wenn sie sich nicht so sehr in Abstraktionen verlöre, in denen kulturelle Realität bereits weitgehend verdunstet, besser: eingetrocknet ist. Diese Manier ist kein persönlicher Mangel, vielmehr ein häufig anzutreffendes Merkmal realsozialistischer Gesellschaftswissenschaftlichkeit, wenn diese sich auf methodologisch zentrierte Professionalität kaprizieren will. Anleihen und — meist eher mißglückende — Nachahmungen von westlichen Vorbildern spielen dabei keine geringe Rolle
Irene Dölling widerruft faktisch ihren einstigen Standpunkt, indem sie ihre damalige Fragestellung ins Leistungsintegrative umbiegt Charakteristisch ist der Abschnitt ihres Buches, in dem sie die von ihr selbst als besonders relevant bezeichnete Frauenproblematik aufgreift. Die Defizite in der gesellschaftlichen Stellung der Frauen in der DDR, d. h. im Realsozialismus überhaupt, scheinen auf, wenn auch ziemlich verklausuliert und durch die Abstraktheit der Darstellung beeinträchtigt. Doch das Grundmuster ihrer Sicht ist extrem konformistisch: Die Änderung der bestehenden sozialen Ungleichheiten und schweren Benachteiligungen der Frauen sei keine Frage an die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern Sache der Frauen selbst, die nur die Möglichkeiten wahmehmen müßten, die man ihnen biete — dies übrigens ein Grundmuster der parteioffiziellen Eigendarstellung. Es heißt dazu: „Hier ist die verantwortliche Aktivität der Individuen gefragt und notwendig. Die Gesellschaft kann keine Regeln, keine fertigen Lösungen für die individuelle Bewältigung dieser Fragen anbieten. Sie kann auf bestimmte objektive Bedingungen Einfluß nehmen — zum Beispiel durch sozialpolitische Maßnahmen —, aber sie kann damit keinen Garantieschein für individuelles Lebensglück ausstellen. Es hängt wesentlich von den Individuen selbst ab, was sie aus objektiven Möglichkeiten, ausgehend von ihren Ansprüchen, Bedürfnissen, Wünschen, machen.“
Gesagt werden müßte statt dessen: Die Gesellschaft hat die Deklarationen ihrer offiziellen Repräsentanten ernst zu nehmen und endlich soziale Gleichheit der Geschlechter herzustellen, statt durch „sozialpolitische Maßnahmen“ nur beruhigendes Flickwerk (zwecks Steigerung der Geburtenziffern) zu betreiben. Erst auf dieser objektiven Basis wäre die Frage nach dem „individuellen Lebensglück“ sinnvoll. Dieses und die gesellschaftlichen Bedingungen derart entgegenzusetzen, tendiert zu einem sehr alten ideologischen Herrschaftsmuster: Was helfen alle gesellschaftlichen Veränderungen, letztlich liegt es doch nur am einzelnen, in seinem Herzen und in seiner Seele! Marxisten sollten da eigentlich etwas weiter sein.
Dölling baut den dürftigen Individualismus, der bei der Installierung des weiten Kulturbegriffs in der DDR festzustellen war, nicht ab, sie kleidet ihn nur vertrackter und gelehrsamer ein. Für sie ist der Kulturprozeß wesentlich identisch mit dem Lebensprozeß der Individuen Die theoretische „Entgesellschaftung“ des Menschen ist dabei in ihrer Verbindung zu einem Grundmuster der politischen Ideologie und Praxis zu sehen. Es besagt, die großen gesellschaftlichen Aufgaben seien mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse und dem darauf folgenden Ausbau der neuen Ordnung im wesentlichen gelöst. Deshalb sei es „gesetzmäßig“, daß nunmehr das Individuum mehr und mehr in den Vordergrund trete in seiner „Einmaligkeit“ und seinen nicht-gesellschaftlichen Problemen.
Die Auseinandersetzung mit diesem Muster bedürfte einer eigenen Abhandlung. Nur einige Hauptgesichtspunkte seien genannt: Selbst wenn die gesellschaftlichen Grundprobleme gelöst wären, wäre es zumindest oberflächlich, nun ganz auf das Individuum „umzuschalten“, als wäre damit das Gesellschaftliche, das ja — auch nach der realsozialistischen Offizialideologie — immer das Übergreifende und Bestimmende bleibt, aus der Realität verschwunden Tatsächlich hat der Versuch, das Gesellschaftliche aus der Betrachtung und aus der Problematik zu eliminieren, sehr bestimmte politische Funktionen: 1. Ablenkung von den eigentlichen Problemen: Da im Realsozialismus die großen gesellschaftlich-politischen Grundfragen keineswegs gelöst sind, kann der Versuch, sie als gelöst hinzustellen, nur als Bemühen gewertet werden, die Betroffenen von ihren eigentlichen Lebensfragen abzudrängen. Der real-sozialistische Individualismus hat damit seinen Ort und seine Funktion in dem Druck von oben aufeine Entpolitisierung der breiten Massen: Sie sollen ruhig ihren privaten Hobbies nachgehen — solche Menschen sind ungefährlich für die herrschenden Minderheiten. Die veränderte offizielle Haltung zur Unterhaltungsindustrie ist auch in diesem Kontext zu sehen. 2. Herstellung einer Auffangposition für die Führungsideologie, die ihre Motivationskraftschon weitgehend eingebüßt hat: Das genannte Grundmuster macht es z. B. möglich, die zunehmend kritische literarische und andere künstlerische Reproduktionen der realsozialistischen Wirklichkeit integrativ einzuordnen. Man sei eben jetzt soweit, so etwa wird gesagt, daß man auch negative Erscheinungen an individuellen Fällen vorführen könne, denn die großen Probleme seien ja gelöst und man könne jetzt gewissermaßen an die Feinarbeit gehen. Daß eine solche Umdeutung allerdings nur mangelhaft funktioniert, zeigt die Führung selbst mit ihren häufigen Klagen über fehlenden Optimismus in Literatur und Kunst (siehe IV.).
Die versuchte Eliminierung des Gesellschaftlichen hat viele Aspekte. Einige weitere seien hier noch angeführt im Zusammenhang mit dem sozialen Habitus und mit dem Komplex der Lebens-stile.
Der schon zitierte Soziologe Pierre Bourdieu hat nicht nur in bundesdeutschen Fachkreisen sondern — vergleichsweise sehr früh — auch in der DDR Aufnahme gefunden. Es war wiederum Irene Dölling, die mit einer Rezension zu Bourdieus großem Werk über die soziale Distinktion in der kultur-und literaturwissenschaftlichen Monatsschrift „Weimarer Beiträge“ einen Auftakt dazu gab. Im Sinne einer eigenständigen Rezeption der westlichen Soziologie im realsozialistischen Bereich lobt sie: „Gerade auch mit dem Blick auf eine auszubauende marxistisch-leninistische Kultursoziologie“ seien Bourdieus Analysen „Ausweis für die Leistungsfähigkeit von Soziologie, vorausgesetzt, sie verfügt über ein hinreichend entwickeltes Konzept, das begrifflich den besonderen Gegenstand zu fassen vermag“ Das könnte programmatisch werden dafür, daß auch die Kulturtheorie und Kultur-soziologie der DDR mehr als bisher an den westlichen Errungenschaften partizipiert. Dölling hat jedoch auch Einwände, insbesondere in bezug auf Bourdieus Fassung des sozialen Habitus.
Für Bourdieu hat der soziale Habitus, d. h. die soziokulturelle Prägung von Persönlichkeitstypen gemäß der sozialen Schichtzugehörigkeit, eine zentrale Bedeutung. Er ist Produkt einer Verinnerlichung der Scheidung der Gesellschaft in soziale Klassen durch die betroffenen Gesellschaftsmitglieder. Als dieses Produkt bringt er selber schichtspezifische Praxis-und Wahrnehmungsformen hervor und damit unterschiedliche Lebensstile Dölling stößt sich nun daran, daß der — nach Bourdieu wesentlich in den ersten Lebensjahren geprägte -Habitus bei ihm zu starr und unveränderlich erscheine Sie selbst schreibt aber, wie gezeigt, einer Art biologischer Natur des Individuums ähnliche Prägewirkung zu. Demnach würde sie, zumindest der Tendenz nach, soziale Prägungen ablehnen, „biologische“ aber bejahen. Was im übrigen die Persistenz, die Beständigkeit der einmal erworbenen sozialen Prägungen angeht, so vermag vielleicht der politisch folgenreiche Habitus verantwortlicher Führer in der DDR Bourdieu eher zu bestätigen als zu widerlegen.
Lebensstile lassen sich kennzeichnen als die in „Konsum-und Sozialverhalten beobachtbare qualitative Bedarfsstruktur und Mittelverwendung“ von Personen, Gruppen, Schichten oder Gesellschaften, historisch auch von Epochen In der Kultur-und Gesellschaftswissenschaft der DDR spielt der Begriff „Lebensstil“ keine zentrale Rolle. Er steht eher am Rande und entspricht etwa dem normativen Integrationsbegriff „sozialistische Lebensweise“. In der einschlägigen sowjetischen Literatur findet sich neben der „Lebensweise“ auch der Begriff „Lebensformen“, der etwa den Lebensstilen entspricht, als „die durch die sozialökonomischen Verhältnisse bedingte Gesamtheit der Methoden und Formen der Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen außerhalb der Produktion und der gesellschaftlich-politischen Tätigkeit“. Dies meint „konkret die Wohnverhältnisse der Menschen, ihre Ernährung und Kleidung, die Arbeit im Haushalt, die Haushaltsgegenstände, den Charakter der Freizeitbeschäftigungen, die Formen der Freizeitgestaltung, Zerstreuungen, den Charakter des Familienlebens usw“
Diese Trennungen sind charakteristisch. Tatsächlich gehören zum Lebensstil, gerade auch im Real-sozialismus, ebenso die Arbeits-und die gesellschaftlich/politische Sphäre. Den Raum des Lebensstils auf den Bereich außerhalb von Arbeit und Politik einzuschränken, steht in Gegensatz zu der sonst hervorgehobenen Bedeutung von Arbeit und Politik für den „sozialistischen Menschen“. Diese Trennung gesteht außerdem indirekt ein, daß auch im Realsozialismus die Entfremdung herrscht, die den Arbeitenden erst außer der Arbeit „bei sich“ sein, leben läßt Die gesamte Lebenslage und damit auch die schichtspezifisch unterschiedlichen Lebensstile der großen Bevölkerungsmehrheit werden nicht nur durch die Versorgungsmängel beeinträchtigt, die lediglich für die oberste Leiterschicht nicht existent sind, sondern insbesondere auch durch den Mangel an Selbst-oder Mitbestimmung im autoritären politischen System. Dazu kommen substantielle Defizite, die sich aus der relativen Rückständigkeit der DDR-Industriegesellschaft ergeben, z. B. aus dem nach wie vor hohen Anteil schwerer körperlicher und gesundheitsschädlicher Arbeit oder aus der kulturellen Kluft zwischen Großstadt und Kleinstadt/Land hinsichtlich der Wohnverhältnisse, Dienstleistungen und Freizeit-angebote. Die Lebensstile in der DDR-Gesellschaft differenzieren sich nach der sozialen Schichtung, nach dem Geschlecht (Männer — Frauen), nach demographischen Merkmalen (erwachsene Erwerbstätige und Hausfrauen, Jugendliche, Kinder, Alte), nach unterschiedlichen Sphären sozialen Handelns (Arbeits-und Freizeittätigkeit; Zivil-und Militärdienst; offizielle und persönliche Sphäre). Das kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Wenigstens hingewiesen werden soll jedoch auf eine Hervorhebung von Lebensstil, die der exponierten Stellung der Intelligenzschicht in einer realsozialistischen Gesellschaft vom Typus der DDR entspricht. Das steht in direktem Zusammenhang mit dem Effizienz-und Produktivitätsstreben, für das der — wissenschaftlich-technischen — Intelligenz besondere Bedeutung zugemessen wird. Daraus ergibt sich eine besondere Vorbildfunktion der „Intelligentsia“ hinsichtlich des wünschenswerten Lebensstils. Es heißt, die „Verwischung der Grenzen von Arbeitszeit und Freizeit“ bei den Intellektuellen und Leitern und ihre angenommene „Orientierung an internationalen Spitzenleistungen, aber auch an Spitzenleistungen des eigenen unmittelbaren Bekanntenkreises“ bringe „höchste Ansprüche an die eigene Arbeit“ hervor. Der vorbildhafte Lebensstil wird sogleich mit der Selbstreproduktion der Intelligenzschicht in Verbindung gebracht: Familiäre Lebensstile, die durch geistigen Arbeitsinhalt der Eltern geprägt würden, formten und stimulierten mit ihren besonderen Traditionen und Normen frühzeitig entsprechende Persönlichkeitseigenschaften der Nachkommen Das erinnert fast an die Zucht einer effizienten Leistungselite.
III. Leistungsmuster
Die DDR gilt zurecht, mehr noch als die anderen realsozialistischen Länder, als eine ausgeprägte „Leistungsgesellschaft“. Das heute dafür verbindliche Grundmuster erscheint im Zusammenhang von Individuum und Kultur so: „Mehr denn je hängt die Stärke des Sozialismus vom Leistungsverhalten jedes einzelnen ab. Dieses durch eine weitsichtige Politik — in einer ökonomisch angespannten Lage — zu entwickeln und zu stimulieren ist eine der dringlichsten politisch-ideologischen und praktischen Aufgaben, die von der Partei der Arbeiterklasse und dem sozialistischen Staat zu lösen sind. Mehr denn je werden deshalb auch theoretische Erkenntnisse darüber gebraucht, . . . welche Faktoren die individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft beeinflussen.“ Diese Sätze umreißen bereits Kernelemente realsozialistischer Arbeitswie auch Wissenschaftskultur.
Den Arbeitsbereich prägen das Streben nach Spitzenleistungen und die Funktionalisierung sozialer Unterschiede. In die „Wachstumsspitzen“ werden jetzt auch „Gruppen der Arbeiterklasse" einbezogen, und zwar solche, die im Zusammenhang mit der Rationalisierung durch komplizierte technische Systeme „tempobestimmende Leistungen“ vollbringen Indessen ist das nur eine Minderheit. Sehr viele Werktätige in der DDR trifft das „beachtliche Beharrungsvermögen von Arbeitsplätzen mit relativ geringen Qualifikationsanforderungen, das heute noch dazu zwingt, einen Teil der Facharbeiter an nichtangemessenen Arbeitsplätzen einzusetzen“ So kommt es zur Differenzierung in die zahlenmäßig kleine Schicht einer „Rationalisierungselite“, während ein großer Teil der Beschäftigten Prozessen der Dequalifizierung mit anspruchslosen Arbeitsinhalten und einer Entwertung ihrer beruflichen Qualifikation unterliegt, die soziale Degradierung im Gefolge haben -Dies wird jedoch von den Verantwortlichen in der DDR nicht bedauert, sondern im Gegenteil begrüßt, weil eine stärkere Ausprägung sozialer Unterschiede subjektive Motivierungsfaktoren und Lebensorientierungen ins Spiel bringen soll, auf denen, wie man annimmt, individuelles Leistungsverhalten und berufliches Engagement beruhen. „Soziale Ungleichheit ist zum gesetzmäßigen Erscheinungsbild einer höheren Stufe gesellschaftlicher Entwicklung umgedeutet worden.“ Das ist schon das ausgesprochene Gegenteil von sozialistischen Zielsetzungen auf dem Boden des Marxismus.
Ein hoher Anteil körperlicher Arbeit mit geringen Anforderungen an Fachkenntnisse prägt nach wie vor die Industrie der DDR. Vor einigen Jahren leisteten immerhin noch rund 75 Prozent der in der Industrie Beschäftigten vorwiegend körperliche Arbeit, fast ein Fünftel (16 Prozent) schwere bis schwerste körperliche Arbeit. Etwa 12, 5 Prozent hatten eine „geistige Bedientätigkeit an Maschinen und Anlagen“, etwa 13 Prozent Tätigkeiten mit Kontroll-und Überwachungsaufgaben. Der Anteil der Handarbeiter betrug um 33 Prozent, also ein Drittel aller in der Industrie Beschäftigten Diese Gegebenheiten haben — auch in der Sicht der DDR — bestimmende Konsequenzen für das Verhältnis von Arbeit und Kultur. Freizeit wird, ganz nach den Grundmustern der Entfremdung, zum eigentlichen Feld menschlicher Betätigung, auf dem die unzureichenden und unbefriedigenden Arbeitsinhalte kompensiert werden sollen. Später einmal, so heißt es, werde sich durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik alles ändern, aber heute könne man die Arbeitsbedingungen nicht abschaffen, „die die Persönlichkeitsentwicklung noch behindern“. Nach wie vor leisteten in der DDR Werktätige in vielen Bereichen mühselige Handarbeit, müßten noch Routinearbeiten gemacht werden, die die geistigen Fähigkeiten unterfordern. Um so wichtiger sei, „daß sich die schöpferischen Fähigkeiten der betreffenden Werktätigen vor allem in der Freizeit entfalten. Dort gehen sie interessanten Hobbys nach, bilden sie sich weiter und entwickeln sie vielfältige kulturelle und sportliche Aktivitäten.“
Eine entfremdete Spießeridylle also statt der Revolution im Charakter der Arbeit, von der im Realsozialismus lange Zeit die Rede war. Dazu kommt, daß weithin nicht einmal diejenige Befriedigung aus der Arbeit gezogen werden kann, die effektives Arbeiten mit guten Ergebnissen, für sich genommen, allenfalls gewährt. Dem steht im Wege, daß immer noch gravierende Mängel in der Organisation des Arbeitsablaufs und andere Defizite zu Verschwendung von Arbeitsmitteln, Arbeitskraft und Arbeitszeit führen und die Arbeitswelt der DDR prägen. Ähnlich sieht es im Bereich der Wissenschaft aus, deren recht extreme politische Funktionalisierung und Instrumentalisierung eine realsozialistische Wissenschaftskultur ohnehin problematisch werden läßt. Aufwand und Ergebnisse stehen, verglichen etwa mit den bundesdeutschen Realitäten, in keinem guten Verhältnis, obwohl der Leistungsdruck ständig verstärkt wird und z. B. die Akademie der Wissenschaften der DDR schon in den siebziger Jahren aus einem Gelehrtenklub oder dessen Überbleibseln in eine zentrale Schaltstelle für direkt oder mittelbar wirtschaftsorientierte Forschung umgewandelt wurde.
Es gibt bislang überhaupt nur einen gesellschaftlichen Sektor in der DDR, in dem das Bestreben, das internationale Höchstniveau an Leistung zu erreichen und mitzubestimmen, von Erfolg gekrönt ist: den Bereich des Sports. Hier hat sich die kleine DDR unter die Giganten des Spitzensports eingereiht, unter die Länder, die bei Olympischen Spielen und ähnlichen Veranstaltungen die Medaillen und Titel mehr oder weniger unter sich aufteilen. Die sportlichen Leistungen spielen denn auch als internationale und innergesellschaftliche Prestige-träger eine hervorragende Rolle in Ideologie und Praxis der DDR-Führung, ganz abgesehen von der Bedeutung, die „Körperkultur und Sport“ als Mittel der Ertüchtigung für Arbeit und Landesverteidigung zukommen
In diesem Bereich wird auch die elitäre Umorientierung besonders sichtbar: Der Realsozialismus hat sich vollständig und entschieden von den Leitgedanken getrennt, die einst die alte Arbeitersportbewegung — kommunistischer wie auch sozialdemokratischer Herkunft — prägten. Damals wurde individuelle Rekordsucht als bürgerlich-kapitalistische Fehlentwicklung verworfen und der Massen-sport in den Vordergrund gestellt. Heute gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Sportmodell westlicher und realsozialistischer Industriegesellschaften, neuerdings bis zur Kommerzialisierung von sportlichen Veranstaltungen für Werbe-zwecke. Industriegesellschaftliche Leistung ist heute nicht mehr zu trennen von der ökologischen Problematik. Der Realsozialismus hat nach langer Vernachlässigung des Umweltschutzes erst seit den siebziger Jahren überhaupt ernsthafter von dieser Problematik Kenntnis genommen. So wurde erst zehn Jahre nach Erlaß des Landeskulturgesetzes der DDR im März 1980 in Ost-Berlin eine „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ im Kulturbund der DDR gegründet, die inzwischen auf Bezirks-und lokaler Ebene mit Informationsausstellungen und Landschaftsschutzmaßnahmen aktiv geworden ist. Die großen Probleme der Ökologie werden in diesem Rahmen aber höchstens verbal und allgemein angesprochen -
Anders verhält es sich bisher nur bei kritischen DDR-Bürgern, die ihre Meinung heute schon auch öffentlich vorzutragen wagen. So hieß es anläßlich der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in einem Appell an Volkskammer und Ministerrat der DDR: „Die realen Gefahren des Reaktorbetriebes wurden in den sozialistischen Ländern unterschätzt und insbesondere in der DDR auf beispiellose Weise publizistisch verharmlost und der öffentlichen Diskussion entzogen ... In der Sowjetunion und in der DDR kulminierten die Praktiken verzögerter bzw. verharmlosender Information.“ Durch das Verhalten von Verantwortlichen in der UdSSR habe radiologischer Bevölkerungsschutz, wie er später z. B. in Rumänien und Polen sporadisch praktiziert worden sei, vorbeugend nicht organisiert werden können Es ist anzunehmen, daß man auch im Realsozialismus auf die Dauer die drohenden Umweltkatastrophen ernst nehmen und ihnen praktisch entgegenwirken muß.
IV. Einstellungen zum Realsozialismus
Die eigene Wahrnehmung der bestehenden realsozialistischen Gesellschaft sowie die daraus abgeleiteten (bzw.der Wahrnehmung selbst zugrunde liegenden) Handlungsmuster sind durchaus unterschiedlich, je nachdem, ob es sich bei den Betreffenden etwa um die politische Führungsgruppe dieser Gesellschaft und ihren Apparat, um Kunstschaffende und ihre Medien oder um Sprecher kritischer und oppositioneller Regungen handelt. Künstler und die letztgenannte Gruppe fallen oft zusammen, aber es gibt auch Schriftsteller, bildende Künstler und andere, die eher zu der ersten Gruppe zu rechnen sind.
Einstellungen zu vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen, Politiken usw. fallen heute insgesamt unter den gängigen Begriff der „Politischen Kultur“. Dieser ist, wie von Politikwissenschaftlem schon oft beklagt wurde, nicht sehr bestimmt, eher dehnbar und vage Er ist, wie viele andere westliche sozialwissenschaftliche Konzepte, ebenfalls von der realsozialistischen Gesellschaftswissenschaft aufgenommen worden. In der Sowjetunion wird er schon seit längerem verwendet. Politische Kultur reduziert sich dabei ziemlich eindeutig auf dieses Muster: Auf der eigenen Seite stehen gute oder zumindest grundsätzlich gute gesellschaftliche Einrichtungen und eine ebensolche offizielle Politik. Politische Kultur haben die Bürger, die es verstehen, ihr Bewußtsein und Verhalten auf die Höhe dieser Institutionen und Handlungsweisen der Verantwortlichen zu erheben. Sie dazu zu befähigen, ist der Inhalt politischer Bildung und Erziehung Konservative im Westen vertreten grundsätzlich das gleiche Muster, und da das Konzept der „Politischen Kultur“ in der USA-Gesellschaft entstanden ist, die sich weitgehend auf Anpassung orientiert, war dieses Muster in dem Konzept bis zu einem gewissen Grade von vornherein angelegt.
Neuere Fassungen von „Politischer Kultur“ aus der DDR haben dasselbe Grundmodell noch ausgebaut und sozusagen verfeinert. Da heißt es, politische Kultur umfasse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ein Höchstmaß an politisch-ideologischer Bewußtheit und Kenntnissen, die Fähigkeit, alles im gesellschaftlichen Leben politisch zu beurteilen, und das Vermögen, gewonnene politische Einsichten im täglichen Leben anzuwenden. Darüber hinaus aber gehöre zur politischen Kultur ein „Gefühl für politische Entscheidungen“, die Entwicklung von „Fähigkeiten und Emotionen, die dazu beitragen, ein Gespür für politische Maßnahmen und Aufgaben, für Einfühlungsvermögen in politische Situationen und Zusammenhänge zu entfalten“. Erst das sei „aktives und verantwortungsvolles politisches Verhalten im Alltag“ Hier scheint in die Begriffsbestimmung mit eingegangen zu sein, daß — bei den in der DDR herrschenden Publizitätsgewohnheiten und der nichtssagenden Formelhaftigkeit der realsozialistischen politischen Sprache — der politisch bewußte Bürger fähig sein muß, zwischen den Zeilen zu lesen und die Meinung orientierender Direktiven schon aus halben Andeutungen, womöglich auch aus dem gesagten Gegenteil des Gemeinten, zu erfassen.
Politische Kultur, die den Namen verdient, kann sich jedoch nicht im Subjektiven erschöpfen, in der bloßen Anpassung der Bürger an bestehende Institutionen und Autoritäten, sondern sie muß die Beschaffenheit dieser Einrichtungen und Autoritäten selbst kritisch prüfen dürfen. Für eine realsozialistische Gesellschaft heißt das, daß auch einige Axiome der offiziellen Eigendarstellung hinterfragt werden müssen.
Dazu gehören die Thesen vom friedliebenden und humanen („humanistischen“) Charakter des Real-sozialismus, wobei die Menschlichkeit dieser Ordnung wesentlich aus ihrer vorausgesetzten Identität mit Frieden abgeleitet wird. Derartige Thesen halten der Realität schlecht stand. Das Scheitern der ökonomischen Überholprogrammatik führte seinerzeit in der sowjetischen Politik zu einer faktischen Orientierung auf militärisches Überholen des westlichen Konkurrenz-und Partnersystems, speziell der USA. Dem diente eine beispiellose Hoch-rüstung, insbesondere im Feld strategischer Angriffswaffen wie interkontinentaler und sonstiger Nuklear-Raketen und beim Aufbau einer modernen Hochsee-Kriegsflotte, bei gleichzeitigem kontinuierlichen und zielgerichteten Ausbau der bestehenden Überlegenheit im Bereich konventioneller Rüstung. Die Sowjetunion führt seit nun fast acht Jahren in Afghanistan einen völkermörderischen Krieg von sehr ähnlicher Art, wie sie ihn seinerzeit als Verbrechen der USA in Vietnam scharf verurteilte, und sie schürt — teilweise zusammen mit der anderen Supermacht — weitere Kriege und Kriegs-herde in anderen Regionen der Erde, sowohl durch Waffenlieferungen als auch durch entsprechende politische Maßnahmen. Die sowjetischen Leistungen an Entwicklungsländer bestehen in erster Linie aus Rüstungsexporten und Militärhilfe
Bekanntlich zeigt sich im heutigen Realsozialismus das Vorherrschen des militärischen Faktors nicht nur in der internationalen Politik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, sondern ebenso nach innen. Es ist sicherlich nicht übertrieben, von einer Militarisierung der realsozialistischen Gesellschaf-ten, nicht zuletzt auch der DDR-Gesellschaft, zu sprechen. Mit der üblichen Formel vom „sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus“ im Kontext der sogenannten Verteidigungsbereitschaft ist ein Grundmuster realsozialistischer politischer Kultur angegeben. Es nimmt im System dieser Kultur eine ähnliche Stellung ein, wie sie der bornierte Nationalismus/Chauvinismus im System des preußisch-deutschen Militarismus inne-hatte Militärische Kampfbereitschaft, die man schon im frühen Schulalter einzuüben versucht, und militärische Mittel als ein Hauptinstrument realsozialistischer internationaler Politik stellen diese Soziokultur in eine Tradition, die weder von Eigenständigkeit, noch von grundsätzlich Neuem, noch gar von der propagandistisch beschworenen Friedensliebe zeugt.
Ob die Veränderungsprogrammatik, wie sie seit kurzem in der Sowjetunion durch Gorbatschow und seine Führungsgruppe aktuell geworden ist daran praktisch etwas ändern wird, bleibt noch abzuwarten. Bisher sind an den griffigen Losungen von Glasnost und Perestrojka, also von „Offenheit“ und „Umbau“, wie mir scheint, nur zwei Aspekte sicher: einmal das halbwegs offene Eingeständnis des krisenhaften Zustandes in Wirtschaft und Gesellschaft der UdSSR (gegenüber der durchaus zurecht so genannten „Selbstzufriedenheit“ in den Zeiten der Breshnew-Führung), zum anderen der Umstand, daß mit der vorsichtigen Einführung quasiparlamentarischer Formen bei Wahlvorgängen nun auch im Bereich des politischen Systems einzelne Elemente vom Westen übernommen werden. Übrigens sagen jene Losungen auch etwas aus über den Zustand der realsozialistischen Soziokultur, insofern sie recht allgemeine, eher unverbindliche Begriffe darstellen. „Offenheit“ erinnert mehr an einen Allerwelts-Liberalismus, und „Umbau“ ist, jedenfalls in den gegebenen Kontexten, etwas wesentlich anderes als Umwälzung.
Die neuerliche Einpassung des Realsozialismus in eine keineswegs sonderlich fortschrittliche Tradition ist in der DDR besonders augenfällig geworden. Nach außen hat sich das vor allem an zwei Komplexen verdeutlicht: an der Umbewertung des Preußentums und dem Herausstellen eines — pflichtethisch und obrigkeitsfromm akzentuierten — Lutherbildes anläßlich des fünfhundertsten Geburtstages des Kirchenreformators. So stellt ein neues Kompendium über das kulturelle Erbe, das unter Verantwortung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED veröffentlicht wurde, „Preußen und seine Kultur als Erbe“ dar und die Ehrungen für Martin Luther vor und neben dem „Karl-Marx-Jahr 1983“ sind ebenfalls ein Bestandteil der aktuellen Erbeaneignung. Die Rückbesinnung auf Preußen geht mit einer Aufwertung in mehrfacher Hinsicht einher. Das betrifft zum einen die bekannten preußischen Tugenden, zu denen gesagt wird: Eigenarten des Nationalcharakters seien „bei uns sicher Arbeitsamkeit und Fleiß, Genauigkeit und Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Sparsamkeit, wie auch die sprichwörtliche deutsche Ordnung und Sauberkeit“, und dies habe „für ein sozialistisches Land nicht geringe Vorteile“ Weiterhin erfaßt die Um-und Aufwertung durchaus bürgerliche — und auch als solche perzipierte — Kulturmuster, mit aktuell begründeter Hervorhebung der Intelligenz-schicht.
Das liest sich dann so: Nicht nur Literaturerbe und Baudenkmäler, beide (wirklich beide? Baudenkmäler wurden in der Frühzeit der DDR auch abgerissen wie das Berliner Schloß und die Leipziger Universitätskirche) seien zu bewahren, sondern auch „Sitten und Gewohnheiten des „bürgerlichen’ Alltagslebens, der Art und Weise des gegenseitigen Umgangs, der Achtung und Wertschätzung der Person und der Leistung anderer, die Verbindung von qualifiziertem Spezialistentum mit humanistischer Allgemeinbildung und Achtung vor den Werten der Geschichte und Kultur“. Die deutsche Bourgeoisie habe „in ihrer Geschichte auch solche Tugenden hervorgebracht wie wissenschaftlichen Entdecker-geist und technische Meisterschaft, geschäftlichen Sinn und kaufmännischen Verstand (!), Ordnungsliebe und Organisationstalent, Untemehmergeist und Initiative“. Dergleichen wird dann speziell für die deutsche Intelligenz der Vergangenheit noch einmal wiederholt, der zudem „wissenschaftliche Gründlichkeit und Genauigkeit, Solidität und Qualität technischer Leistungen, Arbeitsethos und Berufsstolz“ attestiert wird. Außerdem seien in der „gesellschaftlichen und familiären Erziehung“ dieser sozialen Schicht „Traditionsbewußtsein, Anstand und gute Sitte, Kultiviertheit im öffentlichen Leben und im persönlichen Umgang angestrebt“ worden. All das seien heute, modifiziert und in zeit-gemäßer Form, „Werte sozialistischer Lebensweise und Kultur“
Selbst wenn man von der Vereinbarkeit mit „marxistischen“ Bekenntnissen und der erstaunlichen — echten oder gespielten — Naivität, zumindest aber der extremen Einseitigkeit einer derartigen Betrachtungsweise absieht, kann sie nur als — im Wortsinne — schamlos qualifiziert werden angesichts der schrecklichen Realisationen solch historisch bestimmten deutschen Wesens in diesem Jahrhundert. Mit Blick auf die kulturelle Wertigkeit der beiden deutschen Gesellschaften im Vergleich zueinander ist nicht zu übersehen, daß solche Äußerungen im westlichen Deutschland heutzutage nur am Ende des rechten politischen Spektrums vor-findbar wären. In der DDR stehen sie ganz offiziell im Zusammenhang der „Theorie sozialistischer Kultur“.
Die Angleichung an die bürgerliche Gesellschaft betrifft, wie anläßlich der massenhaften Gebrauchs-kultur schon dargelegt wurde, auch die bildenden Künste. Auf längere Sicht ist zu erwarten, daß man sich die spätbürgerliche Moderne ebenfalls aneignet, die gegenüber früheren pauschalen Verteufelungen heute bereits differenzierter gesehen wird Der Realsozialismus bevorzugt aber auch hier konservative Bilddarstellungen, ohne Rücksicht auf ihre durchaus bekannten historischen und zeitgeschichtlichen Belastungen.
In diesem Zusammenhang ist auf eine sozialgeschichtliche Gegebenheit zurückzukommen, die oben bereits angedeutet wurde. Sie betrifft den sozialen Habitus von Persönlichkeitstypen. Im kulturellen Leben der DDR fällt eine gewisse Kleinlichkeit, Enge, bemühte Wohlanständigkeit u. ä. auf — durchaus im Einklang mit den zitierten Lobreden auf die bürgerliche Vergangenheit und die gebildete bürgerliche Intelligenz sowie deutlich abgehoben von den heutigen Normen und Gepflogenheiten „bourgeoiser“ Weltkultur. Es wäre ein lohnendes Unterfangen, diese Erscheinungen in einer gründlichen Untersuchung mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, daß das realsozialistische Kulturleben von der gleichen Handvoll zumeist älterer Männer bestimmt wird wie der gesamte Prozeß dieses industriegesellschaftlichen Systems, und daß in der DDR die meisten der heute noch maßgebenden Personen ihre Biographie bereits am Ende der Wilhelminischen und während der Weimarer Zeit begannen, also unter der Herrschaft großbürgerlicher Verhältnisse mit mehr oder minder starken feudaljunkerlichen Relikten, die den Arbeitern und überhaupt den Unterschichten der Gesellschaft bestimmte Plätze im kulturellen System zuwiesen. Diese Kontinuität von der wilhelminischen zur DDR-Soziokultur, unterbrochen — zumindest partiell — durch eine kurze, knapp zehnjährige Periode nach 1945, wird in gewissem Umfang von der offiziellen DDR nicht nur zugestanden, sondern gleichsam mit Stolz verkündet. Sie ist aber naturgemäß von ideologischen Wolkenbildungen verschleiert. Deutlicher wird dieser Sachverhalt in kritischer Sicht, wie sie vor allem in der Literatur Ausdruck gefunden hat.
Günter Kunert hat, als er noch in Ost-Berlin lebte, anläßlich einer literaturhistorischen Debatte über Kleist bestimmte, in der DDR vorherrschende kulturelle Perzeptionsmuster als „prä-, pro-und post-faschistische Haltung“ bezeichnet Solche entschiedene Kritik zeichnete seine Wahrnehmung des Realsozialismus überhaupt aus Christa Wolf verbildlichte jene Kontinuität in ihrem Roman „Nachdenken über Christa T.“ (1968) insbesondere an Erscheinungen von Brutalität gegenüber wehrlosen Tieren, beziehungsreich auch unter dem Gesichtspunkt, daß Tierschutz in der DDR in ökologischen und sonstigen Zusammenhängen kaum eine Rolle spielt In ihrem großen Buch „Kindheitsmuster“ von 1976 war dann das Zusammenfallen von Mentalitätsstrukturen faschistischer Vergangenheit und realsozialistischer Gegenwart schlechthin Thema der Darstellung, auch kontra-stiert mit der Menschlichkeit des einfachen Volkes in Polen.
Doch ist eine derartige Sicht nicht nur Thema kritischer Darstellungen; sie findet sich auch in konformer Literatur. Besonders bemerkenswert erscheint mir ein Passus in dem Roman von Max Walter Schulz „Tryptichon mit sieben Brücken“ über die Invasion der Tschechoslowakei durch Streitkräfte von Warschauer Pakt-Staaten im August 1968. Schulz, heute Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, war lange Jahre Direktor des Leipziger Literaturinstituts, der höheren Ausbildungsstätte für den Schriftstellernachwuchs der DDR -In dem erwähnten Buch kommt folgende Szene vor: Ein russisches, eher betagtes Intelligenzlerehepaar, von seinen DDR-Freunden willkommen geheißen, wird beim Nachmittagskaffee auf einem historischen Leipziger Platz von einem angetrunkenen Einheimischen jubelnd beglückwünscht zu der hervorragenden Aktion seiner Landsleute gegen die miserablen Tschechen — einer Aktion, die begrüßenswert fortsetze, was einst die NS-Wehrmacht mit der Vereinnahmung des dann soge-nannten Reichsprotektorats Böhmen und Mähren begonnen habe
Im Kontext des Buches von Schulz erschien dieser Vorfall als absurde Entgleisung eines unbelehrbaren Revanchisten. Dem Leser bleibt freilich unbenommen, diese Einkleidung zu ignorieren und die Darstellung ernst zu nehmen, d. h. jene Aktion unter dem Banner der „Breshnew-Doktrin“ in ihrer Beziehung zu Praktiken des deutschen Faschismus zu sehen.
V. Ein Fazit
In der offiziellen Eigensicht ist das realsozialistische System eine humane Ordnung, in der alles für den Frieden und zum Wohle des Menschen geschieht. Tatsächlich drückt die Militarisierung von Gesellschaft und Politik und das einseitige ökonomistische Effizienzstreben der Machthaber die große Mehrheit der Menschen in den realsozialistischen Staaten auf das Niveau bloßer Instrumente für machtpolitische Zwecke herab. Letztlich lassen sich diese Zwecke nicht anders fassen denn als Machterhaltung und Machtauswertung für die herrschenden minoritären und gesellschaftlich marginalen Gruppen. Der Verlust der einstigen sozialrevolutionären und sozialistisch-zielkulturellen Antriebe und der ihnen gemäßen Praxisformen reduziert diese herrschenden Gruppen auf ein funktionales Requisit des gegebenen sozialen Systems, das sich nur noch mühevoll erhalten, aber aus sich heraus keinerlei langfristige Perspektiven mehr entwickeln kann Der Realsozialismus wird immer mehr zum Gegenteil dessen, wofür er sich ausgibt.
Daraus folgt eine sich vertiefende Kluft zwischen deklaratorischer Eigendarstellung und den tatsächlichen soziokulturellen Realitäten. Dieser innere Zwiespalt des Systems ist eines seiner wesentlichen stilprägenden Muster. Für die Betroffenen äußert es sich als eine „doppelte Entfremdung“: Veränderungsbedürftige Zustände gelten als Realisierung von sozialer Sicherheit, Freiheit und Menschlichkeit, die nur in Einzelheiten, aber nicht im Grundsätzlichen zu „vervollkommnen“ seien. Drückende Zustände werden um so drückender, weil es staatlich untersagt ist, sie so zu nennen.
Der Kern realsozialistischer Verstellungen und Entstellungen geht jedoch darüber noch hinaus. Heute halten wohl nur noch ganz unbelehrbare Konservative und extreme Rechte den Sozialismus für etwas, was es eigentlich gar nicht geben dürfte, statt für ein Produkt bestimmter historischer Notwendigkeiten. Der Realsozialismus mit seinem Niedergang auf den eigenen Grundlagen und seiner Anbiederung an das erfolgreichere industriegesellschaftliche System westlicher Länder scheint jedoch zu belegen, daß Sozialismus eine Illusion ist. Vielleicht liegt darin sein eigentliches historisches Versagen und seine größte moralische Schuld.
Nachruf
Am 19. September 1987 ist unser Freund und Kollege Paul Lang im Alter von 60 Jahren viel zu früh und unerwartet verstorben. Paul Lang gehörte seit fast 30 Jahren der Redaktion dieser Zeitschrift an. Mit seiner warmherzigen Mitmenschlichkeit, seiner liebenswürdigen und bescheidenen Art und seiner hohen fachlichen Kompetenz hat er das Gesicht dieser Zeitschrift wesentlich geprägt.
Wir trauern um einen hochgeschätzten Kollegen und guten Freund.
Die ehemaligen und gegenwärtigen Redakteure Enno Bartels Holger Ehmke Werner Maibaum Horst Pötzsch Gerd Renken Karl-Heinz Resch Rüdiger Thomas Ludwig Watzal Klaus W. Wippermann